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Mittwoch, 7. Juli 2021

Kapitel 143.1 - Das Ritual Teil 1


Auch den zweiten Tag verbrachte Wulfgar bewusstlos. Die Operation hatte seinen Zustand zwar nicht verschlechtert, aber auch nicht verbessert. Und inzwischen rechnete kaum noch jemand damit, dass er wieder aufwachen würde.


Selbst Tann hatte kaum noch Hoffnungen, dass sein Patient überleben würde. Das bereitete ihm gleich doppelt Sorgen, da er sich nicht sicher war, ob Lu, der inzwischen jede Sekunde am Bett des Bewusstlosen verbrachte, es überstehen würde, wenn sein ehemaliger Gefährte sterben würde. Dass er in der Nacht sein Leben für ihn hatte opfern wollen, bestärkte ihn jedenfalls nicht darin, dass sein Freund Wulfgars Tod gut wegstecken würde. Er redete schon jetzt kaum noch.


Er hatte Lu dazu gebracht, ein wenig zu essen, und nachdem er die kaum angerührte Schale zurückgebracht hatte, kam er an Isaac vorbei, der gerade dabei war, besorgt zu Wulfgar hinüberzusehen. Tann konnte nicht einmal mehr eifersüchtig deswegen sein.
     Trotzdem ging er zu ihm hinüber, sagte: „Ich würde dir ja gerne sagen, dass du dir keine Sorgen machen musst, aber… wenn du noch irgendwelche Ideen oder Wundermittel hast, wäre ich dir sehr dankbar.“


„Leider nicht“, erwiderte Isaac unglücklich, sein Blick glitt sofort wieder zu dem Bewusstlosen zurück. „Es ist so falsch, dieser Anblick. Ich habe Wulfgar immer für einen unverletzbaren Helden gehalten, so oft, wie er sich in Gefahr begeben hat, um andere zu retten und es dennoch überlebt hat. Ich war mir sicher, dass ihn nichts und niemand kleinkriegen könnte, und jetzt… jetzt liegt er im Sterben und ich kann nichts für ihn tun. Und dabei hat er auch mir schon so oft das Leben gerettet... Ich wünschte wirklich, ich könnte etwas für ihn tun.“


„Warum machst du es dann nicht?“, mischte sich ausgerechnet Wulf ein, der unweit entfernt gestanden hatte, um seinerseits besorgt zu seinem Ziehvater Lu hinüberzusehen. „Geh und hol ihn aus der Leere zurück.“
     Isaac wurde ein bisschen blass, und das wurde auch nicht besser, als sich ihm jetzt zahlreiche Gesichter zuwandten. Inklusive dem tränengeschwollenen von Lu, der daraufhin ebenfalls zu ihrer Runde hinzustieß.


„Leere? Was meinst du damit?“, fragte er.
     „Das ist die Welt zwischen der Welt der Lebenden und der Welt der Toten“, erklärte Wulf ihm. „Es ist wie ein Verbindungstunnel zwischen beiden Welten, durch den man gehen muss, wenn man stirbt. Geister aus dem Totenreich müssen sie auch durchqueren, wenn sie ihre lebenden Verwandten besuchen wollen.“
     „Und was hat das mit Wulfgar zu tun? Er ist doch gar nicht tot!“
     „Auch wenn unser Geist aus irgendeinem Grund den Körper verlässt, geht er in die Leere ein. Wenn wir schlafen und träumen, beispielsweise. Oder bei einer Ohnmacht. Bei schweren Verletzungen. Deswegen wird Wulfgar jetzt ganz bestimmt dort sein. Wenn er es schafft, von dort zurückzufinden, wird er aufwachen, aber wenn nicht…“
     „Und ihr könnt ihm helfen, zurückzufinden?“


„Ich nicht, aber“, Wulfs Blick glitt zu Isaac, „er.“
     Erneut zuckte Isaac unter der Aufmerksamkeit zusammen, die ihm zuteilwurde und die er ganz offensichtlich nicht wollte.
     „Wie das?“
     „Er hat einen Ritus durchlaufen, durch den er einen Leerenschreiter in die Leere hinübergeleiten kann.“
     „Leeren – was?“
     „Hm, wie erklär ich das? Sag doch auch mal was dazu, alter Mann! Ich hab von diesem Zeug doch keine Ahnung.“


Erneut waren alle Blicke auf Isaac gerichtet, der jetzt nicht mehr darum herum kam, zu erzählen. Aber er sagte nur unwillig: „Es ist sowieso hinfällig, dies zu erklären, weil es unmöglich ist.“
     „Warum?“, fragte Wulf missbilligend.
     „Ich habe meine Verbindung zur anderen Seite gekappt und kann ergo niemanden mehr in die Leere geleiten.“
     „Pff! Blödsinn! Warum solltest du so was machen? Du warst doch immer so stolz drauf, eine Brücke zu sein.“
     „Es… gab aber vor einigen Jahren einen… unschönen Zwischenfall, bei dem ich… einen Rachegeist in unsere Welt gelangen ließ. Er war sehr gefährlich, und unser Priester musste ihn unter Einsatz seines Lebens in die Leere zurückbringen. Damit der Geist nicht zurückkehren konnte, habe ich meine Verbindungen zur Leere danach gekappt. Seitdem bin ich nicht mehr als Brücke tätig. Das muss dir doch auch aufgefallen sein.“


„Wie kappt man denn seine Verbindung zur Geisterwelt?“, wollte Tanna wissen.
     „Zur Leere“, korrigierte Isaac sie. „In die Geisterwelt kann kein Lebender eingehen. Nun, um auf deine Frage zurückzukommen: Seine Verbindung zur Leere kann man kappen durch Schlafentzug, jegliches Fernhalten von Tod – ich kann nicht einmal mehr Fleisch oder Fisch essen – verschiedene Rituale. Aber größtenteils Schlafentzug.“
     „Aber du kannst es rückgängig machen?“, fragte Lu.
     „Nun, ja, aber… ich werde es nicht tun.“
     „Was? Warum nicht? Es geht hier schließlich um Wulfgar! Ich dachte, du sähest ihn als Familie an! Das hat er selber gesagt! Wie kannst du ihn nur so im Stich lassen?“
     „Du verstehst nicht. Mit einem Rachegeist ist nicht zu spaßen. Und wenn er sieht, dass ich wieder eine Brücke zur Leere schlage – was sehr wahrscheinlich ist, da er sich damals an mich gebunden hat – besteht die Gefahr, dass er wieder hierherkommt. Und dann ist nicht nur Wulfgar in Gefahr, sondern wir alle. Dieser Geist ist nicht nur so ein harmloser wie dieser Dia Hell, sondern ein solcher, der tatsächlich Leute verletzt hat und… versucht hat, zu töten.“   


Als Tanna sah, dass Lu das scheinbar nicht einsah und er so wirkte, als würde er demnächst auf Isaac losgehen, ging sie beschwichtigend dazwischen, fragte: „Und was ist mit anderen? Kann das nicht jemand anderes machen? Was braucht es überhaupt, um in die Leere zu kommen?“
     „Oh, ich selber kann nicht in die Leere gelangen, das verstehst du falsch. Ich bin nur eine Brücke, die den Leerenschreiter hinüber in die Leere bringt. Was übrigens das nächste Problem wäre: Wir bräuchten einen Leerenschreiter.“
     „Tja, das ist kein Problem“, mischte sich Wulf wieder ein und wies auf den verdutzten Rahn. „Soweit ich mitgekriegt hab, hast du doch mal was von deinem Gedächtnis verloren, oder?“
     Glücklicherweise hatte Rahn die Geschichte seines Gedächtnisverlustes noch einmal wiederholt, nachdem er von seiner erfolglosen Befragung von Ana zurückgekehrt war, sodass auch Wulf davon hatte hören können.


„Ja, das stimmt.“
     „Wartet! Wartet!“, rief Akara erschrocken. „Was soll das heißen? Ich verstehe nicht. Warum soll Rahn ins Totenreich eingehen?“
     „In die Leere, nicht ins Totenreich“, korrigierte Wulf sie. „Wir brauchen jemanden, der einen Teil von sich drüben in der Leere hat. Nur so jemand kann als Leerenschreiter fungieren. Unser Priester hat deshalb meistens etwas von sich geopfert, um ein Leerenschreiter werden zu können. Einen Finger oder sowas. Das Gedächtnis ist zwar was anderes, funktioniert aber auch. Niemand verliert einfach so seine Erinnerungen. Sie sind ein Teil von dir, und wenn sie dir fehlen, hast du sie entweder freiwillig gegeben oder sie wurden dir gestohlen. Wie es auch geschehen ist, dieser Teil von dir kann ohne dich in dieser Welt nicht existieren. Er ist gestorben, sozusagen, und erst, wenn du selber stirbst oder willentlich in die Leere gehst, wirst du diesen Teil von dir zurückerhalten. Was jedenfalls heißt, dass der verlorene Teil seines Gedächtnisses momentan in der Leere ist, darauf wartend, dass der Besitzer, also Rahn hier, irgendwann auftaucht, damit sie sich wieder vereinigen können.“


„Also kann Rahn in die Leere hinübergehen, um Wulf zu suchen?“, fragte Lu hoffnungsvoll.
     „Theoretisch, ja. Wenn wir eine Brücke haben, die ihn rüberbringt.“
     „Und wie wird man nun eine Brücke? Kann ich das nicht machen?“
     „Ich weiß nicht. So gut kenn ich mich dann doch nicht mit diesem Totenzeug aus. Komm schon, alter Mann, lass dir nicht alles aus der Nase ziehen!“
     „Wulfgar, ich habe dir bereits gesagt, dass es nicht geht“, erinnerte Isaac ihn. „Du brauchst nicht nur eine Brücke, sondern zwei. Eine, auf der der Leerenschreiter hinübergeht und eine, die ihn wieder aus der Leere zurückbringt. Aber damit ist es nicht getan. Die zweite Brücke, auch als Seil bekannt, muss mit dem Leerenschreiter verbunden sein. Und zwar durch Blutsbande. Deshalb hat das immer der Sohn oder die Tochter unseres Priesters übernommen gehabt, wie du sicherlich weißt.“


„Warum ist das wichtig, dass sie durch Blut verbunden sind?“, fragte Tanna.
     „Weil man sich in der Leere leicht verlieren kann. Ich war noch niemals dort, aber laut unserem Priester ist die Leere eine einzige Einöde. Dort existiert kein Raum, keine Zeit, nichts. Es ist deshalb praktisch unmöglich, allein zurückzufinden. Blutsbande jedoch fungieren wie ein Leuchtfeuer und weisen einem den Weg in die Welt der Lebenden zurück. Deshalb können die Geister der Ahnen auch ihre Verwandten besuchen.“
     „Dann also Rahns Sohn oder wir, seine Geschwister. Lu und ich.“
     „Ich mache es!“, meldete sich Lu sofort. „Sag mir nur, was ich tun muss, um so eine Brücke zu werden.“


Doch Isaac ließ die Schultern hängen, gab zu: „Ich habe keine Ahnung…“
     „Was? Du musst doch wissen, wie das geht! Du hast das schließlich selber durchlaufen!“
     „Das habe ich, aber als ich den Ritus des Übergangs durchlief, hatte ich seit zwei Tagen nichts gegessen, sowie nichts getrunken, habe beinahe durchweg meditiert und so viel Blut verloren gehabt, dass ich ohnmächtig wurde, um einen Zustand von Nahtod zu erreichen. Du wirst es mir also nachsehen müssen, dass ich auf die Rituale, die unser Priester dabei abgehalten hat, nicht so sehr geachtet habe.“


Er wandte sich ab, ging eine Weile unruhig hin und her, bevor er stehen blieb und heftig mit dem Fuß aufstampfte.
     „Es tut mir doch leid! Ich wünschte doch auch, dass ich helfen könnte, aber ich kann es nicht…“
     „Kannst du. Du willst nur nicht“, warf ihm Wulf kalt vor. „Weil du Angst vor so einem Rachegeist hast. Dabei weißt du nicht mal sicher, dass er dich nach all der Zeit überhaupt noch finden wird. Und selbst wenn; wir hatten hier schon mal mit so einem Rachegeist zu tun, schon vergessen?“
     Das hatte er nicht. Er hatte schließlich dabei geholfen, ihn zu vertreiben, aber das hier war dennoch etwas anderes. Etwas Gefährlicheres. Etwas Persönliches.


„Ich werde das machen!“, entschied Lu jetzt einfach. „Wenn du bereit dazu bist, in die Leere zu gehen, um Wulf zu suchen, Rahn, meine ich.“
     „Natürlich bin ich das.“
     „Ich danke dir. Also dann: Nichts essen, nichts trinken, meditieren, Blut verlieren. Sonst noch was?“
     Doch Isaac antwortete ihm nicht. Stand nur mit dem Rücken zu ihm und schwieg.
     „Komm schon! Wenn Wulf dir nicht egal ist, wie du sagst, dann antworte mir!“


Isaac schwieg aber weiter, bevor er sich wieder umdrehte und ernst verkündete: „Das wird nicht nötig sein. Ich werde die eine Brücke sein und“, er sah zu Tanna hinüber, „du bist mit dem Leerenschreiter verwandt, richtig?“
     „Stimmt. Ich bin seine Schwester.“
     „Gut. Dann wirst du die andere Brücke sein.“
     „Warum sie?“, forderte Lu verstimmt, zu wissen.
     „Weil sie ein Medium ist. Sie hat bereits eine Verbindung zur Leere. Deshalb kann sie die Geister der Verstorbenen sehen. Mit anderen Worten: Sie ist bereits eine Brücke. Ganz ohne irgendwelche Rituale, die wir nicht kennen.“


Lu gefiel das nicht, dass er nicht helfen konnte, aber er blieb still. Er wollte nur Wulfgar zurückhaben.
     „In Ordnung“, erklärte sich Tanna bereit. „Was sollen wir also tun?“
     Isaacs Gesicht verfinsterte sich. „In erster Linie solltet ihr euch darauf vorbereiten, dass ihr es mit einem mordlüsternen Rachegeist zu tun bekommen könntet.“


Den restlichen Tag verbrachten sie mit Vorbereitungen für das Ritual und mit Warten, denn die Verbindung zur anderen Seite war, laut Isaac, am besten bei Mondlicht.
     Da er seine Verbindung zur Leere erst wiederherstellen musste und glücklicherweise wusste er, wie das zu bewerkstelligen war wählten sie den Platz vorm Grabhügel als geeigneten Ort für das Ritual aus. Er bekam das erste Fleisch seit Jahren zu essen, meditierte halbnackt bei klirrender Kälte und Schnee, und obwohl er normalerweise extrem kälteempfindlich war, waren sie alle beeindruckt davon, wie lange er das aushielt.


Und als Tanna schließlich ihm gegenüber Platz genommen hatte, nahm er sein Messer zur Hand und setzte es an seinem Handgelenk an.
     „Warte! Was machst du da?“, ging Tann erschrocken dazwischen, als er das sah.
     „Um meine Verbindung zur Leere wiederherzustellen, ist es hilfreich, einen Nahtodzustand herbeizuführen.“
     „Was? Das kann doch nicht dein Ernst sein! Du kannst dabei sterben!“
     Isaac lächelte beruhigend, was die Szene noch grotesker machte. „Deswegen musst du auch die Blutung stoppen, sobald ich ohnmächtig geworden bin. Bis dahin sollte der Leerenschreiter sowieso den Übergang geschafft haben und mich nicht mehr brauchen.“
     Er wollte wieder ansetzen, aber Tann entwendete ihm einfach das Messer.


„Nein! Nein! Nein! Das lasse ich ganz bestimmt nicht zu!“ Als alle ihn verständnislos anstarrten, beeilte er sich, hinzuzufügen: „Als Heiler ist es meine Aufgabe, Leben zu bewahren. Ihr könnt also nicht von mir verlangen, dass ich danebenstehe, während er seines so leichtfertig aufs Spiel setzt!“
     „Bitte, Tann! Das ist vielleicht unsere einzige Chance, Wulf zu retten!“, bat Lu ihn inständig.
     „Tut mir ja leid, Lu, aber nicht so. Du kannst doch nicht ein Leben für ein anderes opfern.“
     Tann sah jedoch mit Schrecken in Lus Augen, dass er sofort bereit dazu war, Isaacs Leben für das seines Liebsten zu opfern. Er war ja sogar bereit dazu gewesen, sein eigenes zu geben. Aber Tann war das nicht. Er würde Isaacs Leben ganz sicher nicht für Wulfgars opfern.


Doch es war nicht Lu, auf den er hätte achten sollen. Abgelenkt von ihm, bekam Isaac seine Chance, sich sein Messer zurückzuholen. Bevor Tann auch nur reagieren konnte, hatte er sich die Pulsadern aufgeschnitten und Tann konnte nur noch dabei zusehen, wie das Blut anfing, seine Arme und den Schnee rot zu färben. Ihm wurde augenblicklich eiskalt, als er das sah.
     Danach dachte er nicht mehr. Er sah nur noch das Blut, das er schon zweimal gesehen hatte. Damals, als sie seiner schreienden Tochter das Bein abgeschnitten hatten und dann davor, als es nicht hatte aufhören wollen, zu fließen. Als er sie verloren hatte. Ein Gefangener der Angst. Und auch jetzt griff sie wieder mit kalten Fingern nach ihm.


Doch diesmal ließ er sich nicht von ihr fesseln. Er stürzte ins Haus, rannte ins neu angebaute Kinderzimmer, dass die Kleinen wach wurden und zu schreien begannen. Doch er beachtete sie nicht, schnappte sich die Stoffballen, die er zum Verbinden benutzte und rannte wieder hinaus, sammelte unterwegs seine Kräutertasche ein und kehrte zum Ritualplatz zurück. Die Blutlache war inzwischen viel zu groß geworden, was ihn erschreckte, zu sehen.


Sofort kniete er sich neben den Verwundeten, der ihn nicht einmal bemerkte, griff nach seinem Armen und wollte beginnen, die Wunde zu verbinden, aber man ließ ihn nicht. Jemand hatte nun ihn am Arm, zog an ihm. Er schlug danach, sagte: „Lass mich!“, doch es wurde weiter an ihm gezogen, bis er auf den Beinen stand. Da sah er nach, sah Lu ins Gesicht.
     Er riss sich los. „Ich sagte, lass mich!“, knurrte er wütend. „Wenn er stirbt, werde ich dir das nie verzeihen!“


Ein erschrockenes und gleichzeitig grimmiges Gesicht vor ihm, aber Tann ignorierte es. Es war ihm egal, was alle anderen dachten. Wer es sah. Er hatte nur noch Augen für den Verwundeten. Für Isaac, der ihn jetzt endlich bemerkt hatte und ihn müde ansah. Er entzog ihm seinen Arm einmal, aber für einen zweiten Anlauf hatte er schon keine Kraft mehr.
     „Tann, lass mich“, brachte er heraus. „Es ist noch zu früh…“
     „Sprich nicht! Schone deine Kräfte.“
     Er schluckte schwer, beendete den Verband. Auch das hatte er schon einmal gemacht. Doch es durfte nicht wieder so enden – nie wieder durfte es das. Er würde nie wieder zulassen, dass er jemanden verlor, den er liebte.
     „Ich hol dich hier raus.“


Er drückte ihn an sich, schob die Arme unter die Knie des inzwischen Bewusstlosen, wollte ihn anheben und mitnehmen, aber da hatte er plötzlich eine Hand auf dem Arm. Er blickte Tanna ins Gesicht.
    „Tann, ich weiß, dass du ihn nicht verlieren willst“, sagte sie sanft zu ihm, „aber du musst ihn hier lassen. Ob jetzt hier oder woanders – du kannst ihn doch überall beschützen, nicht wahr?“
     Tann sah sie an, als würde er nicht verstehen, was sie sagte, aber immerhin ging er nicht.
     „Trinken“, sagte er abwesend. „Er braucht Wasser.“


Tanna nickte jemandem zu, der ging, um Wasser zu holen. Während Tann dasaß, Isaac in seinen Armen, von seiner Angst verzehrt wurde und mit zitternden Händen versuchte, die Schafgarbe aus den Untiefen seiner Kräutertasche zu fischen und allen Anwesenden dabei zeigte, was er eigentlich geheim hatte halten wollen.
     Glücklicherweise waren zwei von ihnen aber bereits ohne Bewusstsein.


Rahn erwachte an einem nebligen Ort, den er trotz der schlechten Sicht sofort als den Nebelsee erkannte. Was wohl daran lag, dass die dunkle Gestalt eines riesigen Panthers vor ihm geradezu aus den gespenstisch hellen Nebelschwaden herausstach. Er saß vor ihm, sah ihn aus seinen unergründlichen Augen heraus an, bevor er sich geschmeidig erhob und davonging. 
     Rahn zögerte nicht, ihm zu folgen. Der Waldgeist hatte ihm in der Vergangenheit schließlich schon einmal zuverlässig geholfen, und momentan war er für jede Hilfe dankbar. Denn wenn dies hier tatsächlich die Leere war, die Welt zwischen dem Diesseits und dem Jenseits, hatte er keine Ahnung, wo er mit dem Suchen anfangen sollte.


Das riesige Raubtier führte ihn geradewegs aus dem Wald hinaus. Es ging eine Weile über die weite Ebene, und irgendwann erkannte Rahn, dass sie Richtung Ahn-Haus gingen. Doch schon bevor er das erkannte, bemerkte er, dass etwas anders war als sonst. Die Ebene, über die sie gingen, war nämlich vollkommen leer. Sein Zuhause, die Nachbarn, selbst vom Handelsposten war nichts zu sehen. Zudem schien alles um ihn herum erstarrt. Kein Lüftchen wehte, die Bäume und Gräser standen unnatürlich still. Sie begegneten keinem einzigen anderen Tier. Natürlich war auch der Schnee verschwunden.
     Auch vom Ahn-Haus fehlte jede Spur. Doch es war auch nicht dort, wo sie hielten.


Sie ließen selbst diesen Ort hinter sich, erreichten schließlich den Kessel, in dem sich das Wasserloch des Ahn-Stammes befand. Und dort fanden sie endlich jemand anderen. 
     Eine Frau saß am Ufer des Sees und starrte ins spiegelglatte Wasser. Ihr Haar war so auffallend rot, dass sie nicht zu übersehen war. Obwohl es viele Jahre her war, dass er sie zuletzt gesehen hatte, war er sich ziemlich schnell sicher, wen er hier vor sich hatte. 
     „Tante Ane?“, probierte er.


Die Frau sprang erschrocken auf, wirbelte herum und sah ihn feindselig an. Es war zwar nicht überraschend, dass sie scheinbar nicht mehr lebte, war sie doch so alt wie sein ebenfalls inzwischen verstorbener Vater gewesen, aber sie ausgerechnet hier zu sehen, wo sie doch weggegangen war, war merkwürdig. Hier. So jung, wie er sie in Erinnerung hatte. Sie musste früh gestorben sein.
     „Bleib zurück! Ich kann mich wehren!“, warnte sie ihn.
     „Ich möchte dir nichts tun“, versicherte er und trat einen Schritt näher an sie heran. „Erkennst du mich nicht? Nun, wir haben uns ja auch ewig nicht mehr gesehen. Ich bin es, Rahn.“


Sie musterte ihn misstrauisch von oben bis unten. „Mach dich nicht über mich lustig! Du bist nicht Rahn! Du bist ja ein alter Mann, und Rahn ist ein kleiner Junge!“
     „Das war ich damals, als wir uns das letzte Mal sahen, das stimmt. Seitdem ist aber viel Zeit vergangen. Ana ist inzwischen auch kein kleines Mädchen mehr.“
     „Ana? Woher kennst du meine Tochter?“
     „Ich sage doch, ich bin Rahn.“
     „Du bist nicht Rahn! Rahn ist ein Kind!“, blieb sie stur.
     Irgendetwas stimmte hier nicht. Als wüsste sie gar nicht, dass sie tot war.
     Er musste etwas anderes versuchen. Also fragte er etwas, das Ana sicherlich an seiner Stelle gefragt hätte: „Tante Ane, warum bist du damals eigentlich weggegangen? Und warum hast du Ana nicht mitgenommen?“


Ane war damals einfach von jetzt auf gleich verschwunden gewesen, dass sie angenommen hatten, dass sie zusammen mit seinem Onkel fortgegangen war, der ebenfalls danach verschwunden gewesen war. Und das ohne ihre kleine Tochter Ana, für die damals eine Welt zusammengebrochen war. Er erinnerte sich noch gut daran, wie das immerzu kratzbürstige Mädchen tagelang geweint und mit niemandem gesprochen hatte, bis sie es irgendwann zugelassen hatte, Teil seiner Familie zu werden.


„Was redest du da? Meine kleine Ana ist Zuhause, und wenn ich hier fertig bin, werde ich zu ihr gehen.“
    „Ich sage dir doch, dass Ana kein Kind mehr ist.“ Er streckte ihr die Hand hin. „Wenn du mir nicht glaubst, dann lass uns zu ihr gehen und du wirst sehen, dass sie inzwischen erwachsen ist.“
     „Nein! Ich weiß nicht, wer du bist, aber lass mich in Ruhe!“
     Sie wandte sich von ihm ab, um weiter ins Wasser zu starren. So wurde das nichts.


Er dachte eine Weile nach, wie er sie nur erreichen konnte, dann fragte er sie: „Du sagst, du gehst nach Hause, wenn du hier fertig bist, aber was tust du hier eigentlich?“
     Sie zuckte zusammen, wirbelte wieder herum und starrte ihn an. Sie wusste wirklich nicht, dass sie tot war, wurde ihm klar.
     „Schau mich an, Tante Ane!“, sagte er eindringlich zu ihr. „Ich bin es, Rahn. Der kleine Junge von damals. Ich kenne dich und Ana, und auch wenn ich Anas Vater nie kennengelernt habe, weiß ich auch von ihm. Du hast immer ganz liebevoll von ihm erzählt, und Ana war immer so stolz auf ihn. Sie hat ihren einzigen Sohn nach ihm benannt. Und sie war am Boden zerstört, als du plötzlich weggegangen bist. Aber sie hat dennoch tapfer weitergemacht. Hat gekämpft. Und heute hat sie ihr eigenes Leben. Ihre eigene Familie.“
     „R…Rahn?“    


Plötzlich bemerkte er, dass sie größer wurde, oder besser gesagt: er wurde kleiner. Er war wieder ein Kind. Und als sie jetzt fassungslos seine Wange berührte, war er plötzlich in der Vergangenheit.


Ihre weit aufgerissenen Augen, die ihn anstarrten. Ihre Überraschung. Ihr Schreck. Ein dunkler Schatten hinter ihr. Er erkannte ein Gesicht, das viele Jahre ein Fremder für ihn gewesen war, sah den Stein in seinen Händen und die Blutlust in seinen Augen. Die Augen, die sich als nächstes auf ihn richten würden. Ein Schrei, den er vergessen hatte und der erst endete, als er sie zur Seite schubste, weg von dem todbringenden Schlag. Sie fiel auf die Knie, hielt ihren Kopf. Der Schatten hinter ihr verschwand.


„Onkel Lyca… er… hat dich getötet… und ich habe es gesehen“, flüsterte er entgeistert. „Ich habe es gesehen, und ich habe es vergessen.“
     „Nein! Nein! Das kann nicht sein! Ich kann nicht tot sein! Ich kann nicht…“ Ihr verzweifelter Blick traf ihn. „Wer kümmert sich denn jetzt um Ana? Was soll sie denn nur ohne mich tun? Sie hat doch schon ihren Vater verloren… sie hat doch niemanden mehr…“
     Sie brach zusammen und in Tränen aus, und da kam Rahn endlich wieder zu sich.
     „Sie hatte uns“, erzählte er ihr behutsam. „Und ich habe dir doch erzählt, dass sie heute eine eigene Familie hat“
     „Ich will sie sehen. Ana. Meine Tochter.“


Rahn nickte und brachte sie dorthin, wo das Haus des Ahn-Stammes war. Oder wo es sein sollte, zumindest. Doch es war nicht da. Die Häuser waren noch immer verschwunden.
     „Das verstehe ich nicht“, war er verwirrt. „Es müsste eigentlich hier sein.“


Aber statt des Hauses, stand tatsächlich die kleine Ana bei ihrer alten Wohnhöhle. Als Ane sie sah, war sie sofort bei ihr. Und sie konnte sie sogar berühren. In den Arm nehmen.
     „Das stimmt so nicht. Ana ist kein Kind mehr. Und ich bin es auch nicht mehr. Ich bin inzwischen ein Greis.“


Plötzlich tauchte sogar ein Mann auf, den Rahn nicht kannte, um Ana und Ane in den Arm zu nehmen. Anhand von Anas freudigem Ruf nahm er an, dass es sich hierbei um Alek handelte, Anas Vater.
     Und plötzlich wusste Rahn, was los war.


„Das hier ist nicht die Wirklichkeit“, stellte er fest, ging zu dem einzig anderen Menschen, der außer ihm hier war. „Tante Ane, du musst akzeptieren, dass das nicht länger die Wirklichkeit ist. Dies ist die Vergangenheit.“
     „Wie kannst du das nur sagen? Sieh doch, sie sind hier. Meine Familie. Du hattest unrecht; es ist alles gut.“
     „Das ist es nicht, und das weißt du auch. Ana hat ihren Vater nie kennengelernt. Er ist noch vor ihrer Geburt gestorben.“
     „Nein! Das – “
     „Bitte, Tante Ane! Du musst es akzeptieren! Ich kann Ana nicht erzählen, was wirklich passiert ist, wenn du es nicht akzeptiert und mich nicht zurückgehen lässt.“    


Er wusste nicht, ob er überhaupt zurückkehren konnte, aber er wusste, dass das hier nicht die Geisterwelt war. Oder die Leere. Er hatte es, ehrlich gesagt, nicht ganz verstanden. Er wusste nur, dass er Wulfgar hier nicht finden würde.
     „Du willst sie doch sehen. Ana, meine ich. Du willst doch, dass sie die Wahrheit erfährt, oder? Die echte Ana und nicht dieses Trugbild hier. Damit sie dich nicht länger hasst.“
     „Sie… hasst mich?“, fragte Ane erschrocken.
     „Ja“, berichtete Rahn traurig. „Sie denkt, dass du sie zurückgelassen hast. Aber ich kann ihr die Wahrheit erzählen.“
     Ane schaute ihn lange Zeit an, bevor sie sich ein letztes Mal der Illusion ihrer kleinen Tochter zuwandte. Aber schon jetzt, als sie sie berührte, ging ihre Hand durch das Mädchen hindurch. Sie verblasste, wie auch ihr Vater verschwand.


Und mit ihrem Verschwinden, wurde auch Rahn wieder der Alte. Anes Gesicht war inzwischen tränenüberflutet.
     „Danke, Tante Ane. Wenn ich zurückgekehrt bin, werde ich es Ana gleich sagen gehen. Aber vorher muss ich dich noch etwas fragen. Ich suche jemanden. Vielleicht – “


Doch in diesem Moment tauchte plötzlich der Panther neben ihr auf, den er völlig vergessen hatte, und als er in dessen stechende Augen sah und von ihnen in seinen Bann gezogen wurde, wurde er zurückgerissen. Das letzte, was er hörte, war eine Stimme, die ihm sagte: „Du hast bekommen, was zu dir gehörte, also geh! Du gehörst nicht hierher!“
     Er entfernte sich immer schneller, fiel einen Augenblick in tiefste Dunkelheit, bevor die Farben in seine Welt zurückkehrten. Das Gefühl. Wind an seiner Haut. Die Schwere seines Körpers.
     Er war wieder am Leben.
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