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Mittwoch, 19. Juni 2019

Kapitel 90 - Befreiungsschlag



Obwohl die Morgensonne erst aus den Federn gestiegen war, verkündete sie ihnen schon jetzt, dass sie ihr Bestes geben würde, um ihnen einen weiteren unerträglich heißen Tag zu bescheren. 
     Dennoch hatten sich an diesem Morgen drei Wagemutige aus dem kühlen Inneren des Ahn-Hauses herausgewagt. Das waren Reinard und Nefera, die nachholten, dass Reinard als baldiger Anführer des Ahn-Stammes gestern auf dem Fest keine Zeit für seine Zukünftige gehabt hatte, und Nara, die ihnen eifrig dabei zusah.
     Eigentlich war Nefera das ja egal, aber sie nutzte die Chance, um Reinard von sich zu schieben, als dessen Hand sich (schon wieder) unter ihr Kleid verirren wollte. Er wurde in letzter Zeit immer aufdringlicher, obwohl er sich am Anfang kaum für sie interessiert hatte. Das war der einzige Grund gewesen, warum sie ihn Alek vorgezogen hatten


„Deine Schwester“, merkte sie an, „das ist mir unangenehm, dass sie uns dabei zusieht.“
    Reinard sandte einen vernichtenden Blick zu seiner Schwester, um sie zu verscheuchen. Aber Nara war glücklicherweise noch zu sehr mit der Frage beschäftigt, was um alles in der Welt Nila gestern mit ihr gemacht hatte, und deshalb bemerkte sie das nicht.
     Nila hatte sie zwar nicht geküsst, aber er hatte sie auch angefasst, so, wie Reinard Nefera anfasste. Er hatte auch mit ihr gemacht, was sie schon bei ihren Eltern gesehen hatte. Nur, was bedeutete das? 
     Immer wenn sie nachgefragt hatte, hatten ihre Eltern sie abgewimmelt. Ihre Eltern behandelten sie so, wie die meisten es taten. Als würde sie nichts verstehen, als müsste sie nichts verstehen. Alek und Malah waren die Ersten gewesen, die anders gewesen waren und die ihr Dinge erklärt hatten. Aber manchmal behandelten auch Alek und Malah sie noch wie ein Kind.
     Nila war da schon immer anders gewesen. Sie hatte Angst vor ihm, aber wenn sie etwas nicht wusste oder verstand, kannte er keine Rücksicht und kein Mitleid mit ihr. Er sagte ihr dann in einem lauten und barschen Tonfall, wie es war, aber er hatte ihr niemals etwas nicht gesagt, das sie hatte wissen wollen. Nicht, dass sie sich sonderlich viel getraut hatte, ihn zu fragen. Und diesmal hatte er ihr eben gezeigt, was sie nicht gewusst hatte. 
     Doch was es war, wusste sie nach wie vor nicht, und sie hatte sich wieder nicht getraut, nachzufragen.


Nefera löste sich jetzt hastig aus Reinards Griff und sprang auf die Beine, bevor er auf die Idee kam, ihr doch noch zu zeigen, dass er eigentlich nicht so nett war, wie er versuchte, ihr glauben zu machen. Er wusste nur, dass sie auf und davon war, wenn er sie zu sehr drängte, weshalb er sich auch diesmal damit begnügte, nur wütend von Dannen zu ziehen. Sehr viel länger würde er aber nicht mehr geduldig sein, wusste sie.
      Nachdem das Haus ihn endlich verschluckt hatte, atmete sie erleichtert auf. Sie hatte immer noch keine Ahnung, warum sie gedacht hatte, dass es eine gute Idee war, sich auf ihn einzulassen. Sie liebte ihn ja nicht mal. Noch nie hatte sie jemanden geliebt, und sie hatte gedacht, dass das schon werden würde, wenn sie sich erstmal mal auf ihn – auf irgendwen – einließ. Aber bislang war das nicht der Fall. Und Reinard war auch nur daran interessiert, dass sie endlich mit ihm ins Bett stieg.


Sie seufzte schwer und überlegte, ob sie ihm nicht einfach sagen sollte, wie es war – nicht, dass sie glaubte, dass er Verständnis für sie haben würde – als plötzlich Nara ankam. Was das scheue Mädchen bislang noch nie getan hatte.
     „Was habt ihr da gemacht?“, wollte sie wissen.
     „Oh“, machte Nefera und wurde dabei rot, „wir haben uns geküsst…“
     „Warum?“
     „Weil wir uns mögen.“ ‚Zumindest sollte es so sein‘, dachte Nefera bitter, behielt das aber für sich.
     Nara war jetzt aber glücklicherweise mit Denken fertig, um sie direkt zu fragen: „Steckt er auch sein Pipi bei dir da unten rein?“, und sie damit auf andere Gedanken zu bringen.


„N-nein“, stammelte Nefera überfordert, „das noch nicht.“ Als Nara nur verwirrt dreinsah, fragte sie: „Woher kennst du das denn?“
     Nara wollte ihr erzählen, dass Nila das mit ihr gemacht hatte, aber dann erinnerte sie sich daran, dass das ja ihr Geheimnis war. Also sagte sie: „Hab das bei Mama und Papa gesehen.“


Nefera wusste, dass es nichts Ungewöhnliches war, dass man so etwas mitbekam, wenn man in einem Haus lebte. Aber sie war in Zelten groß geworden und ihre Eltern und Großeltern hatten für solche Angelegenheiten glücklicherweise immer das Zelt benutzt, in dem sie nicht geschlafen hatte.
     „Was ist das? Warum macht man das?“, fragte Nara jetzt.
     „Weißt du das denn nicht?“
     Nara schüttelte den Kopf und Nefera war geschockt, dass man ihr das nicht gesagt hatte. Was da alles passieren konnte!
     „Nun, das macht man, damit man Kinder bekommt.“ Nara sah aber nicht so aus, als ob sie ihr das glauben würde, also fügte sie hinzu: „Du hast doch bestimmt schon mal eine Frau mit einem dicken Bauch gesehen, oder? Eine Schwangere?“ Nara nickte. „Nun, damit eine Frau schwanger werden kann, braucht es einen Mann. Er… tut das Kind so in ihren Bauch, sozusagen.“


Was Nara vollkommen schockierte. Bedeutete das etwa, dass Nila ein Kind in ihren Bauch getan hatte? Erschrocken schaute sie an sich herunter und legte die Hände auf ihren Bauch, was Nefera nicht entging.
     „Was ist los?“, fragte sie besorgt. „Hat das etwa jemand mit dir gemacht?“
     Nara starrte sie mit großen Augen an. Doch erneut erinnerte sie sich im letzten Moment daran, was Nila ihr gesagt hatte. Er hatte ihr verboten, irgendwem davon zu erzählen. Sie wusste, dass lügen böse war, aber sie hatte viel zu viel Angst davor, Nila böse zu machen. Außerdem war es ja ihr Geheimnis. Also schüttelte sie schnell den Kopf. 
     Nefera bedachte sie noch mit einem langen Blick, dann entspannte sich ihr Gesicht jedoch wieder.


„Du solltest so etwas jedenfalls nur mit jemandem machen, den du wirklich magst. Jemanden, mit dem du eine Familie gründen willst, verstehst du?“
     Nara verstand gar nichts. Sie hatte das mit Nila gemacht, aber sie hatte keine Familie mit ihm gründen wollen. Aber… hieß das dann, dass Nila eine Familie mit ihr gründen wollte?


Sie wusste noch nicht so recht, wie sie das finden sollte, aber der Gedanke daran, dass tatsächlich jemand mit ihr, der dummen und nutzlosen Nara, wie sie immer alle nannten, eine Familie gründen wollte, machte sie froh. 
     Sie stellte sich vor, wie Nila sie mit sich nehmen würde, damit sie bei ihm leben konnte. Dann konnte sie von hier weg. Von ihren bösen Geschwistern. Und noch viel mehr bei Malah sein. Sie hatte sich schon immer gewünscht, bei ihrer Freundin wohnen zu können.


Erst, als Alek zu den beiden Mädchen stieß und zu ihr sagte: „Nara, ich muss mal mit dir sprechen“, kehrte sie aus diesem schönen Traum in die harte Realität zurück.


Obwohl es kurz darauf so brüllend heiß war, dass sich kaum einer vor die Türe wagte, war Nara zum Uruk-Hof aufgebrochen.


Laut Malah-rufend erreichte sie ihn gerade, als Nila in die sengende Hitze rausgegangen war, um auszutreten. Und als sie ihn sah, hielt sie nichts mehr.


Sie rannte zu ihm, fiel dem überrumpelten Jungen um den Hals und schmiegte sich glücklich an seine Schulter. Nefera hatte gesagt, dass man nur mit jemanden, den man mochte, eine Familie gründen sollte. Also hieß das ja, dass Nila sie mochte, nicht wahr? Und dass er von nun an nett zu ihr sein würde. Wo er doch ein Kind in ihren Bauch getan hatte.


In dem Moment, in dem sie ihn wieder losgelassen hatte, kam schließlich auch Malah, angelockt von ihren Rufen, nach draußen. Und im Gegensatz zu der gutgläubigen Freundin sah sie den überaus bedrohlichen Blick, mit dem ihr Bruder sein Gegenüber gerade bedachte.


Alarmiert ging sie dazwischen und brachte die Bedrohte schnellstens in Sicherheit. Wie sie gehofft hatte, ging ihr Bruder auch lieber ins kühle Haus zurück, anstatt ihnen zu folgen.


Sie selber hatte Nara derweil hinter dem Brunnen vor sich aufgestellt und sagte eindringlich zu ihr: „Du sollst dich doch von meinem Bruder fernhalten. Du weißt doch, dass er immer böse zu dir ist.“


Doch Nara hörte ihr gar nicht zu. Sie war daran erinnert worden, warum sie eigentlich hier war, also rief sie: „Alek ist weggegangen!“
     Malah war erschrocken, das zu hören. Aber sie wollte es nicht so recht glauben. Ja, ihre Abfuhr gestern hatte ihn sehr offensichtlich getroffen gehabt, aber er würde doch nicht einfach weggehen und Nara zurücklassen, oder?
     „Er sagt, dass ich jetzt hier wohnen soll“, klärte Nara sie auf, als hätte sie ihre Gedanken gelesen.
     Das konnte doch nicht sein! Alek sollte wirklich fortgegangen sein?
     

Eine Antwort bekam sie jedoch erst in den Abendstunden, als es kühl genug war, um ungefährdet zum Ahn-Stamm hinüberzugehen. Erst dort erfuhr sie von Aleks Eltern, dass Nara die Wahrheit gesprochen hatte.
     Ihr immerzu gut gelaunter Freund hatte seine Sachen gepackt, hatte sich verabschiedet und das Tal auf der Suche nach seinem eigenen Glück verlassen. Und sie konnte nichts dagegen tun. Nicht einmal weinen wie die arme Nara, die damit ihren einzigen Beschützer verloren hatte, konnte sie.


‚Und dabei hast du doch gesagt, dass du glücklich bist, solange du nur weißt, dass du morgen einen vollen Bauch und ein Dach über dem Kopf haben wirst. Aber das ist wohl egoistisch von mir, so zu denken.‘


„Ich hoffe nur, dass du dort draußen dein Glück finden wirst“, sagte sie später in die anbrechende Nacht hinein, als sie sich an dem Platz beim Wasserfall eingefunden hatte, an dem sie sich so oft mit ihm und Nara getroffen hatte. 
      Und dann bedauerte sie. Sie hatte ihm nicht geben können, was er von ihr gewollt hatte. Sie liebte ihn nicht. Aber sie wusste jetzt schon, dass er ihr trotzdem fehlen würde.


Als die Sonne am nächsten Morgen ihre ersten Strahlen in den Himmel goss und das tiefe Blau sich langsam Gold zu färben begann, lag Nila am Ahn-Wasserloch auf Nara. Er hatte die Arme um sie geschlungen und war gänzlich erfüllt von dem Geruch von Gänsefedern, der für Nara typisch war, wie er hatte feststellen müssen. Er hatte die ganze Nacht bei ihr verbracht.


Am vorigen Tag noch, gleich nachdem seine dämliche Schwester sie nach Hause gebracht hatte, war er hergekommen, um Nara abzufangen. Seine Chance war gekommen, während sie zum Austreten allein nach draußen gekommen war. Da hatte er sie sich geschnappt und sie rüde mit sich gezogen, bis zum Wasserloch, wo hoffentlich niemand sie sehen würde.


„Was sollte das vorhin? Ich hab dir gesagt, dass das ein Geheimnis ist, was wir gestern gemacht haben. Deswegen sollst du gefälligst wegbleiben von mir, wenn jemand anderes da ist“, stellte er wütend klar. „Vor allen Dingen Malah!“
     Es hatte keinen Sinn. Sie war zu dumm, um es zu verstehen. Also musste er ihr einbläuen, dass sie gefälligst vorsichtiger sein sollte. Doch er schätzte, dass er ihr nicht wehtun würde müssen. Ihr ein bisschen Angst einzujagen, würde wahrscheinlich ausreichen.


Als er sich jedoch gerade dazu entschlossen hatte, es so zu machen, brach Nara, die junge Frau, die bislang immer nur geschwiegen hatte, plötzlich aus.
     Malah sagte, du bist böse. Aber sie lügt! Du bist nicht mehr böse zu mir! Sie ist böse! Sie ist nicht mehr meine Freundin! Die Anderen sind auch immer böse zu dir. Wie zu mir. Ich werde nie böse zu dir sein! Ich werde immer lieb zu dir sein! Versprochen!“


Das hatte Nila überrascht (nicht, dass er sich das hätte anmerken lassen natürlich). Es war das erste Mal, dass jemand auf seiner Seite stand. Sonst machten ihn doch immer nur alle für alles verantwortlich.
      Danach hatte er Nara doch keine Angst mehr gemacht. Er hatte nichts mehr zu ihr gesagt, weil er nicht gewusst hatte, was er hätte sagen sollen. Stattdessen hatten sie die ganze Nacht zusammen verbracht.
     Noch immer lag er auf ihr und lauschte ihrem Herzschlag. Es war noch kühl genug, dass ihre Wärme angenehm war, und er war erfüllt von einem Gefühl, das ihm so lange ferngeblieben war, dass es inzwischen wie ein Fremder für ihn war: Frieden. Er war die letzte Zeit immer voller Wut gewesen, aber jetzt, hier bei Nara, fühlte er sich frei, glücklich und zufrieden.


Als ihm das bewusst wurde, erhob er sich schlagartig. Er wollte das nicht. Er wollte nicht so schwach sein, dass er jemanden wie Nara brauchte. Dennoch konnte er es nicht über sich bringen, sie anzusehen. 
     Er zog sich hastig an, sagte kein Wort zu ihr und ging dann einfach davon. Nara, die inzwischen wieder ihr Sackkleid trug, das ihre üppigen Kurven nur schwerlich verstecken konnte, watschelte ihm unbeirrt hinterher. Sie war still, und auch er war es, deshalb ließ er sie.


Doch gerade, als sie den Hof von Naras Zuhause erreicht hatten und er sich umdrehen wollte, um ihr zu sagen, dass sie bloß hierbleiben sollte, wurden sie entdeckt. Und dabei war er extra um die Rückseite des Hauses geschlichen, dass sie nicht entdeckt werden!
     Es war Naras nerviger Bruder Lin, der jetzt ankam und den Finger auf ihn richtete. Natürlich.


„Was hast denn du hier verloren?“, forderte er zu wissen. „Bist du etwa hergekommen, um Ärger zu machen? Oder von uns zu klauen?“
     „Als ob es bei euch was zum Klauen gibt“, gab er spitz zurück.
     „Sei bloß nicht so überheblich, du Kakerlake!“, fauchte Lin, bevor er auf Nara aufmerksam wurde, die noch immer hinter Nila stand. „Was machst du eigentlich hier draußen, hä? Du sollst das Frühstück machen und nicht draußen rumrennen, du dummes Weib!“


Ohne Nila weiter zu beachten, ging er zu dem arglosen Mädchen und zog ihr heftig an den Zöpfen, sodass sie einen erschrockenen Schrei von sich gab. Ihre weinerlichen Bitten wurden einfach ignoriert.
     Nila tat nichts, um etwas dagegen zu unternehmen, obwohl es ihm gegen den Strich ging. Als Nara schließlich weinte, ließ ihr Bruder wieder von ihr ab.


„Scher dich nach drinnen!“ Dann wieder zu Nila meinte er: „Und was hast du jetzt hier verloren gehabt, hä? Vergreifst du dich etwa an der, oder was?“
     Da riss Nila schließlich der ohnehin kurze Geduldsfaden.


Bevor der Andere wusste, wie ihm geschah, schlug er ihm seine Faust ins Gesicht. Im nächsten Moment machte Lins Ohr Bekanntschaft mit dem Boden. Nilas Faust bohrte sich in seine Wange und er drückte so fest zu, dass er glaubte, seinen Schädelknochen knirschen zu hören.


„Pass auf, was du sagst! Und lass in Zukunft gefälligst deine Pfoten von ihr! Ich bin der Einzige, der sie drangsalieren darf, verstanden?“
     Nila beugte sich zu ihm hinab, und als Lin seinen eiskalten Blick sah, wurde ihm klar, dass mit dem lästigen Nila, den nie jemand ernst genommen hatte, nicht zu spaßen war. Er war gefährlich. Es durchlief ihn eiskalt, und das war auch der Grund, warum er sich nicht wehrte, obwohl er viel stärker als sein Gegner war.
     „Wenn ich von ihr oder irgendwem höre, dass du dich nicht dran hältst, mach ich dich kalt“, warnte Nila ihn.
     Dann ließ er endlich von ihm ab. Die kalten grauen Augen erbarmungslos auf ihn gerichtet, und zu seiner Überraschung die seiner Schwester, die einen Ausdruck zur Schau trugen, den er noch nie bei ihr gesehen hatte: gnadenlose Genugtuung.


Als seine Mutter im nächsten Moment um die Ecke kam und sie entdeckte, klaubte Lin jedoch jedes bisschen an Mut, das er noch hatte, zusammen und raffte sich auf. Obwohl er zuvor noch Todesangst gehabt hatte, zögerte er nicht eine Sekunde, Nila anzuklagen.
     „Es wird Zeit, dass das deine Leute erfahren“, verkündete Lann, nachdem Lin ihr davon erzählt hatte, was geschehen war. Ohne den Part, wo er Nara an den Haaren gezogen hatte, natürlich.
     Nila versuchte gar nicht erst, sich zu verteidigen. Sein Ruf war überall so schlecht, dass das sinnlos sein würde, wusste er. Jetzt würde er wieder wochenlang den Stall ausmisten müssen und die andere Drecksarbeit verrichten, die niemand tun wollte.
     Doch als er sich schon mit seinem Schicksal abgefunden hatte, kam plötzlich Rettung von unerwarteter Seite.


„Nein! Lin lügt!“, rief Nara laut. „Nila hat mir geholfen! Lin hat mir wehgetan! Er ist gemein! Er ärgert mich immer! Er tut mir immer weh, bis ich blute! Er tut mich unter Wasser und ich krieg keine Luft! Ich will, dass er aufhört!“


Es war das erste Mal, dass Nara, die schon immer unter den Schikanen ihrer Geschwister gelitten hatte, ihre Stimme fand, um sich zu wehren. Obwohl Alek in der Vergangenheit immer wieder gesagt hatte, dass sie von ihren Geschwistern drangsaliert wurde, hatte man ihm nie geglaubt. Es war nie etwas geschehen. Und Nara hatte das schweigend ertragen. Sie war es nicht anders gewohnt, hatte geglaubt, dass es ihre Schuld sei, dass man sie so behandelte. Sie hatte geglaubt, dass es normal sei.
     Doch an diesem Tag, als sie sich für den größten Querulanten der Gegend einsetzte, stand sie auch das erste Mal in ihrem Leben für sich selber ein. Und es war auch das erste Mal für Nila, dass sich jemand für ihn eingesetzt hatte, der nicht seine Mutter war.


Zu dieser Zeit erwachte auch Malah aus ihrem Schlaf. Sie war gestern Abend beim Wasserfall eingeschlafen und dementsprechend gerädert fühlte sie sich jetzt, und als sie sich daran erinnerte, warum sie eigentlich hier war, war ihre Laune obendrein auch noch im Keller.


Und der Tag sollte nicht besser werden. Als sie zum Hof zurückkehrte, war die Hütte bereits mächtig am Brennen. Lautes Geschrei wehte ihr schon von weitem entgegen. Es kam vom Nachbargrundstück.
     Die Nachbarn standen dort einigen von ihren Leuten gegenüber und – waren das etwa Greta und Jana, die sich dort stritten?
     Malah zögerte nicht lange und ging nachschauen, was da los war. Tatsächlich schrie Greta gerade wütend Jana an, während Lu zum Schlichten an der Seite stand und ignoriert wurde. Doch obwohl der Streit nicht sonderlich leise verlief, konnte Malah nicht heraushören, um was es eigentlich ging.


„Was ist denn passiert?“, fragte sie ihren Großvater, der neben seinem ziemlich fertig aussehenden Bruder Aan im Hintergrund stand.
     Und was er dann sagte, traf sie vollkommen unvorbereitet: „Alistair und Gisela sind zusammen ausgerissen.“
     „Was? Seid ihr sicher? Wa… warum?“
     „Ja, wir sind sicher. Alis hat eine Nachricht hinterlassen. Er hat das Pferd genommen und ist mit Gisela zusammen fort, weil ihre Eltern dagegen waren, dass sie heiraten.“
     Malah war erschrocken, das zu hören. Erst Alek und jetzt Alistair und Gisela. Sie hatte nicht einmal eine Ahnung gehabt, dass die letzteren beiden überhaupt etwas miteinander zu tun gehabt hatten.


Und jetzt stritten sich die Hells, die Alistair vorwarfen, ihre Tochter entführt zu haben, mit Jana, die ihnen vorwarf, dass sie doch selber dran schuld waren, wenn sie gegen die Hochzeit gewesen waren. Und wie immer stand ihr eigener Vater Elrik als Stammesführer nur abseits und tat gar nichts. Auch Lu war ziemlich machtlos, und die Sache drohte gerade, hässlich zu werden, als Anya auf den Plan trat.


„HÖRT AUF!“, schrie sie und brachte beide Frauen damit zum Verstummen. „Hat es nicht schon genug Streit zwischen uns gegeben? Ich will nicht, dass sich meine Familien zerstreiten, und ich will nicht, dass irgendwer wieder von hier weggehen muss! Der Doofmann hat doch wirklich schon genug angerichtet! Ich… ich…“
     Tränen nahmen ihr die Worte, sodass Lu übernehmen musste.


„Sie hat recht. Wir haben lange gebraucht und es hat viel gekostet, um diesen Frieden zwischen uns zu schaffen. Das dürfen wir nicht vergessen“, erklärte er ruhig. „Wir sollten lieber zusehen, dass wir die Kinder zurückholen.“
     Die Hells sahen nicht so aus, als ob sie das auch so sehen würden, aber immerhin blieben sie ruhig. 
     Kurz darauf ging die gemeinsame Suche nach den beiden Verschwundenen los, doch die Situation blieb trotz der Zusammenarbeit der Nachbarn angespannt.
      Und das alles sollte erst der Anfang sein. Von da an ging es stetig bergab.
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Hier weiterlesen -> Kapitel 91 

Eigentlich war gar nicht geplant, dass Alistair und Gisela zusammen durchbrennen. Nach einigen Missverständnissen hätten sie letztendlich heiraten sollen. Aber dann war das so einer der Momente, in der die Personen die Geschichte schreiben. Denn mir fiel in letzter Sekunde auf, dass Giselas Eltern niemals mit Alistair einverstanden sein würden. Zum einen, weil er nicht laufen kann und er deshalb die Schmiede nicht übernehmen kann, was Griswold möchte. Und zum anderen, weil Greta ja alles hasst, was mit Dana und Jin zu tun hat. Vor allen Dingen deren Tochter Jana, die ja Alistairs Mutter ist. 
     Alistair und Gisela hätten also nur heiraten können, wenn sie durchgebrannt wären und das haben sie dann ja auch getan. Blöd nur, dass sie gleich mein einziges Pferd mitgenommen haben. So war das nicht geplant gewesen -.-  ...

Was Nara und Nila angeht: So traurig das ist, aber Nila war bei weitem nicht Naras schlimmster Peiniger. Das waren schon immer ihre Geschwister. Ich verweise da zur Ahn-Charakterseite und auch zu Kapitel 77, wo Malah als Kind schon einmal mitbekommen hat, wie Nara von ihren Geschwistern unter Wasser getaucht wurde. Deswegen ist es für das arme Mädchen nur logisch, dass sie jetzt Schutz sucht, wo auch immer sie ihn finden kann, nachdem Alek weggegangen ist. Leider kann sie nämlich nicht so einfach beim Uruk-Stamm bleiben, wie Alek das gedacht hatte. Denn ihre Eltern haben da noch immer ein Wörtchen mitzureden. Und deswegen hängt sie jetzt auch so an Nila, von dem sie glaubt, dass er sie jetzt plötzlich mag und mit ihr eine Familie gründen will.
     Aber ich will klarstellen, dass Nila Nara mitnichten beschützen wollte, weil er sie plötzlich gernhat oder so. Nein, er sieht Nara nun schlichtweg als seinen Besitz an. Aber was sie selber will, ist ihm letztendlich immer noch völlig egal.
 
Nächstes Mal dann tritt Hana endlich auf und wir werden sehen, ob Alistair und Gisela (und Alek) zurückkehren werden oder nicht.

Bis dahin, danke fürs Vorbeischauen, und ich verabschiede mich!

PS: Da ich es vergessen habe, habe ich die Outtakes zu Generation IV jetzt online gestellt.

Mittwoch, 5. Juni 2019

Kapitel 89.1 - Das zweite Junggesellenfest Teil 1

WARNUNG: Diese beiden Kapitel beinhalten Nila, von dessen mehr als unangemessener Wortwahl ich mich ebenso distanzieren möchte, wie von seinen respektlosen und kriminellen Handlungen.


Die nächste Zeit wurde die Hitze beinahe unerträglich. Die Sonne schien jeden Tag erbarmungslos an einem fast wolkenlosen Himmel und da der Regen seit Wochen ausgeblieben war und noch immer auf sich warten ließ, schwanden auch ihre Wasservorräte zusehends. Bald schon mussten sie es rationieren, weswegen Malahs Übernahmefest erneut verschoben wurde.
     Viel schlimmer für die junge Generation war jedoch die Nachricht, dass der Zoth-Stamm wegen der anhaltenden Hitze und Wasserknappheit das kommende Junggesellenfest ausfallen lassen könnte. Obwohl es nur einmal stattgefunden hatte, erfreute es sich bereits allgemeiner Beliebtheit und es war sogar über ihr Tal hinaus bekannt geworden.


Deshalb entschied sich der Zoth-Stamm schließlich dafür, es doch stattfinden zu lassen.


Tanja, die schon das letzte Mal zu Gast gewesen war, beehrte das Fest auch diesmal wieder mit ihrer üblich wütenden Anwesenheit. Glücklicherweise war diesmal aber ja jemand da, um sich anzuhören, was ihren Unmut so erregt hatte.
      „Bei aller Liebe, dass jetzt schon Geschwister miteinander anbändeln!“, sagte sie mit Blick auf Jade und Wotan, die sich gerade vor ihr auf der Tanzfläche drehten, während sie am Rand stand und noch immer nicht tanzte.


„Wotan hat nichts mit seiner Schwester.“
      Wirt, der bislang schweigend neben ihr gestanden hatte, fing sich nun einen wütenden Blick von ihr, der nicht ihm galt. Er sprach ja nicht oft von sich aus und deshalb war sie jedes Mal froh, wenn er es doch tat. Dann fühlte sie sich als etwas Besonderes.  
     „Und das weißt du so genau, weil?“
     „Er erzählt dauernd von seinen Frauen.“
     „Frauen?“ Tanja lachte abfällig. „Als ob sich auch nur eine Frau für den interessiert!“
     „Er hatte schon mehr Frauen, als ich zählen kann.“


Tanja wollte etwas sagen – sie wollte nicht, dass ihr Gespräch erlahmte – aber da kam plötzlich eine Frau an. Sie blieb vor Luis stehen, der sich dreist neben sie gestellt hatte und wie gewohnt vor sich hinstarrte und kein Wort sagte. Als wäre er gar nicht da.
     „Ähm… möchtest du vielleicht tanzen?“, fragte sie zögerlich.
     Der Angesprochene antwortete ihr nicht. Wahrscheinlich bekam er gar nicht mit, dass sie ihn meinte.
     „Sie redet mit dir, Luis, du Blindfisch!“, half Tanja ihm freundlicherweise auf die Sprünge.


Luis zuckte ertappt zusammen, versuchte dann, ein Lächeln aufzusetzen und den Kopf dorthin zu drehen, wo die fremde Stimme hergekommen war. Was ihm nicht so gut gelang.
     „Tut mir leid, aber ich bin nicht auf der Suche“, stotterte er hastig.


Die Frau warf daraufhin einen Blick zu Wirt, was Tanja dazu brachte, ihr angriffslustig die Zähne zu zeigen. Sie war von jenseits des Tals und sie war schon ein bisschen älter und konnte ihr nicht das Wasser reichen, fand Tanja, aber sie sollte trotzdem nicht auf dumme Gedanken kommen. 
     Die Fremde bemerkte die kaltblütige Ausstrahlung der anderen Frau zu ihrem Glück und zog daraufhin ohne ein weiteres Wort zu sagen von Dannen.


„Wenn du nicht auf der Suche bist, warum bist du dann überhaupt hier?“, fauchte Tanja in Richtung des Störenfriedes, kaum, dass die Frau abgedreht war. Sie hatte wirklich keine Lust, dass er noch mehr verzweifelte Frauen anlockte.
     „Weil meine Mutter mich darum gebeten hat.“
     Sie hatte ihn eher gezwungen, genauso, wie sie Leif gezwungen hatte. Luis hatte überhaupt nicht herkommen wollen, aber sein Vater hatte gesagt, dass er sich doch mal ein Bild von den Festen der anderen Stämme machen sollte. Als Schamane würde er später schließlich viele dieser Feste besuchen. 
     Also war er gegangen, aber er hatte weiterhin kein Interesse daran, sich eine Frau zu suchen. Es war nicht so, dass er sich keine wünschte, aber er wusste, dass er in seiner Situation nie mit einer Frau zurechtkommen würde. Deshalb hatte er sich zur Devise gemacht, dass er das, was er nicht kannte, nicht vermissen würde, und er hatte sich vorgenommen, allein zu bleiben.
     „Ja, was auch immer“, fuhr Tanja überaus genervt fort. „Aber warum bist du hier? Deine komische Du-heit verscheucht alle guten Männer. Kein Wunder, dass keiner herkommt, um mich zum Tanz aufzufordern.“


Luis dachte sich: ‚Dass keiner herkommt, dafür sorgst du schon selber‘, aber er sagte es ihr natürlich nicht. 
     Außerdem war die Frage doch eher, warum Tanja hier war. Immerhin hatte sie doch Wirt. Aber scheinbar hielt sie sich noch immer für zu gut für ihn. Luis fragte sich wirklich, wie Wirt es mit ihr aushielt, ohne schreiend davonzulaufen.


„Komm, Wirt!“, hörte er sie ihren Begleiter herumkommandieren, als wäre er ein Hund. „Lass uns woanders hingehen. Weg von dieser Langweiler-Aura, die der da ausstrahlt.“
     Luis war sich ziemlich sicher, dass die beiden bald zusammen auf der Tanzfläche stehen würden. Weil „alle anderen zu dämlich waren, um ihre Großartigkeit zu erkennen“, würde Tanja dann wahrscheinlich sagen.
     Doch er war froh, als sie endlich weg waren und er wieder allein sein konnte.


Als Jade beschloss, dass ihre Füße es nicht länger aushalten würden, mit ihrem Bruder zu tanzen, beendeten die beiden Geschwister ihren beinahe einstündigen Tanz und sie sah zu, dass sie hastig zu den anderen Mädchen floh, die noch immer (ohne zum Tanz aufgefordert worden zu sein) am Rande standen.
      Jade hatte überhaupt erst mit ihrem Bruder getanzt, um den andauernden Avancen der anderen Jungs zu entkommen. Sie war hier heißbegehrt, das war ihr schon klar, und ihr war auch klar, dass sie irgendwann einen der ortsansässigen Jungen heiraten würde und es nur noch eine Frage war, wer es sein würde. Aber sie wollte es sich lieber nicht mit den anderen Mädchen verscherzen. Sie empfingen sie schon jetzt mit giftigen Blicken. Naja, eigentlich nur Gabriela und Mai, die sich inzwischen für die Königinnen der Gegend hielten, nachdem Jade sich dazu entschlossen hatte, es nicht sein zu wollen. Nio stand wie immer daneben und starrte nur Löcher in die Luft.


„Seht euch an, wer da ankommt“, kam von Mai mit einem selbstgefälligen Grinsen, als sie fertig war, Jade mit Missbilligung zu löchern. „Ziegela und ihr Bruder.“
     Ziegela war eine Mischung aus Ziege und Gisela. Gisela und Mai waren sich ziemlich ähnlich, wenn es darum ging, sich für das Beste der Welt zu halten. Aber trotzdem taten sie so, als wären sie die besten Freundinnen, wenn sie zusammen waren. Gabriela, die zusammen mit Mai auch eingebildet hoch zehn war, gackerte jetzt, nur Nio schüttelte den Kopf. Sie war ein bisschen anständiger, aber dennoch sagte auch sie nie etwas gegen die Freundinnen.


Als die beiden Hell-Schwestern dann ankamen, begrüßte Mai Gisela entsprechend falsch überschwänglich, während Giselinde vollkommen ignoriert wurde. Das ging meistens so.
      „Und? Schon viele Heiratsanträge heute bekommen?“, fragte Gisela zuckersüß, als sie fertig mit ihrer heuchlerischen Begrüßung waren.
     Mai verdrehte die Augen. „Von wem denn? Es sind ja nur Idioten hier.“


„Ach, du wartest doch bloß darauf, dass Malahs Bruder dir Aufwartungen macht.“ 
     „Sag mal, willst du mich etwa beleidigen?“
     Nila galt als der am wenigsten begehrenswerte Junggeselle der Gegend. Jade war sich ziemlich sicher, dass sie nicht mal seinen Namen kannten.
     „Das würde ich doch nie machen“, meinte Gisela zufrieden grinsend.
     „Natürlich nicht.“ Mai erwiderte das Grinsen überlegen. „Aber keine Sorge, vielleicht kommt er ja noch für dich rum.“ 
      Wofür sie einen bösen Blick von Gisela kassierte, den sie großzügig ignorierte.


„Ich werde später jedenfalls noch mit Nero tanzen“, war sich Mai jetzt sicher.
     Nero wiederum galt als einer der begehrtesten Junggesellen weit und breit. Jedes Mal, wenn die Jungs ihre Wettstreite abhielten, ging er als Sieger hervor. Zudem machte seit kurzem das unsinnige Gerücht die Runde, dass er als Rahns Sohn die Führung über den Zoth-Stamm übernehmen würde, weil Nio das nicht tun wollte, wie alle wussten.
     Er war bei den Mädchen jedenfalls so beliebt, dass Mai sogar schon rübergegangen war, um ihn anzusprechen. Aber sie hatte sich eine Abfuhr von ihm eingehandelt. Nur, dass sie das natürlich nicht einsah und auch niemals gegenüber Gisela zugeben würde, die es wohl ebenfalls auf ihn abgesehen hatte, so, wie sie jetzt aussah. Jade tat er jedenfalls leid, dass er sich mit all den schrecklich überheblichen Zicken rumschlagen musste, die sie Freunde nannte.


Gisela behauptete also, dass Nero natürlich mit ihr tanzen würde, beide Mädchen grimmten sich eine Weile an, bis sie dazu übergingen, die anderen Jungs zu beurteilen. Von Nila, den sie widerlich, hässlich und widerlich fanden, zu Leif, der langweilig war. Lin, für den Jade wohl bestimmt war, wenn es nach Mai ging. Wolfmar, über den ganz schön herzogen wurde („Also tut mir ja leid, Gabi, aber dein Bruder ist einfach unmöglich“). Alistair, bei dem es eine Verschwendung war, dass er nicht laufen konnte und zu dem Gisela ausnahmsweise mal nichts zu sagen hatte. Wotan, zu dem Mai ja auch nicht nein sagen würde (was Gisela überhaupt nicht verstehen konnte) und natürlich Nero, von dem sie alle ganz begeistert waren. Über die Älteren wurde sich natürlich auch das Maul zerrissen. Vor allen Dingen Alek kam ganz schön übel weg. Er rangierte irgendwo zwischen Nila und Leif, wurde letztendlich aber doch noch vorletzter.
     Jade jedenfalls hatte zu all dem nichts zu sagen, obwohl sie ja vieles hätte sagen wollen. Sie hasste das so sehr, und sie hasste es, wie die anderen Mädchen waren.


„Ihr seid ganz schön oberflächlich, wisst ihr das?“, mischte sich plötzlich Giselas Schwester ein und sprach damit aus, was Jade dachte. „Wenn ihr so weitermacht, werdet ihr nie jemanden finden.“
     Sofort bekam Giselinde, die nur noch Gil genannt werden wollte, böse Blicke ab. Normalerweise sagte sie kaum je ein Wort, wenn sie ihre Schwester begleitete, aber seitdem Ragna gestorben war, war sie ziemlich direkt geworden.
     Mai rümpfte die Nase. „Was willst du denn? Wenn jemand keinen Mann kriegt, dann bist höchstens du das!“
     Gisela sah aus, als würde sie auf die Barrikaden gehen. Auf ihre Zwillingsschwester ließ sie nach wie vor nichts kommen. Aber das war gar nicht nötig, da Gil vollkommen unbeeindruckt blieb und klarstellte: „Ich will das ja auch gar nicht.“
      Die anderen Mädchen starrten sie ungläubig an, nur Gisela sah irgendwie unglücklich aus. Jade haderte mit sich, ob sie einfach nur betroffen oder wütend sein sollte. Sie wusste, dass sie nichts dazu sagen würde, aber sie wusste auch, dass sie irgendwann einen Mann heiraten würde, den sie wahrscheinlich gar nicht haben wollte. Weil das ihre Aufgabe war. Alle erwarteten das von ihr.


„Und was ist, wenn du irgendwann keine andere Wahl hast?“, entwich es ihr schließlich doch, bevor sie sich stoppen konnte.
     Da starrte Gil sie plötzlich an und Jade erkannte, dass sie nicht wusste, was sie darauf antworten sollte.


Aber bevor eine der beiden in die Verlegenheit kam, antworten zu müssen, fand Lin sie schließlich doch noch, um ihr den Hof zu machen. Wie seine Schwester Mai es erwartete, würde er es wahrscheinlich sein, der eines Tages ihr Mann werden würde. Die einzige Wahl, die sie hatte, war, ob sie ihn oder Wolfmar nehmen würde. Sie wollte keinen von beiden, aber sie wollte auch nicht wie Rahn verenden und allein bleiben, nur weil sie auf den Richtigen wartete.


Derweil war Wotan zu den Jungs zurückgegangen, von denen aber nur noch Leif und Alistair übrig waren. Alistair saß unverrückt auf seiner Bank, wie schon seit Stunden, und auch Leif hatte sich scheinbar keinen Millimeter weit bewegt. 
     „Na, ihr Langweiler?“, rief er ihnen zu. „Was macht ihr denn hier noch immer allein? Geht raus da und schnappt euch wen!“
     „Wir sind nicht alle so beliebt wie du oder Nero“, sprach Alistair ernüchtert, bevor er fassungslos zu dem Jüngsten des Uruk-Stammes sah, der in der Ferne noch immer von den Mädchen belagert wurde.


„Mann, schau dir das mal an, der hat so ein Glück und weiß gar nichts damit anzufangen. Der ist ja total überfordert.“
     „Vielleicht mag er ja keine Frauen“, mutmaßte Wotan.


„Er ist nur schüchtern und unerfahren, das ist alles“, erklärte Leif in seiner gewohnt ruhigen Art. „Er wollte eigentlich nicht mal mitkommen. Er hat noch gar kein Interesse an sowas.“
     Wotan lachte. „Jeder Mann hat doch Interesse an den Frauen.“
     „Nein, ich nicht. Dieser ganze Heiratskram interessiert mich nicht. Ich will allein bleiben.“
     „Ach, komm schon! Als ob du nicht mal gerne willst.“
     „Nicht alle ticken so wie du.“


Da mischte sich plötzlich Nefera ein, die bislang unweit entfernt gestanden und auf Reinard gewartet hatte. „Oh? Das sind aber ganz neue Töne. Ich habe bislang nämlich nur Männer getroffen, die wie Wotan waren. Auch wenn sie behaupteten, nicht so zu sein.“


„Ihr tut immer alle so, als ob dieser ganze Partnerkram das Wichtigste und Einzige auf der Welt ist“, brach es aus Leif heraus, aber das ist es nicht... das ist es nicht“, wiederholte er bitter, bevor er sich abwandte und davonging. „Es gibt so viel wichtigere Dinge im Leben…“


„Was ist denn mit dem los?“, fragte Nefera überrumpelt.
     „Er hat seinen kleinen Bruder verloren“, erklärte Alistair ihr traurig, „und er gibt sich die Schuld daran. Ich glaube, dass er sich seitdem nicht mehr erlaubt zu leben.“


Sie waren alle betroffen am Schweigen, bevor Wotan die Stille zerbrach und sagte: „Hey, Nefera, hast du Reinard endlich in den Wind geschossen?“
      Nefera würdigte ihn nicht einmal einer Antwort. Wie Leif zuvor, ging auch sie einfach davon.


„Was mit dir eigentlich?“, fragte Wotan jetzt an Alistair gewandt. „Du warst doch vorhin noch der Renner bei den Mädchen.“
     „Mein Pferd war eher der Renner. Ich war nur Beiwerk und als sie gesehen haben, dass ich nicht laufen kann, war ich so uninteressant wie ein Kuhfladen.“ Er seufzte. „Ich hätte es eigentlich wissen müssen. Ich hätte lieber zuhause bleiben sollen. Das hat ja eh keinen Sinn. Wer will schon einen Mann, der nicht laufen kann?“
     „Na, lass mal nicht den Kopf hängen! Ich zeig dir schon, wie du bei den Mädels ankommst.“


Das war, bevor er bemerkte, dass sich Lin an seine Schwester Jade ranmachte. Da war Alistair ganz schnell vergessen.
     „Und damit bin ich wieder raus“, meinte der bitter.
     „Nah! Warte kurz!“


Wotan sah sich um und als er seine beiden anderen Schwestern entdeckte, rief er laut: „He! Gil! Gisa! Kommt mal her!“
      Gisela schaute böse, aber beide Schwestern kamen trotzdem.
      „Warte! Das sind doch auch deine Schwestern!“, merkte Alistair erschrocken an, als er das sah.
     „Ja, aber bei denen habe ich eher Angst, dass sie dich auffressen.“
     „Aber…“


Weiter kam er nicht, da beide Mädchen in diesem Moment vor ihnen zum Stehen kamen. Gisela scheinbar nur, um ihren Bruder von nahem mit ihrem vernichtenden Blick zu bedenken.
     „Was? Warum sprichst du uns hier an?“, fauchte sie patzig.
     „Ich muss mal kurz wen verprügeln gehen. Warum setzt ihr euch nicht ein bisschen zu Alistair und unterhaltet euch mit ihm, hm?“


Dann ging er einfach weg und ließ Alistair allein mit seinem Untergang. Er versuchte, beruhigend zu lächeln, als die Blicke der Mädchen nun ihn trafen, aber er befürchtete, sich demnächst nass zu machen, wenn das so weiterging. Wenn er nur weglaufen könnte!
     „Was zum Kuckuck denkt sich Wotan dabei, uns mit dem da allein zu lassen?“, begann Gisela den Beschuss trotzdem.


Und was sie dann sagte, traf ihn mitten ins Herz. „Wer will schon einen Mann haben, der nicht laufen kann?“
     „Gisela!“
     „Ist doch wahr! Der ist total nutzlos.“
     Es war zwar dasselbe, was er schon selber gedacht hatte, aber dennoch traf es Alistair doppelt so schwer, es aus dem Mund einer anderen Person zu hören. Vor allen Dingen das von Gisela zu hören war hart. Er wusste, dass sie alle so dachten, aber niemand hatte es je gewagt, ihm das auch ins Gesicht zu sagen. 
     Und er konnte nichts anderes tun, als betroffen darüber auszusehen.


Nila war auch mit den anderen Jungs zum Fest gekommen, aber im Gegensatz zu Leif und Alistair war er sofort zum Angriff auf die arglosen Frauen übergegangen. Nur, dass die scheinbar nichts von ihrem Glück wissen wollten.
     „Wer bist du denn überhaupt?“, meinte gerade eine von denen, die sich glücklich schätzen konnten, dass er sie überhaupt ansprach. Es war eine von denen aus dem Dorf jenseits des Tals.
     „Der zukünftige Anführer vom größten Stamm dieser Gegend, das bin ich“, erklärte er großspurig.


„Da habe ich aber etwas anderes gehört. Malah soll doch den Uruk-Stamm übernehmen.“
     „Ja, aber sie wird ihn nicht lange anführen“, sagte er. „Ich werde mir die Stammesführung von ihr nehmen.“
     „Und warum machst du das nicht jetzt schon?“, mischte sich ihre immerhin besser aussehende Freundin ein. „Hast du Angst, nicht gegen Elrik anzukommen, oder was, und musst warten, bis du deine Schwester herausfordern kannst?“
     Und die Erste: „Ziemlich armselig. Und gutaussehend bist du auch nicht mal.“
     „Wer will schon einen wie dich haben?“


Sie ließen ihn lachend stehen, und Nila konnte es nicht fassen. Es war nicht das erste Mal, dass ihm heute sowas passiert war. Er hatte eigentlich fast alle Frauen gefragt, die hier waren, selbst die, die er eigentlich nicht hatte fragen wollen, aber sie alle hatten ihn, mal mehr und mal weniger freundlich, abgewiesen. Nicht wenige von ihnen hatten auf seinem schlechten Ruf oder darauf herumgehackt, dass er sich nicht traute, gegen seinen Vater anzutreten. Dabei wollte er nur warten, bis Malah Stammesführerin war, um es ihr so richtig zu zeigen. Seinem Vater die Führerschaft zu entreißen würde einfach keinen Spaß machen.
     Die Frauen hier waren alle das Letzte. Sie wussten gar nicht, was ihnen entging. Welche Ehre sie überhaupt hatten, dass er sich dazu herabließ, mit ihnen zu reden. Ja, eigentlich sollten sie ihm die Füße küssen und ihn darum betteln, sie zu nehmen. Vielleicht sollte er sich einfach nehmen, was er wollte. 
     Doch als er sich umsah, erkannte er, dass es hier dafür zu viele Zuschauer gab.


Also ließ er es bleiben und ging stattdessen zu den einzigen Frauen, die er noch nicht mit seiner Anwesenheit beehrt hatte. Gisela und Giselinde. Und als er sie erreichte, tat er das in dem Moment, in dem Gisela Alistair als nutzlos bezeichnete, und als er das hörte, wurde er erst so richtig wütend. 
     Wie konnten sie es wagen, sich so aufzuspielen? Sie sollten mal lieber schnell erkennen, wo ihr Platz war!


„Und wer will dich bitte haben?“, mischte er sich ein. Gisela sah sofort eingeschüchtert aus, nur ihre Schwester erwiderte seinen Blick trotzig. Er bedachte beide Schwestern nacheinander mit einem Blick. „Ich weiß nicht mal, wen von euch beiden ich weniger haben wollen würde.“ Er blieb bei Gisela hängen. „Wahrscheinlich dich, du Vogelscheuche. Du solltest froh sein, wenn dich überhaupt jemand mit dem Arsch ansieht.“


Im nächsten Moment stand Gil plötzlich vor ihm und hatte die Frechheit, ihn anzupacken. „Pass auf, was du da sagst!“, knurrte sie bedrohlich.
     Nila erwiderte ihren Blick eiskalt. „Was willst du denn? Dich sollte mal lieber jemand richtig rannehmen, damit aufhörst, dich wie ein Kerl aufzuführen.“


Bevor er sich versah, hatte sie ihm ihre Faust ins Gesicht geschlagen. Er ging ohne jede Gegenwehr zu Boden. Aber es war nicht seine Wange, die sie getroffen hatte, die am meisten schmerzte, sondern sein verletzter Stolz. Sie hatte ihn geschlagen! Eine Frau hatte es gewagt, ihn zu schlagen! 
     Er verlor jegliche Selbstbeherrschung daüber.
     „Du miese Kleine!“, schäumte er. „Glaubst du etwa, ich werde dich nicht anfassen, weil du eine Frau bist, hä?“


Im nächsten Moment hatte er Gil überwältigt und sie am Boden festgenagelt. Gisela gab einen erschrockenen Laut von sich und selbst Nyota, die bislang unbeteiligt hinter ihrem Bruder gesessen hatte, machte Anstalten, einzuschreiten. Aber da gelang es Gil, die Knie so weit anzuziehen, dass sie ihrem Angreifer einen Tritt zwischen die Beine verpassen konnte, woraufhin er sofort von ihr abließ.


Nila war jetzt eine ganze Weile lang nur damit beschäftigt, den Schmerz in den Griff zu bekommen, der zwischen seinen Lenden brannte, während alle anderen erstarrt waren. Nur Gil hatte Abwehrstellung vor ihm bezogen, jederzeit bereit, sich sofort gegen ihn zu verteidigen.


„Du bist genauso, wie Mutter gesagt hat“, war es schließlich Gisela, die als erste ihre Stimme wiederfand. Voll Angst und Abscheu sagte sie: „Du hast dasselbe böse und verdorbene Blut, das auch Großvater gehabt hat. Ihre Augen waren voller Angst und Abscheu, als sie Nila nun ins Gesicht sagte: „Du bist böse! Man sollte dich lieber beseitigen, wie man auch ihn beseitigt hat, bevor du ebenfalls losgehst und uns alle schändest!“


Nila starrte sie irritiert an, aber bevor auch nur irgendwer etwas sagen konnte, stieß Alek zur Runde hinzu.
     „Hey, ähh, ihr wisst nicht zufällig, wann Malah kommt?“, wollte er wissen, bevor er bemerkte, dass etwas nicht stimmte. „Was ist denn los?“


Aber niemand antwortete ihm. Nila erhob sich trotz seiner Schmerzen mit Schwung, spuckte den beiden Mädchen vor die Füße und ließ sie stehen. Er verließ das Fest, ging hinaus in die Dunkelheit der Nacht hinein.


Nachdem Nila verschwunden war, legte sich eine ziemlich unbehagliche Stimmung über die Zurückgebliebenen. Eine ganze Weile sagte niemand von ihnen ein Wort, während Alek verwirrt von einem zum anderen sah und vergeblich auf seine Antwort wartete. Erst, als die Hell-Zwillinge Anstalten machten, zu gehen, kam wieder Bewegung in die festgefahrene Szene. Nyota lief ihnen sofort hinterher.
     „Warte!“, rief sie Gil zu. „Du hast auch schon einmal von diesem „schänden“ gesprochen. Was genau bedeutet es?“


„Weißt du das nicht? Es bedeutet, dass ein Mann sich von einer Frau nimmt, was er will“, erklärte Gisela an ihrer Schwester statt. „Gegen ihren Willen. Du verstehst, was ich meine, oder?“ Als Nyota betroffen nickte, fuhr sie fort: „Du bist eine Frau und solltest so etwas eigentlich wissen. Vor allen Dingen du, wo du…“
      „Gisela!“, fuhr Gil warnend dazwischen und die Angesprochene verstummte. Ihr Gesicht war wieder so betroffen wie bei der Sache mit Nila.
      „Was? Was meint sie damit?“, fragte Nyota nach.
      Diesmal antwortete Gil ihr: „Du solltest es lieber auf sich beruhen lassen. Das ist das Beste, glaub mir.“


Die beiden Schwestern setzten ihren Weg fort und Nyota blieb erschrocken allein zurück. Sie wusste ja, dass ihre Mutter geschändet worden war. Auch wenn ihr Vater ihr damals nur gesagt hatte, dass ihrer Mutter wehgetan worden war. Aber wenn das, was Gisela sagte, wahr war, dann bedeutete das vielleicht…?
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