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Mittwoch, 28. Oktober 2020

Kapitel 125 - Die Dinge, die wir tun, und deren Auswirkungen VIII

 
 
Der Tag neigte sich langsam aber sicher dem Ende zu. Jade wurde hier und da herumgezeigt wie eine Trophäe, nahm Geschenke und Gratulationen entgegen, doch ansonsten wurde sie von ihrem neuen Mann fleißig ignoriert.
     Die Blums kamen vorbei, und als auch endlich die Hells (mit mehr als säuerlichen Gesichtern) ihre Aufwartungen gemacht hatten, nutzte die Braut die Atempause, um nach draußen zu entfliehen.


Sie fühlte sich, als müsse sie ersticken, und nicht einmal die eiskalte Abendluft half ihr beim Durchatmen. Ihr war zum Heulen zumute, hier, allein draußen in der Dunkelheit, aber sie hatte nicht einmal mehr Tränen übrig. Leise rieselnd hatte es zu schneien begonnen.


Sie spähte in die anbrechende Nacht hinein und überlegte wirklich, einfach davonzulaufen. Wie leicht das doch wäre. Einfach auf und davon.
     ‚Aber das trau ich mich ja doch nicht.‘
     Sie musste bitter darüber lachen, dass sie sich stattdessen lieber trauen hatte lassen, und da spuckte die Dunkelheit plötzlich jemanden aus.


Es war Nila, und als Jade das erkannte, befiel sie augenblicklich ein ungutes Gefühl. Es war nie gut, allein mit Nila zu sein. Und – wollte er etwa tatsächlich zu ihr? Das war ja noch schlimmer!
     „Jade, da bist du ja!“, rief er erleichtert.
     „Was willst du denn von mir?“, erwiderte sie reserviert.
     „Ich brauche dringend deine Hilfe!“ Er wies gehetzt hinter sich in die Dunkelheit. „Schnell!“
     „Und wobei sollte ich dir bitte helfen können?“


„Du… weißt doch, dass ich ein Mädchen treffe, nicht wahr?“
     Angeblich, ja.“
     Sie erwartete, dass er wütend wurde, aber er warf stattdessen nur nervöse Blick hin und her.
     „Ich… ich glaube, ich habe sie geschwängert.“ Hastig fügte er hinzu: „Aber wir wissen es nicht genau. Bitte, wir brauchen deine Hilfe! Du bist doch eine Frau und kennst dich mit sowas aus.“
     „Natürlich, ich komme mit dir und dann verschleppst du mich und verschacherst mich an Räuber oder sowas! Ich glaube dir kein Wort!“
     „Aber es ist wahr! Bitte, ich würde nicht zu dir kommen, wenn ich nicht so verzweifelt wäre, doch Nara braucht dringend deine Hilfe!“


„Nara?“, war sie schlecht überrascht.
     Nun ging auch ihm auf, dass er sich scheinbar verplappert hatte. Eingeschüchtert verstummte er.
     „Himmel, Nila, bist du bescheuert? Du kannst dich doch nicht an Nara vergreifen! Die ist doch wie ein Kind! Die weiß gar nicht, was sie tut!“
     „Für deine Predigten ist es jetzt ein bisschen zu spät“, meinte er sauer. „Ich weiß, dass ich Mist gebaut habe, okay? Aber das ändert auch nicht, dass sie vielleicht schwanger ist, sich in einer Höhle verschanzt hat und nicht rauskommen will, obwohl es draußen schneit. Sie wird noch erfrieren, wenn das so weitergeht!“


Plötzlich stand er vor ihr, dass sie beinahe zu Tode erschrak, flehte: „Wenn du schon nicht mir helfen willst, dann hilf wenigstens ihr! Bitte!“
     Sie hatte ihn noch nie so verzweifelt gesehen, geschweige denn, dass er jemals jemanden angebettelt hatte. Sie traute ihm nicht, aber sie konnte auch nicht riskieren, dass er die Wahrheit sprach und Nara wegen ihr erfror.


Sie wusste, dass es eine saudämliche Entscheidung war, allein mit ihm zu gehen, und vielleicht war es ihr Unmut über die Hochzeit, ihr Drang, zu fliehen, dass sie es an diesem Abend doch tat. Allein mit Nila in die Dunkelheit hinauszugehen, ohne, dass jemand davon wusste.


Und es hätte auch niemand erfahren, wenn nicht Wulf aus seinem alkoholschweren Schlummer erwacht wäre und nach draußen gegangen wäre, um seine Blase zu erleichtern. 
     Noch halb benommen bemerkte er, wie sich zwei Gestalten vom Haus entfernten, und er erkannte in einer die weinende Braut und in der anderen den Kerl mit den fiesen Augen. Der Alkohol vernebelte seinen Verstand, aber selbst in seinem Zustand wusste er, dass der Ärger bedeutete, und bevor er das ganze richtig durchdacht hatte, war er ihnen gefolgt. Ebenfalls vollkommen allein und ohne jemandem Bescheid zu geben.


Nila brachte Jade tatsächlich zu einer Höhle, aber anstatt Nara erwartete ausgerechnet Lin sie dort. Sie musste erst zweimal hinschauen, um ihn überhaupt zu erkennen. Er war schmutzig und sein Bart war lang und zerzaust. Als er ankam, um sie in den Arm zu nehmen, roch er auch nicht gerade gut.


„Jade, ich bin so froh, dich zu sehen, meine Liebste“, rief er – und hatte er da etwa Tränen in den Augen?
     Jade war aber nicht froh, ihn zu sehen. Sie schob ihn von sich und ging auf Abstand, was einen fragenden Ausdruck auf seinem Gesicht zutage förderte.


„Was machst du denn hier? Und wo ist Nara?“, wollte sie wissen.
     „Wieso Nara?“, war Lin verwirrt.
     „Eine kleine Lügengeschichte, die ich ihr erzählen musste, um sie herzulocken“, erklärte Nila ihm lapidar. „Ich wusste, dass sie nicht anders konnte, als zu helfen, wenn jemand hilfloses wie die in Gefahr ist.“
     „Ich wusste es! Du hast mich angelogen!“


Sie drehte um und versuchte zu entkommen, aber Lin ließ sie natürlich nicht. Er hatte sie sofort am Arm gepackt.
     „Lass mich! Was habt ihr mit mir vor?“
     „Das, was wir ohnehin vorhatten: heiraten“, eröffnete er ihr. „Wir werden nur zuerst von hier fortgehen und auch woanders leben müssen.“
     „Falls du es nicht mitbekommen hast: Ich habe gerade deinen Bruder geheiratet. Weil du wen anders heiraten wolltest.“
     „Von wegen! Reinard, das Schwein, hat einfach bestimmt, dass er dich heiratet, nachdem Nefera weg ist“, spie Lin abfällig. „Ich hatte überhaupt nichts dazu zu melden. Und als ich mich aufgelehnt habe, hat er mich eingesperrt. Wenn ich meine dämliche Schwester nicht aufs Kreuz gelegt hätte, dass sie mich raus lässt, wäre ich noch immer da gefangen. Und seitdem bin ich durch die Hölle gegangen. Aber jetzt ist alles gut. Ich habe dich aus den Klauen meines Bruders befreit, und wir können endlich heiraten.“


Sie riss sich von ihm los. „Ganz sicher nicht! Ich will nicht von hier fortgehen!“
     „Oh, du wirst mit mir kommen, ob du nun willst oder nicht!“
     Sein Blick wurde so böse, dass es sie eiskalt durchfuhr. Das kannte sie schon von ihm. Jedes Mal, wenn er so schaute, wusste sie, dass es besser war, ruhig zu sein. Aber jemand anderes wusste es nicht. Unerwartet tauchte ein vierter in ihrer Runde auf.


„Hast du nicht gehört, dass sie nicht will? Lass sie in Ruhe!“
     Es war Wulf, der Fremde. Und sein Auftreten schien nicht nur sie ein bisschen aus der Bahn zu werfen.
     „Was willst du denn? Das geht dich nichts an!“, fauchte Lin wütend.


Nila hob die Rechte, um ihn zum Schweigen zu bringen. „Ich kümmere mich darum.“
     Er las einen Stein vom Boden auf, so groß, dass er ihn gerade so mit den Fingern umschließen konnte. Jade sah das überhaupt nicht gern. Wulf versuchte derweil, die Fäuste zu heben, was Nila jedoch lachen ließ.
     „Was soll das denn werden? Du kannst ja nicht mal gerade stehen.“
     Es stimmte. Selbst Jade fiel auf, dass ihr Beschützer gehörig schwankte. Deswegen war es Nila auch ein Leichtes, ihn mit dem Stein zu treffen. Er brauchte nicht einmal in die Reichweite von Wulfs Fäusten zu kommen, er warf den Stein einfach und der noch immer Betrunkene ging wie ein nasser Sack zu Boden.


Jade hastete zu ihm, konnte aber nichts tun, außer auf die blutende Wunde zu starren, die der Stein an seinem Kopf hinterlassen hatte. Immerhin war er nicht tot, atmete noch, erkannte sie.
     „Scheiße! Das ist nicht gut“, hörte sie Lin besorgt sagen. „Was machen wir denn jetzt? Wir können ihn nicht gehen lassen. Er hat zu viel gesehen. Aber ich will eigentlich auch niemanden töten…“
     Jade erschrak, als sie das hörte, doch Nila lachte nur wieder amüsiert. „Machst du Witze? Das ist das Beste, das uns passieren konnte, dass der sich hierher verirrt hat. Wir nehmen ihn einfach mit und verschachern ihn an die Räuber als Sklaven. Du hast doch Kontakte zu denen, oder?“


„Nein, hab ich nicht“, erwiderte Lin bissig.
     „Egal, wir werden die schon finden. Und wenn er dann weg ist, und Jade auch, werden sie denken, dass er es war, der sie entführt hat.“
     „Ja, das ist eine gute Idee!“
     „Sag ich ja. Du fesselst sie, während ich das Pferd hole, und dann bringen wir sie von hier weg.“
     „Wir?“
     „Ja, oder willst du ihn allein hier raustragen und auf Jade aufpassen?“
     Das wollte Lin natürlich nicht.


Jade und Wulf wurden also gefesselt. Alles Betteln und Süßholzraspeln von Jades Seite war vergebens. Als Nila mit dem Pferd zurückkam, wurde der Bewusstlose darauf verfrachtet und sie wurde gezwungen, sich hinter ihn zu setzen.
     Die Nacht war über sie hereingebrochen. Ihr Verschwinden war Zuhause wahrscheinlich inzwischen bemerkt worden, aber sie waren schon längst außerhalb des Tales, in dem sie lebten. Das nahm sie zumindest an, war es doch so dunkel geworden, dass sie kaum etwas sehen konnte. Nur eine weite, scheinbar endlose Ebene um sie herum, begrenzt von Dunkelheit.


Irgendwann, nachdem sie eine gefühlte Ewigkeit gegangen waren, schälte sich ein schäbiger, schiefer Holzverschlag aus der Düsternis. Dort machten sie Halt, Jade musste absteigen, und da sie ihn kein zweites Mal tragen wollten, stießen sie Wulf so lange rüde in die Seite, bis er schließlich grummelnd wach wurde. Er musste selber nach drinnen laufen, wobei er zweimal schwer stolperte.
 

In der Hütte roch es feucht und modrig und es war eiskalt. Das wurde auch nicht besser, nachdem Nila eine kleine Lampe angezündet hatte.
     „Scheiße, ist das kalt!“, bibberte Lin und schlang die Arme um den Körper, was beinahe keinerlei Besserung brachte.
     „Hab dich nicht so, du Jammerlappen! Ich geh ja gleich Holz suchen, damit wir den Herd dahinten anschmeißen können. Und morgen früh gehst du dann los und kontaktierst die Räuber.“


„Ja, wie denn? Ich sag doch, ich kenn keinen von denen. Sonst wäre meinem dämlichen Bruder nämlich nicht mehr zum Lachen zumute.“
     Nila warf ihm einen langen Blick zu, den man überhaupt nicht deuten konnte, bevor er sich umdrehte, zur Tür ging und verkündete: „Ich geh Holz holen.“
     Lin nickte, ohne ihn auch nur anzusehen, und Nila öffnete die Tür. Aber anstatt nach draußen zu gehen, schloss er sie leise wieder.


Lin hatte sich derweil seiner Gefangenen zugewandt, die es merkwürdig fand, dass Nila noch immer vor der Tür stand und so tat, als wäre er gar nicht da. Aber sie befand es nicht für nötig, Lin davon zu unterrichten.
     „Jade, meine Liebste, bald sind wir beide endlich für immer vereint“, sagte Lin sanft zu ihr. „Ich habe da schon ein kleines Dorf ausgekundschaftet, in dem wir leben können. Es ist gar nicht so weit von hier entfernt, aber gut versteckt. Dort werden sie uns nie finden.“ 
     „Lin, bitte lass uns doch frei!“


„Ich werde uns ein schönes, kleines Haus bauen“, ignorierte er ihre Bitte einfach. „Dort ist auch alles, was wir zum Leben brauchen.“ Plötzlich lächelte er so ehrlich, wie sie es noch nie zuvor bei ihm gesehen hatte und berührte sie mit seiner kalten Hand an der Wange. „Wir werden eine glückliche Familie sein.“


Wulf stöhnte in diesem Moment laut. Er hatte, seitdem er das Bewusstsein gewaltsam wiedererlangt hatte, nicht gesprochen, und er tat es auch jetzt nicht. Er war noch immer halb weggetreten.
     „Mach mich doch los, damit ich wenigstens seine Wunde verbinden kann.“
     „Nein!“, wurde Lin da plötzlich sauer. „Soll er halt sterben, ist mir egal! Du sollst dich jetzt um mich kümmern! Ich bin ab jetzt der einzige Mann, der dich zu interessieren hat!“
     Seine Augen wurden wieder kalt und gnadenlos, dass ihr angst und bange wurde. Er beugte sich zu ihr, fügte bedrohlich hinzu: „Und du wirst gefälligst tun, was ich dir sage, ansonsten wird es dir schlecht gehen!“


Die Kälte in seinen Augen wich plötzlich blankem Entsetzen, und als Lin den Blick senkte, konnte er die Spitze eines rostigen Speeres aus seinem Bauch ragen sehen. Nila erschien über ihm, beugte sich zu seinem Ohr hinunter.
     „Es macht gar keinen Spaß, dir dabei nicht in die Augen sehen zu können“, sagte er amüsiert.
     Er legte einen Fuß auf den Rücken des Anderen und zog den Speer mit einem Ruck aus seinem Körper. Eine große, dunkle Pfütze breitete sich zwischen dessen Beinen aus, und egal, wie sehr er auch versuchte, das Blut am herausfließen zu hindern, es klappte nicht.


Nila ging um ihn herum und hockte sich vor ihn.
     „Du! Warum hast du das getan?“, knurrte Lin wütend.
     Nilas Grinsen erlosch und sein Gesicht wurde so eiskalt, dass Lins kalter Blick geradezu herzerwärmend dagegen wirkte.
     „Ich habe dich gewarnt, sie nie wieder anzufassen“, sagte er böse. „Doch du wolltest ja nicht hören, und jetzt zahlst du dafür!“
     „Du mieses Schwein! Als ob du sie nicht selber anfasst! Ich weiß, dass du das tust!“
     Er wollte noch etwas sagen, aber da sorgte Nila dafür, dass er nie wieder sprechen würde. Jade sah es nicht, weil Nila ihr die Sicht versperrte – worüber sie ganz froh war – doch sie konnte es trotzdem hören.


Überhaupt nicht froh aber war sie, als Nila sich daraufhin erhob und ihr zuwandte, das blutige Messer, mit dem er Lin getötet hatte, in der Hand. Sein Gesicht noch immer eiskalt.
     „Was mich zu euch bringt.“
     Sie zitterte am ganzen Leib und nicht nur mehr wegen der Kälte. Sie sah das Blut, die leblosen Augen des Jungen, den sie einmal bereit gewesen war, zu heiraten, und seinen Mörder, der als nächstes ihr das Leben aushauchen würde. Sie merkte es nicht einmal, wie die Tränen ihr nun das Gesicht fluteten, spürte nur die Hitze auf ihrem vor Kälte tauben Gesicht. 
     Sie hatte so eine Angst. Plötzlich schien ihr eine lieblose Ehe mit Reinard geradezu verlockend. Sie wollte nicht sterben!


Doch während sie noch von ihrem Schreck gelähmt war, war Bewegung in jemand anderen gekommen. Völlig unerwartet wurde Nila von Wulf angesprungen, der sich scheinbar selbst befreit hatte.
     Nila ging überrumpelt zu Boden, behielt das Messer jedoch blöderweise in seiner Hand. Deshalb entschied sich Wulf in seinem noch immer halb betrunkenen Zustand wohl auch lieber zur Flucht und nicht dazu, weiter gegen einen Bewaffneten zu kämpfen. Er packte sich Jade, warf sie wie einen Sack über seine Schulter, sprang über den Toten und war so schnell raus in die Dunkelheit verschwunden, dass Nila keine Chance hatte, schnell genug hinterher zu kommen.


Der Boden war inzwischen von einer ordentlichen Schicht Schnee bedeckt. Es hatte ihre ganze Herreise über geschneit, weshalb jeder von Wulfs Schritten von einem knarzenden Geräusch untermalt wurde. Nur sein schneller Atem begleitete es, und zusammen hörte sich das beinahe ohrenbetäubend laut in der Stille der Nacht an.
     Doch Jade war ohnehin viel zu sehr damit beschäftigt, den leicht dumpfen Schmerz zu ertragen, den Wulfs Schulter bei jedem Schritt in ihrem Bauch verursachte, das Reißen des Bronzereifens zu ertragen, den man ihr ins Haar geflochten hatte und der vehement versuchte, sich vergeblich zu befreien, um auf irgendetwas zu achten.
     Schon allein in die Dunkelheit zu spähen, war in ihrem Zustand äußerst schwierig. Sie hatte gesehen, wie Nila ihnen gefolgt war, aber irgendwann hatte die Nacht ihn verschluckt gehabt. Wulf war glücklicherweise schneller als er, wie es schien, und Nila hatte wohl auch nicht daran gedacht, das Pferd zu nehmen. Sie dummerweise aber auch nicht.


Der Atem ihres Retters ging inzwischen rasselnd. Irgendwann stieß er ein Wort aus, das sie nicht verstand, kam zum Stehen und ließ sich auf die Knie fallen. Jade hatte gerade noch genug Zeit, von seiner Schulter zu springen und auf den Hintern zu fallen, bevor er seine Hände als Stütze benutzen musste. Kleine rote Punkte erschienen unter ihm im Schnee.
     Sie rappelte sich auf und ging vor ihm in die Hocke, als sie das sah.
     „Deine Wunde blutet wieder!“
     Sie wollte sich das ansehen, aber er drehte den Kopf weg, sagte schwer atmend: „Wir… wir müssen weiter. Lass mich deine Fesseln lösen, dass du selber laufen kannst.“


Sie streckte ihm die gefesselten Hände hin, woraufhin er an ihr zog, dass sie beinahe wieder umfiel. Während er versuchte, den Knoten zu lösen, nutzte sie die Zeit, sich umzusehen. Aber alles was sie sah, war Dunkelheit.
     „Weißt du zufällig, wo wir sind?“, fragte sie ihn.
     „Nein. Du?“
     „Leider nicht.“
     „Egal, wir müssen trotzdem weiter. Verdammt, der Knoten ist zu fest.“
     „Da ist ein Messer an meinem Gürtel. An der linken Seite, unter dem Kleid.“
     „Warum sagst du das nicht gleich?“


Sie spürte seine eiskalte Hand grob unter ihrem Rock wühlen, was ihr trotz der Situation ein bisschen unangenehm war, dann endlich gelangten ihre Hände mit einem Ruck frei. Sie rieb sich die schmerzenden Handgelenke, bevor sie Wulf auf die Beine half, der noch immer schwer schnaufte. Er schwankte und fiel beinahe wieder um, schaffte es nach ein paar Schritten aber, ohne ihre Hilfe zu gehen.
     „Ich hoffe, dass wir wenigstens irgendwo Unterschlupf finden. Sonst erfrieren wir, wenn wir die ganze Nacht draußen sind“, sagte sie ihm.


Doch die nächste Zeit wurde nicht nur der Schneefall heftiger, sondern sie fanden auch weder Unterschlupf noch den Weg zurück. Jade verfluchte die Dunkelheit inzwischen, die sie vorher noch vor Nila verborgen hatte. 
 
 
 
Nach einer Weile stolperte ihr Begleiter schließlich und ging zu Boden, woraufhin sie sofort bei ihm war. Er war eiskalt, und selbst in der Dunkelheit konnte sie erkennen, dass sein Gesicht fahl wirkte.
     „Komm, steh auf! Wir müssen weiter.“
     „Ich bin müde. Ich kann nicht mehr.“
     „Ich weiß. Komm, nur noch ein Stück.“


Als sie ihm diesmal auf die Beine half, musste sie ihn wesentlich mehr stützen. Auch danach konnte er nicht alleine laufen. Bei jedem Schritt, den er ging, musste er mehr und mehr seines Gewichtes auf sie legen, und als sie gerade glaubte, nun selber zusammenzubrechen, fand sie sich auch noch vor einer Felswand wieder. Sie fluchte, sandte ein Stoßgebet gen Himmel, dass sie nicht in eine Sackgasse geraten waren.


Da krampfte Wulf seine eiskalte Hand in ihre Schulter, damit er ihre Aufmerksamkeit erlangte, und als sie nachsah, bemerkte sie, dass er auf einen kleinen, dunklen Fleck im Fels zu ihrer Rechten zeigte. Sie schleppte sich und ihn näher heran, und tatsächlich, es war ein Höhleneingang!
     Sie mussten kriechen, um den niedrigen Gang, der dahinterlag, zu durchqueren. Es war zudem etwas beengend, aber glücklicherweise tat sich vor ihnen bald schon ein größerer Hohlraum auf.


Ihr Begleiter brauchte ein bisschen, bis er sie eingeholt hatte, dann saßen sie beide auf dem kalten Steinboden und froren weiter. Es war wärmer als draußen, jetzt wo der Wind verschwunden war, doch es war nach wie vor kalt. Wulfs Zähneklappern war so laut, dass es sogar das Tosen des Schneesturms draußen übertönte.
     ‚Es ist zwar ein Unterschlupf, aber wir werden trotzdem erfrieren, wenn wir kein Feuer haben‘, befürchtete sie.


Sie war noch immer ein bisschen durch die Anstrengung, ihren Begleiter stützen zu müssen, erhitzt, doch auch sie kühlte langsam aber sicher immer mehr aus. Und er hörte sich noch schlimmer an. Sie konnte ihn in der Dunkelheit kaum erkennen.
     „Wie geht es deiner Wunde? Soll ich sie mir mal anschauen?“
     Er schüttelte den Kopf, schwieg, und ihr blieb nichts anderes übrig, als es ihm gleichzutun und weiter zu frieren.


„Es tut mir leid, dass du da mit reingezogen wurdest“, sagte sie schließlich, um sich von der Kälte abzulenken. „Das ist alles meine Schuld.“
     Sie wollte nicht wirklich mit diesem komischen Kerl reden, der immer wieder ihre ungewollte Seite zum Vorschein brachte, die sie eigentlich lieber versteckt hielt. Doch er hatte sie gerettet, das musste man ihm zugutehalten.
     „Da hast du verdammt recht!“, brachte er sie jetzt aber gleich wieder in Verlegenheit. „Wenn ich hier sterbe, ist das deine Schuld!“


Sie konnte es nicht fassen! Er war so dreist. Er hatte überhaupt keinen Anstand. Sie konnte ihn noch immer nicht leiden, musste sie feststellen.
     Sie war so fassungslos über seine Antwort, dass sie ihn nur mit offenem Mund anstarren konnte. Die spitzen Worte, die sie ihm am liebsten an den Kopf geworfen hätte, konnte sie nur schwerlich hinunterschlucken.
     Stattdessen ging nun sie zum Schweigen über und Wulf wurde gesprächig. „Kannst du nicht einfach mal mitmachen? Ich hab dich provoziert. Weil Streit das Blut in Wallung bringt, und dann frier ich nicht mehr so. Aber du sagst ja nie, was du sagen willst. Du bist ziemlich öde.“


„Na und?“, gab sie ein bisschen bissiger als gewollt zurück. „Ich bringe wenigstens niemanden gegen mich auf, so wie du.“
     „Pff! Wer nicht mit meiner Art klarkommt, kann auch bleiben, wo der Pfeffer wächst.“
     „So vergraulst du nur alle Leute.“
     „So sehe ich, wer meine echten Freunde sind, meinst du. Denn die, die bei mir bleiben, obwohl – nein, weil ich ihnen immer schonungslos die Wahrheit sage, sind wahre Freunde. Und nur mit solchen Leuten lohnt es sich auch, zu tun zu haben. Alle anderen können mir gestohlen bleiben.“


„Und was ist, wenn du am Ende dann doch allein dastehst?“, fragte sie ehrlich interessiert.
     Er zuckte mit den Schultern. „Dann ist das halt so. Ich bin lieber allein, als mich zu verstellen und falsche Freunde zu haben.“
     Es war wie ein Stich in ihren Bauch. Die Mauer an Zurückhaltung, die sie all die Jahre über aufgebaut hatte, war in ihren Grundfesten erschüttert.


War das, was sie all die Jahre über getan und als richtig empfunden hatte, am Ende etwa doch falsch gewesen?


Das Klappern der Zähne ging jetzt wieder los, weil sie nicht mehr redeten, und es lenkte sie glücklicherweise von ihren Gedanken ab. Nur, dass es sie nun an ihre eigentlichen Sorgen erinnerte.
     Sie erkannte vage, dass der Kopf des Anderen immer wieder nach vorn kippte. Da rüttelte sie erschrocken an ihm und rief: „He! Schlaf nicht ein!“
     „Ich bin aber müde“, grummelte er leise. „Es ist so kalt. Diese verdammte Kälte! Warum ist es hier nur immer so verdammt kalt?“
     Er murmelte ein paar Worte in seinen Bart, die sie nicht verstand.
     „Du kommst aus einer wärmeren Gegend, oder?“
     „Ja, und ich hasse die Kälte.“


Ihre Unterhaltung kam erneut zum Erliegen. Wulf begann wieder das Kopfnicken, er würde den Kampf gegen die Müdigkeit bald verlieren, wie es aussah, und ihr ging es auch nicht besser. Sie musste etwas unternehmen.
     „Wir sollten uns vielleicht gegenseitig wärmen, sonst überleben wir die Nacht ohne Feuer nicht“, schlug sie zögerlich vor.


Er schreckte aus seinem Sekundenschlaf, nickte, und da rutschte sie näher an ihn heran. Sie wollte das nicht tun, aber sie hatte keine andere Wahl. 
    Es war ihr trotzdem ziemlich unangenehm, als sie dicht an ihn geschmiegt dasaß. Zuerst spürte sie nur Kälte zwischen sich und ihm, dann drang eine dumpfe Wärme langsam von ihm zu ihr durch.


Und das war der Moment, in dem Wulf plötzlich die Arme um sie schloss, sie an sich zog und so fest an sich drückte, dass sie beinahe zu Tode erschrak. Seine Hände waren so eisig, dass sich ihr am ganzen Körper die Haare aufstellten. 
 
  
Und dennoch fühlte sie sich plötzlich geborgen, hier und jetzt, während seine zitternden Arme ihre Sinne betäubten und alles, was sie hören konnte, sein steter Herzschlag war, der sie beruhigte. Wie ein Schlaflied ihrer Mutter. Ihr Vater, der sie als Kind in seinen Armen in den Schlaf gewiegt hatte. Der süßliche Geruch des Ritualgebräus, der von ihm ausging. Die Wärme eines knisternden Feuers an ihren Wangen, obwohl da nur Dunkelheit und Kälte war. Aber hier, in diesem Moment, war Jade woanders. Sie war Zuhause und sie war in Sicherheit. Sie war frei.
     Und bevor sie sich versah, war sie erschöpft eingeschlafen.
 
 
Als sie erwachte, war es noch immer recht dunkel. Sie glaubte zuerst, dass es noch Nacht war, doch  dann wurde ihr klar, dass das Tageslicht einfach nur nicht bis hierher vordrang.
    Hierher? Wo war sie denn?


Während sie sich schwerfällig erhob, fiel ein schwerer Arm von ihr, und sie hätte beinahe vor Schreck geschrien, wenn ihr gesamter Körper sie im nächsten Moment nicht daran erinnert hätte, dass sie die Nacht auf einem kalten und harten Steinboden verbracht hatte. Nein, falsch, wie sie sah, war da Stroh auf dem Boden und… war das dort drüben eine ausgebrannte Feuerstelle, die sie gestern nicht gesehen hatten? Wie kam das nur hierher?
     Wie es auch war, sie fühlte sich schrecklich gerädert. Aber sie lebte immerhin.


Sie rüttelte an ihrem unfreiwilligen Begleiter, den sie inzwischen ein bisschen deutlicher sehen konnte, was ihr sagte, dass es Tag sein musste. Er schlug ihre Hand zweimal weg, ließ sich dann aber immerhin dazu hinreißen, mal nachzuschauen, wer ihn dauernd aufweckte.
     „Lass mich!“, stöhnte er. „Ich hab einen schrecklichen Kater!“
     „Wir müssen weiter. Na los, komm! Ich will nicht riskieren, dass Nila uns doch noch findet.“
     Sie hatte gestern gar nicht mehr daran gedacht gehabt, dass Nila sie verfolgen könnte. Aber gestern Nacht hatte es auch noch gestürmt, was sie geschützt hatte, und das tat es jetzt nicht mehr.


Wulf ließ seinen Unmut darüber aus, dass er gerade gar kein Licht ertragen konnte, doch er kam trotzdem, und zusammen verließen sie die Höhle und traten in einen sonnigen Morgen hinaus.
     Das es inzwischen hell war und aufgehört hatte, zu schneien, konnte Jade auch sehen, wo sie sich ungefähr befanden und wo sie hingehen mussten. Sie hatten sich glücklicherweise nicht allzu weit von ihrem Tal entfernt.


„Warum trinkst du eigentlich so viel, wenn es dir danach so schlecht geht?“, fragte sie ihren Begleiter missbilligend, als sie sich in Bewegung gesetzt hatten.
     „Musst du ausgerechnet heute streitlustig sein?“
     „Ich streite nicht, ich stelle nur fest, wie es ist. Du solltest aufhören, so viel zu trinken.“
     „Ich sollte eigentlich jetzt schon wieder trinken. Dann würde ich mich auch nicht so beschissen fühlen.“
     „Irgendwann bringt dich das noch in dein Grab! Stell dir nur mal vor, wir begegnen jetzt Nila. Du wärst nicht mal eine Hilfe gegen ihn.“
 
 
Da hielt er an und stellte fest: „Du bist streitlustig.“
     Auch sie blieb daraufhin stehen. War sie das? Es fiel ihr irgendwie ganz leicht, es ihm gegenüber zu sein. Und es fühlte sich so verdammt gut an.


Bevor sie aber noch etwas sagen konnte, war Wulf bereits weitergegangen. „Ich brauche ganz dringend was zu trinken“, seufzte er.
     Und auch die nächste Zeit durfte er sich anhören, dass Jade das überhaupt nicht gut fand.
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Ich wollte hier jetzt eigentlich gar nichts dazu schreiben, aber ich will doch noch erklären, was Nila wahrscheinlich gemeint hatte, als er sagte, dass Lin dafür bezahlen würde, dass er "sie angefasst" hat. Er bezieht sich wahrscheinlich auf  Kapitel 90, wo Lin seiner Schwester Nara an den Zöpfen gezogen hat und Nila ihn niedergeschlagen und gewarnt hat, dass er der Einzige sei, der Nara drangsalieren dürfe und er ihn kaltmachen würde, wenn er erführe, dass Lin sie nicht in Ruhe lassen würde. Zu dem Zeitpunkt hatte Nila seine Affäre mit Nara gerade erst begonnen gehabt. 
     Aber ob er sich wirklich darauf bezieht und Nila Lin getötet hat, um Nara zu helfen, und warum er zuerst bei der Entführung von Jade mitgeholfen hat und damit riskierte, unnötige Zeugen zu haben, wird man noch erfahren. Sowieso haben die Charaktere, allen voran die Entführten, nicht gerade mit schlauen Entscheidungen brilliert. Jade bspw. wusste ja sogar, dass Nila was im Schilde führte und ist trotzdem mit ihm gegangen, weil sie wegen ihrer Hochzeit so durch den Wind war. Und Wulf hätte Nila auch einfach überwältigen können, anstatt wegzurennen, oder eben das Pferd nehmen, oder von Anfang an wem Bescheid geben. Aber da sieht man mal, in was für Gefahren seine Sucht ihn bringt, dass er so irrational handelt. 
 
Für die Aufnahmen außerhalb des Tals, hab ich wieder mammuts Urduna-Welt genommen. Die Höhle ist eine umgebaute Höhle, die es so schon in der Welt gab, und ich muss sagen, dass es das erste Mal ist, dass es wirklich nach Höhle aussieht. Meine Höhlen sahen ja bislang alle komisch aus.
 
Nächstes Mal gibt es einen Schneesturm - und werden Jade und Wulf unbescholten nach Hause zurückkehren können? Und was ist jetzt eigentlich mit Nila?
 
Bis dahin, danke euch fürs Vorbeischauen, und passt auf euch auf! Ich verabschiede mich!