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Mittwoch, 19. Juni 2019

Kapitel 90 - Befreiungsschlag



Obwohl die Morgensonne erst aus den Federn gestiegen war, verkündete sie ihnen schon jetzt, dass sie ihr Bestes geben würde, um ihnen einen weiteren unerträglich heißen Tag zu bescheren. 
     Dennoch hatten sich an diesem Morgen drei Wagemutige aus dem kühlen Inneren des Ahn-Hauses herausgewagt. Das waren Reinard und Nefera, die nachholten, dass Reinard als baldiger Anführer des Ahn-Stammes gestern auf dem Fest keine Zeit für seine Zukünftige gehabt hatte, und Nara, die ihnen eifrig dabei zusah.
     Eigentlich war Nefera das ja egal, aber sie nutzte die Chance, um Reinard von sich zu schieben, als dessen Hand sich (schon wieder) unter ihr Kleid verirren wollte. Er wurde in letzter Zeit immer aufdringlicher, obwohl er sich am Anfang kaum für sie interessiert hatte. Das war der einzige Grund gewesen, warum sie ihn Alek vorgezogen hatten


„Deine Schwester“, merkte sie an, „das ist mir unangenehm, dass sie uns dabei zusieht.“
    Reinard sandte einen vernichtenden Blick zu seiner Schwester, um sie zu verscheuchen. Aber Nara war glücklicherweise noch zu sehr mit der Frage beschäftigt, was um alles in der Welt Nila gestern mit ihr gemacht hatte, und deshalb bemerkte sie das nicht.
     Nila hatte sie zwar nicht geküsst, aber er hatte sie auch angefasst, so, wie Reinard Nefera anfasste. Er hatte auch mit ihr gemacht, was sie schon bei ihren Eltern gesehen hatte. Nur, was bedeutete das? 
     Immer wenn sie nachgefragt hatte, hatten ihre Eltern sie abgewimmelt. Ihre Eltern behandelten sie so, wie die meisten es taten. Als würde sie nichts verstehen, als müsste sie nichts verstehen. Alek und Malah waren die Ersten gewesen, die anders gewesen waren und die ihr Dinge erklärt hatten. Aber manchmal behandelten auch Alek und Malah sie noch wie ein Kind.
     Nila war da schon immer anders gewesen. Sie hatte Angst vor ihm, aber wenn sie etwas nicht wusste oder verstand, kannte er keine Rücksicht und kein Mitleid mit ihr. Er sagte ihr dann in einem lauten und barschen Tonfall, wie es war, aber er hatte ihr niemals etwas nicht gesagt, das sie hatte wissen wollen. Nicht, dass sie sich sonderlich viel getraut hatte, ihn zu fragen. Und diesmal hatte er ihr eben gezeigt, was sie nicht gewusst hatte. 
     Doch was es war, wusste sie nach wie vor nicht, und sie hatte sich wieder nicht getraut, nachzufragen.


Nefera löste sich jetzt hastig aus Reinards Griff und sprang auf die Beine, bevor er auf die Idee kam, ihr doch noch zu zeigen, dass er eigentlich nicht so nett war, wie er versuchte, ihr glauben zu machen. Er wusste nur, dass sie auf und davon war, wenn er sie zu sehr drängte, weshalb er sich auch diesmal damit begnügte, nur wütend von Dannen zu ziehen. Sehr viel länger würde er aber nicht mehr geduldig sein, wusste sie.
      Nachdem das Haus ihn endlich verschluckt hatte, atmete sie erleichtert auf. Sie hatte immer noch keine Ahnung, warum sie gedacht hatte, dass es eine gute Idee war, sich auf ihn einzulassen. Sie liebte ihn ja nicht mal. Noch nie hatte sie jemanden geliebt, und sie hatte gedacht, dass das schon werden würde, wenn sie sich erstmal mal auf ihn – auf irgendwen – einließ. Aber bislang war das nicht der Fall. Und Reinard war auch nur daran interessiert, dass sie endlich mit ihm ins Bett stieg.


Sie seufzte schwer und überlegte, ob sie ihm nicht einfach sagen sollte, wie es war – nicht, dass sie glaubte, dass er Verständnis für sie haben würde – als plötzlich Nara ankam. Was das scheue Mädchen bislang noch nie getan hatte.
     „Was habt ihr da gemacht?“, wollte sie wissen.
     „Oh“, machte Nefera und wurde dabei rot, „wir haben uns geküsst…“
     „Warum?“
     „Weil wir uns mögen.“ ‚Zumindest sollte es so sein‘, dachte Nefera bitter, behielt das aber für sich.
     Nara war jetzt aber glücklicherweise mit Denken fertig, um sie direkt zu fragen: „Steckt er auch sein Pipi bei dir da unten rein?“, und sie damit auf andere Gedanken zu bringen.


„N-nein“, stammelte Nefera überfordert, „das noch nicht.“ Als Nara nur verwirrt dreinsah, fragte sie: „Woher kennst du das denn?“
     Nara wollte ihr erzählen, dass Nila das mit ihr gemacht hatte, aber dann erinnerte sie sich daran, dass das ja ihr Geheimnis war. Also sagte sie: „Hab das bei Mama und Papa gesehen.“


Nefera wusste, dass es nichts Ungewöhnliches war, dass man so etwas mitbekam, wenn man in einem Haus lebte. Aber sie war in Zelten groß geworden und ihre Eltern und Großeltern hatten für solche Angelegenheiten glücklicherweise immer das Zelt benutzt, in dem sie nicht geschlafen hatte.
     „Was ist das? Warum macht man das?“, fragte Nara jetzt.
     „Weißt du das denn nicht?“
     Nara schüttelte den Kopf und Nefera war geschockt, dass man ihr das nicht gesagt hatte. Was da alles passieren konnte!
     „Nun, das macht man, damit man Kinder bekommt.“ Nara sah aber nicht so aus, als ob sie ihr das glauben würde, also fügte sie hinzu: „Du hast doch bestimmt schon mal eine Frau mit einem dicken Bauch gesehen, oder? Eine Schwangere?“ Nara nickte. „Nun, damit eine Frau schwanger werden kann, braucht es einen Mann. Er… tut das Kind so in ihren Bauch, sozusagen.“


Was Nara vollkommen schockierte. Bedeutete das etwa, dass Nila ein Kind in ihren Bauch getan hatte? Erschrocken schaute sie an sich herunter und legte die Hände auf ihren Bauch, was Nefera nicht entging.
     „Was ist los?“, fragte sie besorgt. „Hat das etwa jemand mit dir gemacht?“
     Nara starrte sie mit großen Augen an. Doch erneut erinnerte sie sich im letzten Moment daran, was Nila ihr gesagt hatte. Er hatte ihr verboten, irgendwem davon zu erzählen. Sie wusste, dass lügen böse war, aber sie hatte viel zu viel Angst davor, Nila böse zu machen. Außerdem war es ja ihr Geheimnis. Also schüttelte sie schnell den Kopf. 
     Nefera bedachte sie noch mit einem langen Blick, dann entspannte sich ihr Gesicht jedoch wieder.


„Du solltest so etwas jedenfalls nur mit jemandem machen, den du wirklich magst. Jemanden, mit dem du eine Familie gründen willst, verstehst du?“
     Nara verstand gar nichts. Sie hatte das mit Nila gemacht, aber sie hatte keine Familie mit ihm gründen wollen. Aber… hieß das dann, dass Nila eine Familie mit ihr gründen wollte?


Sie wusste noch nicht so recht, wie sie das finden sollte, aber der Gedanke daran, dass tatsächlich jemand mit ihr, der dummen und nutzlosen Nara, wie sie immer alle nannten, eine Familie gründen wollte, machte sie froh. 
     Sie stellte sich vor, wie Nila sie mit sich nehmen würde, damit sie bei ihm leben konnte. Dann konnte sie von hier weg. Von ihren bösen Geschwistern. Und noch viel mehr bei Malah sein. Sie hatte sich schon immer gewünscht, bei ihrer Freundin wohnen zu können.


Erst, als Alek zu den beiden Mädchen stieß und zu ihr sagte: „Nara, ich muss mal mit dir sprechen“, kehrte sie aus diesem schönen Traum in die harte Realität zurück.


Obwohl es kurz darauf so brüllend heiß war, dass sich kaum einer vor die Türe wagte, war Nara zum Uruk-Hof aufgebrochen.


Laut Malah-rufend erreichte sie ihn gerade, als Nila in die sengende Hitze rausgegangen war, um auszutreten. Und als sie ihn sah, hielt sie nichts mehr.


Sie rannte zu ihm, fiel dem überrumpelten Jungen um den Hals und schmiegte sich glücklich an seine Schulter. Nefera hatte gesagt, dass man nur mit jemanden, den man mochte, eine Familie gründen sollte. Also hieß das ja, dass Nila sie mochte, nicht wahr? Und dass er von nun an nett zu ihr sein würde. Wo er doch ein Kind in ihren Bauch getan hatte.


In dem Moment, in dem sie ihn wieder losgelassen hatte, kam schließlich auch Malah, angelockt von ihren Rufen, nach draußen. Und im Gegensatz zu der gutgläubigen Freundin sah sie den überaus bedrohlichen Blick, mit dem ihr Bruder sein Gegenüber gerade bedachte.


Alarmiert ging sie dazwischen und brachte die Bedrohte schnellstens in Sicherheit. Wie sie gehofft hatte, ging ihr Bruder auch lieber ins kühle Haus zurück, anstatt ihnen zu folgen.


Sie selber hatte Nara derweil hinter dem Brunnen vor sich aufgestellt und sagte eindringlich zu ihr: „Du sollst dich doch von meinem Bruder fernhalten. Du weißt doch, dass er immer böse zu dir ist.“


Doch Nara hörte ihr gar nicht zu. Sie war daran erinnert worden, warum sie eigentlich hier war, also rief sie: „Alek ist weggegangen!“
     Malah war erschrocken, das zu hören. Aber sie wollte es nicht so recht glauben. Ja, ihre Abfuhr gestern hatte ihn sehr offensichtlich getroffen gehabt, aber er würde doch nicht einfach weggehen und Nara zurücklassen, oder?
     „Er sagt, dass ich jetzt hier wohnen soll“, klärte Nara sie auf, als hätte sie ihre Gedanken gelesen.
     Das konnte doch nicht sein! Alek sollte wirklich fortgegangen sein?
     

Eine Antwort bekam sie jedoch erst in den Abendstunden, als es kühl genug war, um ungefährdet zum Ahn-Stamm hinüberzugehen. Erst dort erfuhr sie von Aleks Eltern, dass Nara die Wahrheit gesprochen hatte.
     Ihr immerzu gut gelaunter Freund hatte seine Sachen gepackt, hatte sich verabschiedet und das Tal auf der Suche nach seinem eigenen Glück verlassen. Und sie konnte nichts dagegen tun. Nicht einmal weinen wie die arme Nara, die damit ihren einzigen Beschützer verloren hatte, konnte sie.


‚Und dabei hast du doch gesagt, dass du glücklich bist, solange du nur weißt, dass du morgen einen vollen Bauch und ein Dach über dem Kopf haben wirst. Aber das ist wohl egoistisch von mir, so zu denken.‘


„Ich hoffe nur, dass du dort draußen dein Glück finden wirst“, sagte sie später in die anbrechende Nacht hinein, als sie sich an dem Platz beim Wasserfall eingefunden hatte, an dem sie sich so oft mit ihm und Nara getroffen hatte. 
      Und dann bedauerte sie. Sie hatte ihm nicht geben können, was er von ihr gewollt hatte. Sie liebte ihn nicht. Aber sie wusste jetzt schon, dass er ihr trotzdem fehlen würde.


Als die Sonne am nächsten Morgen ihre ersten Strahlen in den Himmel goss und das tiefe Blau sich langsam Gold zu färben begann, lag Nila am Ahn-Wasserloch auf Nara. Er hatte die Arme um sie geschlungen und war gänzlich erfüllt von dem Geruch von Gänsefedern, der für Nara typisch war, wie er hatte feststellen müssen. Er hatte die ganze Nacht bei ihr verbracht.


Am vorigen Tag noch, gleich nachdem seine dämliche Schwester sie nach Hause gebracht hatte, war er hergekommen, um Nara abzufangen. Seine Chance war gekommen, während sie zum Austreten allein nach draußen gekommen war. Da hatte er sie sich geschnappt und sie rüde mit sich gezogen, bis zum Wasserloch, wo hoffentlich niemand sie sehen würde.


„Was sollte das vorhin? Ich hab dir gesagt, dass das ein Geheimnis ist, was wir gestern gemacht haben. Deswegen sollst du gefälligst wegbleiben von mir, wenn jemand anderes da ist“, stellte er wütend klar. „Vor allen Dingen Malah!“
     Es hatte keinen Sinn. Sie war zu dumm, um es zu verstehen. Also musste er ihr einbläuen, dass sie gefälligst vorsichtiger sein sollte. Doch er schätzte, dass er ihr nicht wehtun würde müssen. Ihr ein bisschen Angst einzujagen, würde wahrscheinlich ausreichen.


Als er sich jedoch gerade dazu entschlossen hatte, es so zu machen, brach Nara, die junge Frau, die bislang immer nur geschwiegen hatte, plötzlich aus.
     Malah sagte, du bist böse. Aber sie lügt! Du bist nicht mehr böse zu mir! Sie ist böse! Sie ist nicht mehr meine Freundin! Die Anderen sind auch immer böse zu dir. Wie zu mir. Ich werde nie böse zu dir sein! Ich werde immer lieb zu dir sein! Versprochen!“


Das hatte Nila überrascht (nicht, dass er sich das hätte anmerken lassen natürlich). Es war das erste Mal, dass jemand auf seiner Seite stand. Sonst machten ihn doch immer nur alle für alles verantwortlich.
      Danach hatte er Nara doch keine Angst mehr gemacht. Er hatte nichts mehr zu ihr gesagt, weil er nicht gewusst hatte, was er hätte sagen sollen. Stattdessen hatten sie die ganze Nacht zusammen verbracht.
     Noch immer lag er auf ihr und lauschte ihrem Herzschlag. Es war noch kühl genug, dass ihre Wärme angenehm war, und er war erfüllt von einem Gefühl, das ihm so lange ferngeblieben war, dass es inzwischen wie ein Fremder für ihn war: Frieden. Er war die letzte Zeit immer voller Wut gewesen, aber jetzt, hier bei Nara, fühlte er sich frei, glücklich und zufrieden.


Als ihm das bewusst wurde, erhob er sich schlagartig. Er wollte das nicht. Er wollte nicht so schwach sein, dass er jemanden wie Nara brauchte. Dennoch konnte er es nicht über sich bringen, sie anzusehen. 
     Er zog sich hastig an, sagte kein Wort zu ihr und ging dann einfach davon. Nara, die inzwischen wieder ihr Sackkleid trug, das ihre üppigen Kurven nur schwerlich verstecken konnte, watschelte ihm unbeirrt hinterher. Sie war still, und auch er war es, deshalb ließ er sie.


Doch gerade, als sie den Hof von Naras Zuhause erreicht hatten und er sich umdrehen wollte, um ihr zu sagen, dass sie bloß hierbleiben sollte, wurden sie entdeckt. Und dabei war er extra um die Rückseite des Hauses geschlichen, dass sie nicht entdeckt werden!
     Es war Naras nerviger Bruder Lin, der jetzt ankam und den Finger auf ihn richtete. Natürlich.


„Was hast denn du hier verloren?“, forderte er zu wissen. „Bist du etwa hergekommen, um Ärger zu machen? Oder von uns zu klauen?“
     „Als ob es bei euch was zum Klauen gibt“, gab er spitz zurück.
     „Sei bloß nicht so überheblich, du Kakerlake!“, fauchte Lin, bevor er auf Nara aufmerksam wurde, die noch immer hinter Nila stand. „Was machst du eigentlich hier draußen, hä? Du sollst das Frühstück machen und nicht draußen rumrennen, du dummes Weib!“


Ohne Nila weiter zu beachten, ging er zu dem arglosen Mädchen und zog ihr heftig an den Zöpfen, sodass sie einen erschrockenen Schrei von sich gab. Ihre weinerlichen Bitten wurden einfach ignoriert.
     Nila tat nichts, um etwas dagegen zu unternehmen, obwohl es ihm gegen den Strich ging. Als Nara schließlich weinte, ließ ihr Bruder wieder von ihr ab.


„Scher dich nach drinnen!“ Dann wieder zu Nila meinte er: „Und was hast du jetzt hier verloren gehabt, hä? Vergreifst du dich etwa an der, oder was?“
     Da riss Nila schließlich der ohnehin kurze Geduldsfaden.


Bevor der Andere wusste, wie ihm geschah, schlug er ihm seine Faust ins Gesicht. Im nächsten Moment machte Lins Ohr Bekanntschaft mit dem Boden. Nilas Faust bohrte sich in seine Wange und er drückte so fest zu, dass er glaubte, seinen Schädelknochen knirschen zu hören.


„Pass auf, was du sagst! Und lass in Zukunft gefälligst deine Pfoten von ihr! Ich bin der Einzige, der sie drangsalieren darf, verstanden?“
     Nila beugte sich zu ihm hinab, und als Lin seinen eiskalten Blick sah, wurde ihm klar, dass mit dem lästigen Nila, den nie jemand ernst genommen hatte, nicht zu spaßen war. Er war gefährlich. Es durchlief ihn eiskalt, und das war auch der Grund, warum er sich nicht wehrte, obwohl er viel stärker als sein Gegner war.
     „Wenn ich von ihr oder irgendwem höre, dass du dich nicht dran hältst, mach ich dich kalt“, warnte Nila ihn.
     Dann ließ er endlich von ihm ab. Die kalten grauen Augen erbarmungslos auf ihn gerichtet, und zu seiner Überraschung die seiner Schwester, die einen Ausdruck zur Schau trugen, den er noch nie bei ihr gesehen hatte: gnadenlose Genugtuung.


Als seine Mutter im nächsten Moment um die Ecke kam und sie entdeckte, klaubte Lin jedoch jedes bisschen an Mut, das er noch hatte, zusammen und raffte sich auf. Obwohl er zuvor noch Todesangst gehabt hatte, zögerte er nicht eine Sekunde, Nila anzuklagen.
     „Es wird Zeit, dass das deine Leute erfahren“, verkündete Lann, nachdem Lin ihr davon erzählt hatte, was geschehen war. Ohne den Part, wo er Nara an den Haaren gezogen hatte, natürlich.
     Nila versuchte gar nicht erst, sich zu verteidigen. Sein Ruf war überall so schlecht, dass das sinnlos sein würde, wusste er. Jetzt würde er wieder wochenlang den Stall ausmisten müssen und die andere Drecksarbeit verrichten, die niemand tun wollte.
     Doch als er sich schon mit seinem Schicksal abgefunden hatte, kam plötzlich Rettung von unerwarteter Seite.


„Nein! Lin lügt!“, rief Nara laut. „Nila hat mir geholfen! Lin hat mir wehgetan! Er ist gemein! Er ärgert mich immer! Er tut mir immer weh, bis ich blute! Er tut mich unter Wasser und ich krieg keine Luft! Ich will, dass er aufhört!“


Es war das erste Mal, dass Nara, die schon immer unter den Schikanen ihrer Geschwister gelitten hatte, ihre Stimme fand, um sich zu wehren. Obwohl Alek in der Vergangenheit immer wieder gesagt hatte, dass sie von ihren Geschwistern drangsaliert wurde, hatte man ihm nie geglaubt. Es war nie etwas geschehen. Und Nara hatte das schweigend ertragen. Sie war es nicht anders gewohnt, hatte geglaubt, dass es ihre Schuld sei, dass man sie so behandelte. Sie hatte geglaubt, dass es normal sei.
     Doch an diesem Tag, als sie sich für den größten Querulanten der Gegend einsetzte, stand sie auch das erste Mal in ihrem Leben für sich selber ein. Und es war auch das erste Mal für Nila, dass sich jemand für ihn eingesetzt hatte, der nicht seine Mutter war.


Zu dieser Zeit erwachte auch Malah aus ihrem Schlaf. Sie war gestern Abend beim Wasserfall eingeschlafen und dementsprechend gerädert fühlte sie sich jetzt, und als sie sich daran erinnerte, warum sie eigentlich hier war, war ihre Laune obendrein auch noch im Keller.


Und der Tag sollte nicht besser werden. Als sie zum Hof zurückkehrte, war die Hütte bereits mächtig am Brennen. Lautes Geschrei wehte ihr schon von weitem entgegen. Es kam vom Nachbargrundstück.
     Die Nachbarn standen dort einigen von ihren Leuten gegenüber und – waren das etwa Greta und Jana, die sich dort stritten?
     Malah zögerte nicht lange und ging nachschauen, was da los war. Tatsächlich schrie Greta gerade wütend Jana an, während Lu zum Schlichten an der Seite stand und ignoriert wurde. Doch obwohl der Streit nicht sonderlich leise verlief, konnte Malah nicht heraushören, um was es eigentlich ging.


„Was ist denn passiert?“, fragte sie ihren Großvater, der neben seinem ziemlich fertig aussehenden Bruder Aan im Hintergrund stand.
     Und was er dann sagte, traf sie vollkommen unvorbereitet: „Alistair und Gisela sind zusammen ausgerissen.“
     „Was? Seid ihr sicher? Wa… warum?“
     „Ja, wir sind sicher. Alis hat eine Nachricht hinterlassen. Er hat das Pferd genommen und ist mit Gisela zusammen fort, weil ihre Eltern dagegen waren, dass sie heiraten.“
     Malah war erschrocken, das zu hören. Erst Alek und jetzt Alistair und Gisela. Sie hatte nicht einmal eine Ahnung gehabt, dass die letzteren beiden überhaupt etwas miteinander zu tun gehabt hatten.


Und jetzt stritten sich die Hells, die Alistair vorwarfen, ihre Tochter entführt zu haben, mit Jana, die ihnen vorwarf, dass sie doch selber dran schuld waren, wenn sie gegen die Hochzeit gewesen waren. Und wie immer stand ihr eigener Vater Elrik als Stammesführer nur abseits und tat gar nichts. Auch Lu war ziemlich machtlos, und die Sache drohte gerade, hässlich zu werden, als Anya auf den Plan trat.


„HÖRT AUF!“, schrie sie und brachte beide Frauen damit zum Verstummen. „Hat es nicht schon genug Streit zwischen uns gegeben? Ich will nicht, dass sich meine Familien zerstreiten, und ich will nicht, dass irgendwer wieder von hier weggehen muss! Der Doofmann hat doch wirklich schon genug angerichtet! Ich… ich…“
     Tränen nahmen ihr die Worte, sodass Lu übernehmen musste.


„Sie hat recht. Wir haben lange gebraucht und es hat viel gekostet, um diesen Frieden zwischen uns zu schaffen. Das dürfen wir nicht vergessen“, erklärte er ruhig. „Wir sollten lieber zusehen, dass wir die Kinder zurückholen.“
     Die Hells sahen nicht so aus, als ob sie das auch so sehen würden, aber immerhin blieben sie ruhig. 
     Kurz darauf ging die gemeinsame Suche nach den beiden Verschwundenen los, doch die Situation blieb trotz der Zusammenarbeit der Nachbarn angespannt.
      Und das alles sollte erst der Anfang sein. Von da an ging es stetig bergab.
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Hier weiterlesen -> Kapitel 91 

Eigentlich war gar nicht geplant, dass Alistair und Gisela zusammen durchbrennen. Nach einigen Missverständnissen hätten sie letztendlich heiraten sollen. Aber dann war das so einer der Momente, in der die Personen die Geschichte schreiben. Denn mir fiel in letzter Sekunde auf, dass Giselas Eltern niemals mit Alistair einverstanden sein würden. Zum einen, weil er nicht laufen kann und er deshalb die Schmiede nicht übernehmen kann, was Griswold möchte. Und zum anderen, weil Greta ja alles hasst, was mit Dana und Jin zu tun hat. Vor allen Dingen deren Tochter Jana, die ja Alistairs Mutter ist. 
     Alistair und Gisela hätten also nur heiraten können, wenn sie durchgebrannt wären und das haben sie dann ja auch getan. Blöd nur, dass sie gleich mein einziges Pferd mitgenommen haben. So war das nicht geplant gewesen -.-  ...

Was Nara und Nila angeht: So traurig das ist, aber Nila war bei weitem nicht Naras schlimmster Peiniger. Das waren schon immer ihre Geschwister. Ich verweise da zur Ahn-Charakterseite und auch zu Kapitel 77, wo Malah als Kind schon einmal mitbekommen hat, wie Nara von ihren Geschwistern unter Wasser getaucht wurde. Deswegen ist es für das arme Mädchen nur logisch, dass sie jetzt Schutz sucht, wo auch immer sie ihn finden kann, nachdem Alek weggegangen ist. Leider kann sie nämlich nicht so einfach beim Uruk-Stamm bleiben, wie Alek das gedacht hatte. Denn ihre Eltern haben da noch immer ein Wörtchen mitzureden. Und deswegen hängt sie jetzt auch so an Nila, von dem sie glaubt, dass er sie jetzt plötzlich mag und mit ihr eine Familie gründen will.
     Aber ich will klarstellen, dass Nila Nara mitnichten beschützen wollte, weil er sie plötzlich gernhat oder so. Nein, er sieht Nara nun schlichtweg als seinen Besitz an. Aber was sie selber will, ist ihm letztendlich immer noch völlig egal.
 
Nächstes Mal dann tritt Hana endlich auf und wir werden sehen, ob Alistair und Gisela (und Alek) zurückkehren werden oder nicht.

Bis dahin, danke fürs Vorbeischauen, und ich verabschiede mich!

PS: Da ich es vergessen habe, habe ich die Outtakes zu Generation IV jetzt online gestellt.

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