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Mittwoch, 25. März 2020

Kapitel 110 - Ein Leben, um dich stolz zu machen



Nefera war genervt. Seitdem diese verdammten Räuber in die Gegend gekommen waren, tauchte Reinard ständig bei ihr auf, um ihr zu sagen, dass sie auch ja bloß Zuhause bleiben sollte. Am besten sollte sie auch gleich endlich ihre Wünsche aufgeben und zu ihm kommen, um ihm ganz viele Kinder zu gebären und den Haushalt zu führen.
     Es war ja nicht mal so, dass er das nicht schon davor oft gesagt hatte, aber in letzter Zeit war er ganz besonders schlimm und drängend geworden. Es lag wahrscheinlich daran, dass er jetzt seinen Stamm anführte. 
     Sie war zwar zu seiner Einführungszeremonie hingegangen, war danach jedoch wieder nach Hause gegangen, und das hatte ihn ziemlich gestört, um es milde auszudrücken. Er war fuchsteufelswild geworden, aber außer zu schimpfen wie ein Kesselflicker hatte er nichts getan. Er wusste schließlich, dass sie ihre Verbindung sofort lösen würde, wenn er auch nur versuchen würde, sie zu etwas zwingen zu wollen.


Tatsache war, dass Nefera ihn zwar ganz gut leiden konnte, sie es aber überhaupt nicht leiden konnte, wie drängend und kommandierend er war. Sie hatte schon die Geschichten gehört, dass die Frauen anderswo machen mussten, was ihre Männer ihnen sagten, aber hier war das glücklicherweise nicht so. In ihrem Stamm konnte sie wählen, wen sie wollte, und sie konnte tun, was sie wollte. 
     Sie wusste nur nicht, was genau sie eigentlich wollte. Die Vorstellung, als Reinards Frau und Mutter seiner Kinder zu verenden, gefiel ihr jedenfalls immer weniger. 


Da die Stämmeversammlung heute bei ihnen tagte, hatte Nefera sich aus dem Staub gemacht, denn die Versammlungen bedeuteten, dass Reinard bei ihnen auftauchen würde, und sie wollte ihm demonstrativ zeigen, dass er ihr nicht zu sagen hatte, was sie tun und lassen sollte.


Also war sie Richtung Meer gegangen. Sie hatte Glück, dass es ausnahmsweise gerade mal nicht regnete. Der Himmel über ihrem Kopf sah zwar aus, als überlegte er es sich noch, ob er das änderte, aber Nefera machte ein bisschen Regen sowieso nichts aus; sie mochte ihn eigentlich ganz gerne. Es hatte die letzten Wochen nur ein bisschen zu oft geregnet, selbst für ihren Geschmack.
     Gedankenverloren war sie über den Strand geschlendert, hatte dem Rauschen des Meeres gelauscht und das Gefühl des weichen Sandes unter ihren Füßen genossen, und war dann Richtung Nebelwald abgebogen. Eine Weile ging sie einen Hügel hinan, die dunklen, hohen Schatten von Bäumen streiften vorbei, bis sie sich am Rande des Waldes an einer Klippe wiederfand.
     Sie erschrak ein bisschen, als sie plötzlich den niedrigen Sonnenstand bemerkte. Sie hatte völlig die Zeit vergessen. Aber dann wurde sie auf eine Gestalt aufmerksam, die sich dunkel vom Hintergrund des grauen Himmels abhob, und sie schob ihre Gedanken zur Seite.  


Da saß jemand bei der Klippe, ließ die Beine über den Rand hängen. Sie erkannte den jungen Mann mit den unrasierten, eingefallenen Wangen zunächst nicht, erinnerte sich dann aber vage daran, ihn schon einmal gesehen zu haben. Damals auf dem Junggesellenfest. Er war derjenige gewesen, der behauptet hatte, dass ihn der ganze Partnerkram nicht interessierte. Sie hatte nur versäumt, seinen Namen zu behalten.


Als sie zu ihm hinübergehen wollte, bemerkte sie jemand anderen, der abseits entfernt stand und gerade abwechselnd Blicke zwischen ihr und dem Jungen hin und her warf. Doch der Andere nahm die Beine in die Hand und war weg, bevor Nefera zu ihm gehen konnte. Im nächsten Moment war er nur noch ein kleiner Fleck in der Ferne.
     Also ging sie weiter zu dem Uruk-Jungen. Er nahm nicht einmal Notiz von ihr. Nicht einmal, als sie sich direkt neben ihn setzte. Sein Blick war merkwürdig leer.


„Hallo… ähm… wie war nochmal gleich dein Name?“
     Seine leeren Augen richteten sich auf sie, was sie ein bisschen erschreckte, und er sagte mit tonloser Stimme: „Leif.“
     ‚Fast wie ein Toter‘, dachte sie.
     Die Augen gingen wieder von ihr fort, raus aufs Meer, hinein in die Leere.
     „Was machst du denn hier so allein?“, fragte sie ihn.
     „Nichts wirklich.“
     „Weißt du, dass da hinten einer im Wald war? Ich glaube, er hat dich beobachtet.“
     „Ja, ich weiß. Das ist Gil. Sie kommt andauernd hierher.“
     „Warum?“
     „Weiß nicht. Wahrscheinlich ist sie sauer, dass ich Ragna auf dem Gewissen habe.“
     „Ragna war dein Bruder, oder?“ Als er nickte, fragte sie weiter: „Was ist mit ihm passiert?“
     „Er ist von Bienen gestochen worden und gestorben.“
     Sie hatte davon gehört, dass einer von Wulfgars Söhnen gestorben war. Als Bote des Uruk-Stammes war Wulfgar in der Gegend schließlich überall bekannt. Sie hatte nur die Umstände nicht gewusst.
     „Und du bist echt schuld daran?“


Da nickte Leif wieder, und es war das erste Mal, dass sich eine Emotion auf seinem Gesicht zeigte: Betroffenheit.
      „Wie das?“, wollte sie wissen.
      Plötzlich waren seine Augen so voller Angst, dass Nefera selber erschrak. „Ich habe Ragna dazu gebracht, eine dämliche Mutprobe zu absolvieren, einen Stock ins Bienennest zu stecken und sie wütend zu machen.“
     Nefera wusste nicht, was sie dazu sagen sollte, und weil auch Leif jetzt nur noch betroffen aufs Meer starrte, schwiegen sie also.
     Das Rauschen der Wellen hatte so eine beruhigende Wirkung auf sie, dass sie sich trotz der merkwürdigen Situation entspannte. Sie liebte das Meer. Den belebenden Wind, der sie sanft streichelte und der den Geruch von Salz mit sich führte.


Als sie schließlich wieder zu Leif sah, waren seine Augen erneut ins Leere vor sich gerichtet. Es war angenehm, mal nicht angestarrt zu werden. Die meisten Männer, mit denen sie zu tun hatte und die keine Frau hatten, gafften sie immer irgendwann an, wenn sie glaubte, dass sie es nicht mitbekam.
     „Tut es dir leid? Das mit deinem Bruder, meine ich.“
     „Leidtun ist ein viel zu schwacher Ausdruck dafür. Wenn ich es könnte, würde ich sofort mit ihm tauschen. Ihm mein Leben geben. Er war ein ganz besonderer Junge.“
     Er rutschte wieder ins Schweigen ab, und Nefera tat es ihm gleich. Die Sonne begann im Meer zu versinken.
     „Dann solltest du für ihn mit leben.“


Er starrte sie verstört an, sagte aber nichts dazu. Also erhob sie sich, strich sich verstohlen ein paar Grashalme von ihrem Hinterteil und erklärte: „Ich muss zurück nach Hause. Es wird langsam dunkel.“


Er antwortete ihr nicht. Sein Blick schweifte erneut aufs Meer hinaus, aber diesmal war er nicht leer. Da war etwas in seinen Augen, das sie nicht zuordnen konnte.
     Als sie jetzt abdrehte, waren ihre Sorgen, ihr Ärger über Reinard, der sie vorher noch hierher begleitet hatte, längst wieder von ihr abgefallen.


Ein paar Tage später war es dann soweit: Die zukünftigen Wachen hatten sich auf dem Uruk-Hof eingefunden, um ihre erste Trainingsstunde anzutreten. Entgegen dem, was ursprünglich geplant gewesen war, hatte Malah Freiwillige von allen Stämmen und Familien der Gegend eingeladen.


Sie hatte, wie ihr Großvater vorgeschlagen hatte, eine Notversammlung aller Oberhäupter der Gegend (minus Tanja und Wirt, die kein Interesse daran bekundet hatten, teilzunehmen) einberufen gehabt. Es hatte den Anführern des Zoth- und Ahn-Stammes natürlich überhaupt nicht gefallen, aber Malah hatte es dennoch getan.
     Sie hatten sich also alle beim Zoth-Stamm getroffen und Malah hatte die Sache mit den Räubern, der nötigen Abstellung von Wachen und ihrer Ausbildung vorgebracht und darüber abstimmen lassen. Wie zu erwarten, war das Thema der Notwendigkeit der Wachen schnell geklärt gewesen, weniger schnell aber war es zugegangen, als es daran gegangen war, wer die Wachen denn jetzt stellte. 
     Nach langer Diskussion hatte sich Malah letztendlich dazu bereit erklärt, einen Großteil zu stellen, wenn die Anderen dafür bei ihren Leuten herumfragten, ob es Freiwillige für diese Aufgabe gab.


Und dann war der eigentliche Kernpunkt gekommen, der sich schnell zu einer ganz schön erhitzten Debatte hochgeschaukelt hatte: Wer würde nun der Ausbilder werden? 
     Griswold, Roah und Reinard, der jetzt den Ahn-Stamm anführte, waren strikt dagegen gewesen, dass Garrus, der quasi alle Hells mit dem Leben bedroht hatte, das übernehmen sollte. Da auf der anderen Seite Malah, Marduk und Gisa aber dafür gewesen waren, hatten sie eine Pattsituation gehabt, in der niemand von seiner Position hatte weichen wollen.


Es war letztendlich bis vor den Ältestenrat gegangen, der glücklicherweise für Malahs Anliegen entschieden hatte.


Dennoch waren Reinard und Roah natürlich ziemlich sauer darüber gewesen, dass Malah ihnen quasi einen Dolch in den Rücken gestoßen hatte, indem sie die Familien und den Händler in die Sache mit einbezogen hatte. Auch wenn Reinard sich relativ schnell wieder beruhigt hatte. Ihrer Beziehung zu den anderen beiden Stammesführern hatte es dennoch nicht gut getan.


Zu allem Überfluss war ihre Ausbeute an Freiwilligen auch noch ziemlich mager ausgefallen. Von den Hells war niemand gekommen, vom Ahn-Stamm gerade einmal Lin und sein Vater Thur. Vom Zoth-Stamm war nur Nefera da (was Roah und vor allen Dingen Reinard nicht gern gesehen hatten), und von den Blums keiner. Marduk hatte versprochen, ein paar Söldner anzuheuern, hatte selber aber verweigert, zu kommen. Gerade einmal drei Freiwillige; nicht einmal Alek hatte sich blicken lassen, was Malah ein bisschen enttäuschte.
     Sie hatte immerhin auch zehn Leute überredet bekommen. Da war Wirt, was beinahe an Tanja gescheitert wäre, die strikt dagegen gewesen war, dass sich ihr Gatte in Gefahr begab, Tann und Tanna, ihren Bruder Nila hatte sie dazu verdonnert, teilzunehmen, Jin und Jana, Nero und Rahn, obwohl Akara sich Sorgen machte, dass sein Herz noch immer zu schwach für die Anstrengung war. Sie selber trainierte als Stammesführerin natürlich auch mit, das verstand sich ja von selbst. Und Nyota, die es sich natürlich nicht hatte nehmen lassen, mitzumachen, wenn Garrus der Lehrer war. Sie war sogar voller Feuereifer dabei. So hatte Malah sie bei keinem von Wulfgars Trainingsstunden in der Vergangenheit je gesehen.


Als sie dann endlich eine Pause einlegten, in denen Garrus den Lernwilligeren Tipps gab und Nyota ihn dabei ununterbrochen anhimmelte, war Malah ganz schön geschafft. Sie hatte schon die Trainingsstunden in ihrer Kindheit nicht gerade gern gehabt, und Garrus nahm wirklich keine Rücksicht auf diejenigen, die nicht mithalten konnten. Er war gnadenlos und wesentlich erbarmungsloser, was Fehler anging, als Wulfgar. 
     Sie musste sich ein Grinsen verkneifen, als sie sah, dass es jedoch vielen so ging wie ihr. Und nicht nur den Älteren. Auch ihr werter Herr Bruder lag völlig geprügelt am Boden. Ihn hatte Garrus ganz besonders hart rangenommen, kam es ihr vor.


Während sie sich noch darüber amüsierte, wurde sie plötzlich darauf aufmerksam, dass Alek sich dem Hof näherte.
     Sie raffte sich auf, ging ihm entgegen, und wie es aussah, wollte er auch genau zu ihr. Doch er sah überhaupt nicht fröhlich aus, wie er es ansonsten tat. Im Gegenteil, ein finsterer Ausdruck lag in seinem Gesicht, den sie da noch nie zuvor gesehen hatte. Auch der blaue Fleck an seinem Auge war neu.


„Du meine Güte! Was ist denn mit dir passiert?“, fragte sie ihn erschrocken.
     Aleks Augen schweiften umher, dann blieben sie schließlich an ihr hängen. Er sah so ernst aus, dass es unheimlich war. „Kann ich dich mal kurz allein sprechen?“
     Malah nickte und deutete hinter sich, und sie gingen zum Grabhügel hinüber, wo sie ungestört reden konnten.


„Was ist denn los?“
     „Ach, nix ist los! Ich hab mich nur mit meinem Vater in die Haare gekriegt, das ist los!“
     „Dein Vater ist dafür verantwortlich?“, fragte sie und zeigte auf seine blutige Lippe.
     „Ja, nachdem ich ihm ein blaues Auge verpasst hab“, erzählte er grimmig.
     „Was ist denn nun passiert?“
      


Er schnaufte wütend. „Ich hab rausgefunden, dass meine Mutter was mit Thur, dem Arsch, hat.“
     „Ist das nicht Lanns Mann?“
     „Ja, das dachte ich auch. Aber scheinbar ist er es nicht mehr. Schon eine ganze Weile nicht. Und als ich zu Vater bin, um ihn in den Hintern zu treten, dass er was dagegen machen soll, meint er nur so, es ist ihm egal! Kannst du das glauben? Meine Mutter ist ihm einfach egal! Unsere Familie ist ihm egal! Mann!“ Er warf die Hände zum Himmel, seufzte bitter. „Kann ich hierbleiben, Malah? Ich hab echt kein Bock mehr, da zu leben.“  


„Natürlich“, sagte Malah mitfühlend. „Tut mir leid wegen deinen Eltern.“
     „Schon gut. Ich bin nur so wütend, dass mir kein Schwein was gesagt hat, das ist alles.“ Er rieb sich übers Gesicht, seufzte erneut, diesmal schwermütig. „Nah, es ist nicht alles. Wo ich jetzt hier lebe, gibt es ein paar Sachen, die ich dir vielleicht erzählen sollte. Ich glaub, du solltest sie wissen.“


Kurz darauf hatte Malah eine Versammlung ihrer engsten Vertrauten einberufen. Da waren Jana und Luis, Tann und Aan als ihre Berater, und Dana als ihre Älteste. Auch Rahn, der ihre Verbindung zum Zoth-Stamm war, Lulu, die am Hafen viel mitbekam, und auch Akara, die ihre einzig verbliebene Verbindung zu den Hells war, nachdem Leah momentan am Ausruhen war, hatte sie gebeten, teilzunehmen. Und natürlich war Alek anwesend, der gerade ziemlich unbehaglich vor versammelter Runde stand.
     „Ich habe euch zusammengerufen“, eröffnete sie die Versammlung, „weil Alek, der von nun an bei uns leben wird, mir ein paar… beunruhigende Dinge erzählt hat.“ Sie nickte ihm zu. „Würdest du es bitte wiederholen, Alek?“
     „Ähm, naja… die Sache ist die, dass… muss ich wirklich?“
     „Bitte, Alek.“


„Ich krieg ja nicht alles mit, was in meinem alten Zuhause so vorging, aber ich hab trotzdem mitgekriegt, dass Lann meinte, dass es dringend einen Gegenpol zur Übermacht eures Stammes bräuchte. Deshalb hat sie auch angefangen, Verbindungen zu den anderen Stämmen und so zu knüpfen.“
      Als er jetzt zögerte, nickte Malah ihm aufmunternd zu und sagte: „Nur weiter.“
     

„Die Hells sind als eure Nachbarn und Schmiede ja ideal für sowas. Ihr seid ja nie so gut mit denen ausgekommen. Deshalb wollte sie Lin eigentlich dahin verheiraten, und sie hat ihnen auch Preisnachlässe beim Eisen versprochen.


Zum Zoth-Stamm hat sie auch angefangen, Verbindungen zu knüpfen, nachdem Tuck tot war. Sie hat nur drauf gewartet, dass er abtritt, weil er Roah immer reingeredet hat, dass sie die Freundschaft mit eurem Stamm pflegen soll. Wegen Rahn und so. Aber nachdem er tot war, hat sie dafür gesorgt, dass sich Reinard Nefera schnappt.


Sie hat auch über die Blums und Alin gesprochen. Dass sie Mai zu den Blums geben könnte und sowas. Ich hab’s nicht so ganz mitgekriegt. Als sie merkte, dass ich gelauscht hab, hat sie mich schwören lassen, nix zu verraten. Seitdem war sie mir gegenüber auch total misstrauisch. Ach ja, und sie wollte auch nicht, dass dieser Garrus eure Leute ausbildet, weil sie ihn selber in ihrem Stamm wollte, aber er wollte nicht.“
      Es war danach einen ganzen Moment lang still, in dem man nur das Knacken und Knistern in der Feuerstelle zwischen ihnen hören konnte.


„Glaubst du etwa, dass sie uns angreifen will?“, fragte Luis schließlich in die Stille hinein.
     „Nein!“, wehrte Alek erschrocken ab. „Ich hätte es ja auch nicht mal erwähnt, weil ich nicht dran glaube, dass Lann wirklich richtig gegen euch vorgehen wird, aber ich mach mir, ehrlich gesagt, wegen Reinard Sorgen. Er ist schon immer aggressiver gewesen. Solange Lann da ist, wird er bestimmt nix machen, aber wenn sie irgendwann nicht mehr da ist…“ Er zog den Kopf ein. „Ich wollte euch nur vorwarnen, ist alles.“
     „Und dafür sind wir dir auch dankbar“, ermutigte Malah ihn.
     „Ist die Frage, ob wir ihm überhaupt vertrauen können“, warf Jana misstrauisch ein. „Er ist ja einer von denen.“
     „Wenn du mit denen anfängst, hast du schon längst angefangen, Mauern zu bauen“, wurde sie von Luis ermahnt. „Das solltest du nicht tun, Jana.“
     Jana verzog das Gesicht, blieb aber ruhig.


„Ich vertraue Alek und bürge auch gerne als Stammesführerin für ihn, wenn ihr das wollt.“
     „Die Frage ist auch viel eher, wie wir jetzt weiter deswegen verfahren sollen“, merkte Aan an.
     „Deswegen habe ich euch ja zusammengerufen. Ich will eure Meinung dazu hören, bevor ich eine Entscheidung treffe. Was meint ihr also dazu?“
     Tann ergriff als erster das Wort, als niemand etwas sagte, und meinte: „Das ist eine schwierige Angelegenheit. Ich habe meine eigene Meinung dazu, aber wir sollten erst einmal herausfinden, wie viel an der ganzen Sache überhaupt dran ist. Versteh mich nicht falsch, Alek, als Sohn meines Bruders hast du mein vollstes Vertrauen, aber es ist wichtig, herauszufinden wie weit das ganze schon gegangen ist.“
     „Rahn? Weißt du etwas vom Zoth-Stamm?“, wandte sich Malah an den Zweitältesten in der Runde.


„Nicht wirklich. Das mit Nefera und Reinard kann ich bestätigen, aber das ist ja nichts Ungewöhnliches. Roah und Lann standen sich schon immer ziemlich nahe. Aber ansonsten kann ich nichts Auffälliges berichten.“
     „Lulu? Wie sieht es beim Handelsposten aus?“


Lulu dachte einen Moment nach, bevor sie berichtete: „Mir ist bei der Buchhaltung aufgefallen, dass Lann immer sehr viel großzügiger ist, wenn Alin da ist. Sie macht ihm manchmal auch Geschenke. Wenn nur Marduk oder ich da sind, macht sie das nie.“
     „Mutter?“


„Ähm… ich weiß nicht, was ich dir sagen soll“, erwiderte Akara überfordert. „Ich habe leider nichts Erwähnenswertes mitbekommen. Tut mir leid.“


Malah bestätigte nickend und sagte dann: „Es ist wirklich unglücklich, dass Wulfgar gerade nicht hier ist. Er wusste dank seiner Zwillingsschwester immer einiges über die Nachbarn, und er war auch unsere einzige Verbindung zu den Blums. Weiß jemand über die was? Dana vielleicht?“
     Doch die Angesprochene schüttelte nur den Kopf.


„Nero hat mir letztens erzählt, dass er Lann mit Mai zusammen bei den Blums gesehen hat“, mischte sich Akara aufgeregt ein.
     „Das bestätigt Aleks Aussage“, meinte Malah. „Sie wollen scheinbar Verbindungen über Heiraten knüpfen.“
     „Naja, aber warum hat sie ihren Sohn dann an unsere Jade gegeben?“, merkte Dana an.
     Woraufhin Aan erklärte: „Es ist nie verkehrt, Augen und Ohren beim Feind zu haben.“


„Lasst uns nicht gleich vom schlimmsten ausgehen“, versuchte Luis zu beschwichtigen. „Misstrauen ist es erst, was Feinde schafft. Ich kann mir jedenfalls nicht vorstellen, dass der Ahn-Stamm gegen uns vorgehen will. Immerhin ist Lenn, der auch noch dort lebt, mal ein Teil unseres Stammes gewesen.“
      Was Alek augenblicklich einen säuerlichen Ausdruck aufs Gesicht zauberte.
     „Ja, und für meinen Bruder lege ich meine Hand ins Feuer, dass er uns warnen würde, wenn Lann oder Reinard uns angreifen wollen würden“, pflichtete Tann ihm bei. „Natürlich ist es nie verkehrt, Vorsicht walten zu lassen und sich genügend vorzubereiten, aber wir sollten nichts überstürzen.“  
     Es ging ein allgemeines Nicken durch die Reihen, nur Jana sah ein bisschen skeptisch aus.
     „Also ist es beschlossen, dass wir vorerst abwarten und uns umhören“, resümierte Malah.


Während Malah ihre Berater zur Versammlung gerufen hatte, hatte sich die Trainingsrunde draußen bereits wieder aufgelöst. Garrus versuchte momentan, das Weite zu suchen, wurde aber von seinen Schützlingen – insbesondere von Nyota und Nero – immer wieder mit Fragen bombardiert und kam kein Stück weit.
     Nefera, die vor allem hergekommen war, um Reinard zu ärgern, machte sich gerade zum Aufbruch bereit, als ihr auffiel, dass jemand vom Nachbargrundstück zu ihnen hinübersah. Sie erkannte die Gestalt sofort, also zögerte sie nicht lange und ging zu ihr, bevor die Andere wieder verschwinden konnte.


„He, du, ich habe dich letztens beim Waldrand gesehen“, rief sie ihr entgegen. „Du bist Gil, nicht wahr? Leif hat das zumindest gesagt.“
     Gil starrte betroffen auf ihre Füße, antwortete nicht.
     „Du solltest das nächste Mal auch rüberkommen und mitmachen“, versuchte es Nefera anders.
     „Lieber nicht“, kam leise zurück.
     „Du kannst ja doch sprechen. Warum denn nicht? Willst du denn nicht kämpfen lernen? Du siehst ja immerhin schon zu.“
     „Wir stehen aber nicht so gut zu den Nachbarn.“
     „Ja und? Du lernst doch bei Garrus und nicht bei jemandem vom Uruk-Stamm.“


Gil guckte überrascht, bevor sich tatsächlich ein verwegenes Grinsen auf ihr Gesicht stahl. „Du hast recht! Scheiß drauf! Das nächste Mal bin ich dabei!“
     „Also, da jetzt geklärt ist, warum du uns beobachtet hast: Warum hast du ihn beobachtet? Leif, meine ich. Er wusste es auch nicht genau und meinte, dass du sauer auf ihn bist, weil er seinen Bruder auf dem Gewissen hat. Stimmt das?“


„Was? Nein! Ich bin doch nicht sauer auf ihn. Ich… ich… ich bin es eigentlich, auf den er sauer sein sollte.“
     „Warum?“
     „Weil Ragna das mit den Bienen nur gemacht hat, um mich zu beeindrucken. Ich bin schuld dran“, erzählte Gil unglücklich. 
     Sie hatte es nach Ragnas Tod nur als Gerücht gehört, aber sie glaubte daran. Es würde zumindest erklären, warum er so plötzlich und unbedingt mit ihr befreundet hatte sein wollen. 
     „Vielleicht solltest du Leif das mal sagen, weil er glaubt, dass er dran schuld ist.“
     „Ich… trau mich aber nicht…“


Nefera lächelte ein wunderschönes Lächeln, dann nahm sie sie einfach am Arm und bot an: „Komm, ich begleite dich und helfe dir, ja?“
     Sie zog sie hinter sich her, und Gil war so überrascht, dass sie es einfach mit sich machen ließ. Nefera war ein bisschen merkwürdig. Anders als alle Frauen, denen sie bislang begegnet war. Aber auch ziemlich fasziniert.


Sie fanden Leif an seinem üblichen Platz, wohin er immer floh, wenn seine tägliche Arbeit getan war. An den Klippen, wo Nefera ihn zuletzt angetroffen hatte.
     Es war nicht weit von dem Ort entfernt, an dem Ragna einst gestorben war, und er liebte die Aussicht aufs Meer. Die Vorstellung, einfach von der Klippe ins Wasser zu springen, war manchmal das Einzige, das ihn von seiner Schuld ablenkte. Er hatte nie das Schwimmen gelernt, obwohl sein Vater ihn immer wieder dazu angehalten hatte.
     Er dachte gerade wieder daran, es einfach zu tun – einfach zu springen und für einen Moment frei zu sein – als Nefera mit Gil im Schlepptau ankam. Zuerst wurde die Schuld schlimmer, als er das Mädchen sah, in das sein Bruder einst verliebt gewesen war, aber dann ergriff glücklicherweise wieder die Leere Besitz von ihm.
     Er stand auf, um ihnen entgegenzugehen.


„Hey, Leif, Gil hier hat dir was zu sagen“, flötete Nefera unpassend fröhlich. „Ihr solltet euch mal aussprechen.“
     Gil sah überhaupt nicht aus, als ob sie irgendetwas sagen wollte. Also tat er es und sagte ihr: „Es tut mir leid.“ 
     „Ähh, was?“, spuckte Gil jetzt aus.
     „Dass Ragna wegen mir gestorben ist.“
     „Wieso denkst du das? Er… ist doch gestorben, weil er mich beeindrucken wollte.“


Wieder die Angst in Leifs Gesicht, die sich langsam in Horror verwandelte. „Es ist allein meine Schuld. Ich habe ihn dazu angestiftet, diese dämliche Mutprobe zu machen. Weil ich selber schwach war und gegen niemanden angekommen bin, wollte ich, dass niemand von uns denkt, dass wir schwach und feige sind. Weil wir doch die Söhne vom stärksten Kämpfer der Gegend waren.“ 
     Plötzlich fluteten Tränen sein Gesicht. Tränen, die er seit dem Tag, an dem Ragna gestorben war, nicht mehr vergossen hatte. „Ich war so dumm! Das war alles so unwichtig! Warum nur war mir das so wichtig? Wichtig war doch nur, dass Ragna da war, und jetzt ist er tot und ich bin schuld daran! Ich hätte damals sterben sollen... Ich würde alles tun, um das rückgängig zu machen, was ich damals getan habe…“


Nefera war betroffen von der Szene, und überrascht war sie, als Gil, die Leif bislang nur erschrocken angestarrt hatte, ausholte und ihm eine mit der Faust auf die Wange verpasste. Leif taumelte, blieb aber auf den Beinen und sah mit tränennassen Augen zu ihr auf. Wie ein getretener Hund, schoss es Nefera durch den Kopf.
     „Hör auf zu heulen! Das ist… Ragna würde das nicht wollen! Er würde sich total schlecht fühlen, weil du wegen ihm heulst und dir die Schuld für seinen Tod gibst!“
     „Du bist doch auch nicht besser…“


Gil hatte inzwischen tatsächlich gegen ihre Tränen verloren, aber sie gab sich trotzdem nicht die Blöße, jämmerlich zu weinen wie Leif. Sie hielt ihre Wut bewundernswert stur aufrecht.
     „Wenn Ragna das nicht wollen würde“, mischte sich Nefera ein, „solltet ihr vielleicht einfach aufhören, euch die Schuld an seinem Tod zu geben und lieber so leben, dass es ihn stolz machen würde.“


„So etwas hast du das letzte Mal auch schon gesagt“, entgegnete Leif ruhig. „Und ich habe seitdem lange darüber nachgedacht. Die Frage ist nur: Wie lebe ich, um Ragna stolz zu machen?“
     „Tja, das musst du wohl selber herausfinden.“
     Woraufhin Leif über seine Schulter blickte, fort von hier, aufs Meer hinaus.
     ‚Was nur würde dich stolz machen?‘ 
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 Hier weiterlesen -> Kapitel 111

Das ist die Frage: Wie wird Leif sein Leben von nun an führen? Es wird auf jeden Fall allerhöchste Zeit, dass er aus seinem Trauersumpf herauskommt. Und dasselbe gilt für Gil, die bislang mit Wut und Verleugnung auf Ragnas Tod reagiert hat. Denn eines ist klar: Selbstgeißelung wird Ragna auch nicht wieder lebendig machen. Damit ist niemandem geholfen. 
     Bleibt zu hoffen, dass Neferas Worte die beiden aufgeweckt haben, und bleibt auch zu hoffen, dass Alek mit seiner Befürchtung, dass der Ahn-Stamm sich gegen den Uruk-Stamm wenden könnte, falsch liegt.   

Nächstes Mal dann haben wir das letzte Kapitel des Interludiums, in dem Luis eine Vision hat, an deren Ende ihn nur eine Frage drängt: Wo ist sein Vater? Dann erreichen sie schlechte Nachrichten aus der Ferne, und Malah bekommt es das erste Mal mit einem schon lange schwärenden Streit zu tun.

Mein Dank geht übrigens an Zordrag, der mir nach dem Lesen des Kapitels den Hinweis gab, dass es, wie ich befürchtet hatte, mit den vielen Charakteren von den anderen Stämmen, die bislang nie vorkamen, etwas verwirrend geworden ist. Auf seinen Rat hin, habe ich fünf weitere Bilder mit den jeweiligen Personen eingefügt (bspw. das mit Lenn, Ana und Thur).  

Bis dahin dann wünsche ich euch, dass ihr und alle eure Lieben gesund bleibt. Passt auf euch auf!

PS: Da ich gezwungenermaßen gerade ein bisschen Zeit habe, kommt das nächste Kapitel schon nächsten Mittwoch. Auch habe ich die Outtakes mal ein bisschen aufgestockt. Neu ab Kapitel 100.