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Mittwoch, 7. Juli 2021

Kapitel 143.2 - Das Ritual Teil 2


Er erwachte in einer merkwürdigen Szene. Er selber war am Boden, sah seiner Schwester ins Gesicht, die ebenfalls lag und die ganz offensichtlich bewusstlos war. Als er sich aufgerichtet hatte, bemerkte er Tann auf der anderen Seite, der Isaac – ebenfalls bewusstlos, aber inzwischen wieder angezogen – in den Armen hielt und dabei eine Angst zur Schau trug, wie er sie gerade erst auf Anes Gesicht gesehen hatte.
     Akara war die nächste, die er sah. Sie erschien vor ihm, besorgt wie eh und je, und umarmte ihn erstmal ausgiebig. Während sie sich danach davon überzeugte, dass er unversehrt war, konnte er feststellen, dass auch Wulf und Lu noch immer da waren. Lu sah noch besorgter aus als Akara.


„Und?“, fragte er bang und trat ungeduldig von einem Bein aufs Andere, während Rahn sich erstmal schwerfällig erhob. „Hast du ihn gefunden?“
     „Nein. Tut mir leid, Lu. Ich bin mir nicht mal sicher, ob ich überhaupt dort war, wo ich hin sollte.“
     Die Sorge verwandelte sich in Schrecken. Lus Blick huschte zu Isaac.
     „Aber er hat doch gesagt… Du musst es noch einmal versuchen!“
     „Ich glaube nicht, dass das möglich sein wird“, erwiderte Rahn bitter. „Denn ich habe meine verlorenen Erinnerungen zurück.“
     „Wirklich?“, fragte Akara ihn überrascht.


„Das darf nicht sein! Wir müssen ihn wachmachen!“, forderte Lu mit Blick auf Isaac. „Er muss uns sagen, was wir jetzt tun müssen!“
     „Ich bin froh, wenn er überhaupt jemals wieder wach wird“, gab Tann mit einem bösen Unterton in der Stimme zurück.
     „Hm, die Frau ist auch bewusstlos“, ergriff Wulf das Wort, der bislang merkwürdig still gewesen war. „Keine der Brücken sollte das Bewusstsein verlieren. Dass der alte Mann zusammengeklappt ist, nachdem er so viel Blut verloren hat, ist klar, aber die andere…“ Er sah düster in die Runde. „Etwas stimmt hier ganz und gar nicht.“


Als Tanna die Augen aufschlug, sah sie in ein besorgtes Gesicht, das sich jetzt wieder entspannte, als es sah, dass sie wach war. Es gehörte zu Isaac.
     „Du bist wach“, stellte er fest. „Bin ich froh! Ich habe mir schon Sorgen gemacht, dass du den Übergang nicht überstanden hast.“


Sie wollte sich aufrichten, aber das war gar nicht nötig, wie ihr auffiel. Sie stand schon auf ihren Beinen. Oder tat sie das? Als sie sich umsah, musste sie nämlich feststellen, dass sie keine Ahnung hatte, wo der Boden war. Wo auch nur irgendetwas war. Um sie herum nur Helligkeit, die ihr in den Augen stach.
     „Wo sind wir hier?“, wollte sie wissen. „Ist das die Leere?“
     „Ich fürchte es. Aber genau kann ich das auch nicht sagen. Ich war noch nie zuvor in der Leere. Es passt jedoch zu den Beschreibungen unseres Priesters“
     „Ich wusste nicht, dass wir auch mit hinübergehen würden.“


„Das sollten wir eigentlich auch nicht“, erklärte er düster. „Irgendetwas muss schiefgegangen sein.“
     „Was ist eigentlich mit Rahn? Wo ist er?“
     „Ich weiß es leider nicht. Als ich zu mir kam, war ich ganz allein hier. So schlecht ich mich deswegen auch fühle, bin ich froh gewesen, als du schließlich aufgetaucht bist.“
     „Naja, immerhin können wir uns jetzt nach Wulfgar umsehen.“


Gesagt, getan. Aber es war einfach mal nichts zu sehen außer Helligkeit. Egal, wohin sie auch gingen.
     „Ich kann schon verstehen, was du damit meintest, als du sagtest, dass es schwer ist, hier rauszufinden“, sagte Tanna irgendwann besorgt zu ihrem Begleiter. „Ich hoffe, dass wir überhaupt wieder rausfinden.“
     Ihre Sorge wurde in seinem Gesicht widergespiegelt, was sie nur noch mehr in Sorge versetzte.
     „Was mich wundert“, sagte er nach einer weiteren Weile, „ist, dass wir gar keine Geister sehen. Normalerweise sollten hier doch wenigstens ein paar sein. Frisch Verstorbene. Ruhelose.“
     „Ob meine Leah wohl auch hier ist?“
     „Ist das deine verstorbene Frau?“
     „Ja.“
     „Ihre Liebe zu dir muss wahrlich sehr groß sein, dass sie den Tod überdauert. Soweit ich weiß, ist es für einen Verstorbenen nämlich äußerst anstrengend, hier oder gar in der Welt der Lebenden zu verweilen.“


„Ich weiß…“
     Es war nicht so, dass sie mit Leah nicht schon häufiger darüber kommuniziert hatte, aber ihre Liebste hatte immer wieder vehement abgelehnt, jetzt schon ins Totenreich hinüberzugehen.
     „Weißt du eigentlich, wie es im Totenreich ist?“, fragte sie ihren Begleiter neugierig. „Also für einen Geist, meine ich. Ich habe mich das immer gefragt, aber Leah konnte mir das auch nicht beantworten, weil sie ja noch nie dort war. Sie sagte, wenn sie einmal hinübergegangen ist, könnte sie mich nicht mehr täglich besuchen.“
     „Tut mir leid, aber das weiß ich leider auch nicht. Als Medium hattest du sicherlich schon mehr mit Geistern zu tun als ich und weißt, wie verschwiegenen jene sind, die hinübergegangen sind.“
     „Ja, das weiß ich in der Tat. Sie scheinen viel mehr zu wissen als zu ihren Lebzeiten, aber sie offenbaren ungern etwas darüber. Leah ist noch nicht so. Sie weiß nicht mehr als das, was sie auch zu Lebzeiten wusste. Deshalb schätze ich, dass etwas mit ihnen geschieht, wenn sie ins Totenreich eingehen, dass sie sich so verändern und beinahe allwissend werden.“


Die nächste Zeit schwiegen sie wieder, bis Isaac vorschlug: „Vielleicht solltest du deine Frau rufen.“
     Also rief Tanna den Namen ihrer Liebsten, ohne Rücksicht darauf, dass sie vielleicht Isaacs Rachegeist damit anlocken könnte. Doch ihre Rufe blieben sowieso unbeantwortet. Stattdessen hatte Isaac begonnen, nervöse Blicke hin und her zu werfen.


„Dieser Rachegeist, von dem ich erzählt habe“, ließ er schließlich hören, „wenn wir ihn treffen, dann versuche nicht, mir zu helfen, hörst du? Lasse mich notfalls zurück.“
     „Denkst du, dass wir ihn hier antreffen?“
     „Es ist leider ziemlich wahrscheinlich.“
     „Aber warum sagst du, dass ich dir nicht helfen soll?“
     „Weil der Geist dich nicht angreifen wird, aber mich, fürchte ich.“
     „Wie kommst du darauf?“
     „Weil es das ist, was sie getan hat, bevor unser Priester sie hierher zurückgebracht hat.“
     „Sie?“
     Sie brauchte ihn gar nicht anzusehen, um zu wissen, dass er ertappt aussah. Er hatte sich ganz offensichtlich verplappert.


Unvermittelt blieb er stehen, sah sie ernst an.
     „Du musst mir versprechen, was ich dir jetzt erzähle, für dich zu behalten.“ Er wartete. „Versprichst du es?“
     „In Ordnung. Ich verspreche es.“
     „Der Rachegeist… ist meine Frau. Shana“, gestand er zerknirscht.
     „Deine Frau? Wie kam es denn dazu?“
     „Ich… habe ihr etwas unverzeihliches angetan.“
     Tanna wich vor ihm zurück. „Du hast doch nicht etwa Hand an sie gelegt?“, fragte sie voll Horror.


„Nein! In keiner Art und Weise!“, wehrte er erschrocken ab. „Ich habe sie sehr gekränkt, bevor sie gestorben ist. Es… hat sie entehrt. Seitdem hat sie mich gehasst zu Recht  und diesen Hass hat sie mit ins Grab genommen. Sie konnte nicht loslassen und konnte nicht ins Totenreich hinübergehen. Sie war eine Gefangene der Leere, ist ruhelos geworden. Und mit der Zeit immer wütender. Der Hass hat sie verzehrt. Sie hat sich vergessen, je länger sie hier war, und irgendwann war der Hass alles, was noch für sie existiert hat. Das ist nicht ungewöhnlich für ruhelose Geister. 
     Schließlich ist sie zurückgekommen. Zu mir. Sie hat gewütet, immer schlimmer, dass es sogar eine ernste Gefahr für andere wurde, wenn sie mit mir zu tun hatten. Deshalb mussten wir sie hier einsperren. Unser Priester hat sie nicht einfach nur hierher zurückgebracht, er hat sie hier gebannt. Durch mich. Sie kann nicht mehr von hier weg, bis ich hierher komme und sie befreie.“
     „Das ist ja furchtbar!“


Tanna wusste gar nicht, was sie davon halten sollte. Vor allen Dingen nicht von ihrem Begleiter, der ihr gerade so persönliche Dinge offenbart hatte. Sie hätte ihn auch gerne gefragt, was es war, dass seine Frau so gekränkt hatte, dass sie über den Tod hinaus einen tödlichen Groll auf ihn hegte, aber sie tat es nicht.
     „Deswegen weiß ich, dass sie mich angreifen wird, nicht aber dich, solange du dich nicht einmischst“, schloss er, aber Tanna sagte nichts mehr dazu.


Sie gingen stattdessen weiter, und sie gingen beinahe eine ganze Ewigkeit, kam es ihr vor, bis sie plötzlich in der Ferne einen kleinen Punkt ausmachen konnten. Sie tauschten einen Blick, näherten sich dem Unbekannten vorsichtig, und als der schließlich sogar winkte und Tanna erkannte, auf wen sie da gestoßen waren, hielt sie nichts mehr.


Sie rannte, was das Zeug hielt, fiel ihrer Gefährtin überglücklich um den Hals – und wie viel größer war das Glück erst, als sie tatsächlich auf Widerstand dabei traf. Als sie endlich, nach so langer Zeit, wieder in den Armen ihrer Liebsten liegen und ihre Nähe spüren konnte. Ihren Körper, ihre Berührungen und ihren zärtlichen Kuss.


Als sie sich schließlich wieder voneinander lösten und Tanna in Leahs leuchtende Augen sah, war es ihr mit einem Mal, als würde sie all den Schmerz, den sie seit Leahs Tod hatte ertragen müssen, auf einmal fühlen, und das schlug sie beinahe nieder. Die Vorstellung, wieder zurück ins Leben zu gehen und Leah hier lassen zu müssen, ihre Liebste nicht mehr berühren zu können, schien ihr ganz und gar unmöglich.


Ein Räuspern fuhr in ihre Angst. „Ich wünschte, ich könnte euch eurer Zweisamkeit überlassen“, sagte Isaac, der bislang glücklicherweise den Anstand besessen hatte, sich sittsam abzuwenden und sie in Ruhe zu lassen, „aber so sehr mich das schmerzt, haben wir leider nicht die Zeit dafür. Denn wenn Lebende sich zu lange in der Leere aufhalten, verlieren sie sich selber und – was hinzukommt –  unsere Körper werden sterben und wir werden nicht mehr in der Lage dazu sein, ins Leben zurückkehren zu können.“
     Tanna, die noch immer mit ihrem Schmerz, dass sie Leah bald wieder verlieren würde, zu kämpfen hatte, reagierte beinahe gar nicht auf diese Offenbarung, aber Leah tat es. Sie löste sich erschrocken von ihrer Gefährtin und rief: „Dann müsst ihr schnell von hier verschwinden!“ Sie furchte die Stirn. „Ich habe mich sowieso schon gewundert, als ich dich plötzlich habe rufen hören, Tanna. Wie seid ihr hierhergekommen?“


„Das bedürfte einer längeren Erklärung“, antwortete Isaac ihr. „Ich bin mir, ehrlich gesagt, nicht einmal sicher, wie das passieren konnte. Wir kommen jedenfalls nicht auf dem Weg zurück, auf dem wir hergekommen sind. Wir wissen nicht, wie wir wieder hier herauskommen können. Kannst du uns vielleicht helfen? Und da wäre noch etwas: Hast du vielleicht Wulfgar gesehen? Oder Rahn?“
     „Das mit Wulfgar habe ich schon mitbekommen, aber wenn ich wüsste, wo er ist, hätte ich ja schon angeboten gehabt, ihn rauszuführen. Aber er ist nicht hier. Zumindest habe ich ihn nirgends finden können. Doch dieser Ort ist auch, nun ja, seeeehr weitläufig. Und Rahn ist auch hier?“
     „Theoretisch ja. Er war es eigentlich, der an unserer Statt herkommen sollte. Aber irgendetwas muss sehr schiefgelaufen sein. Also hast du ihn nicht gesehen?“


„Nein, tut mir leid. Auch mit dem Ausgang bin ich nicht sicher, ob ich euch damit helfen kann. Es gibt nämlich keinen direkten Ausgang – also keinen Ort, an dem sich einer befindet. Es ist… hm… schwierig zu erklären. Ich kann diesen Ort jederzeit verlassen, aber ich weiß nicht, wie oder ob ich euch das ermöglichen kann.“
     Da schwiegen sie alle eine Weile bedrückt, bis Isaac wieder das Wort ergriff und vorschlug: „Dann sollten wir die Zeit lieber nutzen, um nach Wulfgar, Rahn und einem Ausgang zu suchen.“


Er sah die beiden Frauen noch nicken, wie sie sich an der Hand nahmen und die Finger ineinander verschränkten, aber es war das Letzte, was er sah. Im nächsten Augenblick wurde er nach hinten gerissen und fiel in Dunkelheit.


Als er wieder zu sich kam, saß er. Tanna war das Letzte gewesen, was er gesehen hatte und sie war jetzt auch das Erste, was er sah. Sie lag vor ihm auf dem Boden und bewegte sich gerade erstmals. Einen Moment fragte er sich, wie sie wohl auf den Boden gekommen war, wo sie zuvor doch gestanden hatte, bis er schließlich realisierte, dass sich die weiße Ödnis um ihn herum wieder in eine richtige Umgebung verwandelt hatte. Er war ins Diesseits zurückgekehrt.
    Er richtete sich auf, fühlte eine unheimliche Schwäche an ihm ziehen, sodass ihm jemand beim Sitzen helfen musste. Es war Tann, der ihn besorgt ansah, und seine Hilfe hatte er auch bitter nötig, wie er feststellen musste, als er versuchte, aufzusehen und ihm schwindelig dabei wurde. Tann war sofort zur Stelle, um ihn zu stützen.


„Ganz ruhig! Du hast viel Blut verloren. Du solltest dich lieber wieder hinlegen.“
     Isaac ignorierte ihn. Er war zu sehr damit beschäftigt, seine Welt vom Schwanken abzuhalten, dass er nicht mal mitbekam, wie Tanna sich unstet auf die Beine kämpfte. Sie fiel beinahe wieder hin, sodass Lu kommen musste, um ihr beim Stehen zu helfen.
     „Panloppah!“, krächzte sie mit einer Stimme, die nicht ihr gehörte, in einer Sprache, die Tanna nicht kannte, Isaac und Wulf jedoch schon.


Es durchfuhr Isaac eiskalt, als er das hörte. Obwohl ihm wieder schwindelig wurde, riss er den Kopf nach oben, sah in zwei weit aufgerissene Augen, in denen kalte Blutlust funkelte. Und als er das sah, war er in der Vergangenheit. Die Scham, die Schuld, Wut und Hass. Und die Angst, die ihn immerzu verfolgt hatte. Dass es jemand erfuhr, dass sie es nicht verstehen würde. Der Terror, der ihn beinahe an den Rand des Wahnsinns getrieben hatte.
     Es war wie ein Schlag für ihn, als sie ihren Kopf hob, ihn drehte und verrenkte, dass es beinahe unmöglich war und sich ein irrsinniges Grinsen auf ihr Gesicht legte. Er stolperte zurück, fiel doch noch hin. Die Augen, kalt und herzlos, trafen ihn, und er glaubte, sterben zu müssen.


„Isaac“, krächzte sie wieder. „Nutzloser, böser, böser Mann. Irrlicht, das sich als Stern ausgab.“ Sie kam auf ihn zu. Langsam, ungelenk. „Ich bin gekommen, um dich bezahlen zu lassen. Den falschen Stern vom Himmel zu holen und vor allen anderen als den dreckigen Stein zu entlarven, der er ist.“
     Er bemerkte, wie Tann sich neben ihm bewegte, aber es war jemand anderes, der schneller war. Wulf erschien auf der Bildfläche, und ihn da zu sehen, ließ Isaac jegliche Furcht vergessen. Er wollte auf die Beine springen, aber sie wollten ihn einfach nicht tragen, knickten immer wieder unter seinem Gewicht ein.


„Mutter? Bist du das?“
     Die Augen der Besessenen zuckten zu ihm, sahen den Sohn an, den sie nicht erkannte. Isaac unternahm noch einen Anlauf, auf die Beine zu kommen. Vergeblich.
     „Nicht! Wulfgar! Geh weg da!“
     Er sah das Messer in ihrer Hand blitzen.
     „Mutter, du bist es… Ich bin es, Wulf. Dein Sohn. Dein kleiner Stern. Erkennst du mich nicht?“
     „Nein! Shana! Nicht!“ Isaac warf einen hilflosen Blick zu Tann. „Hilf mir hoch! Schnell!“


Tann starrte ihn überfordert an, aber dann half er ihm endlich. Isaac kam auf die Beine, stolperte vorwärts. Als Wulf nach seiner Mutter griff, die ihn nicht erkannte, hob sie das Messer und stach zu. Zielte auf den Hals.


Isaac kam gerade so dazwischen, fing das Messer mit der Hand ab. Die Klinge schnitt ihm selbst durch die Handschuhe hindurch in die Handfläche, aber er bekam sie dennoch zu fassen, hielt sie eisern fest. Er hatte so gut wie keine Kraft mehr, um auf den Beinen zu bleiben, geschweige denn, gegen die plötzlich viel zu starke Tanna anzukommen. Und Wulf, der zwischenzeitlich aus der Schussbahn gegangen war, stand nur völlig überfordert daneben und sah ihrem ungleichen Kampf zu.


Glücklicherweise erschien endlich Tann, um ihn von seiner Gegnerin zu befreien. Er hielt die Besessene fest, die sich heftig zu wehren begann, zappelte, trat, kratzte und fluchte, was das Zeug hielt. Doch Tann war glücklicherweise stärker als sie und hielt sie fest. Isaac nutzte die Atempause, um wieder hinzufallen.
     „Tanna! Beruhige dich doch mal! Was ist denn mit dir los?“
     „Das ist nicht Tanna. Das ist Shana, meine Frau“, erklärte Isaac ihm entkräftet. „Ihr Geist muss von ihr Besitz ergriffen haben.“


Wulf erschien vor ihm. Wütend natürlich. „Und warum ist sie so sauer auf dich, hä? Das ist… das ist ja nicht mal mehr Mutter! Das ist ein verdammter Rachegeist!“ Erkennen in seinen Augen. „War sie etwa der Rachegeist, von dem du vorher gesprochen hast?“
     Isaac antwortete ihm nicht. Er wusste, warum Shana so sauer auf ihn war, aber er konnte es nicht aussprechen. Obwohl Wulf es wahrscheinlich ohnehin schon wusste.
     „Tu etwas dagegen! Das da ist deine schuld!“
     Die Worte seines Sohnes trafen ihn hart. Weil sie der Wahrheit entsprachen. Es war soweit. Der Moment, vor dem er sich immer gefürchtet hatte. Er kämpfte sich auf die Beine, scheiterte, und da erschien tatsächlich Wulf, um ihm zu helfen. Sein Gesicht war voll Abscheu, aber er zog ihn dennoch rüde auf die Beine, dass er fast wieder umfiel, und half ihm sogar beim Gehen.


Es war Zeit, sich zu offenbaren. Er sah der Rasenden ins Gesicht, atmete tief durch, sagte: „Shana, hör mich an!“
     Doch sie hörte nicht. Sie nahm kaum Notiz von ihm. Seine Anwesenheit machte nur eines mit ihr: Sie wurde noch wütender.
     Er befreite sich aus Wulfs Halt, stand auf seinen eigenen zwei Beinen und forderte Tann bestimmt auf: „Lass sie los.“
     „Bist du von Sinnen? Ich weiß nicht, was hier vor sich geht, aber das werde ich ganz sicher nicht tun.“
      „Bitte, Tann!“
     Er sah den Anderen flehentlich an, obwohl er sich fürchtete vor dem, was kommen würde. Und Tann, obwohl er zögerte, entwendete ihr das Messer und ließ sie schließlich los.


Die Rasende nutzte die Chance sofort und sprang ihn an. Doch diesmal empfing Isaac sie mit offenen Armen. Er fiel beinahe um, als sie ihn erreichte, aber er schaffte es, stehen zu bleiben und sie festzuhalten. Sie zu umarmen. Er drückte sie an sich.
     „Es tut mir so leid, Shana“, sagte er ihr. Sie biss ihn in die Schulter. „Es tut mir so schrecklich leid. Alles, was passiert ist. Was ich gesagt habe. Was ich dir angetan habe. Und dass ich zugelassen habe, dass du zu einem Rachegeist werden konntest. Dass ich dir bis jetzt nicht geholfen habe, sondern feige davongelaufen bin.“
     Sie zerkratzte ihm die Wange, biss erneut zu. Fluchte derb.


Er löste sie von sich, packte sie an den Schultern und zwang sie, ihn anzusehen. Ihre Augen gingen hin und her, sahen ihn nicht an.
     „Es war gelogen, Shana!“, gab er zu. „Was ich dir ursprünglich sagte, enstsprach der Wahrheit! Ich habe dich nie betrogen, hörst du? Es gab nie eine andere. Immer nur dich.“ Ihm kamen die Tränen. „Ich habe immer nur dich geliebt, Shani.“
     „Lügner!“, schrie sie außer sich, zappelte, um sich zu befreien. „Ehrloser! Betrüger!“
     „Es ist die Wahrheit! Du wolltest es mir nur nicht glauben! Und als du es schließlich eingesehen hast, habe ich Angst bekommen, weil du es nicht verstanden hast. Ich hatte Angst, dass du es erzählen würdest. Ich hatte Angst, dass die Anderen im Dorf davon erfahren würden. Du weißt doch, was es für meinen Sohn bedeutet hätte, wenn das herausgekommen wäre. Er hätte nie eine Frau bekommen, wäre sein ganzes Leben lang allein geblieben. Genauso, wie ich es hätte sein sollen. Aber ich habe alle – und dich – angelogen, um dich zu bekommen, und das tut mir leid. Deshalb habe ich ein zweites Mal gelogen, behauptet, dass ich dich betrogen hätte, obwohl das nicht stimmte. Aber es war das, was du hören wolltest. Was du bereit warst, zu glauben. Und was ich wusste, du für dich behalten würdest, weil es auch dich entehrt hätte, wenn es herausgekommen wäre.“


Die irren Augen hatten angehalten. Sahen ihn an. Erschrocken und ohne Erkenntnis.
     „Verstehst du, ich musste ihn doch schützen! Er war doch mein Sohn! Aber jetzt, jetzt ist das nicht mehr nötig, weil ich nicht mehr sein Vater bin. Weil er sich einen anderen Vater gesucht hat. Ist das nicht großartig?“, fragte er mit einem Lächeln, dass beinahe selber schon an Wahnsinn grenzte. „Jetzt kann ich endlich ehrlich zu dir sein und dich befreien! Jetzt können wir endlich frei sein!“


Es kostete Isaac alles an Überwindung, was er hatte, er war so voller Selbsthass und Ekel, voller Bedauern, dass der Kuss furchtbar bitter war, den er ihr jetzt aufzwang.
     „Ich liebe dich noch immer“, gab er zu, ließ sie los, aber sie machte keine Anstalten mehr, ihn anzugreifen. „Das Mädchen, das du warst, bevor ich dir das Herz gebrochen habe. Es tut mir alles so leid, was ich dir angetan habe. Ich hätte es besser wissen müssen und von Anfang an allein bleiben sollen.“


„Der Schöpfer strafte dich für mein Vergehen, und das kann ich nie wieder gut machen. Deshalb – wenn du es verlangst, werde ich meinem Leben unverzüglich ein Ende bereiten, damit du deine Hände nicht mit meinem Blut besudeln musst.“
     Tanna, die Shana war, stolperte zurück, starrte ihn noch immer an. Es würde keine Versöhnung sein, sie würde ihm niemals eine Absolution für das erteilen, was er ihr angetan hatte, indem er sie angelogen hatte. Indem er den Hass und das Misstrauen in ihr Herz gepflanzt hatte, um ihren Sohn zu schützen.


Aber sie ließ los. Sie konnte den rasenden Hass und den Wahnsinn endlich abschütteln und die Fesseln lösen, die sie bislang davon abgehalten hatten, hinüberzugehen.
     Als Tanna einfach zusammenklappte, erkannte auch Isaac das, und das war der Moment, in dem auch er loslassen und seiner zehrenden Schwäche nachgeben konnte, um ohnmächtig zu werden. 
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