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Mittwoch, 24. April 2019

Kapitel 86 - Tuck vom Zoth-Stamm



‚Nicht schon wieder! Ich kann mir keine noch so kleine Pause gönnen, ohne, dass was passiert.‘
      Ein klitzekleiner Augenblick. Mehr hatte sie doch gar nicht verlangt! Ein kleiner Augenblick mit ihrer Liebsten. Stattdessen hatte sie gleich die nächste Unglücksbotschaft erreicht, und jetzt rannte sie durch die Botanik, spät am Abend, nach einem arbeitsreichen Tag. Sie wollte nur noch ihre Beine hochlegen und ein Nickerchen machen.
     ‚Verdammt noch eins! Wo bist du nur?‘


Noch während sie es sich fragte, kam der Gesuchte in der Ferne in Sicht, und ihr fiel ein riesengroßer Stein vom Herzen. Da saß er, an der alten Feuerstelle, die ihr Stamm einst zurückgelassen hatte, als sie hier gelagert hatten. Damals, als ihr Vater gestorben war. Seitdem kam sie überhaupt nicht gern hierher.  
      „Tann!“, rief sie laut, er wurde auf sie aufmerksam und erhob sich. Sein Gesicht, das vor einem Moment noch wie drei Tage Regenwetter ausgesehen hatte, war nun wieder verschlossen. Wie so oft. Das machte ihr immer Sorgen.
     „Da bist du ja“, sagte sie und kam erschöpft vor ihm zum Stehen. „Ich dachte schon, ich müsste dich wieder bei den Klippen suchen.“
     „In letzter Zeit habe ich das Gefühl, dass du glaubst, dass ich nichts anderes vorhabe, als mich in den Tod zu stürzen.“


Tanna schnappte empört nach Luft. Hatte sie irgendwas verpasst? Es war ja nicht so, dass sie die letzte Zeit nicht andauernd auf ihn hatte aufpassen müssen. Sie hatte kaum noch Zeit für irgendetwas anderes.
     „Du hast mir auch jeglichen Anlass dazu gegeben!“, schoss sie deshalb bissig zurück.
     „Ich weiß, und das tut mir auch leid. Das habe ich dir schon mehrmals gesagt.“ Er sah sie fest an. „Genauso, wie ich dir schon oft gesagt habe, dass du nicht andauernd auf mich achtgeben musst, weil ich nicht mehr vorhabe, mir das Leben zu nehmen.“
     Es war nicht so, dass es Tann mit einem Mal besser ging und die Welt wieder in den hellsten Farben für ihn erstrahlte, aber er hatte sich geschworen, sein Bestes zu geben, um gegen diese Gedanken und Gefühle anzukämpfen. Sich nicht mehr von ihnen unterkriegen zu lassen.
     Doch leider schien sie ihm das noch immer nicht zu glauben. Sie verschränkte die Arme vor der Brust. „Wir wissen beide, dass ich dir in diesem Punkt nicht trauen kann. Du hast mir schon viel zu oft gesagt, dass es dir gutgeht, obwohl es das nicht tat.“  

  
Er überlegte einen Moment, dann hielt er ihr die Hand hin und schlug vor: „Was hältst du dann davon, wenn ich dir verspreche, dass ich mir nicht mehr das Leben nehmen will und zu dir komme, wenn es wieder schlimmer wird? Ich werde dich auch nicht mehr anlügen, wie es mir geht. Du weißt, dass ich meine Versprechen immer halte.“
      Das stimmte. Er hatte ihr versprochen, ihr Gefährte zu werden und er war es geworden, obwohl es Zeiten gegeben hatte, in denen sie sich nicht so sicher gewesen war, dass er das überhaupt gewollt hatte.  


Also nickte sie und schlug ein. Etwas anderes blieb ihr auch gar nicht übrig. Sie war diese andauernde Sorge, dass er sich doch etwas antun könnte, einfach leid. Die blauen Augen, in die sie sich einst verliebt hatte, waren auf sie gerichtet, und er war hier bei ihr, erkannte sie. Das war ein gutes Zeichen. 
     „In Ordnung. Ich nehme dich beim Wort“, sagte sie, bevor sie ihm ihre Hand wieder entzog. „Und? Wie geht es dir jetzt wirklich?“
     Er seufzte. „Ich bin traurig, natürlich. Aber das ist auch normal. Tuck war immerhin ein guter Freund und wir haben jahrelang zusammengearbeitet.“


Tuck vom Zoth-Stamm hatte bis zum Ende unermüdlich durchgehalten, obwohl der Tod schon seit geraumer Zeit versucht hatte, ihn zu holen. Er hatte sich nie helfen lassen, hatte sich nie ausgeruht, und er hatte alle seine Besorgungen und Arbeiten so gut es ging selber verrichtet. Er war gestorben, wie er gelebt hatte. Ein stolzer und unbeugsamer Mann.


Die nächste Zeit verbrachten die ehemaligen Gefährten damit, dem alten Freund zu gedenken. Sie entzündeten das vor langer Zeit erkaltete Feuer, ließen sich darum nieder und erzählten Anekdoten. Die Stimmung war trotz der Trauer recht ausgelassen. Man erinnerte sich mit einem lachendem und einem weinenden Auge an den Verstorbenen.


Doch als Tanna plötzlich erschrocken zusammenfuhr, war das Erinnern vorüber. Tann war sofort auf den Beinen, aber er brauchte eine Weile, um überhaupt zu sehen, dass da jemand in der Dunkelheit jenseits des Feuers war. Und noch länger brauchte er, um Rahn in diesem jemand zu erkennen. 
     Tanna war mit Erschrecken noch nicht fertig, wie er sah, also ging er voran, um Rahn abzufangen. Er hatte sowieso noch sein Beileid aussprechen wollen.


Tanna holte ihn auf halber Strecke aber wieder ein und erreichte ihren Bruder noch vor ihm.  
     „Sagt mir nicht, dass er auch lebensmüde ist! Oh, bitte nicht!“, sagte sie zu einer leeren Stelle neben ihm. „Nicht? Was dann?“ Sie wartete. „Das Herz?“ Ihr Blick wanderte zu ihrem Bruder. „Bist du etwa krank, Rahn?“
     „Nein, mir geht es gut“, erwiderte der Angesprochene sichtlich verwirrt. „Was tust du da eigentlich?“
     „Bei den Göttern, da sind überall Geister um dich herum!“


Tann hatte es sich bei Tannas Reaktion schon denken können. Er hatte es befürchtet.
     „Was soll das heißen? Wovon sprichst du?“
     Rahn war erst später in den Stamm gekommen. Er wusste nichts von Tannas Gabe. Also mussten sie es ihm erklären. Aber auch danach verschwand der Zweifel nicht aus seinem Gesicht.
     „In Ordnung…“, sagte er nicht sehr überzeugt.
     „Nichts ist in Ordnung!“, gab sie harsch zurück. „Geh gefälligst heim und ruh dich aus!“
     „Das schon wieder! Das muss ich mir schon oft genug von Akara anhören, und ich sage dir dasselbe, was ich auch ihr sage: Ich weiß selber gut genug, wie viel ich mir zumuten kann. Außerdem geht es mir gut.“
     „Wenn es dir gutgehen würde, wären da nicht lauter Geister hinter dir!“


„Du solltest das nicht auf die leichte Schulter nehmen“, mischte sich Tann ein. „Tanna hat noch nie falsch in solchen Dingen gelegen. Sie hat es auch bei mir gesehen.“ Und was er dann sagte, beraubte Rahn jeglicher Worte: „Du hast Diana doch versprochen, auf euer Kind aufzupassen, oder?“
      Rahn protestierte danach nicht mehr. Er konnte nichts dagegen sagen. Vor allen Dingen nicht, wenn es aus Tanns Mund kam. Tann, der Dianas Vater gewesen war, und der seine Tochter abgöttisch geliebt hatte. Sie hatten bislang nicht über Diana geredet, obwohl Rahn sich immer hatte entschuldigen wollen.


Also tat er es. „Tann, ich… wegen Diana… es tut mir so leid…“
     „Es gibt keinen Grund dafür, dass du dich entschuldigst“, unterbrach Tann ihn.
     Und da konnte Rahn es nicht mehr zurückhalten.


Alles brach über ihm zusammen. Sein Vater, Diana, die Sorge um seinen Jungen, all die Schuld und die Dinge, die er versäumt hatte zu tun und zu sagen, die Worte, die er nicht zurücknehmen konnte; er konnte einfach nicht mehr. Obwohl er auf der Beerdigung seines Vaters keine Träne vergossen hatte, weinte er jetzt wie ein kleines Kind.


Tann und Tanna ließen ihn, bis er sich selber wieder beruhigte. Dann legte Tann ihm eine Hand auf die Schulter und sagte: „Sieh zu, dass du wieder gesund wirst. Sonst hat mein Enkel bald auch keinen Vater mehr. Und wann immer du nicht kannst, werde ich mich um Nero kümmern. Wir alle sind da, um dir zu helfen.“ Er lächelte. „Komm, mein Freund, lass uns nach Hause gehen.“
     Obwohl die Tränen versiegt waren, fragte Rahn sich, ob sein Herz jemals aufhören würde zu weinen. Das beklemmende, drückende Gefühl in seiner Brust, seitdem Diana gegangen war. Es war wieder schlimmer geworden, als sein Vater gestorben war, und er fragte sich, ob Tann sich genauso fühlte. Ob es wohl bei ihm jemals besser geworden war.


Das Einzige, das sein Herz trösten konnte, war sein Sohn. Ihn um sich haben, ihn lachen zu hören und diesen kleinen Quell des Lebens zu sehen, fühlte sich tröstlich und heilsam an. Und deswegen hatte er umso mehr Angst davor, dass er auch seinen Sohn verlieren könnte. Es war der Grund, warum er Nero nie aus den Augen ließ. Warum er ihn beschützte und behütete, wo er nur konnte.
     Ihn jetzt draußen in der Kälte liegen zu sehen, ließ sein Herz vor Angst deshalb schmerzen. 
     „Das kann doch nicht wahr sein! Ich habe doch extra gesagt, dass sie aufpassen sollen, dass er nicht wieder draußen schläft!“, entwich es ihm, bevor ihm aufging, dass er nicht allein war.


„Das haben wir früher doch auch gemacht, nicht wahr?“, lachte Tann da nur. „Selbst, als wir eigentlich schon viel zu alt und vernünftig hätten sein müssen, um bei Beinahe-Frost draußen zu schlafen.“
    „Das war ja auch was anderes“, protestierte Rahn. „Wir waren beide gesunde Kinder, aber Nero ist das nicht.“
    „Er ist ein bisschen häufiger krank, das stimmt. Aber er ist dennoch ein kräftiger Junge, der das wegsteckt. Vielleicht tut ihm die frische Luft ja ganz gut. Du solltest ihn jedenfalls auch mal machen lassen, Rahn, sonst läuft er dir am Ende noch weg, wenn du zu strikt bist.“


Rahn wusste ja, was er meinte. Auch ohne, dass er es aussprach. Es war bei seinem eigenen Vater und ihm nämlich genauso gewesen. Am Ende hatte Tuck ihn aus dem Stamm getrieben. Das wollte Rahn natürlich nicht.
     Als er deshalb stumm blieb, nutzte Tann die Chance, um Gutenacht zu sagen und in einem der Zelte zu verschwinden. Rahn blieb mit seiner Trauer allein zurück. Auch seine Schwester war noch immer nicht vom Austreten zurückgekehrt. Doch er wollte eigentlich gerade nicht allein sein.


Also kniete er sich neben seinen schlafenden Jungen und strich ihm vorsichtig übers Haar.
     „Es ist so einfach gesagt, und ich weiß es ja auch, aber ich kann trotzdem nichts dagegen tun, dass ich eine wahnsinnige Angst davor habe, dich zu verlieren.“


„Ich werde nicht zulassen, dass du mir auch stirbst. Das schwöre ich.“


Die Frage war nur, ob Rahn noch sehr viel länger da sein würde, um auf seinen Sohn aufzupassen. Tanna hatte sich nicht einmal getraut, ihm davon zu erzählen, dass Diana und sein Vater dagewesen waren, und Rahn hatte auch nicht nachgefragt. Wahrscheinlich fürchtete er sich davor, sich ihnen zu stellen, mutmaßte sie.
     Erst machte ihr Tann Sorgen, jetzt ihr Bruder. Ein leidendes Herz zu heilen war schon schwer genug, aber wie sollte sie es anstellen, wenn es obendrein auch noch krank war?


Es am Tag darauf, dass Tanja mit bester Laune zum Nachbarhaus schlenderte.


Nur, dass diesmal dort schon jemand war und gerade heftig an die Türe klopfte. Es war ihr dämlicher Bruder Elrik und Wirts dämliche Schwestern waren auch zugegen.
     Natürlich ging Tanja hin und fragte: „Was ist denn hier los?“
     Da hörte Elrik endlich mit dem Gehämmer auf und drehte sich um, um mit seinem bedröppelten Gesicht zu erzählen: „Wie es aussieht, will Wirt nicht mehr mit mir oder „sonst irgendwem von uns“, wie er sagte, sprechen. Scheinbar hat unsere Mutter nämlich seiner Mutter das Herz gebrochen, woraufhin sie versucht hat, sich das Leben zu nehmen.“
     Tanja dachte: „Was?“, und irgendwie entwich es ihr wohl auch.


„Leah wollte erreichen, dass unsere Mutter zu ihr zurückkommt, aber ich weiß, ehrlich gesagt, nicht einmal, wo Mutter gerade ist. Ich wüsste es aber gern, damit ich sie hierzu mal befragen kann.“
     „Und was ist jetzt mit Wirt?“, blaffte sie genervt.
     „Oh, er ist wütend. Richtig wütend. Ich habe ihn noch nie so erlebt. Und nicht nur er. Wenigstens war er so freundlich, mir zu sagen, dass ich Griswold fernbleiben soll.“ Er seufzte. „Und damit gehen unsere guten, nachbarschaftlichen Verbindungen…“
     Das konnte doch wohl nur ein schlechter Scherz sein. Wirt und wütend? Das konnte nicht sein! Der konnte doch gar nicht wütend werden!


„Als ob!“, sagte Tanja deshalb, bevor sie einfach an ihrem nutzlosen Bruder vorbeiging und ins Nachbarhaus eindringen wollte.
      Elrik hielt das ja für keine gute Idee. Er wusste wirklich nicht, wie Wirt reagieren würde. Natürlich hoffte er, dass er sich gegenüber der Frau, die er mochte, zurückhielt, aber er wollte Tanja auch nicht herausfinden lassen, wenn dem nicht so war.
      „Das solltest du vielleicht lieber lassen, Tanja.“
      „Pff! Was glaubst du denn, was er macht? Mich rausschmeißen?“
      Sie lachte, aber das Lachen sollte ihr bald gehörig vergehen.


Wirt war schnell gefunden. Er hockte neben seiner Mutter, die mal wieder mit ausdruckslosen Augen ins Feuer starrte und keinerlei Notiz von dem Eindringling – oder auch nur irgendwas – nahm. Sie war meistens so, wenn Tanja sie sah.


Ausdruckslos war auch ihr Sohn normalerweise. Nur, dass er das heute scheinbar tatsächlich nicht war. Es war das erste Mal, dass sie überhaupt so etwas wie Wut in seinem Gesicht sah, und als sein kalter Blick sie traf, erstarrte sie auf der Stelle.
     „Ich habe gesagt, ich will niemanden von euch mehr in unserem Haus sehen!“, knurrte er, dass es Tanja angst und bange wurde. „Raus!“
     Sie brauchte einen ganzen Moment, in dem sie tatsächlich mit ihrer Angst zu kämpfen hatte, bevor sie sich daran erinnerte, wenn sie hier vor sich hatte. Tapfer schluckte sie ihre Angst runter und legte Wut darüber.


„Krieg dich mal ein! Ich habe dir überhaupt nichts getan! Niemand von uns hat das!“
     „Ich warne dich nur einmal noch. Geh, oder ich sorge dafür, dass du gehst!“
     Er starrte sie wütend an, eine ganze, schreckliche Weile lang. Und auch wenn Tanja wütend zurückstarrte, war sie innerlich erschrocken. Sie hätte nie gedacht, dass Wirt überhaupt wütend sein konnte. Dass er sich gegen sie stellte!
     „Nein, ich werde nicht gehen!“, erwiderte sie stur.


Woraufhin er tatsächlich auf sie zukam, sie packte, schulterte und nach draußen verfrachtete. Alles Strampeln und Wehren half nicht. Am Ende landete sie vor der Tür.  


Er hatte sie tatsächlich rausgeschmissen! Tanja war zutiefst erschüttert darüber. Was war nur gerade eben geschehen? Das war doch nicht der Wirt, den sie kannte!


Sie wusste nicht mal, was sie tun konnte. Also wandte sie sich an seine Schwestern und forderte: „He, ihr! Tut doch auch mal was und redet mit eurem Bruder!“
     „Ich wüsste nicht, warum ich mit ihm reden sollte“, besaß Akara wirklich die Dreistigkeit, zu sagen. „Er hat jedes Recht dazu, wütend zu sein.“
     Tanja tat ihr Bestes, die ältere Schwester in Grund und Boden zu starren. Während Akara unter ihrem Blick schrumpfte, lachte Anya plötzlich.


„Jetzt ist Wirt beinahe so, wie er früher war“, sagte sie.
     „Früher?“
     „Ja, bevor sie ihm das Bein abgeschnitten haben.“
     „Wie… war er denn da so?“, fragte Tanja zögerlich.
     Akara verzog wehleidig das Gesicht, doch Anya hatte weniger Skrupel zu erzählen: „Oh, er war ein fürchterlicher Raufbold und ein Tagedieb. So hat es der Doofmann jedenfalls immer gesagt.“
     Doofmann war Anyas neue Bezeichnung für ihren leiblichen Vater. Sie hatte ihn seit Jahren nicht einmal mehr beim Namen genannt. Wenn sie von ihrem Vater sprach, meinte sie inzwischen nur noch Tann.


„Er hat sich dauernd geprügelt und geflucht hat er, dass einem die Ohren abfielen“, erzählte sie munter weiter. „Außerdem hat er die Leute über den Tisch gezogen, wo er nur konnte. Und Streiche gespielt hat er. Der Doofmann war richtig stolz auf ihn.“
     „Nein, ehrlich?“
     „Ja, erst nachdem er sein Bein verloren hat, ist er so ruhig geworden“, übernahm Akara, die Traurige.


„Danach hat er sich geweigert zu essen. Er lag nur da und hat ab und an geweint. Wir dachten alle, dass er sterben würde, bis Mutter kam und ihn unter Tränen bat zu essen. Ihr zuliebe hat er dann wieder gegessen und ihr zuliebe hat er auch weitergemacht. Auch wenn er seitdem… nun ja, du hast ja erlebt, wie er ist. Ruhig, verschlossen.“
     Tanja war davon so überrascht, dass sie einen Moment brauchte, um sich zu fangen und zu fragen: „Wie hat er sein Bein damals eigentlich verloren?“
      Er hatte nie darüber gesprochen, aber Tanja hatte auch nie nachgefragt, wenn sie ehrlich war. Akara sah wieder so aus, als wolle sie nicht erzählen. Glücklicherweise war Anya ja da, um das zu übernehmen.


„Als der Doofmann einmal wieder alle Leute gegen sich aufgebracht hat und wir fliehen mussten, hat er einen Pfeil abbekommen.“
     „Der Pfeil war rostig“, sprang Akara ein. „Die Wunde hat sich entzündet, ähnlich wie bei dir. Am Ende hatten wir keine andere Wahl, als ihm das Bein zu amputieren.“ Plötzlich war ihr Gesicht voller Horror. „Ich werde nie vergessen, wie er dabei geschrien hat.“
     Auch Anya sah plötzlich erschrocken aus, was nicht oft vorkam. Da wusste Tanja, dass es wirklich schlimm gewesen sein musste.


Es vergingen ein paar Tage. Tanna konnte schnell klarstellen, dass sie Leah niemals hatte verlassen wollen. Sie hatte ihr nur gesagt, dass sie eine Weile drüben im Stamm sein würde, um auf Tann und Rahn aufzupassen. Die beiden Frauen vertrugen sich daraufhin wieder.


Aber Wirt war nach wie vor sauer. Egal, was sie auch taten, er wollte nicht mit sich reden lassen.


‚Ich hasse das. Warum nur fühle ich mich so schlecht? Ich sollte mich freuen, dass ich diese lästigen Plagen, die sich meine Mitmenschen nennen, endlich alle los bin. Das wollte ich doch. Ich wollte eigentlich überhaupt nicht hierbleiben.‘ 


‚Warum bin ich also noch hier?‘


‚Warum kümmert es mich so sehr, dass dieser Langweiler Wirt mir die kalte Schulter zeigt?‘


‚Warum habe ich so eine verdammte Angst, dass er mich hassen könnte?‘


‚Nein! Ich will nicht, dass er mich hasst! Ich will nicht mehr allein sein!‘


Sie klopfte verzweifelt an die Tür, die schon seit allzu langer Zeit für sie verschlossen war. 
     „Wirt! Hörst du mich?“, rief sie. Keine Antwort. „Bitte, Wirt, sei doch nicht mehr böse!“ Sie schniefte, die Tränen kamen und es war ihr egal. Sie hatte so eine Angst. „Bitte, Wirt! Ich hab doch sonst niemanden außer dich. Niemand hat mich je verstanden, außer du. Du weißt genau, was ich durchgemacht habe. Wir müssen doch zusammenhalten!“


Sie sank auf die Knie, ließ ihren Tränen freien Lauf. Ihre Stimme war nur noch ein leises Wimmern. „Ich war so froh, dass ich nicht mehr allein bin. Dass es endlich jemanden gibt, der mich versteht. Was soll ich denn ohne dich machen?“
     Sie wusste es nicht. Und sie bekam an diesem Abend auch keine Antwort mehr darauf.


Am nächsten Morgen erwachte sie in einem Zelt, in dem sie letzte Nacht nicht eingeschlafen war. Sie hatte gestern noch eine Weile vor der Nachbarstür gesessen und bittere Tränen vergossen, bevor der Schlaf schließlich über sie gekommen war. Und jetzt war sie hier. Nur – warum war sie hier?


Ihre Frage war jedoch wie weggewischt, als sie in der noch müden Morgensonne Wirt erblickte, der neben ihrem Bruder beim Haus stand. Er stand da! Und er redete! Er redete wieder mit ihnen!


Sofort war Tanja auf den Beinen und hatte die paar Schritte zurückgelegt, die zwischen ihr und ihm lagen. Sie wollte nichts lieber, als ihn in die Arme zu schließen. Sie hatte ihn so vermisst.
     Doch als seine sanftmütigen Augen sie trafen, jegliche Wut, die er die letzten Tage über zur Schau getragen hatte, vollkommen verschwunden, fror sie an Ort und Stelle fest.


„So, du redest also wieder mit uns?“, entwich es ihr bissig, bevor sie sich aufhalten konnte.
     Wirt nickte nur und traf sie erneut unvermittelt mit seinen ausdruckslosen Augen, die ihr plötzlich die Schamesröte ins Gesicht trieben. Mit einem Mal war sie sauer. Auf ihn. Auf sich.
     „Tss! Ich hab ja gesagt, dass wir deiner Mutter nix getan haben! Wirklich! Als ob ich etwas für meine Mutter kann!“, ging sie ihn wütend an.


Dann ließ sie ihn stehen und flüchtete um die nächste Hausecke, der Schrecken noch immer wie ein Verfolger in ihrem Nacken. Sie schämte sich plötzlich so. Sie hatte ihn nur noch in die Arme schließen wollen, aber sie hatte es nicht gekonnt. Die Frage war nur, warum das so war.


‚Warum interessierst du mich mit einem Mal so sehr?‘


‚Und warum kann ich nicht dazu stehen, was ich will?‘
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Da hat wohl jemand Probleme damit, seinen Gefühlen Ausdruck zu verleihen. Ist eben doch ein kleiner Unterschied zwischen der Bewunderung "weil alle ihn mögen und er gut aussieht", die sie Alin entgegengebracht hat und echter Liebe. Fragt sich nur, ob Tanja jemals dazu stehen kann (und ob man das Wirt überhaupt wünschen sollte).

Auch bei Tann und Rahn ist es eine schwierige Angelegenheit. Dass Tanna so eine Angst hat, dass Tann sich was antut und sie ihm da nicht vertraut, ist schon verständlich, aber dauernde Überwachung ist auch nicht die Lösung. Während Rahns Chancen zur damaligen Zeit wohl ziemlich schlecht gestanden hätten mit seinem kranken Herzen. Es ist nur gut, dass er sich mit seinem Vater ausgesprochen hat, bevor er gestorben ist. Immerhin.
Ach ja, die Frau, die man als Geist hinter ihm sah und die wie Dana aussah, war übrigens Danas Tanta Dala. Sie ist ja Tucks erste Frau gewesen, die Rahn aufgezogen hat. Für ihn war sie seine Mutter. Erst, als sie dann gestorben ist, hat Tuck sich später Wanda genommen. Und jetzt ist Tuck auch zu ihr gegangen. Das war ja schon abzusehen. Ruhe in Frieden, Tuck!

Tja, bevor ich mich hier noch in Monologen ergehe, kommen wir lieber schnell zur Vorschau. Nächstes Mal wird es das letzte Kinder-Kapitel geben, bevor die ersten vier Kinder zu Jugendlichen heranwachsen. Und da gehen die Kinder auf eine gefährliche Mutprobe.

Bis dahin, danke fürs Vorbeischauen, und ich verabschiede mich!