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Mittwoch, 21. Juli 2021

Kapitel 144 - Ein vierfaches Wiedersehen


Nachdem Shana ihren Körper verlassen hatte, konnte Tanna mit Leahs Hilfe schließlich ins Diesseits zurückkehren. Ihr Erwachen war aber alles andere als schön, hätte sie im Normalfall einer Besessenheit doch mit einer zweitägigen Ohnmacht rechnen müssen, weshalb es einem Wunder gleich kam, dass sie nach nur ein paar Stunden Ruhe schon wieder bei Bewusstsein war.


Auch Isaac war nach einer ordentlichen Nacht voll Schlaf – entgegen Tanns Rat – schon wieder auf den Beinen, und er war die nächste Zeit nur damit beschäftigt, sich bei Tanna zu entschuldigen, dass er sich ihr unsittlich genähert hatte, obwohl die sich nicht einmal daran erinnerte und ihm auch nicht böse deswegen war.
     Nur Wulfgar erwachte nicht. Er war der einzige, dem das Wunder verwehrt blieb, ins Leben zurückzukehren. Er lag nach wie vor im Koma, und dass sie ihn selbst in der Leere nicht gefunden hatten, hatte Lu selber an den Rand eines Nervenzusammenbruchs gebracht.


Am Morgen nach dem Ritual war es auch, dass Tanna Tann abfing.
     „Tann, wegen gestern – “, fing sie mit einem besorgten Gesicht an, dass er sofort wusste, was sie anzusprechen gedachte.
     „Ich möchte nicht darüber reden.“
     Ihr mitleidiger Blick traf ihn so tief, dass er sich furchtbar entblößt fühlte.


„Hast du es ihm denn wenigstens gesagt?“
     „Natürlich nicht“, zischte er leise, warf einen flüchtigen Blick auf das Subjekt ihres Gesprächs, um sich zu vergewissern, dass er sie nicht hörte. „Und ich möchte auch nicht, dass du dich da einmischst. Lass es einfach auf sich beruhen. Bitte, ja?“
     „Warum denn?“


Er wandte sich ab, ging zu seinem Bett hinüber und glättete die Bettdecke, um sich abzulenken. „Ich muss dich etwas fragen, Tanna: Als du besessen warst, hast du da irgendetwas mitbekommen?“
     „Nein. Ich war ja die ganze Zeit in der Leere gefangen.“
     Er nickte. Ließ sich Zeit, bevor er fortfuhr. Dabei hätte er gerne gewusst, über was Isaac mit seiner Frau geredet hatte. Er hatte es ja nicht verstanden, weil sie in ihrer Muttersprache miteinander geredet hatten.
     „Dann hast du auch nicht gesehen, was ich gesehen habe“, sagte er schließlich und sah sie an.. „Er hängt noch immer an seiner Frau.“


Es hatte ihm doppelt das Herz gebrochen, als er gesehen hatte, wie Isaac Tanna in seinen Armen gehalten, wie er um sie geweint und wie er sie schließlich geküsst hatte. Er hatte die Liebe in seinen Augen gesehen, und er hatte erkannt, was er ohnehin schon gewusst hatte: Isaac hatte ihn nie so angesehen.


„Deswegen solltest du es ihm ja sagen“, riet Tanna ihm. „Vielleicht kann er dann endlich mit ihr abschließen.“
     „Ich wollte mir mal das Leben nehmen, aber diese selbstzerstörerische Tendenz habe ich glücklicherweise nicht länger.“
     „Ach, Tann…“
     Er zwang sich, beruhigend zu lächeln, obwohl sein Herz blutete. „Hey, schau doch nicht so. Ich werde darüber hinwegkommen. Das habe ich bei dir schließlich auch geschafft.“


Er sah zu Isaac hinüber und sein Lächeln wurde dabei endlich echt. „Außerdem habe ich noch unsere Freundschaft. Sie ist mir sowieso wichtiger als das, was ich nicht haben kann.“
     Denn seitdem Isaac in sein Leben getreten war, schon bevor er sich in ihn verliebt hatte, hatte sich etwas grundlegend verändert. Isaac hatte die Sonne in sein Leben zurückgebracht, die Würze, die ihm bislang gefehlt hatte. Seitdem waren die grauen Tage weniger geworden, und selbst wenn sie kamen, waren sie weniger bewölkt. Er konnte wieder nach vorne schauen, aufstehen und sich auf den Tag freuen, und das hatte er Isaac zu verdanken. Schon allein deswegen war er froh, dass er in sein Leben getreten war.


Das erkannte jetzt auch Tanna, und sie war froh darüber. Sie hatte schon vorher bemerkt, dass sich etwas an Tann verändert hatte. Etwas, das ihn endlich wieder lächeln lassen konnte. Etwas, das ihm das Glück zurückgegeben hatte. Und deshalb entschied sich Tanna an diesem Tag auch dazu, Tanns Bitte zu entsprechen und sich nicht weiter einzumischen.


Die Nacht war vergangen und dem dritten Morgen nach dem Angriff auf Wulfgar gewichen. Rufus war inzwischen ebenfalls wieder auf den Beinen, er war rasiert und gewaschen, hatte dank Adelaide sogar neue Kleidung von Alin bekommen.
     Nachdem er auch noch ein gutes Frühstück gehabt hatte, war er wieder so weit bei Kräften, dass er bereit war, seiner Schwester alles über ihre Vergangenheit zu erzählen. Doch bevor er auch nur ein Wort sagen konnte, wurden sie von Lärm unterbrochen, der von draußen hereindrang. Adelaide hätte natürlich den Teufel getan, nachzusehen, aber Rufus hatte weniger Skrupel.


Er ging nach draußen und lief sofort in eine wütende Delegation vom Uruk-Stamm hinein. Allesamt bewaffnet, angeführt von der jungen Stammesführerin. Und er war doch ein bisschen eingeschüchtert, als die sich plötzlich ihm zuwandten. Ganz automatisch hob er die Fäuste, obwohl das sehr offensichtlich ein aussichtloser Kampf werden würde.


Als seine Schwester erschien, wurde einer von der Meute auf sie aufmerksam und ruckte mit seinem Bogen in ihre Richtung, dass Rufus sich sofort schützend vor sie stellte.
     „Aida!“, rief der Bogenschütze. „Geh weg von ihm!“
     Entgegen ihrer Art, stellte sich Adelaide jedoch zwischen beide Parteien, forderte zu wissen: „Was ist denn hier los? Was wollt ihr von ihm? Was wollen die von dir?“


Doch keiner antwortete. Rufus wollte seine Schwester wieder hinter sich schieben, Nero hatte sie am anderen Arm und wollte sie retten. Erst als Malah auf den Plan trat, wurde die arme Adelaide davon erlöst, hin und her gezogen zu werden.
     „Vielleicht sollten wir uns erst einmal beruhigen“, versuchte sie, die Wogen zu glätten. Sie nahm sich die Zeit, Rufus einmal von oben bis unten zu mustern. „Ich nehme an, dass du derjenige bist, der Wulfgar angegriffen hat, nicht wahr? Lus Beschreibung passt zumindest zu dir. Auch wenn wir nicht deswegen hier sind.“


Als die beiden Jungs jetzt kurz aufhörten, an ihr zu zerren, entwand sich Adelaide beider Griffe. „Was ist hier eigentlich los? Wovon redet sie? Du hast Wulfgar angegriffen?“
     „Nun… ja. Aber er hat ja wohl überlebt. Und ich trachte ihm auch nicht länger nach dem Leben. Ich habe meine Rache bekommen“, stellte er klar.
     „Wir sollten ihn dafür bluten lassen!“, forderte Jin und richtete wütend den Speer auf ihn. „Wulfgar ist einer unserer Leute! Einer unserer besten!“
     Die Stimmung war am Kippen, die anderen Uruk-Leute sahen ihm auch nicht gerade wohlgesonnen aus. Als Nero jetzt erneut versuchte, Adelaide auf ihre Seite zu ziehen, entschied die sich. Erneut riss sie sich los und stellte sich vor ihren Bruder.


„Aida! Komm da weg!“
     „Nein! Erik ist mein Bruder! Wir haben uns gerade erst wiedergefunden, und ich werde nicht zulassen, ihn gleich wieder zu verlieren.“
     „Und ich werde nicht zulassen, dass ihr meiner Schwester was tut“, pflichtete Rufus ihr bei.
     „Wulfgar hat überlebt, aber er schwebt nach wie vor in Lebensgefahr“, griff Malah ein, legte Jin eine Hand auf den Arm, dass er den Speer senkte. „Und sollte er nicht überleben, werden wir wiederkommen und das klären. Aber wie ich bereits sagte, sind wir nicht deswegen hier. Sondern, um eine Frau zu finden: Ida. Kannst du uns vielleicht sagen, wo sie ist, Adelaide? Deine Mutter will nicht mit uns reden.“


 
Nachdem Rahn in der Leere seine Erinnerung wiedererhalten und erfahren hatte, dass Lyca Ane getötet hatte, hatte er sich auch wieder daran erinnert, wen er gesehen hatte, nachdem Lyca ihn niedergeschlagen hatte und er kurz das Bewusstsein wiedererlangt hatte: Ida. Sie hatte Lyca wohl dabei geholfen, den Mord zu vertuschen und war danach mit ihm zusammen weggegangen.


Rahn war auch gleich an diesem Morgen losgegangen, um Ana davon zu berichten, was tatsächlich mit ihrer Mutter geschehen war.
     Und weil dies schon der zweite Beweis dafür war, dass Ida Dreck am Stecken hatte, hatten Malah und ihre Berater entschieden, Isaacs und Wulfs Vermutung zu glauben, dass Ida hinter den Giftanschlägen stand und sich um sie zu kümmern.


Doch Ida war nirgends zu finden und auch niemand im Handelsposten hatte sie gesehen. Sie hatten sogar bei Idas Schwester und Adelaides Mutter Cordelia nachgefragt, aber die hatte sie nur unfreundlich abgewiesen.


„Mutter!“, war es Rufus, der an Adelaides statt spitz antwortete. „Diese Person ist nicht ihre Mutter!“
     Adelaide starrte ihn erschrocken an. „Was?“
     „Ach, hat sie dir erzählt, dass sie deine Mutter ist? Sollte mich nicht wundern. Aber sie ist es nicht. Nicht meine und auch nicht deine. Ich… wollte dir das eigentlich später in Ruhe erzählen, aber vielleicht ist es ganz gut, dass die das hören, wenn sie…“


Er unterbrach sich und wartete Adelaides Einverständnis ab, bevor er zu erzählen begann: „Meine Mutter hieß Clothilde, deine Luisa. Ich erinnere mich nicht mehr an meine, sie starb bei meiner Geburt, und die deine starb ein Jahr nach deiner Geburt an einer Krankheit. Danach haben wir eine Weile bei Vaters Schwester gelebt, bis er von einer seiner Fahrten mit seiner neuen „Frau“ zurückkehrte: Cordelia.“


„Sie war von Anfang an distanziert zu uns, aber Vater hat mich trotzdem gezwungen, sie Mutter zu nennen, und dann ist er wieder in See gestochen. Hat uns mit ihr allein gelassen.“


„Und schließlich… schließlich ist sie aufgetaucht: Ida – ihre Schwester. Diese eiskalte Schlange. Ich habe wirklich Mitleid mit Cordelia gehabt, als sie da war. Ida hat sich daran ergötzt, sie zu quälen. Sie hat ihr sogar ins Gesicht gesagt, dass sie einer Patrouille gesteckt hätte, wo Vater seine nächste Plünderfahrt geplant hatte. Der, von der er nicht mehr zurück kam. Sie haben sein Schiff versenkt. Und Cordelia hat nichts getan. Nichts gesagt. Sie stand nur da und hat Idas Blick gemieden.“


„Und dann… dann hat Ida diesen Sklavenhändler in unser Haus gebracht.“ Plötzlich wurde sein Blick fürchterlich glasig. „Ich werde diesen Tag nie vergessen. Das böse Grinsen in Idas Gesicht, Cordelia, die mich nicht ansah, du in deiner Krippe. Wie du mit großen Augen zu mir gesehen hast. Meine einzige Familie. Mein Zuhause. Alles, was mir noch geblieben war. Und sie haben mich von dort fortgerissen. Haben mich mitgenommen.“


„Danach… an diese Zeit will ich gar nicht denken. Es ging von Markt zu Markt, ich wurde ausgestellt wie Vieh und schließlich wurde ich gekauft. Kam in ein völlig fremdes Haus. Zu fremden Leuten. Ich war nicht mal zehn damals. Vielleicht acht. Vielleicht noch jünger. Ich weiß es nicht; ich erinnere mich nur noch an die Angst.“


Ein unerwartetes Lächeln schlich sich auf sein Gesicht. „Aber sie haben mich aufgenommen. Flavia und Titus, die anderen Diener. Sie waren wie eine Familie für mich. Sie und ihre beiden Töchter. Und jetzt… jetzt dachte ich… habe ich wieder kein Zuhause. Ich dachte, ich hätte wieder alles verloren. Aber das stimmt nicht.“


Er stellte sich vor seine Schwester, nahm sie an den Schultern und sah ihr mit tränenglitzernden Augen ins Gesicht. „Ich habe dich gefunden. Ich hatte immer so eine Angst, dass sie dich auch verkauft haben könnte. Dass du da draußen wärst, allein und verängstigt. So wie ich damals. Ich bin so froh, dass es dir gut geht.“


Er drückte sie an sich. Adelaide war einen Moment lang zu überfordert, bevor sie die Umarmung zögerlich erwiderte. Sie wusste nicht, ob es stimmte, was er sagte, aber sie tat es trotzdem. Denn irgendwie, tief in ihr drin, war sie sich sicher, dass er nicht log. Sie war sich sicher, ihn schon einmal gesehen zu haben. Wie ein Schatten aus einer längst vergangenen Zeit, erinnerte sie sich an ihn. Ihn, ihren Bruder Erik, der jetzt Rufus hieß.
     Er löste sich von ihr, lächelte glücklicherweise wieder. „Von jetzt an will ich für dich da sein. Wenn du mich lässt. Ich will auf dich aufpassen und dich beschützen.“ Sein Blick verfinsterte sich. „Vor allen Dingen vor dieser Ida, wo sie ja scheinbar hier ist.“


„Nun, wir wüssten jedenfalls gerne, wo sie ist“, übernahm Malah wieder. „Denn auch wir haben ein paar… beunruhige Neuigkeiten über sie erfahren und würden gerne verhindern, dass sie weiter Unheil anrichten kann. Also, weiß einer von euch zufällig, wo sie sich aufhält?“
     „Ich habe sie zuletzt in unserem Zimmer gesehen“, kam unsicher von Adelaide.


Doch da war sie nicht länger. Ida war verschwunden. Und sie sollte es auch bleiben.


Als die Delegation wenig später unverrichteter Dinge vom Handelsposten wiederkam, wurden sie schon von einer sehr blassen Jade erwartet.
     „Es ist furchtbar!“, platzte sie sogleich heraus. „Reinard will unseren Stamm stürzen!“
     „Oh, nein. Bist du dir sicher?“, fragte Malah sie.
     „Leider ja. Er hat es mir gegenüber selbst zugegeben. Er will wohl der König der Gegend werden, oder so. Und er hat auch schon alles dafür in Gang gesetzt, hat er gesagt.“
     „Weißt du, was er damit gemeint hat?“
     „Leider nein. Er wollte nicht mehr erzählen.“
     „Weißt du zufällig etwas darüber, ob er mit einer gewissen Ida zu tun hat?“, sprang Aan ein.
     „Er hat sie einmal kurz erwähnt, ja. Sagte, dass sie denkt, dass sie ihn benutzt, obwohl er es ist, der sie benutzt, oder sowas.“


Die Nachricht, die schon zuvor eingeschlagen hatte, brachte jetzt alle zum Verstummen und es gab Alistair, der unbemerkt angekommen war, die Zeit, um hereinzukommen und auf sich aufmerksam zu machen.
     „Scheinbar wisst ihr schon, wie ernst die Lage ist. Aber ich befürchte, das ist noch längst nicht alles. Reinard wird jedenfalls bald das Kleinste eurer Probleme sein, wenn die Königin von Goldhain ihre Truppen hierher schickt.“  
     Malah wurde blass. „Truppen? Was willst du damit sagen?“
     „Dass bald Krieg hier herrschen wird“, antwortete jemand anderes an Alistairs statt.


Es war Gisela. Und sie hatte ganz offensichtlich ihre Söhne dabei, die gerade schüchtern am Rock ihrer Mutter hingen. Ein weiteres Kind, ein Neugeborenes, das gerade munter in die Runde schaute, hatte sie im Arm. Als Jana das sah, war sie sofort zur Stelle, umarmte die Schwiegertochter herzlich, nahm ihr das Neugeborene ab, und die beiden Kleinen waren auch schnell aus der Reserve gelockt. 
     Derweil nutzten die Erwachsenen die Chance, das Gespräch zur Feuerstelle zu verlegen, damit Alistair sich auf einen der Schemel setzen konnte.


„Seid ihr sicher?“, lenkte Tann die Aufmerksamkeit wieder auf das Wesentliche.  
     „Ich fürchte ja. Unsere Quelle ist vielleicht nicht die zuverlässigste, aber… naja, soll er für sich selber sprechen. Gehst du, Ella?“
     Gisela nickte, ging zur Tür zurück und streckte den Kopf nach draußen, woraufhin ein jämmerliches Wimmern zu hören war.


Als sie wieder reinkam, folgte ihr eine gebückte Gestalt, die sich als Nila herausstellte. Er starrte eingeschüchtert zu Boden, hatte Schürfwunden im Gesicht und an den Händen, Ringe unter den Augen, war schmutzig und blass und hatte vor kurzem offensichtlich noch geheult. Kurz: Er sah völlig fertig aus.


Bei seinem Anblick stürzten Malah und Tann beinahe gleichzeitig nach vorne. Malah schloss ihren Bruder erleichtert in die Arme und verdrückte nun selber ein paar Tränen.
     „Nila! Ich bin so froh, dass dir nichts passiert ist und du wieder da bist! Ich habe mir solche Sorgen um dich gemacht!“
     Und es war das allererste Mal, dass Nilas Augen beim Anblick seiner Schwester nicht voller Hass waren. Im Gegenteil, sie waren voller Angst. Er packte seine Schwester bei den Armen.
     „M-Malah! Du musst mir helfen! Sie wird mich umbringen, wenn sie erfährt, dass ich geredet habe!“
     „Was? Wer?“
     Seine Augen gingen verängstigt hin und her, fanden aber kein Ziel.
     „Das kann ich nicht sagen. Sie wird mich umbringen.“


Gisela beugte sich unvermittelt zu ihm, ein süßliches Lächeln auf den Lippen, das so kalt war, dass es selbst Malah fröstelte, und hauchte gefährlich: „Dann kannst du genauso gut erzählen, was du uns auch schon erzählt hast, nicht wahr? Oder willst du, dass ich ihn – “
     „Nein! Bitte, nicht! Ich erzähle schon!“


Doch Tann schob sich nach vorn, befreite seinen Enkel souverän aus der Bedrängnis.
     „Bevor du erzählst, wirst du erst einmal etwas essen und trinken“, beschloss er. „Na komm!“
     Niemand außer Malah hieß das gut, aber sie ließen Tann gewähren. Sie alle wussten ja schließlich, wie verbissen der alte Stammesführer war, wenn es um seine Familie ging.


Obwohl Nila seit über einem Tag nichts gegessen und so gut wie gar nichts getrunken hatte, bekam er kaum etwas herunter. Sein Großvater hatte zwar alle anderen verscheucht, dass er in Ruhe speisen konnte, aber er fühlte sich dennoch zu elend dafür. Mehr als einmal überlegte er, ob er nicht doch irgendwie fliehen konnte, aber er wusste ja, dass er keine drei Schritte weit kommen würde, selbst wenn er es schaffte, das Haus ungesehen zu verlassen. Er wusste immerhin, dass da draußen noch sein verdammter Aufpasser stand.


Während Nila aß, winkte Alistair seine Schwester zu sich. „Da wir ohnehin warten müssen, können wir ihn eigentlich auch davon erlösen, dass er draußen frieren muss. Nyo, ich wollte es dir eigentlich später sagen, aber draußen wartet jemand auf dich, der allein mit dir unter vier Augen sprechen will.“
     Nyota starrte ihren Bruder ungläubig an. Konnte das sein…? Sie fragte gar nicht weiter nach, sondern stürzte umgehend nach draußen.


Und da stand er, mitten auf dem Hof, rastlos auf- und abgehend, hielt er inne, als er sie bemerkte und starrte sie an. Es war so viel in diesem Gesicht, das sie nicht deuten konnte und das dort noch nie zuvor gesehen hatte – Angst, Unsicherheit. Würde er weglaufen? Er sah so aus. Sie wollte es jedenfalls nicht darauf ankommen lassen, also rannte sie zu ihm und hatte im nächsten Augenblick einem Schwitzkasten gleich die Arme um ihn geschlungen.


Er fiel beinahe vornüber, erstarrte, war völlig überfordert mit der Situation. Seine Hände schwebten unschlüssig über ihrem Rücken, ihrer Seite, dann ließ er sie schlaff herabhängen, tätschelte ihr schließlich erschrocken den Rücken, als er hörte, dass sie zu weinen begonnen hatte.
     „Nyota“, krächzte er. „Nyo… es tut mir so leid. Ich wusste doch nicht… wenn ich gewusst hätte…Ich wäre doch nie weggegangen, wenn ich es gewusst hätte!“


Sie stieß sich unerwartet von ihm und verpasste ihm eine Ohrfeige, dass es beinahe ohrenbetäubend laut in der Stille des anbrechenden Abends war. Seine Wange brannte fürchterlich, aber noch viel fürchterlicher brannten die Schuldgefühle in ihm. Als er sie ansah, ihr wütendes Gesicht und die zitternde Unterlippe, brach es ihm erneut das Herz. Das Herz, das gebrochen war, seitdem er sie verlassen hatte.  
     „Was hast du denn geglaubt, was passieren könnte?“, fragte sie, und ihre Worte waren wie scharfe Messer. „Du Idiot! Idiot! Erzähl mir nicht, dass dir niemand gesagt hat, wo die Kinder herkommen!“


„Es tut mir leid. Bitte verzeih mir! Ich… ich habe einfach geglaubt, dass ich nie wieder eine Familie haben würde. Dass die Götter mich für all die Dinge bestrafen würden, die ich getan habe, indem sie mich zum Alleinsein verdammen. Ich weiß, dass das dumm war. Ich weiß, dass ich der Einzige war, der sich dazu verdammt hat. Ich… es tut mir leid… bitte verzeih mir!“
     „Liebst du mich?“, fragte sie mit grimmigem Gesicht.
     „Ja…“
     „Sag es!“
     „Ich liebe dich, Nyota… Nyo.“


Da war sie wieder an ihn herangetreten und hatte die kleinen, zierlichen Arme um ihn geschlungen.
     „Dann lass mich gefälligst nie wieder allein, hörst du?“
     Er nahm sie in den Arm und endlich beruhigte sich sein Herz wieder; die Angst flaute ab und wich einer wunderbaren Wärme, die er nicht mehr gedacht hatte, je wieder fühlen zu dürfen.
     „Nie wieder“, versprach er.
     Eine Weile lagen sie sich nur in den Armen, Nyota lauschte seinem gleichmäßigen Herzschlag, bis sie sich von ihm löste und seine Hände in ihre nahm.


Er war so erleichtert, als er wieder das strahlende Gesicht vor sich sah, das er einst zurückgelassen hatte.
     „Komm, ich will dir jemanden vorstellen.“
     Er hatte das nicht verdient. Das Glück, die Liebe, die Familie, die er einst verloren hatte und die sie ihm nun zurückgegeben hatte. Aber es war an der Zeit, dass er aufhörte, sich dagegen zu stemmen.


Denn jetzt hatte er wieder eine Verantwortung zu übernehmen. Und das würde er diesmal nur zu gerne tun. Er würde von nun an für sie da sein. Er würde für sie da sein, für sie sorgen und sie beschützen. Für sie, das Mädchen, das bald seine Frau werden würde und das kleine Kind, das sie ihm geschenkt hatte. Denn von heute an würden sie eine Familie ein, die er einst geglaubt hatte, nie wieder haben zu werden.
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Tja, tut mir ja leid für alle, die gehofft haben, dass Garrus verschwunden bleiben würde, denn er ist zurückgekehrt und wird auch bleiben. Wie das bei Nila, Alistair und Gisela aussieht, verrate ich natürlich noch nicht. Es sei nur noch gesagt, dass das in Nilas Gesicht kein Blut sein soll, sondern Dreck. Aber obwohl ich das Braun gefärbt habe, kommt es trotzdem irgendwie zu Rot rüber...
 
 Zu Tann will ich am Schluss noch etwas verlieren: Ich weiß nicht, ob es so rüberkam, aber es ist jetzt nicht so, dass er von jetzt auf gleich geheilt ist. Leider lassen sich Depressionen in den allermeisten Fällen auch nicht einfach dadurch heilen, dass man sich verliebt oder sowas, aber ich wollte Tann einfach sein Glück zurückgeben. Seine Krankheit wird von jetzt an also nicht mehr thematisiert werden.

Nächstes Mal dann erzählt Nila, was es mit der Befürchtung auf sicht hat, dass bald Krieg herrschen wird. Und wir erfahren, wer Ida eigentlich wirklich ist. 

Bis dahin, passt auf euch auf, und ich verabschiede mich!

Mittwoch, 7. Juli 2021

Kapitel 143.1 - Das Ritual Teil 1


Auch den zweiten Tag verbrachte Wulfgar bewusstlos. Die Operation hatte seinen Zustand zwar nicht verschlechtert, aber auch nicht verbessert. Und inzwischen rechnete kaum noch jemand damit, dass er wieder aufwachen würde.


Selbst Tann hatte kaum noch Hoffnungen, dass sein Patient überleben würde. Das bereitete ihm gleich doppelt Sorgen, da er sich nicht sicher war, ob Lu, der inzwischen jede Sekunde am Bett des Bewusstlosen verbrachte, es überstehen würde, wenn sein ehemaliger Gefährte sterben würde. Dass er in der Nacht sein Leben für ihn hatte opfern wollen, bestärkte ihn jedenfalls nicht darin, dass sein Freund Wulfgars Tod gut wegstecken würde. Er redete schon jetzt kaum noch.


Er hatte Lu dazu gebracht, ein wenig zu essen, und nachdem er die kaum angerührte Schale zurückgebracht hatte, kam er an Isaac vorbei, der gerade dabei war, besorgt zu Wulfgar hinüberzusehen. Tann konnte nicht einmal mehr eifersüchtig deswegen sein.
     Trotzdem ging er zu ihm hinüber, sagte: „Ich würde dir ja gerne sagen, dass du dir keine Sorgen machen musst, aber… wenn du noch irgendwelche Ideen oder Wundermittel hast, wäre ich dir sehr dankbar.“


„Leider nicht“, erwiderte Isaac unglücklich, sein Blick glitt sofort wieder zu dem Bewusstlosen zurück. „Es ist so falsch, dieser Anblick. Ich habe Wulfgar immer für einen unverletzbaren Helden gehalten, so oft, wie er sich in Gefahr begeben hat, um andere zu retten und es dennoch überlebt hat. Ich war mir sicher, dass ihn nichts und niemand kleinkriegen könnte, und jetzt… jetzt liegt er im Sterben und ich kann nichts für ihn tun. Und dabei hat er auch mir schon so oft das Leben gerettet... Ich wünschte wirklich, ich könnte etwas für ihn tun.“


„Warum machst du es dann nicht?“, mischte sich ausgerechnet Wulf ein, der unweit entfernt gestanden hatte, um seinerseits besorgt zu seinem Ziehvater Lu hinüberzusehen. „Geh und hol ihn aus der Leere zurück.“
     Isaac wurde ein bisschen blass, und das wurde auch nicht besser, als sich ihm jetzt zahlreiche Gesichter zuwandten. Inklusive dem tränengeschwollenen von Lu, der daraufhin ebenfalls zu ihrer Runde hinzustieß.


„Leere? Was meinst du damit?“, fragte er.
     „Das ist die Welt zwischen der Welt der Lebenden und der Welt der Toten“, erklärte Wulf ihm. „Es ist wie ein Verbindungstunnel zwischen beiden Welten, durch den man gehen muss, wenn man stirbt. Geister aus dem Totenreich müssen sie auch durchqueren, wenn sie ihre lebenden Verwandten besuchen wollen.“
     „Und was hat das mit Wulfgar zu tun? Er ist doch gar nicht tot!“
     „Auch wenn unser Geist aus irgendeinem Grund den Körper verlässt, geht er in die Leere ein. Wenn wir schlafen und träumen, beispielsweise. Oder bei einer Ohnmacht. Bei schweren Verletzungen. Deswegen wird Wulfgar jetzt ganz bestimmt dort sein. Wenn er es schafft, von dort zurückzufinden, wird er aufwachen, aber wenn nicht…“
     „Und ihr könnt ihm helfen, zurückzufinden?“


„Ich nicht, aber“, Wulfs Blick glitt zu Isaac, „er.“
     Erneut zuckte Isaac unter der Aufmerksamkeit zusammen, die ihm zuteilwurde und die er ganz offensichtlich nicht wollte.
     „Wie das?“
     „Er hat einen Ritus durchlaufen, durch den er einen Leerenschreiter in die Leere hinübergeleiten kann.“
     „Leeren – was?“
     „Hm, wie erklär ich das? Sag doch auch mal was dazu, alter Mann! Ich hab von diesem Zeug doch keine Ahnung.“


Erneut waren alle Blicke auf Isaac gerichtet, der jetzt nicht mehr darum herum kam, zu erzählen. Aber er sagte nur unwillig: „Es ist sowieso hinfällig, dies zu erklären, weil es unmöglich ist.“
     „Warum?“, fragte Wulf missbilligend.
     „Ich habe meine Verbindung zur anderen Seite gekappt und kann ergo niemanden mehr in die Leere geleiten.“
     „Pff! Blödsinn! Warum solltest du so was machen? Du warst doch immer so stolz drauf, eine Brücke zu sein.“
     „Es… gab aber vor einigen Jahren einen… unschönen Zwischenfall, bei dem ich… einen Rachegeist in unsere Welt gelangen ließ. Er war sehr gefährlich, und unser Priester musste ihn unter Einsatz seines Lebens in die Leere zurückbringen. Damit der Geist nicht zurückkehren konnte, habe ich meine Verbindungen zur Leere danach gekappt. Seitdem bin ich nicht mehr als Brücke tätig. Das muss dir doch auch aufgefallen sein.“


„Wie kappt man denn seine Verbindung zur Geisterwelt?“, wollte Tanna wissen.
     „Zur Leere“, korrigierte Isaac sie. „In die Geisterwelt kann kein Lebender eingehen. Nun, um auf deine Frage zurückzukommen: Seine Verbindung zur Leere kann man kappen durch Schlafentzug, jegliches Fernhalten von Tod – ich kann nicht einmal mehr Fleisch oder Fisch essen – verschiedene Rituale. Aber größtenteils Schlafentzug.“
     „Aber du kannst es rückgängig machen?“, fragte Lu.
     „Nun, ja, aber… ich werde es nicht tun.“
     „Was? Warum nicht? Es geht hier schließlich um Wulfgar! Ich dachte, du sähest ihn als Familie an! Das hat er selber gesagt! Wie kannst du ihn nur so im Stich lassen?“
     „Du verstehst nicht. Mit einem Rachegeist ist nicht zu spaßen. Und wenn er sieht, dass ich wieder eine Brücke zur Leere schlage – was sehr wahrscheinlich ist, da er sich damals an mich gebunden hat – besteht die Gefahr, dass er wieder hierherkommt. Und dann ist nicht nur Wulfgar in Gefahr, sondern wir alle. Dieser Geist ist nicht nur so ein harmloser wie dieser Dia Hell, sondern ein solcher, der tatsächlich Leute verletzt hat und… versucht hat, zu töten.“   


Als Tanna sah, dass Lu das scheinbar nicht einsah und er so wirkte, als würde er demnächst auf Isaac losgehen, ging sie beschwichtigend dazwischen, fragte: „Und was ist mit anderen? Kann das nicht jemand anderes machen? Was braucht es überhaupt, um in die Leere zu kommen?“
     „Oh, ich selber kann nicht in die Leere gelangen, das verstehst du falsch. Ich bin nur eine Brücke, die den Leerenschreiter hinüber in die Leere bringt. Was übrigens das nächste Problem wäre: Wir bräuchten einen Leerenschreiter.“
     „Tja, das ist kein Problem“, mischte sich Wulf wieder ein und wies auf den verdutzten Rahn. „Soweit ich mitgekriegt hab, hast du doch mal was von deinem Gedächtnis verloren, oder?“
     Glücklicherweise hatte Rahn die Geschichte seines Gedächtnisverlustes noch einmal wiederholt, nachdem er von seiner erfolglosen Befragung von Ana zurückgekehrt war, sodass auch Wulf davon hatte hören können.


„Ja, das stimmt.“
     „Wartet! Wartet!“, rief Akara erschrocken. „Was soll das heißen? Ich verstehe nicht. Warum soll Rahn ins Totenreich eingehen?“
     „In die Leere, nicht ins Totenreich“, korrigierte Wulf sie. „Wir brauchen jemanden, der einen Teil von sich drüben in der Leere hat. Nur so jemand kann als Leerenschreiter fungieren. Unser Priester hat deshalb meistens etwas von sich geopfert, um ein Leerenschreiter werden zu können. Einen Finger oder sowas. Das Gedächtnis ist zwar was anderes, funktioniert aber auch. Niemand verliert einfach so seine Erinnerungen. Sie sind ein Teil von dir, und wenn sie dir fehlen, hast du sie entweder freiwillig gegeben oder sie wurden dir gestohlen. Wie es auch geschehen ist, dieser Teil von dir kann ohne dich in dieser Welt nicht existieren. Er ist gestorben, sozusagen, und erst, wenn du selber stirbst oder willentlich in die Leere gehst, wirst du diesen Teil von dir zurückerhalten. Was jedenfalls heißt, dass der verlorene Teil seines Gedächtnisses momentan in der Leere ist, darauf wartend, dass der Besitzer, also Rahn hier, irgendwann auftaucht, damit sie sich wieder vereinigen können.“


„Also kann Rahn in die Leere hinübergehen, um Wulf zu suchen?“, fragte Lu hoffnungsvoll.
     „Theoretisch, ja. Wenn wir eine Brücke haben, die ihn rüberbringt.“
     „Und wie wird man nun eine Brücke? Kann ich das nicht machen?“
     „Ich weiß nicht. So gut kenn ich mich dann doch nicht mit diesem Totenzeug aus. Komm schon, alter Mann, lass dir nicht alles aus der Nase ziehen!“
     „Wulfgar, ich habe dir bereits gesagt, dass es nicht geht“, erinnerte Isaac ihn. „Du brauchst nicht nur eine Brücke, sondern zwei. Eine, auf der der Leerenschreiter hinübergeht und eine, die ihn wieder aus der Leere zurückbringt. Aber damit ist es nicht getan. Die zweite Brücke, auch als Seil bekannt, muss mit dem Leerenschreiter verbunden sein. Und zwar durch Blutsbande. Deshalb hat das immer der Sohn oder die Tochter unseres Priesters übernommen gehabt, wie du sicherlich weißt.“


„Warum ist das wichtig, dass sie durch Blut verbunden sind?“, fragte Tanna.
     „Weil man sich in der Leere leicht verlieren kann. Ich war noch niemals dort, aber laut unserem Priester ist die Leere eine einzige Einöde. Dort existiert kein Raum, keine Zeit, nichts. Es ist deshalb praktisch unmöglich, allein zurückzufinden. Blutsbande jedoch fungieren wie ein Leuchtfeuer und weisen einem den Weg in die Welt der Lebenden zurück. Deshalb können die Geister der Ahnen auch ihre Verwandten besuchen.“
     „Dann also Rahns Sohn oder wir, seine Geschwister. Lu und ich.“
     „Ich mache es!“, meldete sich Lu sofort. „Sag mir nur, was ich tun muss, um so eine Brücke zu werden.“


Doch Isaac ließ die Schultern hängen, gab zu: „Ich habe keine Ahnung…“
     „Was? Du musst doch wissen, wie das geht! Du hast das schließlich selber durchlaufen!“
     „Das habe ich, aber als ich den Ritus des Übergangs durchlief, hatte ich seit zwei Tagen nichts gegessen, sowie nichts getrunken, habe beinahe durchweg meditiert und so viel Blut verloren gehabt, dass ich ohnmächtig wurde, um einen Zustand von Nahtod zu erreichen. Du wirst es mir also nachsehen müssen, dass ich auf die Rituale, die unser Priester dabei abgehalten hat, nicht so sehr geachtet habe.“


Er wandte sich ab, ging eine Weile unruhig hin und her, bevor er stehen blieb und heftig mit dem Fuß aufstampfte.
     „Es tut mir doch leid! Ich wünschte doch auch, dass ich helfen könnte, aber ich kann es nicht…“
     „Kannst du. Du willst nur nicht“, warf ihm Wulf kalt vor. „Weil du Angst vor so einem Rachegeist hast. Dabei weißt du nicht mal sicher, dass er dich nach all der Zeit überhaupt noch finden wird. Und selbst wenn; wir hatten hier schon mal mit so einem Rachegeist zu tun, schon vergessen?“
     Das hatte er nicht. Er hatte schließlich dabei geholfen, ihn zu vertreiben, aber das hier war dennoch etwas anderes. Etwas Gefährlicheres. Etwas Persönliches.


„Ich werde das machen!“, entschied Lu jetzt einfach. „Wenn du bereit dazu bist, in die Leere zu gehen, um Wulf zu suchen, Rahn, meine ich.“
     „Natürlich bin ich das.“
     „Ich danke dir. Also dann: Nichts essen, nichts trinken, meditieren, Blut verlieren. Sonst noch was?“
     Doch Isaac antwortete ihm nicht. Stand nur mit dem Rücken zu ihm und schwieg.
     „Komm schon! Wenn Wulf dir nicht egal ist, wie du sagst, dann antworte mir!“


Isaac schwieg aber weiter, bevor er sich wieder umdrehte und ernst verkündete: „Das wird nicht nötig sein. Ich werde die eine Brücke sein und“, er sah zu Tanna hinüber, „du bist mit dem Leerenschreiter verwandt, richtig?“
     „Stimmt. Ich bin seine Schwester.“
     „Gut. Dann wirst du die andere Brücke sein.“
     „Warum sie?“, forderte Lu verstimmt, zu wissen.
     „Weil sie ein Medium ist. Sie hat bereits eine Verbindung zur Leere. Deshalb kann sie die Geister der Verstorbenen sehen. Mit anderen Worten: Sie ist bereits eine Brücke. Ganz ohne irgendwelche Rituale, die wir nicht kennen.“


Lu gefiel das nicht, dass er nicht helfen konnte, aber er blieb still. Er wollte nur Wulfgar zurückhaben.
     „In Ordnung“, erklärte sich Tanna bereit. „Was sollen wir also tun?“
     Isaacs Gesicht verfinsterte sich. „In erster Linie solltet ihr euch darauf vorbereiten, dass ihr es mit einem mordlüsternen Rachegeist zu tun bekommen könntet.“


Den restlichen Tag verbrachten sie mit Vorbereitungen für das Ritual und mit Warten, denn die Verbindung zur anderen Seite war, laut Isaac, am besten bei Mondlicht.
     Da er seine Verbindung zur Leere erst wiederherstellen musste und glücklicherweise wusste er, wie das zu bewerkstelligen war wählten sie den Platz vorm Grabhügel als geeigneten Ort für das Ritual aus. Er bekam das erste Fleisch seit Jahren zu essen, meditierte halbnackt bei klirrender Kälte und Schnee, und obwohl er normalerweise extrem kälteempfindlich war, waren sie alle beeindruckt davon, wie lange er das aushielt.


Und als Tanna schließlich ihm gegenüber Platz genommen hatte, nahm er sein Messer zur Hand und setzte es an seinem Handgelenk an.
     „Warte! Was machst du da?“, ging Tann erschrocken dazwischen, als er das sah.
     „Um meine Verbindung zur Leere wiederherzustellen, ist es hilfreich, einen Nahtodzustand herbeizuführen.“
     „Was? Das kann doch nicht dein Ernst sein! Du kannst dabei sterben!“
     Isaac lächelte beruhigend, was die Szene noch grotesker machte. „Deswegen musst du auch die Blutung stoppen, sobald ich ohnmächtig geworden bin. Bis dahin sollte der Leerenschreiter sowieso den Übergang geschafft haben und mich nicht mehr brauchen.“
     Er wollte wieder ansetzen, aber Tann entwendete ihm einfach das Messer.


„Nein! Nein! Nein! Das lasse ich ganz bestimmt nicht zu!“ Als alle ihn verständnislos anstarrten, beeilte er sich, hinzuzufügen: „Als Heiler ist es meine Aufgabe, Leben zu bewahren. Ihr könnt also nicht von mir verlangen, dass ich danebenstehe, während er seines so leichtfertig aufs Spiel setzt!“
     „Bitte, Tann! Das ist vielleicht unsere einzige Chance, Wulf zu retten!“, bat Lu ihn inständig.
     „Tut mir ja leid, Lu, aber nicht so. Du kannst doch nicht ein Leben für ein anderes opfern.“
     Tann sah jedoch mit Schrecken in Lus Augen, dass er sofort bereit dazu war, Isaacs Leben für das seines Liebsten zu opfern. Er war ja sogar bereit dazu gewesen, sein eigenes zu geben. Aber Tann war das nicht. Er würde Isaacs Leben ganz sicher nicht für Wulfgars opfern.


Doch es war nicht Lu, auf den er hätte achten sollen. Abgelenkt von ihm, bekam Isaac seine Chance, sich sein Messer zurückzuholen. Bevor Tann auch nur reagieren konnte, hatte er sich die Pulsadern aufgeschnitten und Tann konnte nur noch dabei zusehen, wie das Blut anfing, seine Arme und den Schnee rot zu färben. Ihm wurde augenblicklich eiskalt, als er das sah.
     Danach dachte er nicht mehr. Er sah nur noch das Blut, das er schon zweimal gesehen hatte. Damals, als sie seiner schreienden Tochter das Bein abgeschnitten hatten und dann davor, als es nicht hatte aufhören wollen, zu fließen. Als er sie verloren hatte. Ein Gefangener der Angst. Und auch jetzt griff sie wieder mit kalten Fingern nach ihm.


Doch diesmal ließ er sich nicht von ihr fesseln. Er stürzte ins Haus, rannte ins neu angebaute Kinderzimmer, dass die Kleinen wach wurden und zu schreien begannen. Doch er beachtete sie nicht, schnappte sich die Stoffballen, die er zum Verbinden benutzte und rannte wieder hinaus, sammelte unterwegs seine Kräutertasche ein und kehrte zum Ritualplatz zurück. Die Blutlache war inzwischen viel zu groß geworden, was ihn erschreckte, zu sehen.


Sofort kniete er sich neben den Verwundeten, der ihn nicht einmal bemerkte, griff nach seinem Armen und wollte beginnen, die Wunde zu verbinden, aber man ließ ihn nicht. Jemand hatte nun ihn am Arm, zog an ihm. Er schlug danach, sagte: „Lass mich!“, doch es wurde weiter an ihm gezogen, bis er auf den Beinen stand. Da sah er nach, sah Lu ins Gesicht.
     Er riss sich los. „Ich sagte, lass mich!“, knurrte er wütend. „Wenn er stirbt, werde ich dir das nie verzeihen!“


Ein erschrockenes und gleichzeitig grimmiges Gesicht vor ihm, aber Tann ignorierte es. Es war ihm egal, was alle anderen dachten. Wer es sah. Er hatte nur noch Augen für den Verwundeten. Für Isaac, der ihn jetzt endlich bemerkt hatte und ihn müde ansah. Er entzog ihm seinen Arm einmal, aber für einen zweiten Anlauf hatte er schon keine Kraft mehr.
     „Tann, lass mich“, brachte er heraus. „Es ist noch zu früh…“
     „Sprich nicht! Schone deine Kräfte.“
     Er schluckte schwer, beendete den Verband. Auch das hatte er schon einmal gemacht. Doch es durfte nicht wieder so enden – nie wieder durfte es das. Er würde nie wieder zulassen, dass er jemanden verlor, den er liebte.
     „Ich hol dich hier raus.“


Er drückte ihn an sich, schob die Arme unter die Knie des inzwischen Bewusstlosen, wollte ihn anheben und mitnehmen, aber da hatte er plötzlich eine Hand auf dem Arm. Er blickte Tanna ins Gesicht.
    „Tann, ich weiß, dass du ihn nicht verlieren willst“, sagte sie sanft zu ihm, „aber du musst ihn hier lassen. Ob jetzt hier oder woanders – du kannst ihn doch überall beschützen, nicht wahr?“
     Tann sah sie an, als würde er nicht verstehen, was sie sagte, aber immerhin ging er nicht.
     „Trinken“, sagte er abwesend. „Er braucht Wasser.“


Tanna nickte jemandem zu, der ging, um Wasser zu holen. Während Tann dasaß, Isaac in seinen Armen, von seiner Angst verzehrt wurde und mit zitternden Händen versuchte, die Schafgarbe aus den Untiefen seiner Kräutertasche zu fischen und allen Anwesenden dabei zeigte, was er eigentlich geheim hatte halten wollen.
     Glücklicherweise waren zwei von ihnen aber bereits ohne Bewusstsein.


Rahn erwachte an einem nebligen Ort, den er trotz der schlechten Sicht sofort als den Nebelsee erkannte. Was wohl daran lag, dass die dunkle Gestalt eines riesigen Panthers vor ihm geradezu aus den gespenstisch hellen Nebelschwaden herausstach. Er saß vor ihm, sah ihn aus seinen unergründlichen Augen heraus an, bevor er sich geschmeidig erhob und davonging. 
     Rahn zögerte nicht, ihm zu folgen. Der Waldgeist hatte ihm in der Vergangenheit schließlich schon einmal zuverlässig geholfen, und momentan war er für jede Hilfe dankbar. Denn wenn dies hier tatsächlich die Leere war, die Welt zwischen dem Diesseits und dem Jenseits, hatte er keine Ahnung, wo er mit dem Suchen anfangen sollte.


Das riesige Raubtier führte ihn geradewegs aus dem Wald hinaus. Es ging eine Weile über die weite Ebene, und irgendwann erkannte Rahn, dass sie Richtung Ahn-Haus gingen. Doch schon bevor er das erkannte, bemerkte er, dass etwas anders war als sonst. Die Ebene, über die sie gingen, war nämlich vollkommen leer. Sein Zuhause, die Nachbarn, selbst vom Handelsposten war nichts zu sehen. Zudem schien alles um ihn herum erstarrt. Kein Lüftchen wehte, die Bäume und Gräser standen unnatürlich still. Sie begegneten keinem einzigen anderen Tier. Natürlich war auch der Schnee verschwunden.
     Auch vom Ahn-Haus fehlte jede Spur. Doch es war auch nicht dort, wo sie hielten.


Sie ließen selbst diesen Ort hinter sich, erreichten schließlich den Kessel, in dem sich das Wasserloch des Ahn-Stammes befand. Und dort fanden sie endlich jemand anderen. 
     Eine Frau saß am Ufer des Sees und starrte ins spiegelglatte Wasser. Ihr Haar war so auffallend rot, dass sie nicht zu übersehen war. Obwohl es viele Jahre her war, dass er sie zuletzt gesehen hatte, war er sich ziemlich schnell sicher, wen er hier vor sich hatte. 
     „Tante Ane?“, probierte er.


Die Frau sprang erschrocken auf, wirbelte herum und sah ihn feindselig an. Es war zwar nicht überraschend, dass sie scheinbar nicht mehr lebte, war sie doch so alt wie sein ebenfalls inzwischen verstorbener Vater gewesen, aber sie ausgerechnet hier zu sehen, wo sie doch weggegangen war, war merkwürdig. Hier. So jung, wie er sie in Erinnerung hatte. Sie musste früh gestorben sein.
     „Bleib zurück! Ich kann mich wehren!“, warnte sie ihn.
     „Ich möchte dir nichts tun“, versicherte er und trat einen Schritt näher an sie heran. „Erkennst du mich nicht? Nun, wir haben uns ja auch ewig nicht mehr gesehen. Ich bin es, Rahn.“


Sie musterte ihn misstrauisch von oben bis unten. „Mach dich nicht über mich lustig! Du bist nicht Rahn! Du bist ja ein alter Mann, und Rahn ist ein kleiner Junge!“
     „Das war ich damals, als wir uns das letzte Mal sahen, das stimmt. Seitdem ist aber viel Zeit vergangen. Ana ist inzwischen auch kein kleines Mädchen mehr.“
     „Ana? Woher kennst du meine Tochter?“
     „Ich sage doch, ich bin Rahn.“
     „Du bist nicht Rahn! Rahn ist ein Kind!“, blieb sie stur.
     Irgendetwas stimmte hier nicht. Als wüsste sie gar nicht, dass sie tot war.
     Er musste etwas anderes versuchen. Also fragte er etwas, das Ana sicherlich an seiner Stelle gefragt hätte: „Tante Ane, warum bist du damals eigentlich weggegangen? Und warum hast du Ana nicht mitgenommen?“


Ane war damals einfach von jetzt auf gleich verschwunden gewesen, dass sie angenommen hatten, dass sie zusammen mit seinem Onkel fortgegangen war, der ebenfalls danach verschwunden gewesen war. Und das ohne ihre kleine Tochter Ana, für die damals eine Welt zusammengebrochen war. Er erinnerte sich noch gut daran, wie das immerzu kratzbürstige Mädchen tagelang geweint und mit niemandem gesprochen hatte, bis sie es irgendwann zugelassen hatte, Teil seiner Familie zu werden.


„Was redest du da? Meine kleine Ana ist Zuhause, und wenn ich hier fertig bin, werde ich zu ihr gehen.“
    „Ich sage dir doch, dass Ana kein Kind mehr ist.“ Er streckte ihr die Hand hin. „Wenn du mir nicht glaubst, dann lass uns zu ihr gehen und du wirst sehen, dass sie inzwischen erwachsen ist.“
     „Nein! Ich weiß nicht, wer du bist, aber lass mich in Ruhe!“
     Sie wandte sich von ihm ab, um weiter ins Wasser zu starren. So wurde das nichts.


Er dachte eine Weile nach, wie er sie nur erreichen konnte, dann fragte er sie: „Du sagst, du gehst nach Hause, wenn du hier fertig bist, aber was tust du hier eigentlich?“
     Sie zuckte zusammen, wirbelte wieder herum und starrte ihn an. Sie wusste wirklich nicht, dass sie tot war, wurde ihm klar.
     „Schau mich an, Tante Ane!“, sagte er eindringlich zu ihr. „Ich bin es, Rahn. Der kleine Junge von damals. Ich kenne dich und Ana, und auch wenn ich Anas Vater nie kennengelernt habe, weiß ich auch von ihm. Du hast immer ganz liebevoll von ihm erzählt, und Ana war immer so stolz auf ihn. Sie hat ihren einzigen Sohn nach ihm benannt. Und sie war am Boden zerstört, als du plötzlich weggegangen bist. Aber sie hat dennoch tapfer weitergemacht. Hat gekämpft. Und heute hat sie ihr eigenes Leben. Ihre eigene Familie.“
     „R…Rahn?“    


Plötzlich bemerkte er, dass sie größer wurde, oder besser gesagt: er wurde kleiner. Er war wieder ein Kind. Und als sie jetzt fassungslos seine Wange berührte, war er plötzlich in der Vergangenheit.


Ihre weit aufgerissenen Augen, die ihn anstarrten. Ihre Überraschung. Ihr Schreck. Ein dunkler Schatten hinter ihr. Er erkannte ein Gesicht, das viele Jahre ein Fremder für ihn gewesen war, sah den Stein in seinen Händen und die Blutlust in seinen Augen. Die Augen, die sich als nächstes auf ihn richten würden. Ein Schrei, den er vergessen hatte und der erst endete, als er sie zur Seite schubste, weg von dem todbringenden Schlag. Sie fiel auf die Knie, hielt ihren Kopf. Der Schatten hinter ihr verschwand.


„Onkel Lyca… er… hat dich getötet… und ich habe es gesehen“, flüsterte er entgeistert. „Ich habe es gesehen, und ich habe es vergessen.“
     „Nein! Nein! Das kann nicht sein! Ich kann nicht tot sein! Ich kann nicht…“ Ihr verzweifelter Blick traf ihn. „Wer kümmert sich denn jetzt um Ana? Was soll sie denn nur ohne mich tun? Sie hat doch schon ihren Vater verloren… sie hat doch niemanden mehr…“
     Sie brach zusammen und in Tränen aus, und da kam Rahn endlich wieder zu sich.
     „Sie hatte uns“, erzählte er ihr behutsam. „Und ich habe dir doch erzählt, dass sie heute eine eigene Familie hat“
     „Ich will sie sehen. Ana. Meine Tochter.“


Rahn nickte und brachte sie dorthin, wo das Haus des Ahn-Stammes war. Oder wo es sein sollte, zumindest. Doch es war nicht da. Die Häuser waren noch immer verschwunden.
     „Das verstehe ich nicht“, war er verwirrt. „Es müsste eigentlich hier sein.“


Aber statt des Hauses, stand tatsächlich die kleine Ana bei ihrer alten Wohnhöhle. Als Ane sie sah, war sie sofort bei ihr. Und sie konnte sie sogar berühren. In den Arm nehmen.
     „Das stimmt so nicht. Ana ist kein Kind mehr. Und ich bin es auch nicht mehr. Ich bin inzwischen ein Greis.“


Plötzlich tauchte sogar ein Mann auf, den Rahn nicht kannte, um Ana und Ane in den Arm zu nehmen. Anhand von Anas freudigem Ruf nahm er an, dass es sich hierbei um Alek handelte, Anas Vater.
     Und plötzlich wusste Rahn, was los war.


„Das hier ist nicht die Wirklichkeit“, stellte er fest, ging zu dem einzig anderen Menschen, der außer ihm hier war. „Tante Ane, du musst akzeptieren, dass das nicht länger die Wirklichkeit ist. Dies ist die Vergangenheit.“
     „Wie kannst du das nur sagen? Sieh doch, sie sind hier. Meine Familie. Du hattest unrecht; es ist alles gut.“
     „Das ist es nicht, und das weißt du auch. Ana hat ihren Vater nie kennengelernt. Er ist noch vor ihrer Geburt gestorben.“
     „Nein! Das – “
     „Bitte, Tante Ane! Du musst es akzeptieren! Ich kann Ana nicht erzählen, was wirklich passiert ist, wenn du es nicht akzeptiert und mich nicht zurückgehen lässt.“    


Er wusste nicht, ob er überhaupt zurückkehren konnte, aber er wusste, dass das hier nicht die Geisterwelt war. Oder die Leere. Er hatte es, ehrlich gesagt, nicht ganz verstanden. Er wusste nur, dass er Wulfgar hier nicht finden würde.
     „Du willst sie doch sehen. Ana, meine ich. Du willst doch, dass sie die Wahrheit erfährt, oder? Die echte Ana und nicht dieses Trugbild hier. Damit sie dich nicht länger hasst.“
     „Sie… hasst mich?“, fragte Ane erschrocken.
     „Ja“, berichtete Rahn traurig. „Sie denkt, dass du sie zurückgelassen hast. Aber ich kann ihr die Wahrheit erzählen.“
     Ane schaute ihn lange Zeit an, bevor sie sich ein letztes Mal der Illusion ihrer kleinen Tochter zuwandte. Aber schon jetzt, als sie sie berührte, ging ihre Hand durch das Mädchen hindurch. Sie verblasste, wie auch ihr Vater verschwand.


Und mit ihrem Verschwinden, wurde auch Rahn wieder der Alte. Anes Gesicht war inzwischen tränenüberflutet.
     „Danke, Tante Ane. Wenn ich zurückgekehrt bin, werde ich es Ana gleich sagen gehen. Aber vorher muss ich dich noch etwas fragen. Ich suche jemanden. Vielleicht – “


Doch in diesem Moment tauchte plötzlich der Panther neben ihr auf, den er völlig vergessen hatte, und als er in dessen stechende Augen sah und von ihnen in seinen Bann gezogen wurde, wurde er zurückgerissen. Das letzte, was er hörte, war eine Stimme, die ihm sagte: „Du hast bekommen, was zu dir gehörte, also geh! Du gehörst nicht hierher!“
     Er entfernte sich immer schneller, fiel einen Augenblick in tiefste Dunkelheit, bevor die Farben in seine Welt zurückkehrten. Das Gefühl. Wind an seiner Haut. Die Schwere seines Körpers.
     Er war wieder am Leben.
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