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Sonntag, 10. Juli 2022

Kapitel 159 – Ein letztes Fest, um Abschied zu nehmen


Sie wurden schon erwartet, als sie in den Wirtsraum zurückkehrten. Oder besser gesagt, Rufus wurde das. Ein schwarzhaariger Mann, dick eingepackt, der Lu vage bekannt vorkam, kam ihnen entgegen, und als Rufus ihn erkannte, hellte sich sein Gesicht, das bislang betrübt gewesen war, schlagartig auf. Er war sofort bei ihm, umarmte ihn herzlich. Danach redeten die beiden in einer Sprache aufeinander ein, die den Jüngeren im Raum nichts sagte, Lu und Wulfgar jedoch schon. Wulfgar konnte sie leidlich genug verstehen, um den Grund zu erfahren, warum Rufus irgendwann ganz aus dem Häuschen war.


„Was ist denn los?“, fragte Adelaide ihren Bruder, als der sich gar nicht mehr einkriegen wollte.
     „Das Testament!“, erklärte Rufus ihr irgendwo zwischen Fassungslosigkeit und grenzenloser Schadenfreude. „Samuela war so blöd, ihren Komplizen, unseren Aufseher, fallen zu lassen, nachdem Julius tot war. Er war sein Vertrauter, musst du wissen, und er wusste auch, wo sein Testament war. Wovon Samuela aber nichts wusste. Er hat es nach Julius‘ Tod an sich genommen, als Versicherung, falls Samuela ihn tatsächlich nur benutzt hat. Was sie getan hat. Und jetzt, wo sie plötzlich nichts mehr von ihm wissen will, hat er es an die Öffentlichkeit gebracht. Und… und…“
     „Was denn?“
     „Ich habe alles geerbt!“, rief er außer sich vor Freude. „Er hat mich in seinem Testament freigelassen, adoptiert und als Alleinerben eingesetzt, während Samuela gar nichts bekommt!“


Er brach in schallendes Gelächter aus, und erst als Lu: „Vielleicht war er doch kein so schlechter Mensch“, sagte, konnte er sich dazu bringen, das Lachen wieder einzustellen.
     „Das darfst du nicht falsch verstehen“, erklärte er. „Das hat Julius nicht gemacht, um mir etwas Gutes zu tun, sondern um Samuela aus dem Grabe heraus noch einmal richtig zu demütigen. Ein ehemaliger Sklave bekommt alles, was sie haben wollte, und sie geht leer aus. Aber das juckt mich nicht. Ich bin jetzt reich! Ich bin so stinkend reich, dass ich mir nie wieder Sorgen um was machen muss!“
      „Jetzt kannst du dir ja auch vielleicht die Mitgift für Nara leisten“, merkte Nero an.
      Rufus starrte ihn ein bisschen an, bis sein freudiges Gesicht noch ein Stück freudiger wurde. „Du hast recht! Diese Mitgift ist für mich jetzt nur noch ein kleines Taschengeld. Das ist nichts. Jetzt kann ich Nara endlich befreien.“


Er sah aus, als ob er gleich zu ihr gehen wollte, aber als er das Gesicht seiner Schwester sah, blieb er, wo er war. „Was ist denn los, Aida? Freust du dich nicht für mich?“
      „Doch, schon. Aber… jetzt wirst du bestimmt nicht hierbleiben, nicht wahr?“
      Und er erkannte, dass sie recht hatte. Denn er konnte endlich dorthin zurückkehren, wohin er von Anfang an hatte gehen wollen: nach Hause.


Es war inzwischen Abend, die Wolken, die am Tag noch ihr Bestes gegeben hatte, den gesamten Himmel grau zu färben, hatten sich verzogen und ein Meer an Sternen preisgegeben. Adelaide stand allein in der Dunkelheit, unter dem schützenden Vordach des Stalles verborgen, und beobachtete die weißen Dampfschwaden, die beim Atmen ihre Nase verließen und nach oben zu den Sternen hinauf schwebten. 
     Als sich neben ihr plötzlich ein Schatten aus der Dunkelheit löste, erschrak sie zunächst, bevor sie erkannte, wer da zu ihr gekommen war. Es war Alaric.


„Was machst du denn hier draußen? Es ist kalt, und du solltest besser reinkommen, bevor du dich erkältest.“
     Er sprach meistens nicht viel. Manchmal erinnerte er sie deshalb an Wirt, doch sie wusste, dass Alaric ganz anders als der stille Schreiner war. Er konnte viel erzählen, wenn er das wollte, aber sie wusste, dass er es nicht tat, um nicht unnötig aufzufallen. Sie wusste, dass er es nicht mochte, dass manche hier glaubten, er sei Ragna. Es ärgerte ihn sogar ziemlich.
     Doch das zeigte er niemandem. Auch ihr zeigte er das kaum. Es gab noch so viel, das er ihr nicht über sich erzählt hatte, aber sie wusste, dass er ihr schon mehr erzählt hatte, als sonst irgendwem hier. Weil er ihr vertraute. Und sie vertraute ihm.
     „Ich weiß nicht, was ich machen soll, Rick“, vertraute sie ihm an.
     „Wegen deinem Bruder?“


Rufus würde im Frühjahr von hier fortgehen. Er war vorher noch einmal zum Ahn-Stamm gegangen, und tatsächlich hatte Thur sich bereit erklärt, sein Angebot anzunehmen. Sobald Rufus sein Erbe erhalten hatte, würde er für Nara bezahlen. Und auch mit dieser war schnell geklärt gewesen, dass sie kein Problem damit hatte, ihre Heimat zu verlassen. Es war ihnen sogar so vorgekommen, als ob sie ganz froh darüber gewesen war. 
     Nara würde Rufus also nach Hause begleiten und bei ihm auf seinem frisch geerbten Landsitz leben. Vielleicht, so hoffte er, würde sie sich sogar eines Tages dazu bereit erklären, ihn zu heiraten. Eines Tages, wenn sie die Möglichkeit dazu erhalten hatte, erwachsen zu sein und eigene Entscheidungen zu treffen.


„Ja“, gab Adelaide zu. „Ich will nicht schon wieder von ihm getrennt sein, aber ich weiß auch, dass ich ihn nicht bitten kann, hierzubleiben. Ich weiß doch, wie wichtig ihm die Anderen sind. Also… seine andere Familie, meine ich.“
     „Wir könnten ja auch einfach mit ihm gehen.“
     Wir. Adelaide freute sich so sehr, dass es für ihn klar war, dass sie nur zusammen gehen würden.
     „Ich weiß, aber… ich will ja eigentlich auch nicht weg von hier. Das hier ist schließlich mein Zuhause.“
     „Aber er ist dein Bruder. Deine Familie.“
     ‚Er ist alles, was mir von meiner Familie noch geblieben ist‘, dachte sie bitter und wandte sich ab.


Nero hatte ihr natürlich davon erzählt, was er über ihre Mutter erfahren hatte, und es hatte Adelaide geschockt. Nicht so sehr, dass sie ihrer Mutter immer insgeheim wichtig gewesen war – was sie tief drinnen immer gewusst hatte – sondern wie sehr ihre Mutter doch unter ihrer Schwester gelitten hatte und wie sehr deren Tod sie befreit hatte. Seitdem wünschte sich Adelaide, dass sie sich wenigstens mit ihrer Mutter aussprechen würde können, doch sie wusste, dass das wahrscheinlich niemals passieren würde. Weil ihre Mutter weggegangen war und Adelaide sich nicht traute, ihr nachzugehen.  


„Schon, aber…“ Adelaide drehte sich heftig zu Alaric um. „Was soll ich deiner Meinung nach tun? Was ist eigentlich mit dir? Wo willst du leben?“
     „Dort, wo du bist“, kam unverzüglich zurück, und Adelaide war wieder gerührt.
     „Also ist es egal für dich, wo du lebst?“
     Er nickte, fragte: „Und du? Wo willst du leben?“
     „Hier“, antwortete auch sie unverzüglich, und damit war es beschlossen. Sie würden hierbleiben.


 Adelaide ging erleichtert zu ihrem Verlobten, schmiegte sich an, und er legte die Arme um sie.
     „Aber dann musst du unser Haus bauen, jetzt, da Rufus weggeht“, sagte sie ihm.
     „Das kriegen wir schon irgendwie hin.“
     „Rick?“
     „Hm?“
     „Wie hast du es eigentlich geschafft, dass Nero nach Hause gegangen ist und dich hat machen lassen?“


Nero konnte niemals stillhalten, wenn es darum ging, ihr helfen zu wollen. Er hatte einen ziemlichen Helferkomplex, glaubte sie. Einen Drang, sich überall einzumischen. Auch vorher hatte sie gesehen, wie er genau bemerkt hatte, dass sie bedrückt nach draußen gegangen war. Sie hatte ja, ehrlich gesagt, erwartet, dass er auftauchen würde und nicht Alaric.


„Ich glaube, er versucht, mit mir auszukommen“, entgegnete Alaric.
     „Ich bin froh, dass ihr beide versucht, miteinander auszukommen.“
     „Das machen wir aber nur, weil du uns wichtig bist, das weißt du, nicht wahr?“
     „Ich weiß. Trotzdem. Es bedeutet mir viel. Danke.“
     Und sie nahm sich vor, morgen gleich zu Nero zu gehen und sich auch bei ihm zu bedanken.


Tann spähte in die Gesichter der Anwesenden, hielt nach dem einen Ausschau, das er suchte und das er schon viel zu lange nicht mehr gesehen hatte. Seitdem er die Stammesführung wieder übernommen hatte, hatte er keine Zeit mehr gehabt, zum Handelsposten hinunter zu gehen. Zu ihrem Stammtisch. Zu ihm. Und er wusste, dass heute vielleicht der letzte Tag war, um noch einmal mit ihm zu reden.
     Also schlüpfte er an den Leuten vorbei, wich einigen aus, die so aussahen, als ob sie ihn eigentlich sprechen wollten, und ein paar musste er sogar vertrösten.


Die Sonne, die sich vor ein paar Tagen das erste Mal in diesem Jahr zaghaft hervorgetraut hatte, entschied sich in dem Moment, als er ihn fand, dazu, hinter den Wolken hervorzubrechen. Isaac, der ganz bestürzt darüber gewesen war, dass der Schnee über Nacht plötzlich fort gewesen war, wie er gehört hatte, stand abseits vom Geschehen, war allein. Wie üblich schien er gerade ganz woanders zu sein, sodass Tann sich erst ein paarmal räuspern und ihn dann sogar an der Schulter packen musste, dass die leuchtenden Augen sich ihm zuwandten.


„Grüß dich, Isaac.“
     „Oh, hallo, Tann! Wir haben uns ja lange nicht mehr gesehen“, sagte Isaac ohne Vorwurf in der Stimme.
     „Tut mir leid“, hatte Tann trotzdem ein schlechtes Gewissen. „Ich komme in letzter Zeit zu so gut wie gar nichts mehr. Ich hatte ganz vergessen, wie stressig es ist, Stammesführer zu sein. Es war schön, wieder gebraucht zu werden, aber ich muss gestehen, dass ich ganz froh bin, wenn Nero dann endlich übernehmen kann. Ich hätte nie gedacht, dass ich mal die Ruhe meines Ruhestandes vermissen würde.“
     „Ich fühle mit dir. Ich war zwar nur kurz der alleinige Häuptling meines Heimatdorfes, bis Ani den Großteil der Verantwortung übernommen hat, aber diese kurze Zeit, die ich es war, hat mir schon völlig gereicht. Es war anstrengend, und ich bin wahrlich froh, dass mein Bruder damals Häuptling geworden ist und nicht ich.“


„Ich bin froh, dass du dich doch noch dazu entschieden hast, herzukommen“, wechselte Tann das Thema.
     „Wie hätte ich auch nicht, wenn du schon extra jemanden schickst, um mich herzuholen?“
     „Naja, es ist schließlich ein Abschiedsfest, und da du ja auch gehen willst, ist es nur richtig, dass du hier bist. Deswegen warst du ja eingeladen. Es ist nicht nur für die Leute aus unserem Stamm, weißt du.“
     „Das war mir schon bewusst. Aber… ich mag einfach keine Abschiede. Ich hatte deshalb morgen auch in aller Frühe mit Eris losfahren wollen, noch bevor die Anderen gehen.“
     „Du wolltest einfach gehen, ohne dich zu verabschieden?“, fragte Tann betroffen.
     „Nein, natürlich nicht. Ich wäre schon noch kurz vorbeigekommen und hätte mich verabschiedet. Ich wollte nur nicht schon heute damit anfangen. Ich hatte ja nicht mal eine Ahnung, dass sich irgendjemand dafür interessiert, dass ich gehe.“


„Oh, doch! Aan liegt mir schon seit Tagen damit in den Ohren, dass er bald nicht mehr mit dir debattieren kann. Er hat mich immer wieder gefragt, ob ich nicht mal mit dir reden kann, dass du doch bleibst“, nutzte Tann seinen Bruder, um auf das Anliegen zu sprechen zu kommen, weswegen er eigentlich hergekommen war. Was ihm selber am Herzen lag, was er aber so nicht würde sagen können. „Deswegen“, wurde er trotzdem ein bisschen nervös, „bleib doch noch ein bisschen.“
     „Ich glaube nicht, dass dies eine gute Idee ist. Ich habe Alins Gastfreundschaft auch schon viel zu lange in Anspruch genommen. Es wird Zeit, zu gehen.“
     „Du kannst auch gern zu uns in den Stamm kommen“, bot Tann hastig an. „Du weißt, dass wir in letzter Zeit viele Leute verloren haben, und jetzt, wo auch noch Malah, Alek und Luis gehen, haben wir noch mehr Platz frei. Du kannst dir aus vielen Betten eins aussuchen, so viel Platz haben wir.“


„Das ist nett von dir, mir das anzubieten. Aber das wäre dasselbe. Nur, dass ich eben nicht Alins Gastfreundschaft ausnutze, sondern die eure.“
     „Du nutzt sie doch nicht aus. Ich weiß, dass du im Handelsposten viel mitgeholfen hast, und auch bei uns kannst du das ja tun. Wir könnten jemanden mit deinen Fähigkeiten sogar richtig gut gebrauchen. Und du hast ja selber gesehen, dass dich die Anderen im Stamm auch alle mögen. Deswegen kannst du gerne bleiben, so lange, wie du willst. Gern auch für immer.“
     „Oh, ich glaube nicht, dass dies... so gut sein würde. Ich glaube eher, dass mich nicht jeder in deinem Stamm so gerne als Mitglied sehen würde, ganz im Gegenteil.“
      Er sprach von seinem Sohn, Wulf, und Tann wusste nicht, was er dagegen sagen sollte.
     „Naja, aber… ich, zum Beispiel, würde es gerne sehen, dass du noch ein bisschen bleibst…“, gab Tann jetzt doch zu.


„Versteh mich nicht falsch, ich hätte auch nichts dagegen, noch ein wenig zu bleiben, aber du weißt, dass ich das nicht tun kann. Ich habe längst alles erledigt, weshalb ich hergekommen bin: Ich habe gesehen, dass mein Sohn – Shanas Sohn“, korrigierte er sich schnell, „wohlauf ist und habe Wulfgar die Nachricht von Kane überbracht. Ich gehöre nicht hierher. Es ist an der Zeit, weiterzuziehen, und wenn der Winter es mir nicht unmöglich gemacht hätte, wäre ich schon längst fort.“
     Tann hatte ursprünglich ja eigentlich mit ihm gehen wollen, um nach seinem Enkel zu suchen, aber da er jetzt wieder der Anführer über seinen Stamm war, war das nicht mehr möglich. Das Einzige, was ihn dahingehend beruhigte, war, dass er wusste, dass Malah stattdessen nach Nila suchen würde. Nicht, dass er es mochte, dass seine Enkelin überhaupt fortging...
     „Aber du bist nicht gegangen“, sagte er Isaac, „und nur deshalb konntest du dabei helfen, die ganze Sache mit Reinard und Ida aufzudecken. Daran hattest du einen bedeutenden Anteil, vergiss das nicht. Wenn du damals schon gegangen wärst, hätten wir vielleicht immer noch keine Ahnung, was diese beiden im Schilde geführt haben, und würden jetzt ahnungslos einem Krieg entgegensehen.“
     „Das mag vielleicht stimmen – auch wenn ich der festen Überzeugung bin, dass Wulf das auch gänzlich ohne mich herausgefunden hätte; er war Reinard schließlich schon längst auf der Schliche, als ich noch überhaupt keine Ahnung davon hatte, dass er hinter all den Vorkommnissen steckte – aber jetzt droht keine Gefahr mehr von ihnen. Es herrscht Frieden. Und deshalb kann ich guten Gewissens gehen.“


Tann war entwaffnet. Er wusste, dass, egal was er auch sagte, Isaac immer ein weiteres Gegenargument hatte. Aber er wollte nicht, dass der Andere ging. Er wollte, dass er hier blieb. Bei ihm. Nur konnte er ihm das nicht sagen. Oder doch? Sollte er es ihm sagen? War dies vielleicht die einzige Möglichkeit, Isaac davon zu überzeugen, zu bleiben, wenn er erführe, wie viel es ihm bedeuten würde, wenn er hier bei ihm blieb? Aber was war, wenn es das genaue Gegenteil erwirkte? Dass Isaac erst recht von ihm fortgehen wollen würde, wenn er erführe, was er für ihn empfand?


Er wusste es nicht, und dass ihm obendrein noch die Argumente ausgegangen waren, machte ihm, ehrlich gesagt, ganz schön Angst. Bislang hatte er die nagende Sorge, dass Isaac ihn wirklich verlassen könnte, erfolgreich vor sich hergeschoben – dass er immerzu beschäftigt gewesen war, war sehr hilfreich dabei gewesen – aber jetzt bekam er es doch ganz schön mit der Angst zu tun.
     Er konnte sich einfach kein Leben mehr ohne Isaac vorstellen. Seitdem der Andere aufgetaucht war, konnte er endlich wieder nach vorn schauen, seitdem hatte er endlich wieder etwas, für das es sich lohnte, am Morgen aufzustehen. Durchzuhalten. Etwas, worauf er sich freute. Bevor Isaac aufgetaucht war, hatte er nicht daran geglaubt, seine Lebensfreude jemals wiederzubekommen, und er wollte sie jetzt auf keinen Fall wieder verlieren.


‚Vielleicht sollte ich einfach mit ihm gehen‘, schoss es Tann durch den Kopf. ‚Nein, wenn er geht, muss ich mit ihm gehen. Ich kann nicht ohne ihn sein. Aber, ob er mich überhaupt mit sich gehen lässt? Was ist, wenn er mich nicht dabeihaben will?‘


„Stell dich nicht immer so an, alter Mann“, fuhr eine Stimme in seine Gedanken.
     Es war Wulf, Isaacs Sohn. Wie üblich hatte sich Isaac in die Nähe seines leiblichen Sohnes gestellt. Tann war sich ziemlich sicher, dass es Isaac nicht mal bewusst war, dass er so oft die Nähe seines Sohnes suchte. Doch Tann war es aufgefallen, ebenso, wie ihm aufgefallen war, dass Wulf in letzter Zeit manchmal dasselbe tat. Ja, er hatte Wulf vorher sogar zuerst gesehen, und da hatte er auch sofort gewusst, dass Isaac irgendwo in der Nähe von ihm sein musste.


Wulf kam jetzt auch an, stellte sich zwischen ihnen auf, und sagte, wie üblich grimmig: „Du hast doch gehört, was er gesagt hat. Außerdem will ich, dass meine Kinder wissen, wo sie herkommen. Ich will, dass sie über die Kultur ihrer Ahnen Bescheid wissen, und ich kenne niemanden, der sich besser mit den Ritualen und Gebräuchen unserer alten Heimat auskennt, als du. Deshalb solltest du bleiben.“


Er sagte nichts weiter dazu, schwieg ein bisschen grimmig-verlegen, doch es waren auch keine weiteren Worte nötig. Obwohl Isaac bestimmt auch dafür ein Gegenargument gehabt hätte, war er verstummt. Er starrte Wulf einfach nur an – ja ihm war sogar der Mund aufgeklappt. Tann glaubte, sogar ein paar Freudentränen in seinen Augen glänzen zu sehen. Aber er weinte nicht. Er sagte auch nichts dazu. Er nickte einfach nur, versuchte nach aller Kraft, sich nicht anmerken zu lassen, dass er gerade am liebsten in lauten Jubel ausgebrochen wäre – auch wenn man ihm das deutlich ansehen konnte.
     Letztendlich war die Erlaubnis seines Sohnes, der nicht mehr sein Sohn war, alles, was es gebraucht hatte, um Isaac zum Bleiben zu überreden. Jetzt musste er das Ganze nur noch mit Eris klären müssen.


„Noch was“, fuhr Wulf ein bisschen nuschelnd fort, und es sah immer mehr so aus, als ob er gerade lieber ganz woanders wäre. „Ich versteh, dass du mir das damals nicht sagen konntest mit Mutter, dass du sie angelogen hast, was den Betrug angeht, um mich zu beschützen, als ich noch ein Kind war. Aber ich bin kein Kind mehr. Du hättest mir das schon längst sagen können – nein sagen sollen.“
     „Was? Woher…“
     „Sie hat’s mir selber gesagt. Ihr Geist, mein ich. Aber das ist nicht wichtig. Sache ist, dass du mich angelogen hast. Du wolltest mich beschützen, das kann ich verstehen, aber lass mich dir sagen, dass ich von dieser ganzen Sache eh nichts halte, dass die Kinder wie die Eltern werden. Das ist Blödsinn! Andernfalls hätte ich auch nie Lust gehabt und müsste jetzt plötzlich Männer lieben. Mach ich aber nicht. Und hab ich auch nie. Weder das eine, noch das andere. Also lüg mich nie wieder an, weil du meinst, mich beschützen zu müssen! Gehört?“


Isaac war jetzt noch mehr mit der Situation überfordert, als davor schon, so, wie er aussah. Deshalb konnte er sich wieder nur zu einem Nicken bringen. Wulf nutzte die Wortlosigkeit seines leiblichen Vaters auch sogleich, um sich aus dem Staub zu machen. Er sah noch immer aus, als ob er überhaupt nicht glauben konnte, was er da gerade gesagt – zugegeben – hatte, aber er hatte sich tapfer geschlagen, das musste man ihm lassen. Er war endlich ehrlich gewesen, hatte sich endlich mit Isaac ausgesprochen, und dass er das getan hatte und Isaac dadurch ermöglicht hatte, hierzubleiben, dafür war Tann ihm unendlich dankbar.


Tann beobachtete den überrumpelten Isaac danach eine Weile schmunzelnd, bis ihm auffiel, wie arg verwirrt der Andere plötzlich aussah. „Was ist denn?“, fragte er da nach.
     Doch Isaac kam nicht mehr zum Antworten, suchte Wulfgar sich diesen Moment doch aus, um bei ihnen aufzutauchen.


„Hey!“, begrüßte er sie, wandte sich dann an Isaac. „Na, ich hab gesehen, dass Klein-Wulf gerade hier war. Hast du dich jetzt endlich dazu entschieden, hierzubleiben?“
     „Woher weißt du denn, dass ich das getan habe?“
     „Siehst du mal, ich kenn dich halt doch besser, als du dachtest. Hast dich zwar irgendwo verändert, aber manche Dinge bleiben immer gleich.“
      Als Isaac daraufin seinerseits nur mit einem Schmunzeln antwortete und die Unterhaltung zum Erliegen kam, fragte Tann Wulfgar: „Wo hast du denn eigentlich Lu gelassen? Euch sieht man in letzter Zeit doch nie ohne den Anderen.“
     „Latrine“, sagte Wulfgar nur.     


„Ach, hat er sich das immer noch nicht aus dem Kopf geschlagen?“
     „Nein, er hat die letzten paar Stunden, kommt es mir vor, Nero davon erzählt, wie toll diese Latrinen und Badehäuser doch sind und dass wir ganz dringend auch sowas brauchen.“
     „Ich weiß wirklich nicht, wie er sich das vorstellt. Ich habe ihm schon so oft gesagt, dass wir das nur neben einen Fluss bauen können. Und wir haben hier keinen Fluss.“


„Naja“, mischte sich Isaac ein, „wenn ihr hier irgendwo ein fließendes Gewässer in der Nähe habt – am besten in den umliegenden Bergen – könnten wir doch ein Aquädukt bauen. Das müsste sich sicherlich machen lassen. Aber wir bräuchten auch ein Abwassersystem“, geriet er ins Grübeln. „Ich sollte das vielleicht mal mit Aan besprechen.“
     Bevor er das jedoch tun konnte oder Tann ihm auch nur sagen konnte, dass sie in der näheren Umgebung nur einen Wasserfall und ein paar kleinere Seen hatten, fand Lu sie.


Er kam lauthals „Wulfi“ rufend und mit federnden Schritten angeflogen und hing seinem Gefährten im nächsten Moment am Arm. „Da bist du ja! Ich dachte, du würdest bei den Latrinen auf mich warten. Wir wollten doch zusammen zu Luis und Luna zurückgehen.“
     „Klar. Machen wir doch auch.“ Wulfgar nickte den anderen beiden zu. „Man sieht sich!“
     Und weg waren sie.


Tann und Isaac sahen ihnen beim Weggehen zu, bis Isaac fragte: „Seit wann sind die beiden eigentlich so unzertrennlich? Ich hatte jetzt nie den Eindruck gehabt, dass sie so gute Freunde sind.“
     Tann stutzte ein bisschen über diese Frage, sagte dann aber: „Naja, kannst du es ihnen verübeln? Wulfgar musste erst fast sterben, damit Lu einsah, dass er ihn noch immer liebte.“
     Jetzt war es Isaac, der stutzte. Er sah sogar mächtig verwirrt aus. „Liebt? Was meinst du damit?“
     „Wulfgar und Lu sind Gefährten. Wusstest du das etwa nicht?“
     „Nein. Ich hatte keine Ahnung. Seit wann das denn?“
     „Schon lange. Lu hatte sich nur von Wulfgar getrennt gehabt, als sie in der Außenwelt waren, und sie haben erst nach Wulfgars Koma wieder zusammengefunden. Deshalb war Wulfgar die letzte Zeit doch auch so niedergeschlagen gewesen.“  


Isaac war jetzt wieder völlig überfordert. Er starrte von ihm zu Wulfgar und Lu, die noch immer Arm in Arm vor ihren Kindern standen und zuhörten, wie Luis gerade den Alleinunterhalter spielte, während seine Mutter mit einem Gesicht wie drei Tage Regenwetter neben ihm stand – sie hatte es ganz besonders hart getroffen, dass jetzt auch noch der letzte ihrer Söhne fortging.
     Tann konnte nicht einmal sagen, was genau es eigentlich war, was er da auf Isaacs Gesicht sah. Unverständnis? Abscheu?
     ‚Aber ich habe es ja eigentlich schon gewusst, dass Tanna unrecht gehabt hat und Isaac doch kein Interesse an Männern hat. Ich habe gewusst, dass ich nie eine Chance bei ihm haben werde.‘
     Es war bitter, das nun bestätigt zu sehen, doch er hatte gelernt, damit umzugehen.


„So schlimm?“, konnte er deshalb jetzt auch gefasst fragen, als würde ihn das alles überhaupt nichts angehen.
     Isaac druckste zuerst ein bisschen herum, bevor er zugab: „Naja… du weißt es ja sowieso schon, dass ich… nicht so gut mit diesem Lu auskomme. Und ich glaube, das beruht auf Gegenseitigkeit. Eines der wenigen Dinge, wobei wir uns jemals einig waren, ist, dass wir uns besser aus dem Weg gehen.“


„Aber“, er lächelte plötzlich, „auch wenn ich nicht verstehen kann, was Wulfgar an jemandem wie ihm findet, geht mich das nichts an. Das ist ganz allein seine Entscheidung, wen er liebt, und ich sehe, dass es ihn glücklich macht.“ Er legte die Rechte auf die Brust und senkte den Kopf, wie er es immer tat, wenn er irgendetwas segnete. „Und deshalb möge der Schöpfer behütend die Hände über ihr Glück breiten, dass es bis in alle Ewigkeit halte.“
      Er wiederholte es in seiner Muttersprache, während Tann einfach nur überrascht war. Überrascht, dass Isaac scheinbar Lus Abneigung ihm gegenüber mitbekommen hatte, aber vor allen Dingen überrascht, dass es Isaac überhaupt nicht interessierte, dass sein Freund einen anderen Mann liebte. Seine zuerst ablehnend scheinende Reaktion war allein seiner Abneigung Lu gegenüber zuzuschreiben gewesen, und auch wenn Tann nach wie vor nicht wagte, sich Hoffnungen zu machen, war er dennoch erleichtert darüber.


„So hat er das gemeint!“, rief Isaac plötzlich und schreckte ihn aus seinen Gedanken. „Jetzt verstehe ich, was Pan mit seiner letzten Aussage gemeint hat!“
     Pan war der Name, mit dem Isaac seinen Sohn neuerdings anredete, wenn er nicht zugegen war. Von Panloppah – dem großen Stern.


„Welch Ironie!“, lachte Isaac. „Ich hatte so eine Angst, dass er wegen meiner Geschlechtslosigkeit Probleme bekommen würde, und jetzt hat er sich selber einen geschlechtslosen Vater ausgesucht.“
     „Was?“, rutschte es Tann heraus.
     „Oh… ich… habe nur laut gedacht. Sag, deine Enkelin reist doch morgen ab, nicht wahr? Möchtest du nicht lieber noch ein wenig Zeit mit ihr verbringen?“
     „Ich verstehe schon: Du willst mich loswerden“, neckte Tann ihn, obwohl er eigentlich gern nachgefragt hätte, was Isaac gemeint hatte, und er musste lachen, als der das jetzt tatsächlich erschrocken abzustreiten versuchte. „Aber du hast recht. Ich sollte zu ihr gehen. Kommst du mit mir?“


Isaac warf einen kurzen Blick zu seinem Sohn, der gerade mit seiner inzwischen hochschwangeren Verlobten Jade tanzte, entschied dann aber, dass es dafür noch zu früh war, und nickte. Und zusammen mit Tann ging er zu dessen Familie hinüber.





 
 
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Hier weiterlesen -> Kapitel 160 
 
Und damit sind jetzt also auch noch ein paar lose Enden verknüpft worden: Rufus hat doch noch eine Möglichkeit gefunden, Nara aus ihrem Elternhaus zu befreien, und auch wenn die beiden zu Adelaides Bedauern die Gegend verlassen werden, wird es Nara hoffentlich woanders besser ergehen. Immerhin hat sie mit Rufus diesmal jemanden an ihrer Seite, der sie beschützen und ihr dabei helfen will, eigenständig zu wären.
     Wie man sieht, sind zwischen den beiden Szenen ein paar Wochen vergangen und Nara hat ihres und Nilas Baby zur Welt gebracht. Es ist ein kleines Mädchen namens Nina, die ziemlich nach ihrer Mama kommt (man sieht Nila eigentlich nur in Haar- und Augenfarbe, ansonsten ist sie eine Kopie von Nara). Für alle, die Nina mal erwachsen sehen wollen, hier mal ein Bild unterm Spoiler:



Und dann noch die anderen fünf Kleinkinder (Essi, Lynn, Gabriel, Cahir & Diana) mal von Näherem (mit Klick aufs Bild wird es wieder größer):

 
Zudem konnte Isaac jetzt doch zum Bleiben überredet werden, was er insgeheim ja schon gewollt hat. Hoffen wir nur, dass Eris das gut wegstecken wird. Sollte sie sich weigern, dazubleiben, würde Isaac sie aber natürlich nach Hause bringen (was jedoch schon eine ganze Weile in Anspruch nehmen würde).
     Ich find's übrigens nach wie vor total süß, wie Isaac einfach mal überhaupt nicht kapiert hat, dass Wulfgar und Lu zusammen sind. An sich fällt es ihm sehr schwer, solche Dinge zu erkennen, weshalb er auch niemals erkennen würde, dass Tann was für ihn übrig hat, wenn der es ihm nicht klipp und klar sagen würde. Und ja, Isaac ist es tatsächlich völlig wurscht, dass Wulfgar homosexuell ist. Er hat einfach nur was gegen Lu als Person.
 
Nächstes Mal ist es dann so weit und das letzte Kapitel steht an. Dann wird Luis erfahren, warum er wirklich fortgehen muss und der Tag des Abschieds bricht an.
 
Bis dahin, danke euch fürs Vorbeischauen, passt auf euch auf, und ich verabschiede mich!

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