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Mittwoch, 10. April 2019

Kapitel 85.1 - Eine zauberhafte Geschichte Teil 1


Anmerkung: Dies ist ein zweiteiliges Kapitel, um die Bilder pro Post begrenzt zu halten. Den Link zum zweiten Teil des Kapitels findet sich unten.


Auch am nächsten Tag versuchte der Frühling sein Bestes, um Nero zu ärgern. Diese verdammte Erkältung schien diesmal gar nicht weggehen zu wollen, und zu allem Überfluss hatte sein Vater ihn heute Morgen auch noch beim Davonstehlen erwischt. Natürlich hatte er die wenn-deine-Mutter-das-sehen-würde-Keule geschwungen und ihn damit zurück ins Zelt gejagt, aber das hieß ja nicht, dass er es kein zweites Mal versuchen konnte, abzuhauen.
     Es war seit geraumer Zeit nun schon recht leise – die Erwachsene waren gegangen, um Holz zu fällen – also wagte er einen verstohlenen Blick. Als er nur Ragna sah, der mal wieder mit einer seiner Katzen sprach, schlüpfte er gänzlich aus dem muffigen Zelt, das er schon seit langem nicht mehr sehen konnte.
     Eine wunderbar milde Brise begrüßte ihn, und einen Augenblick lang blieb er stehen, um sie zu genießen. Der Wind auf seinem Gesicht. Die Wärme der noch etwas schwächlichen Frühlingssonne nach einem langen Winter. Er liebte das. Und deshalb hasste er es gleich doppelt so sehr, eingesperrt zu sein. Dann fühlte er sich nur noch kränker.  
     Der Wind wehte auch die Worte des anderen Jungen zu ihm und unwillkürlich bekam er wohl das Ende einer Geschichte mit, die Ragna gerade der selig schnurrenden Katze erzählte. Obwohl Nero den Anfang davon verpasst hatte, war er sofort gefesselt von der Erzählung, und da der Andere ihn noch nicht bemerkt hatte, blieb er wo er war und lauschte gespannt.


Blöderweise guckte der schüchterne Erzähler in diesem Moment aber in seine Richtung und verstummte augenblicklich. Die Katze sprang protestierend von dem Hocker, auf dem sie es sich bislang hatte gutgehen lassen, und stolzierte davon, nachdem Ragna das Kraulen eingestellt hatte, um eingeschüchtert in des Störenfrieds Richtung zu sehen.
     Glücklicherweise hatte Nero aber keine Scheu vor anderen Menschen, also ging er hinüber und sagte: „Hey, ich hab dir zugehört, und was du da erzählt hast, war echt toll. Hast du dir das selbst ausgedacht?“
     Ragna brachte ein zaghaftes Nicken zustande.
     „Wahnsinn, das ist echt beeindruckend!“, fuhr Nero munter fort. „Kannst du noch so eine erzählen? Ich darf eh nicht raus und es ist so langweilig sonst.“
     Er hatte gerade beschlossen, doch keinen zweiten Fluchtversuch zu unternehmen. Wenn Ragna ihm eine so spannende Geschichte erzählte, war das aber auch gar nicht mehr nötig. Dann war es vielleicht gar nicht so schlimm, zu Hause bleiben zu müssen.
     „Wenn du willst“, erwiderte Ragna schließlich unsicher. „Aber ich weiß nicht, ob sie dir gefällt.“


Nero wollte gerade versichern, dass sie das schon tun würde, als plötzlich ein lautes, zischendes Geräusch in ihre Unterhaltung schnitt. Die Jungs schauten sofort in die Richtung des Lärms und bemerkten dabei eine schwarze Gestalt, die in diesem Moment jenseits der Koppel hinter einem Heuhaufen verschwand. Sie war so atemberaubend schnell, dass sie zunächst glaubten, einen riesigen Vogel im Sturzflug gesehen zu haben. Aber das war nicht möglich. So große Vögel gab es nicht. Glaubten sie zumindest.
     „W-was war das?“, fragte Ragna verängstigt.
     „Ich habe keine Ahnung“, gab Nero zurück. „Aber ich werde es rausfinden.“
     Und damit war er auf und davon, bevor Ragna ihn aufhalten konnte. Die schwarze Gestalt – was auch immer es gewesen war – war inzwischen verschwunden, aber er fühlte sich dennoch unbehaglich. So ganz allein auf dem Hof.


Also lief er dem anderen Jungen nach, und er holte ihn beim Handelsposten ein. Nero stand gerade vor Alin und erzählte ihm von ihrer Entdeckung, linkerhand saß der neue Händler Marduk am Feuer und aß. Von der schwarzen Gestalt war nirgendwo etwas zu sehen.
     „Nein, wir haben hier nichts ungewöhnliches gesehen“, hörte er Alin noch sagen.
     Dem Gesichtsausdruck des Erwachsenen konnte Ragna schon entnehmen, dass er glaubte, dass sie sich das nur ausgedacht hatten. Es war ja auch bescheuert. Sie hatten einen Vogel für ein riesiges, schwarzes Ungeheuer gehalten! Kein Wunder, dass man ihnen nicht glaubte. Ragna glaubte es ja selber nicht.


Zumindest, bis die Sonne von einem Moment auf den nächsten plötzlich das Scheinen einstellte und es dunkel wurde. Als hätte man sie einfach ausgeblasen. Über ihnen mit einem Mal ein Nachthimmel, der von leuchtend roten Wolken bedeckt war.


Ragna erschrak bis ins Mark, und auch den Anderen schien es ähnlich zu ergehen. Was war nur los? Wo war die Sonne hin? Hatten die Götter ihnen die Sonne genommen, weil sie ihnen nicht genug geopfert hatten? Der Gott des Windes musste einen Fehler gemacht haben, seinen Bruder jetzt schon zuzudecken. Oder war es das Ende der Welt? All diese Gedanken kamen Ragna in den Sinn, und noch viel Unsinnigere.


Aber sie wurden allesamt weggewischt, als es im nächsten Moment drunter und drüber ging. Marduk preschte an ihm vorbei, dann war wieder das lärmende Zischen zu hören. 
     Ragna wirbelte erschrocken herum und sah sie – die dunkle Gestalt! Sie war hinter ihm gewesen! Für einen Moment sah er in zwei hell schimmernde Punkte, die er für Augen hielt, dann verpasste Marduk ihr einen gehörigen Tritt verpasste, dass sie davonflog.


Doch anstatt zu Boden zu gehen, hob sie plötzlich ab. Wie ein Vogel schwang sie sich federleicht in die Lüfte und jagte genauso schnell wieder hinab. Stürzte sich auf Alin, der ohne Gegenwehr zu Boden ging und einen gurgelnden, erstickten Laut von sich gab, während die Kreatur auf ihm hockte und einen infernalischen, gutturalen Schrei ausstieß, wie Ragna ihn noch nie zuvor gehört hatte. Plötzlich war er sich sicher, dass er hier einen Gott vor sich hatte. Dieses Ding konnte doch kein Mensch sein!


Noch während er das dachte, hatte Marduk einen Satz nach vorn gemacht, um die Kreatur von Alin zu entfernen. Aber bevor er sie auch nur erreichen konnte, hatte sie von dem hilflosen Händler abgelassen und sich erneut in die Lüfte geschwungen. Unter Marduks wütendem Schrei verschmolz sie mit der Dunkelheit. Das Schreien verstummte und der Himmel nahm wieder eine normale Farbe an. Wenn es auch nach wie vor Nacht blieb.


Ragna versuchte noch immer zu verstehen, was gerade geschehen war, Marduk und Nero hingegen waren sofort bei Alin. Der Erwachsene untersuchte den bewusstlosen Händler, und Ragna war erleichtert, als sich sein Gesicht entspannte.
      „Er wird wieder“, beruhige er Nero, der neben dem Bewusstlosen kniete und hilflos die Hände erhoben hatte. „Er braucht nur ein bisschen Schlaf und wird die nächsten Tage etwas kraftlos sein, aber er wird wieder.“
     „Was war das da gerade eben?“, wollte Nero jetzt wissen.
     Marduk schwieg einen Augenblick lang, und man konnte sehen, wie er abwägte, ob er überhaupt erzählen sollte, was er wusste, oder nicht. Aber dann sagte er schließlich: „Wenn ich Alin in sein Zelt gebracht habe, werde ich es euch erzählen.“


Nero war aufgeregt, und er gab noch immer voller Feuereifer seine Mutmaßungen zum Besten, als sie wenig später bei der Feuerstelle darauf warteten, dass Marduk wieder aus dem Zelt kommen würde. Ragna war ja weniger begeistert; im Gegenteil, er wollte einfach nur, dass er aufwachte und feststellen konnte, dass dies alles ein böser Traum war.


Als Marduks Kopf schließlich am Zelteingang erschien, war Nero sofort auf den Beinen und bei ihm.
     „Dieses „Ding“, das Alin vorhin angegriffen hat, jage ich schon eine ganze Weile lang. Ich nenne es den Schatten. Es ist eine gefährliche Kreatur, die sich vom Leben anderer ernährt.“
     „Von sowas habe ich aber noch nie gehört“, meinte Nero skeptisch.
     „Glücklicherweise sind sie auch recht… selten“, erwiderte Marduk. „Ich habe bislang jedenfalls erst einen getroffen, und seitdem bin ich ihm auf den Fersen, um ihn zur Strecke zu bringen. Deswegen bin ich auch hierhergekommen.“
     „Warum hierher? Wie tötet man sowas überhaupt?“
     „Ich kann es nicht töten, aber ein Zauberer kann das.“
     „Ein Zauberer?“ Nero lachte. „So etwas gibt es doch gar nicht!“
     Und das sagst du, nachdem du dieses Schattending gesehen hast?‘, dachte sich Ragna ein bisschen verwundert.


„Oh doch!“, behauptete Marduk. „Zumindest früher gab es mal einige davon. Sie haben hier in der Gegend gelebt, und deshalb bin ich ja auch hergekommen. Der Schatten mutmaßlich auch. Um die Zauberer vor mir zu finden und sie auszulöschen, bevor sie das mit ihm machen können.“ Er sah beide Jungen nacheinander an. „Ihr wisst nicht zufällig etwas davon, wo sich diese Zauberer aufhalten, oder?“
     Ragna und Nero tauschten einen hilflosen Blick, bevor sie den Kopf schüttelten.
     Marduk seufzte schwer. „Das hatte ich befürchtet. Das erklärt auch, warum ich noch nichts über sie rausfinden konnte, seitdem ich hier bin.“
     „Und jetzt?“, fragte Nero.
     „Ich habe, ehrlich gesagt, keine Ahnung. Ich weiß nur, dass ich euch jetzt nicht allein lassen kann. Ich weiß, wie ich mich gegen den Schatten zur Wehr setze, aber ihr wisst das nicht. Und wen er sich einmal als Ziel auserkoren hat, den jagt er, bis er ihn bekommen hat. Der Schatten lässt sich seine Beute nicht nehmen. Und ich habe ihm einen Strich durch die Rechnung gemacht, als ich dich vor ihm beschützt habe.“


Sein Blick ging zu Ragna hinüber, der bleich wurde. Doch dabei wurde Marduk auch auf etwas anderes aufmerksam. Eine kleine Lampe, die einsam auf einer Truhe stand. Inmitten des Zeltes, das der Sturm vor kurzem erst aufs Meer hinausgeweht hatte. Sie war ihm bislang noch nicht aufgefallen, und er fragte sich, ob sie wohl schon zuvor dort gestanden hatte.
     Aber das war jetzt auch gar nicht wichtig. Er ging zu der Lampe, nahm sie an sich und kehrte mit ihr zu den beiden Jungen zurück.
     „Was ist das?“, fragte Nero sogleich.
     „Eine Lampe“, erklärte er. „Wenn wir Glück haben, lebt ein Dschinn drin.“


Nero wollte nachfragen, was denn nun wieder ein Dschinn war, doch er wurde abgelenkt, als Marduk die Lampe an seinen Sachen rieb und dabei bunte Funken aufflammten. Die Jungs befürchteten schon, dass der Händler bald lichterloh brennen würden, aber stattdessen geschah etwas Unglaubliches.
     Die Funken flogen wie flüssiges Wasser aus dem Inneren der Lampe, sammelten sich vor ihnen und wurden zu einem blendenden Licht.


Und nachdem das Licht langsam wieder verklungen war, war tatsächlich ein Mann vor ihnen erschienen. Ein Mann in merkwürdiger Kleidung und mit blauer Haut!
     Der blaue Mann, der mutmaßlich der Dschinn war, hatte die Arme verschränkt und schwebte auf einer Wolke aus violettem Licht. Er hatte ein Grinsen aufgelegt, als er zu Boden schwebte und sich umsah. Doch als er auf seinen eigenen Beinen stand, verswand es plötzlich wieder und er sah gelangweilt aus.


„Ach, nicht schon wieder nur Kerle!“, jammerte der Dschinn. „Kann es nicht einmal nur eine heiße Braut sein, die mich rauslässt?“
     „Oh, weiser Dschinn!“, sagte Marduk, als hätte der Dschinn nicht gerade seinen Unmut kundgetan. „Sage uns, wo wir die Zauberer dieser Gegend finden können!“
     „Woher soll ich das denn wissen? Bin ich eine Landkarte, oder was?“ Als sie ihn nur abwartend ansahen, seufzte er geschlagen. „Na fein, drei Wünsche und so. Das ist dein erster und so. Also, der Zaubererstamm, den gibt’s nicht mehr.“
     „Was ist damit geschehen?“, fragte Marduk erschrocken.
     Der Dschinn zuckte mit den Schultern. „Streit und Krieg und so.“
     „So ein Mist!“, fluchte Marduk. „Wie soll ich den Schatten jetzt nur vernichten?“
     „Keine Ahnung, aber das fällt eh nicht in mein Gebiet.“
     „Kannst du ihn nicht einfach töten?“, fragte Marduk den Dschinn hoffnungsvoll.
     „Nö. Bin ja kein Zauberer.“
     „Du bist ein Dschinn! Dschinns können zaubern!“, merkte Marduk an.
     „Ich kann Sachen machen, aber nicht kaputtmachen.“


Er hob eine Hand und nach einer weiteren Lichterwolke erschien eine Schale aus dem Nichts darin. Ein merkwürdiger, rosafarbener Hase befand sich in ihr. Da er sich nicht bewegte, nahmen sie an, dass es kein echter war.
     „Ich kann Essen machen, siehst du?“ Er hielt die Schale den Jungs hin. „Eis gefällig?“


Kurz darauf saßen sie also mit dem Dschinn namens Jin zusammen an der Feuerstelle und aßen das, was er Eis nannte, während er sich etwas genehmigte, das er einen Drink nannte. Das Eis war jedenfalls köstlich. Sie hatten so etwas wunderbar Süßes noch nie gegessen. Es war eine Schande, dass Marduk, der wie eine besorgte Glucke auf und ab ging, sich nicht dafür begeistern konnte, eines zu probieren.
     „Du bist überhaupt nicht hilfreich, Dschinn!“, lamentierte er gerade wieder. „Was sollen wir jetzt nur machen? Der Schatten ist noch immer dort draußen und tötet in diesem Moment vielleicht schon wieder.“
     „Ist nicht mein Problem“, tat der Dschinn unbeeindruckt ab und nahm einen weiteren Zug von seinem Drink. Doch plötzlich verschwand sein dauerhaft gelangweilter Gesichtsausdruck. „Ich spüre eine Meerjungfrau. Meerjungfrauen sind heiß.“


Er stellte seinen Becher ab und weg war er. Marduk hatte alle Mühe hinterherzukommen, so schnell wie er war. Die Jungs nahmen sich aber noch die Zeit, schnell aufzuessen, bevor sie ebenfalls folgten.
     Sie gingen zum Strand hinunter, wo sie schon von weitem zwei Gestalten ausmachen konnten. Eine, ein Mann mit einem Tuch um die Hüften und blauen Beinen, befand sich an Land, die Andere, mutmaßlich eine Frau, schwamm munter ihre Runden im Wasser. Ab und an sprang sie dabei in die Lüfte und da konnten sie sehen, dass sie tatsächlich einen Fischschwanz hatte!


Der Dschinn machte sich sogleich daran, der Fischfrau schöne Augen zu machen, die keinerlei Notiz von ihm nahm, während die Anderen sich an den Fischmann mit den Beinen hielten.
     „Wenn jemand etwas über irgendwelche Zauberer oder darüber weiß, wie ihr diesen Schatten bezwingen könnt, dann ist es die Herrin des Waldes. Sie ist die Gottheit dieses Ortes“, erklärte der Fischmann namens Rahn, nachdem sie ihm ihr Problem erläutert hatten.
     „Wo können wir sie finden?“


Die Fischfrau kam jetzt hinzu, die plötzlich ebenfalls Beine hatte und sagte: „Das wissen wir nicht. Wir sind Kinder des Wassers und nicht des Waldes. Ihr solltet die Waldbewohner aufsuchen.“      
     „Ich könnte vielleicht die Wölfe für euch fragen“, bot Rahn an. „Sie halten sich öfter beim Wasser auf, und ich bin mir sicher, dass sie wissen, wo ihre Herrin ist.“


Sie beschlossen also, es so zu machen und Rahn ging, um die Wölfe aufzusuchen. Wie zuvor bei der Fischfrau Dana, veränderte sein Unterleib sich in dem Moment, als er das Wasser betrat, und auch er bekam einen Fischschwanz, der es ihm erlaubte, pfeilschnell durchs Wasser zu schießen. Die beiden Jungs konnten da nur staunen. Vor kurzem hatten sie nicht einmal eine Ahnung gehabt, dass es neben ihrer Welt noch so eine fantastische Welt voller Zauber und wunderlicher Kreaturen gab.
     „Du bist ja ein Niedlicher“, lenkte Dana sie ab, die gerade erstmals vom Dschinn Jin Notiz nahm, der bislang unentwegt versucht hatte, ihre Aufmerksamkeit zu erlangen. „Aber wir sollten das vielleicht vertagen, bis wir allein sind.“


Prompt zeigte Jin da landeinwärts zu einer Stelle am Himmel, die so aussah, als würden Sterne zu Boden regnen.
     „Seht ihr das Leuchten da?“, fragte er. „Da ungefähr wohnt einer meiner Brüder an einem See. Der ist auch so ein magisches Walddingens. Der weiß bestimmt was über eure Herrin des Waldes. Warum geht ihr ihn nicht mal besuchen?“
     Marduk sah aus, als würde er das tatsächlich in Betracht ziehen, also merkte Nero an: „Sollten wir nicht warten, bis der Fischmann wiederkommt?“
      „Wir können überall auftauchen, wo Wasser ist“, erzählte Dana. „Ich werde ihn zu euch schicken, wenn er wiederkommt. Ihr solltet jedenfalls keine Zeit verlieren und lieber zusehen, dass ihr anderweitig Hilfe findet, falls die Wölfe euch nicht helfen können oder Rahn sie nicht findet.“


Das sahen sie ein, also gingen sie in Richtung des Himmelsleuchtens, und sie waren noch nicht sehr lange gegangen, als sie an einem verlassenen Rastplatz vorbeikamen und Marduk wieder anhielt.
     „Das sind Pflanzenleute!“, rief er und ohne eine weitere Erklärung war er davongeprescht.
     Nero war ihm sogleich auf den Fersen, aber Ragna nahm sich die Zeit, erstmal genauer hinzusehen. Und tatsächlich standen dort zwei, die er in der blau-grünen Umgebung gar nicht gesehen hatte. Einer war so grün wie die Bäume hinter ihm und der Andere war eher bläulich, wenn er das über die Entfernung so einschätzen konnte. Wenn sie sich jetzt nicht so plötzlich bewegt hätten, weil sie auf Marduk aufmerksam geworden waren, hätten Ragna sie jedenfalls für Bäume gehalten und sie übersehen.   
     Doch scheinbar war das keine gute Sache, dass sie sie bemerkt hatten. Denn bevor Ragna sich auch nur in Bewegung setzen konnte, waren sie auch schon wieder weg. Sie waren im Boden verschwunden, als wären sie nie dagewesen.


„Das waren Baumleute“, wiederholte Marduk gerade auf Neros Nachfrage. „Sie sind unheimlich scheu. Naja, eigentlich sind alle Naturwesen Menschen und Zauberwesen gegenüber scheu.“
      „Was ist denn der Unterschied zwischen Naturwesen und Zauberwesen?“, war es diesmal Ragna, der nachfragte.
      „Naturwesen sind magische, meist von Göttern geschaffene Wesen, die es schon seit Anbeginn der Zeit gibt, während Zauberwesen von Zauberern geschaffen worden sind oder sie selber welche sind. Der Dschinn beispielsweise ist ein Zauberwesen, während die Meerleute und die Pflanzenleute Naturwesen sind. Normalerweise mögen die sich nicht sonderlich. Aber uns Menschen mögen sie noch weniger. Deswegen verstecken sie sich ja auch immer vor uns. Es ist jedenfalls Pech, dass wir die Pflanzenleute verjagt haben. Da sie die Hüter aller Pflanzen sind, wissen sie bestimmt, wo sich ihre Herrin aufhält.“


Es half aber alles nichts. Die Pflanzenleute waren weg, also mussten auch sie ihren Weg fortsetzen.
     Es ging weiter, einen selten benutzten Pfad hinauf, über ebene Fläche und schließlich einen schmalen Durchgang hindurch. Ein Tal tat sich an dessen Ende auf, in dem sich besagter See befand. Seine Oberfläche war ruhig und glatt, kaum ein Wind verirrte sich hierher, und er war so dunkel wie der Himmel über ihren Köpfen. Nur der Mond und die Sterne malten ein paar hellere Punkte auf die unendlich wirkende Tiefe des Wassers. Der See war umstanden von zahlreichen Bäumen, die allesamt in voller Blüte standen, weshalb die Kirschbäume ein rosiges Blätterhaupt trugen. Es war ein wunderschöner, friedlicher und malerischer Ort, fand Ragna, der ihn beinahe fesselte.
      Marduk zerstörte diesen Bann, indem er lautstark zu rufen begann. Aber sein Rufen blieb unbeantwortet. Nero verschonte sie glücklicherweise mit Geschrei und machte sich direkt ans Suchen, aber von dem Bruder des Dschinns – von auch nur irgendwem – war weiterhin nichts zu sehen.


Ragna fasste einen umgefallenen, alten Baumstamm ins Auge und er ging, um sich hinzulegen. Er war so müde. Es kam ihm vor, als wäre er schon ewig auf den Beinen.
      Während Ragna einschlief, beschlossen auch Nero und Marduk, vorerst eine Pause einzulegen. Nero ging zu einem der Apfelbäume hinüber, um eine Mahlzeit für sie zu besorgen, während Marduk bei dem Schlafenden zurückblieb, um auf ihn aufzupassen. Aber es passierte schon bald, dass er in seine Gedankenwelt glitt. Sich die Frage stellte, die er sich schon so viele Jahre stellte – wo nur war er? Wo war der Schatten?


Deshalb dauerte es viel zu lange, bis er bemerkte, was er am Himmel sah und was er schon viel zu oft gesehen hatte. Dunkler Himmel. Blutrote Wolken. Es war sein Zeichen. Immer, wenn er kam.
     Als er es schließlich registrierte, erschrak er bis ins Mark.


Aber noch mehr erschrak er, als er ein Rascheln hinter sich hörte und im nächsten Moment plötzlich etwas Dunkles aus den Büschen hinter dem schlafenden Ragna hervorbrach. Es war ein Wolfsmensch.


Doch anstatt sich auf den wehrlosen Jungen zu stürzen, sprang jener leichtfüßig vom Baumstamm ab und warf sich mit voller Wucht gegen den Schatten, der unvermittelt vom Himmel herabgefallen war. Die beiden Kämpfenden gingen zu Boden, aber der Wolf behielt schließlich die Oberhand. Knurrend hob er die klauenbesetzte Hand, um dem überrumpelten Schatten den Garaus zu machen, aber da fing sich sein sehr viel flinkerer Gegner wieder.


Blitzschnell flog er in den Himmel zurück, und der arme Wolf hatte gar keine Chance gegen die Mächte, die dabei im Spiel waren. Er fiel hilflos zurück, und für einen Moment befürchtete Marduk, dass der Schatten sich nun doch noch auf sie stürzen würde. Aber nicht mit ihm. Er war bereit!
      Dennoch war er erleichtert, als der Schatten stattdessen mit seinem typischen Zischen in die Dunkelheit des Himmels entschwand. Die Wolken verloren ihre blutrote Farbe und Marduk entspannte sich wieder.
      Zumindest tat er das so lange, bis der Wolfsmann sich wieder aufgerappelt hatte. Er schien verwirrt, als er sich jetzt umsah, was Marduk schon ein bisschen beunruhigte. Ragna war inzwischen erwacht und wahrte glücklicherweise Abstand, aber der andere Junge, Nero, war weniger vorsichtig.


Zu dessen Glück hatte der Wolf jedoch scheinbar mehr Interesse an ihm. Er kam näher, aufdringlich näher, um an ihm zu schnüffeln, und Marduk musste alle Kraft aufbieten, um ihn auf Abstand zu halten.


Das Gute war, dass er kurz darauf von ihm abließ, das Blöde war, dass er scheinbar nun aber zu dem Schluss gekommen war, dass er ihn nicht riechen konnte. Er fletschte die Zähne und war darauf und daran, auf ihn loszugehen. Marduk konnte ja gegen Schatten kämpfen, aber er hatte keine Ahnung, wie er sich gegen einen Wolfsmenschen zur Wehr setzen sollte.


Glücklicherweise wurde der Wolf da aber von einer kleinen Lichtkugel abgelenkt. Ein Glühwürmchen, das um ihn herumschwirrte. Der Wolf jagte ihm fasziniert hinterher und vergaß sein Vorhaben darüber vollkommen.
      Schon anhand des hohen Kicherns wusste Marduk, dass sie hier aber nicht nur ein bloßes Glühwürmchen vor sich hatten. Und tatsächlich war kurz darauf ein surrendes Geräusch zu hören, dann machte es Plopp und eine waschechte Fee stand vor ihnen. Mit Flügeln und allem drum und dran.


„Hey! Hey!“, machte die weibliche Fee mit dem blonden Haar. „Guck mal, da!“
     Der Wolf war leider nicht bei Verstand, also beging er den Fehler, nachzugucken, was wohl so Interessantes über ihm war, und diese Ablenkung nutzte die freche Fee, um ihren Feenstaub auf ihn zu werfen.


Der Wolf bemerkte daraufhin auch, dass etwas ganz und gar nicht stimmte. Dampf schoss aus seinen Ohren und er gab ein erbärmliches Jaulen von sich. Marduk wollte lieber nicht mit ihm tauschen. Er wusste, dass Feenzauber meistens harmlos waren; sie waren mehr Streiche als dass sie Schaden zufügten, aber schmerzhaft sah es dennoch aus.
     Das fand wohl auch der Wolfsmann, der sich nun erschrocken auf den Boden warf und unter dem Gelächter der Fee schützend einrollte.


„Das war aber nicht sehr nett, Jana!“, war plötzlich eine fremde Stimme zu hören. Der Stimme folgte eine weitere Fee, diesmal ein Mann. Er schüttelte streng den Kopf, lächelte dann jedoch milde. „Das hättest du auch anders lösen können.“
     „Ach, wenn ich schon so doof aussehen muss, kann ich ja auch ein bisschen Spaß haben“, meinte die Angesprochene grinsend. „Immerhin ist er jetzt unschädlich.
      „Die Wölfe sind harmlos, wenn du weißt, wie du mit ihnen umgehen musst.“


Er kniete sich zu dem eingerollten Wolf und begann, ihn hinter den Ohren zu kraulen. „Du arme Kreatur. Hat sie dir wehgetan? Du musst keine Angst haben.“
     Da entrollte der Wolf sich wieder, warf sich auf den Bauch und ließ sich auch dort ausgiebig kraulen.  


Nachdem genug Streicheleinheiten verteilt worden waren, war der Wolf ganz handzahm und ging dazu über, die Umgebung seine Krallen spüren zu lassen, während die Jana-Fee dem faszinierten Nero vorführte, wie gut sie Saltos fliegen konnte. Ihr Begleiter, Lu, war glücklicherweise weniger frech und verspielt, und er hörte sich ihre Geschichte geduldig bis zum Ende an.
     „Wir wissen leider nicht, wo die Herrin des Waldes ist“, offenbarte Lu danach mit zerknirschtem Blick. „Wir spüren sie schon nicht mehr, seitdem die Sonne plötzlich erloschen ist. Das bereitet uns ziemliche Sorgen.“ Er warf einen Blick über seine Schulter zu dem Wolfsmann. „Dass einer ihrer Leibwächter hier ist und dass er nicht bei Verstand ist, ist jedenfalls kein gutes Zeichen. Ihr solltet vielleicht beim heiligen Hain nachschauen. Dort, wo sie lebt.“
     „Kannst du uns sagen, wo er sich befindet?“, bat Marduk.


Da mischte sich Jana ein und bot an: „Ich zeig’s euch, wenn ihr wollt. Ich bring euch hin.“
     „Bist du sicher?“, fragte Lu besorgt. „Du hast dein Zuhause noch nie ohne mich verlassen. Vielleicht sollte ich euch lieber begleiten.“
     „Pff! Bleib du mal hier und pass lieber auf den Wuffi auf, dass er nicht wieder ausbüxt. Ich schaff das schon allein.“
     Lu wusste, dass Jana sich beweisen wollte, aber er hatte mehr Sorge um ihre Begleiter als um sie. Trotzdem sagte er: „Na gut, aber sei anständig, ja?“


Jana antwortete nur mit einem zahnbewehrten Grinsen, bevor sie munter voranging und die drei Menschen ihr folgten, während Lu mit dem Wolf allein zurückblieb und sie die nächste Zeit damit verbrachten, Stöckchenholen zu spielen.


Sie gingen den Weg zurück, am Strand vorbei (wo Jin und Dana in trauter Zweisamkeit im Sand saßen und von Rahn noch immer jede Spur fehlte), bis sie den anderen Wald erreicht hatten, der die weitläufige Ebene einrahmte, die auf der einen Seite vom Meer und auf der anderen von Gebirge eingekesselt wurde. Die Bäume standen dort viel dichter, sodass man auch von einem richtigen Wald reden konnte, und sie waren bald schon froh, Jana als Wegweiserin dabeizuhaben. Sie war zwar schnell und achtete kaum darauf, dass diejenigen, die keine Flügel hatten, auch nachkamen, aber immerhin kannte sie den Weg.


Als sich die Bäume etwas gelichtet hatten, erreichten sie schließlich eine Lichtung. Im Hintergrund war wieder der Nachthimmel in seiner vollen Pracht zu sehen und vor ihnen thronte ein einzelner Baum, der im Vergleich zum Umfeld aber trostlos und verdorrt aussah. Sein dicker Stamm war von zahlreichem Unkraut und vertrockneten Gräsern eingerahmt, die Blätter hingen grau und kraftlos an den knorrigen Ästen.
     „Wir sind da“, verkündete Jana stolz.
     Ihre Begleiter sahen sich um und Nero merkte an: „Aber hier ist doch nichts.“
     Jana, die inzwischen begonnen hatte, mit ihrem Feenstaub zu spielen, lachte da nur. „Wart’s nur ab! Die werden schon noch auftauchen.“
     Nero und Ragna hatten keine Ahnung, von wem sie sprach, fanden es aber heraus, als eine wütende Stimme die Stille der Nacht durchbrach.


„Du! Was suchst du in unserem Hain? Du hast hier nichts zu suchen!“ Ein Finger schoss in Richtung der drei Menschen. „Und die auch nicht!“
      Es waren die beiden Pflanzenleute. Ein grüner Mann und eine blau-grüne Frau, wie sie von Nahem nun sehen konnten. Ihr ganzer Körper war mit Blättern und Ranken bedeckt, die Frau hatte sogar Blätter statt Haaren auf dem Kopf, und sie sahen damit wirklich wie lebende Bäume aus.
     „Ich hab ja gesagt, dass sie kommen“, meinte Jana zu Nero. „Die riechen, wenn ich hier bin.“
     „Tanja hat recht“, stimmte der Pflanzenmann, der bislang still beobachtet hatte, zu. „Es ist eines, wenn du herkommst, aber warum hast du Menschen zu unserem heiligen Hain gebracht? Du weißt, dass die Menschen gefährlich sind. Sie bringen Feuer und sie bringen den Tod. Du bringst uns alle damit in Gefahr!“


„Aber hier ist doch gar nichts“, sagte Nero wieder, und er entlockte den beiden Pflanzenleuten damit einen empörten Laut. „Und es ist auch nicht so, als ob ihr hier so versteckt seid. Da hinten ist ja sogar ein Haus.“
     „Wie kannst du es wagen!“, zischte die Pflanzenfrau.
     „Er wollte euch nicht beleidigen“, sprang Marduk beschwichtigend ein. „Niemand hier will das. Und wir wollen auch eurem Hain nichts Böses. Alles, was wir wollen, ist die Herrin des Waldes zu sprechen, um Hilfe von ihr zu erbitten.“
     Obwohl Marduk sein Bestes gab, um vertrauenswürdig zu wirken, verschwanden das Misstrauen und die Ablehnung nicht aus dem Gesicht der Pflanzenleute.


„Es ist nämlich so…“, begann Jana da zu erzählen, und sie erzählte ihnen die ganze Geschichte (mehr oder weniger akkurat). Und je weiter sie erzählte, desto mehr verschwand der Groll bei dem Pflanzenmann und wurde nach und nach zu Sorge.
      „Wir haben gespürt, dass etwas Fremdes und Gefährliches in die Gegend gekommen ist“, eröffnete er, als Jana fertig erzählt hatte. „Unsere Herrin hat es auch gespürt und sie war deshalb in Sorge. Sie hat uns daraufhin losgeschickt, in Erfahrung zu bringen, was es ist, das in unsere Domäne eingedrungen ist. Aber wir haben es nicht aufspüren können. Und als die Sonne plötzlich verschwand und wir wieder hierhin zurückkehrten, war unsere Herrin verschwunden, und seitdem können wir sie auch nicht mehr spüren.“
      „Tann!“, fuhr die Pflanzenfrau namens Tanja aufgebracht dazwischen. „Warum erzählst du ihnen das?“


Doch er ignorierte sie und zeigte nach vorn, hinter sie. „Es war auch nur noch einer ihrer Leibwachen da. Doch sie war vollkommen aufgelöst und ist weggelaufen. Wir konnten nichts aus ihr herausbekommen. Sie ist dort hinunter zum Strand gelaufen. Vielleicht habt ihr ja mehr Glück. Vielleicht könnt ihr die Herrin finden und uns alle retten.“ Er deutete auf den verdorrenden Baum. „Denn ohne sie stirbt der Wald.“


Die Pflanzenleute blieben zurück, während die vier Weggefährten den gewiesenen Weg zum Strand hinuntergingen. Es war nur eine kleine Bucht, nicht zu vergleichen mit dem Strand, an dem sie die Fischmenschen getroffen hatten. Deshalb entdeckten sie den bislang verschwundenen Rahn auch sofort. Er stand vor einem Höhleneingang und redete scheinbar auf irgendwen ein, der sich im Inneren versteckt hielt.
     „Was denn los?“, fragte Jana ihn geradeheraus. „Wo ist der Wachhund?“
     „Sie ist da drinnen“, sagte der Fischmann und deutete auf die Höhle, „und sie will nicht rauskommen.“
     „Lass mich mal machen. Ich hol sie schon raus.“
     „Ich weiß ja nicht, ob das so eine gute Idee ist.“ Feen waren nicht für ihr Feingefühl bekannt. „Du könntest sie verscheuchen.“
     Doch Jana ignorierte ihn. Sie ließ sich nicht zweimal bitten, ging schnurstraks zur Höhle hinüber und verschwand darin.


Gleich darauf war eine erschrockene Stimme zu hören, es gab ein Rumpeln, jemand rief, und dann brach etwas Violettes aus dem Dunkel der Höhle hervor. Gefolgt von der unschuldig dreinblickenden Fee. Während der gesuchte Wolf die Flucht zum Meer antrat und kurz darauf die Nacht von ihrem Heulen erfüllt war, grinste Jana zufrieden. 
     „Guck, ich hab sie rausgeholt“, verkündete sie stolz.


„Ich wusste, dass das keine gute Idee ist“, seufzte Rahn. „Sie ist vor kurzem erst verwandelt worden. Du hättest vorsichtiger mit ihr sein sollen.“
     „Verwandelt?“, fragte Nero neugierig.
     „Wolfsmenschen werden nicht als solche geboren“, erklärte Rahn. „Es ist ein Geschenk eines Gottes an einen Menschen, und Wolfsmenschen können dieses Geschenk weitergeben, indem sie Menschen beißen.“ Er sah zu der Wolfsfrau hinunter, die noch immer kläglich weinte. „Aber manche sehen eher einen Fluch als ein Geschenk darin.“


Während der Fischmann nun wieder dazu überging, die immer noch unschuldig grinsende Fee weiter zu rügen, beschloss Nero, zu der heulenden Wölfin zu gehen. Er stellte sich neben sie und sagte mit der Unschuld eines Kindes: „Warum weinst du denn? Es ist doch toll, ein Wolfmensch zu sein. Ich wäre jedenfalls gerne einer.“
     Die Wolfsfrau Akara unterbrach ihr Heulen, um ihn verständnislos anzusehen. „Aber… aber ich bin so hässlich…“
     „Ach, Quatsch!“, schlug Nero aus. „Ich finde dich echt stark.“ Und dann fragte er aufgeregt: „Hey, wenn ich groß bin, würdest du mich beißen und mich auch zu einem Wolfsmenschen machen?“
     Sie wusste, dass er noch ein Kind war und wahrscheinlich gar nicht wusste, was er da sagte, aber dennoch war sie ein bisschen geschmeichelt. Es hatte sie noch nie jemand „stark“ gefunden.


Sie ließ sich jedenfalls danach von ihm dazu überreden, zu den Anderen zurückzugehen und zu erzählen, was passiert war. 
     „Da war so eine dunkle Gestalt, die vom Himmel gefallen ist und die unsere Herrin angreifen wollte. Wulfgar, der andere Leibwächter der Herrin, hat versucht, sie zu verteidigen, aber wir sind ziemlich überrumpelt worden. Die Herrin musste jedenfalls fliehen, und die Gestalt ist ihr hinterher. Sie sind in den Nebel verschwunden. Wulfgar ist ihnen natürlich sofort nach, aber ich hatte zu viel Angst und bin geblieben, wo ich war.“ 
     Sie schauderte. „Diese dunkle Gestalt hat so fürchterlich nach Gefahr gestunken, dass mir ganz angst und bange wurde.“ Sie vergrub das Gesicht in den Händen. „Tann und Tanja sind so sauer geworden, dass ich gekniffen habe. Ich trau mich gar nicht, zum Hain zurückzugehen.“
     „Wenn du möchtest, kann ich dich ja begleiten“, bot Rahn ihr an.
     Akara wagte einen zögerlichen Blick, versicherte sich noch einmal, dass er sie auch wirklich begleiten würde, und dann jagte sie auf allen Vieren so schnell davon, dass Nero noch beeindruckter war.


Rahn jedoch folgte ihr nicht gleich, sondern wandte sich jetzt stattdessen ihm zu. „Was du vorhin getan hast, war großartig. Ich danke dir, dass du ihr geholfen hat“, sagte er, bevor er einen kleinen, bläulich schimmernden Gegenstand präsentierte, der ungefähr die Größe eines Blattes hatte. „Das ist eine Schuppe von mir. Wenn du sie bei dir trägst und mich rufst, während du in der Nähe von Wasser bist, werde ich dir zu Hilfe kommen.“


Nero bedankte sich und dann trennten sie sich wieder. Rahn ging zum Hain, während sich die vier Weggefährten zur nebeligen Stelle des Waldes aufmachten. Alles war gut und normal, bis die ersten toten Bäume und die weißen, gespenstischen Nebelschwaden in der Ferne sichtbar wurden. Da erstarrte Ragna augenblicklich.
      „Ich will da nicht reingehen“, erklärte er, als auch die Anderen auf sein Fehlen aufmerksam geworden waren. „Dort wimmelt es doch nur so von Geistern!“
      „Du brauchst keine Angst haben“, versuchte Marduk ihn zu beruhigen. „Entgegen dem allgemeinen Aberglauben, leben Geister nicht unbedingt im Nebel. Deswegen werden wir bestimmt keine treffen.“


Er wollte gerade versichern, dass Geister auch überhaupt nicht gefährlich waren (meistens), als Ragna plötzlich: „Ein Geist! Ein Geist!“, zu schreien anfing.


Im nächsten Augenblick war er auf und davon, so schnell, dass Marduk erst eine Weile brauchte, um zu reagieren und ihm nachzulaufen. Zurück blieben Nero, Jana und ein Geist, der gerade genauso erschrocken aussah, wie Ragna zuvor. „Ein Geist? Wo? Wo?“, fragte er immer wieder.
     Jana ließ es sich natürlich nicht nehmen und flog rüber, aber allein ihr Anblick ließ ihn noch erschrockener aussehen. 
     „He, du weißt aber schon, dass du selber ein Geist bist, oder?“, sagte sie ihm.


Das reichte aus, um den Geist ins Reich der Träume zu schicken. Er fiel einfach um, was die Fee natürlich köstlich amüsierte. Ihr Lachen wurde erst von einem leisen, stetig lauter werdenden Ruf aus der Ferne unterbrochen. Als sie nachsahen, stand dort ein weiterer Geist. Eine Frau diesmal.


„Ach, ist der Idiot wieder umgefallen“, beschwerte die sich. „Dieser Feigling fällt andauernd in Ohnmacht, wenn ich auch nur auftauche.“
     „Muss ja ein lustiges Nachleben sein.“
     „Das ist kein Nachleben; wir sind gar nicht tot. Wir wurden nur verflucht.“ Sie musterte Jana skeptisch. „Du weißt nicht zufällig, wie man so einen Fluch bricht, oder?“
     Natürlich wusste Jana das nicht.


Ragna hetzte unterdessen wie ein Verfolgter durch den Wald, obwohl er seinen einzigen Verfolger, Marduk, inzwischen längst verloren hatte. Ohne, dass er das gewollt hatte. 
     Er hatte sich verlaufen, und zu allem Überfluss war er nun doch in den Nebel geraten. Er sah keine drei Schritte weit, aber eigentlich wollte er das auch gar nicht. Er wollte lieber nicht wissen, was da alles Gruseliges jenseits der unheimlichen Nebelwand lauerte.


Deswegen blieb er auch nicht stehen, bis sich plötzlich ein Gemäuer unmittelbar vor ihm aus dem Nebel schälte. Es war groß und viereckig, sandfarben mit bunt bemalten, brennenden Säulen davor. Er hatte so etwas noch nie gesehen. Doch er hatte auch gar keine Zeit, sich das näher anzusehen oder darüber nachzudenken, ob das jetzt wirklich so eine gute Idee war, in ein Steinhaus zu gehen, das verlassen mitten in einem nebligen Wald stand.
      Er warf sich mit seinem ganzen Gewicht gegen die schwere Türe, stolperte durch das dunkle Innere und fiel beinahe eine Treppe hinunter. Erst als er jene hinuntergestiegen war, nahm er sich die Zeit zum Durchatmen und beruhigte sich langsam wieder.


Zumindest, bis sich plötzlich eine Platte mit einem lauten Rumpeln über seinen einzigen Ausgang schob und ihn einschloss. Das war schlecht. Ziemlich schlecht sogar. Wie sollte er jetzt wieder hier rauskommen? 
     Ängstlich sah er sich um. Er befand sich in einem länglichen Raum mit Säulen links und rechts. Gigantische Statuen von Kreaturen, die er noch nie zuvor gesehen hatte, standen dazwischen. Am Ende des Raumes befanden sich zwei Stühle (nahm er an) und auf einem davon saß eine zusammengesunkene Gestalt. Er konnte sie nicht recht erkennen, was hieß, dass er wohl blöderweise näher ranmusste.
     Also tat er das, obwohl sich alles in ihm dagegen sträubte. Aber was blieb ihm anderes übrig?


Er ging einen Schritt, fror aber gleich wieder an Ort und Stelle fest, als urplötzlich ein Feuer in der Schale aufflammte, die eine der Statuen in den Händen hielt.
     ‚Nur nicht irritieren lassen. Einfach weitergehen‘, sagte er sich.
     Er war heute beinahe von einem Schatten überfallen worden, hatte einen Wolfsangriff überstanden, einen Dschinn und Fischmenschen gesehen. Auch wenn der Geist definitiv das Schlimmste gewesen war. Was konnte jetzt schon noch Schlimmeres kommen?


Als er die Gestalt auf dem Stuhl erreicht hatte, sah er, dass es tatsächlich ein Mensch war, den man von Kopf bis Fuß in Verbände gewickelt hatte. Er bewegte sich nicht, saß nur still auf seinem Stuhl. Ragna frafte sich, ob er wohl verletzt war?


Gerade als er nachschauen wollte, legte sich eine Hand auf seine Schulter und er schrie schon, bevor er sich umdrehte und einem weiteren Verbundenen ins (verbundene) Gesicht sah.
     „Du machst ihm Angst, Anya“, war eine tiefe Stimme hinter ihm zu hören, und Ragna überlegte echt, ob es jetzt nicht langsam mal an der Zeit war, umzufallen.
     „Oh, ich wollte dir keine Angst machen“, kam eine weibliche Stimme von vorne. „Immer haben alle Angst vor mir…“
     Sie fing an zu schniefen, und da bekam Ragna ein schlechtes Gewissen.
     „Schon… schon gut“, rang er sich durch, zu sagen. „Ich… ich habe keine Angst.“ Er hatte eine Wahnsinnsangst.


Aber die beiden Mumien waren eigentlich in Ordnung, wie er feststellen musste. Vor allen Dingen die Frau war richtig begeistert von ihm.
     „Aww! Können wir ihn behalten?“, fragte sie gerade.
     „Ich glaube ja nicht, dass das so eine gute Idee ist“, meinte ihr Gefährte jedoch.
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>>>Hier geht es zum zweiten Teil<<<

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