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Mittwoch, 29. Januar 2020

Kapitel 106 - Räubervater



Wulfgar war am vorigen Abend nicht mehr zum Landgut zurückgekehrt, weshalb Lu am nächsten Morgen schon früh beim jüngeren Wulf auf der Matte stand. Wohl viel zu früh für dessen Geschmack.
     „Wer trinkt, der muss auch aufstehen können“, scheuchte Lu erbarmungslos. „Na los! Du solltest etwas essen, und dann habe ich ein paar Fragen an dich.“


Wulf quälte sich auf die Beine, aber es dauerte trotzdem noch eine Weile, bis er überhaupt: „Was willst du denn von mir?“, herausbekam.
     „Nun, wissen, warum du behauptest, dass Wulf, der von dem du deinen Namen hast, deine Mutter umgebracht hat, beispielsweise.“
     Der Verkaterte sah ihn jetzt an, als spräche er eine andere Sprache, aber dann dämmerte ihm schließlich. „Warte!... Das gestern war kein böser Traum? Das Arschloch war hier?“
     „Nein, es war kein Traum, und ich wäre dir sehr bedankt, wenn du meinen Gefährten nicht beleidigen würdest“, rügte Lu ihn, bevor er seine Frage bezüglich Wulfs Mutter wiederholte.


„Weißt du, dass mich das echt nervt, dass du ihn bei meinem Namen nennst?“, versuchte Wulf auszuweichen, was Lu aber nur mit Schweigen und einem auffordernden Blick beantwortete. „Ist ja gut! Ist nicht so, dass dieser… Kerl sie abgestochen hat oder so, aber er ist für ihren Tod verantwortlich.“
     „Und wie das?“
     Wulf fuhr sich übers Gesicht. „Kann ich nicht erst was essen? Oder… trinken?“
     „Nein.“


„Na fein! Wenn du es so unbedingt wissen willst: Seitdem dieser… Typ wieder abgehauen ist, hat Vater andauernd von ihm gefaselt. Davon, dass er es ja so bereut, dass sie im Argen auseinandergegangen sind und wie toll der doch war, wie viel ich mir von ihm mal eine Scheibe abschneiden solle und wie sehr er ihm am liebsten folgen würde und – ja – dass er ihm einfach folgen sollte. Meine Mutter hatte dauernd Angst, dass der Drecksack irgendwann einfach verschwunden sein würde. Wer macht denn sowas, hä? Seine Frau so in Angst und Schrecken zu versetzen und seiner Familie das Gefühl zu geben, dass sie Ballast ist, die ihn nur davon abhält, endlich frei zu sein und in die Welt hinauszugehen?“
     Er hatte wirklich mit seiner Wut zu kämpfen, fiel Lu auf. Das musste ein überaus schweres Thema für ihn sein. Wahrscheinlich lag da die Wurzel des Übels dessen, dass er angefangen hatte zu trinken.


„Ich verstehe, dass du deswegen eine Abneigung gegen Wulf entwickelt hast“, sagte Lu einfühlsam zu ihm, „aber das hat deine Mutter ja nicht umgebracht.“
      „Oh doch, das hat es!“, erwiderte Wulf mit schwerlich gezügelter Wut. „Ich weiß nicht warum, aber meine Mutter hat meinen Vater wirklich geliebt. Doch sie war ihm vollkommen egal. Er war geradezu besessen von diesem… Kerl da. Und Mutter war deswegen immer nur unglücklich. Sie hat sich immer mehr zurückgezogen, ist immer trauriger geworden. Hat immer weniger gegessen. Und als sie krank wurde, hat sie nicht einmal mehr dagegen angekämpft. Sie hat einfach aufgegeben.“
      Plötzlich geriet er völlig außer sich, und der Schmerz, der dabei in seinem Gesicht zutage trat, ging Lu wirklich nahe. „Weißt du, was sie sagte, kurz bevor sie starb? Sie lächelte ihn an und sagte zu ihm: „Jetzt bist du ja endlich frei.“ Er hat nicht mal was dazu gesagt, und sie ist einfach gestorben.“


Lu sah, dass Wulf die Tränen kamen, aber bevor sie über die Ufer treten konnten, hatte er sich abgewandt, und Lu ließ ihn. Die meisten Männer, die er kannte, waren zu stolz, um anderen ihre Tränen zu zeigen.
     Eine Weile schwieg er und weinte still, dann wischte er sich über die Augen, und da wusste Lu, dass er jetzt auch wieder sprechen konnte. 
     „Das tut mir ehrlich leid für dich, Wulfgar. Aber du solltest andere Menschen trotzdem nicht nach dem beurteilen, was du über sie gehört hast, ohne sie nicht auch zu kennen. Ich weiß, dass das vielleicht etwas herzlos von mir klingen mag, aber Wulf selber hat dir nichts getan.“


Der jüngere Wulf sah das scheinbar nicht so. Doch obwohl er so aussah, als würde er widersprechen wollen, begnügte er sich damit, mit den Zähnen zu mahlen. Nach einem Moment hatte er sich wieder beruhigt ein bisschen zumindest.
     „Weißt du, was das Ironische an der ganzen Sache ist?“, sagte er dann. „Dass du meinem Vater so verdammt ähnlich siehst, dass ich für einen Moment echt dachte, ihn vor mir zu haben, als ich dich das erste Mal gesehen habe. Da wollte ich nur noch abhauen. Und als ich sah, dass er es natürlich nicht war, wollte ich dir nur noch die Faust ins Gesicht hauen. Ich hab dich deswegen echt gehasst am Anfang, weil du aussiehst wie ein Zwillingsbruder von ihm. Aber du bist glücklicherweise nicht wie er. Du bist echt in Ordnung.“
     Lu wusste wirklich nicht, was er davon halten sollte. Was er darauf antworten sollte.


„Ist er zu Luna gegangen?“, fragte Wulf ungewohnt ernst. „Dieser… Kerl, meine ich.“
     „Ja. Ich habe ihm von ihr erzählt. Er sollte wissen, dass er eine Tochter hat.“
     „Ich würde dich ja fragen, wie du das rausgefunden hast, aber es ist ziemlich offensichtlich, was? Ich erinnere mich nur noch verschwommen an mein gestriges Treffen mit…. ihm... aber selbst mir ist aufgefallen, wie ähnlich sie sich sehen. Alle haben immer gesagt, dass Luna total nach ihrem Vater kommt.“
     Lu schwieg da nur wieder. Er wusste immer noch nicht, was er von der Sache mit dieser Luna halten sollte. Er wollte sich ja für sie und Wulfgar freuen, aber diese unsinnige Abneigung gegen sie ließ sich einfach nicht abstellen.
      „Ich hoffe nur, dass er ihr nicht wehtut“, fuhr Wulfs Stimme in seine Gedanken. „Luna ist ein herzensguter Mensch, und ich will nicht, dass ihr irgendwer weh tut.“
     Es war offensichtlich, dass Wulf Luna anhimmelte.


Lu versicherte dem jüngeren Wulf, dass der ältere Wulfgar Luna bestimmt nicht wehtun würde, aber eigentlich war er sich da nicht mal so sicher. Wulfgar neigte dazu, die Dinge ein bisschen rabiater anzugehen als er, aber vor allen Dingen war er manchmal so blind dafür, was um ihn herum geschah, dass es Lu ein bisschen erschreckte. Vielleicht war er auch nur ignorant. Vielleicht wollte er manche Dinge nicht sehen. Wie das mit Lulu beispielsweise. 
     Doch er sagte trotzdem, dass Wulfgar ihr nicht wehtun würde weil was sollte er auch anderes sagen? – und dann gingen sie zusammen nach draußen, um zu frühstücken.
     „Die liegen hier beim Essen. Komisch, nicht wahr?“, plauderte Wulf, aber Lu hörte ihm nicht zu.


Er war abgelenkt worden und er merkte schon, als er sah, wer sie heute bedienen würde, wie ihm jeglicher Appetit verging. Es war Rufus, Julius‘ Lieblingssklave. Als er ihn sah, wurde er daran erinnert, dass da ja noch mehr Dinge waren, die ihn beschäftigen sollten. Wie, dass Wulfgar gestern ihren Gastgeber geschlagen hatte und dass er mit dem ja auch noch ein Wörtchen bezüglich Sklaverei sprechen musste. Das Frühstück verging ihm jedenfalls ganz gehörig.


Als Wulf merkte, dass er stehengeblieben war, drehte er sich zu ihm um und fragte: „Was ist denn? Willst du nichts essen?“
     „Nein. Ich will nicht bedient werden und ganz sicher nicht von armen Menschen, die dazu gezwungen werden.“
     „Ja, die Sklaverei hier ist schon eine arge Sache“, bestätigte Wulf. „Da musst du echt aufpassen, dass die Sklavenhändler dich nicht von der Straße wegschnappen.“


Plötzlich trat Wulf an ihn heran, legte eine Hand an den Mund und erzählte ihm leise: „Ich hab auch gehört, dass der arme Junge da das Spielzeug von diesem Julius-Typen sein soll.“ Er schüttelte den Kopf. „Ich bin echt froh, wenn ich hier weg bin.“
     „Was meinst du mit „Spielzeug“?“, fragte Lu erschrocken nach.
     „Na du weißt schon.“
     Er machte eine ziemliche eindeutige Bewegung mit den Händen, dass Lu sich beinahe verschluckte.
     „Ich hab gehört, dass es hier sogar Häuser geben soll, wo sie Sklaven für sowas anbieten. Bordell nennen die das.“ Nuschelnd fügte er hinzu: „Ich hab’s natürlich nie gesehen, weil ich kein Geld für sowas habe, aber Luna erzählte mir, dass Xanthippe – das ist die Sklavin, die sie sucht – mal in so einem Bordell gearbeitet hat.“  


Lu war noch immer erschüttert von dem, was er gerade gehört hatte, aber da kamen Elrik und Anya dazu und lenkten ihn ab. Die hatte er ja völlig vergessen. Sie tauschten Morgengrüße mit den Neuankömmlingen, die von Wulf brummend erwidert wurden.
     „Anya, wie geht es dir?“, fragte Lu die ehemals Kranke aus Höflichkeit, obwohl er gedanklich noch immer beim vorigen Gesprächsthema war.
     „Bestens! Elrik sagt ja, dass ich ins Bett gehöre, aber ich fühle mich wieder ganz gesund. Von mir aus können wir gleich wieder nach Hause gehen.“


„Wir müssen sowieso erstmal darauf warten, dass Alin wiederkommt“, erwiderte Elrik schnell.
     Er sah jedoch nicht so aus, als ob er sich darauf freute. Wie Lu ihn einschätzte, hätte Elrik auch nichts dagegen gehabt, ein bisschen länger zu bleiben. Es gefiel ihm hier ganz offensichtlich. Trotz der Sklaven. Wahrscheinlich hatte er nicht mal mitbekommen, dass er dauernd mit Sklaven zusammenarbeitete. Er verstand sie ja nicht, und außer das eine Mal, in dem Rufus geschlagen worden war, hatte Lu nicht mehr gesehen, dass die Sklaven hier wirklich schlecht behandelt wurden.


Bevor er aber etwas dazu sagen konnte, schnellte Anyas Finger nach vorne und sie rief; „Guckt! Da ist ja Wulfgar!“
     Tatsächlich kam Wulfgar gerade zur Tür hinein, aber sehr zu Lus Unmut hatte er Luna dabei. Trotzdem erinnerte er sich an seinen Vorsatz und er versuchte zu lächeln, als die beiden nun neben ihm zum Stehen kamen.


Anya war jetzt ganz aus dem Häuschen und gab hochtönige Laute von sich, während sie Luna wie ein kleines, aufgeregtes Kind zu mustern begann. Sie hatten sich noch gar nicht getroffen, fiel Lu auf. 
     „Die sieht ja aus wie Greta!“, befand Anya schließlich ganz aus dem Häuschen. „Guck, Elrik! Die sieht doch aus wie Greta, oder?“
     „Das liegt daran, weil sie meine Tochter ist“, erklärte Wulfgar stolz lächelnd. „Das ist Luna.“
      Luna bekam daraufhin eine Umarmung von Anya ab, bevor sie auch noch mit einem nie enden wollenden Wortschwall von der stolzen Frau des ehemaligen Stammesführers bedacht wurde. Und Luna ließ das milde lächelnd über sich ergehen.


„Ich sehe, ihr habt Anya gefunden“, merkte Wulfgar derweil an.
     Elrik nickte und fragte dann: „Du hast eine Tochter?“
     „Ja, aber ich wusste es bis vor ein paar Stunden auch nicht.“
     Während Lu sich dazu zwang, tapfer zu lächeln, obwohl ihm zum Kotzen zumute war. Wulf wirkte nicht besser aus. Er mahlte schon wieder mit den Zähnen und sah aus, als ob er seinen Namensvetter demnächst wieder attackieren wollte. Er musste ganz dringend von hier weg. Und nicht nur er. Lu auch. Er konnte das hier einfach nicht mehr ertragen.


Doch bevor er Wulf entfernen konnte, tat der sich selber den Gefallen und ging. Wulfgar wurde dadurch auf ihn aufmerksam und machte einen Schritt nach vorn, aber Lu war schneller und ging dem Fliehenden nach. Wie er Wulf kannte, war er bestimmt unterwegs zum nächsten Weinkrug, und das würde Lu zu verhindern wissen.


Entgegen Lus Befürchtung fand er Wulf jedoch nicht in der Küche. Er fand ihn nirgends. Der Jüngere war ganz plötzlich wie vom Erdboden verschluckt und das machte ihm ganz schöne Sorgen.


Doch als Wulfgar plötzlich ankam, der Ältere und nicht der, den er suchte, wurden seine Gedanken davon abgelenkt.
     „Wo ist denn Klein-Wulf? Ich wollte eigentlich mal mit ihm reden.“
     Lu zwang sich, seinen Fluchtdrang zu unterdrücken und so auszusehen, als wäre alles in Ordnung.


„Ich glaube ja nicht, dass du das gerade tun solltest“, erklärte er nüchtern.
     „Warum nicht? Ich will das mit seiner Mutter geklärt haben. Ich hab ihr nichts getan, und Luna hat mir das auch bestätigt.“
     Lu wollte wirklich nicht mit Wulfgar darüber sprechen. Über diesen merkwürdigen Isaac. Über den Kerl, der scheinbar besessen von Wulfgar war und der ihm, Lu, so ähnlich sah. Er wollte nicht einmal darüber nachdenken, was das bedeutete.
     „Du hast doch aber bestimmt schon bemerkt, dass er gerade ganz andere Probleme hat“, wiegelte er also ab. „Lass ihn sich erstmal darum kümmern und dann kannst du mit ihm reden.“
     „Und so lang soll ich gar nichts tun?“
     „Ja.“ Lu sah sich um und nutzte die Gelegenheit, Distanz zwischen sich und Wulfgar zu bringen. „Ich kümmere mich schon um ihn, aber ich muss ihn erstmal finden.“


Er wollte gehen, aber plötzlich hatte Wulfgar ihn am Arm.
     „Sag mal Lu, ist alles okay?“, wollte er wissen. „Es ist doch nichts passiert, als ich weg war, oder?“
     Lu rang sich ein Lächeln ab. „Es ist alles gut“, log er.


Da kam Wulfgar plötzlich näher – zu nahe – und legte ihm liebevoll lächelnd eine Hand an die Wange. 
     „Gut. Ich hab mir nämlich Sorgen um dich gemacht“, sagte er. „Ich konnte nicht mal dahin fahren, wo ich hin sollte. Ich hab Alin drum gebeten, mich wieder an Land zu lassen und bin dann so schnell wie möglich hergekommen, weil ich mir so Sorgen um dich gemacht hab.“
     Lu fühlte einfach gar nichts. Nicht einmal mehr Unbehagen. Als ihm das aufging, riss es ihm beinahe den Boden unter den Füßen weg und er glaubte tatsächlich für einen Moment, dass er fallen würde.
     Doch bevor er auch nur weiter darüber nachdenken konnte, bevor Wulfgar ihn noch küssen konnte, wurden sie unterbrochen.


„Lu!“ Es war der gesuchte Wulf, der plötzlich auftauchte und wie ein Gehetzter vor ihm zum Stehen kam. Wulfgar hatte sich da glücklicherweise schon wieder von ihm entfernt.
     „Was ist denn los?“, fragte Lu besorgt.
     „Schnell Lu, du musst weg von hier!“
     Wulf griff nach seinem Arm, zog an ihm, aber Lu entwand sich seinem Griff sofort wieder. 
     „Warte! Nicht so schnell! Was ist denn los?“, forderte er zu wissen.
     „Da ist jemand, der dich umbringen will!“


Sofort war nicht nur Lu alarmiert.
     „Was?“, fragte Wulfgar.
     „Wer?“, fragte Lu.
     „Ist doch egal! Komm einfach!“
     „Nein, antworte auf die Frage, Wulfgar!“
     „Ich glaub nicht, dass du das wissen willst“, meinte Wulf, bevor er zögerlich rausrückte: „Du erinnerst dich doch bestimmt noch an die Räuber, die wir ausgetrickst haben, oder?“
     „Ja, und?“


„Naja, wie sich rausgestellt hat, sind sie allesamt mausetot.“
     „Was? Das kann nicht sein!“, wehrte Lu ab. „In dem Wein waren nur Schlafkräuter!“
     „Scheinbar nicht. Zumindest ist da ein echt wütender Kerl, der sagt, dass du seinen Sohn umgebracht hast und der dich tot sehen will. Und er ist nicht allein. Samuela versucht gerade zu vermitteln, aber sie sagte mir, dass ich dich wegbringen soll, weil die Kerle echt gefährlich sind.“
     Doch Lu hörte ihm schon nicht mehr zu. „Tot?“, flüsterte er entgeistert. „Das… kann nicht sein…“
     „Komm jetzt! Schnell!“
     Wulf zog schon wieder an ihm, aber Lu entzog sich ihm erneut. „Nein! Ich werde nicht weglaufen“, sagte er fest. „Ich werde zu ihm gehen und mit ihm reden.“
     „Hast du nicht zugehört? Diese Leute sind gefährlich! Die lassen nicht mit sich reden! Die bringen dich ohne mit der Wimper zu zucken um!“


Das war der Moment, in dem Wulfgar sich schließlich einmischte. Auch das noch! 
     „Kann mir eigentlich mal jemand erklären, was hier los ist?“
     Lu wusste, dass Wulfgar ihn nie gehen lassen würde, deshalb wollte er ihm eigentlich nichts davon erzählen. Er konnte es ja selber noch nicht glauben, was da passiert war. Dass diese Räuber alle tot sein sollten. Wegen ihm. Vielleicht war es nur ein Missverständnis.
     Obwohl er hoffte, dass die Abneigung des Jüngeren dem Älteren gegenüber groß genug war, dass auch er nichts erzählte, tat er das nach einer kurzen Pause des Unwillens aber tatsächlich. 
     So erfuhr der ältere Wulfgar also, was geschehen war. Und Lu fühlte sich mit jeder Sekunde, die Wulf erzählte, schlimmer. Warum nur hatte er damals so eine Aktion gutgeheißen und dann auch noch mitgemacht? Er wollte am liebsten gehen und das klären, aber Wulfgar ließ ihn nicht. Er hatte ihn am Arm gepackt, nachdem er es einmal versucht hatte und ihn nicht mehr losgelassen. Lu hatte keine Chance gegen ihn. Und es kam noch schlimmer.


„Wieso hast du sowas nur gemacht?“, stellte ihn Wulfgar schließlich zur Rede. „Dir hätte sonst was passieren können!“  
     „Ist es aber nicht! Und jetzt lass mich gehen, damit ich das klären kann!“, gab Lu bissig zurück.
     „Oh, das wird geklärt werden! Ich gehe da hin und wenn der ein Problem mit dir hat, dann kann er mich mal gerne kennenlernen!“
     „Ich kläre das selber. Ich bin schließlich dafür verantwortlich, dass… sie tot sind.“
     „Das waren Räuber, Lu“, entgegnete Wulfgar verständnislos. „Die haben gekriegt, was sie verdient haben. Wenn sie nicht einen gewaltsamen Tod sterben wollten, hätten sie sich nicht auf diesen Weg stellen und Leute überfallen sollen. Da brauch man sich nicht zu wundern, wenn dann doch mal jemand vorbeikommt, der sich wehren kann und es auch tut.“
     „Da hat er recht“, pflichtete Wulf ihm bei.
     Lu warf ihm einen Blick zu, der ihn sofort schweigen ließ, der den älteren Wulfgar aber leider überhaupt nicht beeindruckte.


Als er einen erneuten Versuch zu gehen wagte, hatte Wulfgar ihn schon wieder am Arm.
     „Ich sagte, dass du mich loslassen sollst! Ich habe das angerichtet und ich werde mich diesem Mann auch stellen.“
     „Ganz sicher nicht! Er wird dich töten!“
     „Und wenn er das tut! Es ist meine gerechte Strafe für das, was ich angerichtet habe!“
     Er und Wulfgar sahen sich lange Zeit an, und es war Lu, als ob er einen Fremden vor sich hatte. Vor allen Dingen, als Wulfgars Gesicht sich plötzlich verfinsterte.


Trotzdem ließ er ihn kurz darauf los und sagte: „Na schön! Geh! Aber ich werde mit dir kommen. Niemand wird dir wehtun, solange ich da bin.“


Lu fühlte sich wie in einem schlechten Traum, als er in den Innenhof einkehrte, wo die Situation schon gehörig am Brodeln war. Da waren vier mit Schwertern bewaffnete, grimmig aussehende Männer, von denen einer die Herausgabe des Mörders seines Sohnes forderte. Und ihnen gegenüber stand Samuela mitsamt Dienerschaft, Elrik, Anya und Luna – allesamt unbewaffnet und wehrlos.
     Obwohl es wie immer kochend heiß war, wurde Lu plötzlich eiskalt, als er das sah.


„Und deshalb ist mein Junge jetzt tot?“, schoss der Andere aufgebracht zurück. „Erzähl mir keinen Mist, Mann, und stell dich mir!“
     „Vielleicht handelt es sich auch nur um ein Missverständnis“, versuchte Lu zu beschwichtigen, bevor er sich hilfesuchend an Samuela wandte. „Wir haben die Räuber betäubt, aber sie waren am Leben, nicht wahr?“
     Doch schon Samuelas Gesichtsausdruck sagte ihm, dass das nicht stimmte.


„Tut mir leid, aber als meine Leute sie fanden, waren sie alle tot“, eröffnete sie betroffen.
     „Aber es waren doch nur Schlafkräuter!“


„Mein Bruder hat schon lange davon geredet, dass er die Räuber aus dem Weg haben will. Ich fürchte, dass er Gift in den Wein getan hat anstatt deine Kräuter.“
     Lu erinnerte sich, dass Julius tatsächlich davon gesprochen hatte, den Wein vorzubereiten. Konnte das wirklich sein?


„Es ist mir egal, ob er es war!“, mischte sich der wütende Räubervater ein. „Du hast ihn ins Lager gebracht und dafür wirst du büßen! Den anderen Kerl werde ich mir später vornehmen.“
     „Warte! Wir können doch darüber reden…“
     „Darüber gibt es nichts zu reden! Du hast meinen Sohn umgebracht, du Schweinehund!“
     Lu war erschrocken, aber er war noch erschrockener, als der Mann jetzt auf ihn zustürmte, das Schwert blitzte in seiner Hand. Eigentlich wollte Lu stehen bleiben, er wollte büßen für das, was er getan hatte, und deshalb war es nur richtig, dass er sterben würde, aber dennoch hatte er plötzlich eine Heidenangst.


Doch natürlich kam Wulfgar zu seiner Rettung, als er sah, dass es brenzlig wurde. Er wehrte den Schlag seines Gegners mit Leichtigkeit ab und stellte sich schützend vor ihn. Als Lu ihn vor sich stehen sah, kehrte seine Entschlossenheit zurück. Er hatte es akzeptiert.
     „Geh aus dem Weg!“, forderte der Räubervater.
     „Ganz sicher nicht! Wenn du Lu willst, musst du erst an mir vorbei!“


Also trat er an Wulfgar heran, legte eine Hand auf seinen Arm und sagte: „Bitte, Wulf, es ist in Ordnung! Er hat ein Recht darauf, mich zu töten.“
     Er musste trotzdem ein paar Tränen schlucken. Es war nach wie vor ein bisschen beängstigend, dass er bald sterben würde. Er lächelte tapfer.
     „Sag mal, spinnst du? Glaubst du wirklich, dass ich dich sterben lasse?“
     Er wollte ihn zur Seite schieben, aber Lu stellte sich sofort wieder neben ihn.
     „Bitte, das ist es, was ich will!“, bat er inständig. „Sag Luis von mir, dass… sag ihm, dass es mir leid tut. Dass ich ihm nicht geholfen habe. Dass ich ihn im Stich gelassen habe. Und sag ihm, dass ich stolz auf ihn bin.“


Da ließ Wulfgar schließlich sein Schwert sinken, um sich ihm zuzuwenden und ihn so getroffen anzusehen, wie Lu es selten gesehen hatte. Seit damals nicht, als Ragna gestorben war.
     „Und was ist mit mir?“, wollte er mit brechender Stimme wissen, aber Lu hatte keine Antwort darauf.


Stattdessen zwang er sich, auf seinen Gefährten zuzugehen. Er spürte, wie Wulfgar unter seiner sachten Berührung zusammenzuckte, und für einen Moment nur war alles noch in Ordnung und dann kamen Lu die Tränen doch. Damit Wulfgar es nicht sah, küsste er ihn. Ein allerletztes Mal. Als er sich wieder von ihm löste, hatte er den Kopf schon längst gesenkt.
     „Danke, Wulf, für alles!“
     Er hätte sagen sollen, dass er ihn liebte, aber das konnte er nicht.


Dann drehte er sich um und sah dem Vater, dem er den Sohn genommen hatte, befreit entgegen. Er streckte die Arme aus. „Ich bin bereit zu bezahlen. Töte mich!“
     Der andere Mann sah ihn wütend an, dann hob er seinen Schwertarm und Lu sah seinem Tod entgegen. Und er war bereit dafür. Wenn er nicht starb, würde er nie dafür sühnen können, was er getan hatte. Er konnte mit dieser Schuld nicht weiterleben.


Doch statt den Tod zu spüren, wurde er plötzlich zurückgerissen. Er sah etwas Schwarzes an sich vorbeihuschen und er wusste, dass es Wulfgar war. Im nächsten Moment hatte sein Gefährte den Angreifer erneut abgefangen, doch anstatt wieder auf Abstand zu gehen, sah Lu, dass beide erstarrt waren.
    Er war sofort zur Stelle, aber er konnte nur noch feststellen, was er schon befürchtet hatte. Als Wulfgar sich zurückzog, kam eine blutige Schwertklinge zum Vorschein. Der sterbende Mann fühlte ungläubig seine Wunde und da war so viel Blut auf seiner Hand, dass es Lu erschreckte. Überall. Die Augen zuckten zu seinem Mörder, dann gingen sie zu Lu, der unter dem anklagenden Blick erstarrte.
     Im nächsten Moment war da nur noch Wut und er versuchte tatsächlich einen zweiten, sinnlosen Angriff, den Wulfgar erneut unterband. Er hielt ihn fest, während er schrie und zu entkommen versuchte und die dunkle Lache zu seinen Füßen immer größer wurde.


Da verpasste ihm Wulfgar schließlich den Gnadenstoß. Von Bauch aus stieß er seine Klinge direkt ins Herz des Mannes. Ohne mit der Wimper zu zucken. Sein Gesicht so eiskalt, wie Lu es noch nie zuvor gesehen hatte. Wie er es niemals hatte sehen wollen.


Aber er wusste, dass es schon so geschehen war. Er hatte die Geschichten gehört, die Wulfgar ihm nicht hatte erzählen wollen und die er ihm dann doch irgendwann erzählt hatte, weil er es von ihm verlangt hatte.
     „Ich konnte ihn nicht töten, aber ich wünschte, ich hätte es getan. Doch ich war damals noch ein Feigling“, hatte er gesagt.
     „Ich habe den Speer geworfen und ihn damit aufgespießt. Es war das erste Mal, dass ich jemanden getötet habe und es war mir egal.“
     „Der Junge, wegen dem Mari zu den Menschenfressern gegangen war, hatte Angst, aber ich habe trotzdem nicht gezögert. Ich habe ihn nicht mal ausreden lassen.“
     „Er war ein widerliches Schwein, also habe ich von ihm gelernt, was ich brauchte und habe ihn dann umgebracht.“
     „Ich hatte keine Ahnung, ob es stimmte, was man über ihn sagte, aber es war auch nicht wichtig in dem Moment. Ich habe es trotzdem getan. Es war meine Arbeit.“
     Du kannst dir das gar nicht vorstellen. So eine Schlacht. Es war schrecklich. Ich weiß nicht mal, wie viele ich getötet habe an diesem Tag. Ich hatte keine Zeit, sie zu zählen. Es ging einfach immer weiter. Entweder sie oder ich.“


Er sah Wulfgar vor sich, wie er das Schwert aus dem inzwischen leblosen Körper des Räubers gezogen hatte, wie er es säuberte, der Blick, der ihn streifte und da wusste er plötzlich, was es gewesen war, das ihn all die Zeit schon so gestört hatte. Was ihn all die Zeit von Wulfgar davongetrieben hatte. Er hatte Angst vor ihm. 
     Als er das erkannte, zerbrach etwas in ihm und er konnte nichts anderes tun, als hilflos zurück zu stolpern und zu zittern, während Wulfgar nun irritiert einen Schritt auf ihn zu machte. Das Blut zu seinen Füßen, das sich immer mehr ausbreitete. Ihn zu erreichen drohte. Weiteres Blut, das an seinen Händen klebte.
     „Nein! Bleib weg!“, hörte er seine Stimme schreien.


Wulfgar erstarrte, aber er hatte keine Zeit, um sich überhaupt mit ihm zu befassen. Die anderen Kerle, die mit dem Jetzt-Toten gekommen waren, hatten ihre Fassung wiedergefunden und einer gingen nun auf ihn los. Wulfgar empfing ihn mit der jahrelangen Erfahrung eines Kriegers, aber ob er gegen drei gleichzeitig ankommen würde, war fraglich.
     Doch Lu kümmerte das nicht. Er ließ das alles hinter sich und rannte verängstigt davon, wie er es zuletzt getan hatte, als er noch ein Kind gewesen war. Es war einfach alles zu viel. Er wollte das nicht mehr sehen. Er hatte das niemals sehen wollen.
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Hier weiterlesen -> Kapitel 107

Seine Ziehtochter Mari zu verlieren hat Wulfgar damals jeglichen Lebensmut und jegliches Vertrauen in andere genommen. Seitdem hat er nur noch sich selber und seiner Stärke vertraut gehabt, hat sich verschlossen, gestählt und als gleichgültiger Söldner gelebt. Und in dieser Phase hat er auch einige Leute getötet. Er hat zwar grundsätzlich keine Aufträge angenommen, in denen klar war, dass Unschuldige zu Schaden kommen, aber oft war es nicht einmal ersichtlich, ob sein Auftraggeber ihm überhaupt die Wahrheit erzählte. Und da war dann der Punkt erreicht, an dem es Wulfgar egal war. Er hat damals weder dem Leben anderer, noch seinem eigenen großen Wert beigemessen.
     Deswegen kann man sagen, dass viele seiner Opfer zwar den Tod verdient haben, es aber sicherlich auch einige unschuldige Opfer gegeben hat. Er hatte dann glücklicherweise irgendwann die Einsicht, dass das falsch ist und er so nicht weitermachen kann. Auch dank Lu, der für ihn immer wie ein Anker in der Ferne gewesen war. 
     Deshalb hatte Wulfgar auch immer so eine Angst, Lu von diesem Abschnitt seines Lebens zu erzählen. Er hat Angst davor gehabt, dass sein Gefährte ihn verurteilen würde. Aber auch wenn Lu so getan hat, als wäre alles in Ordnung, haben Wulfgars Offenbarungen ihn schwer getroffen und er hat hart daran zu knabbern gehabt, seitdem Wulfgar ihm davon erzählt hat. Und jetzt ist das geschehen, wovor er immer so eine Angst gehabt hatte: Er hat Wulfgar töten sehen. Und wie wir wissen, ist Lu ein überaus friedliebender Mann. Dass er einen Mörder an seiner Seite hat, ist für ihn eigentlich inakzeptabel. 

Was wird nun geschehen? Nächstes Mal sucht Lu nach Antworten und Wulfgar wird vor eine schwere Entscheidung gestellt, die ihn in seine Söldner-Vergangenheit zurückversetzt. 

PS: Da mammut mich auf die Idee gebracht hat, habe ich noch zwei Stammbäume der Leute aus Lao-Pao gemacht, damit es ein bisschen übersichtlicher wird (wie immer: zum Vergrößern draufklicken). Was man hier sieht, sind alles Informationen, die man aus Wulfgars Geschichte und den bisherigen Kapiteln von Zeitalter bekommen hat. Da ist nur eine kleine, winzige Sache drin, die man so noch nicht weiß, aber ich verrate natürlich nicht, was das ist. 
     Von den Personen, die man hier sieht, sind jedoch eigentlich nur Isaac, seine beiden Kinder, eine von Yunns und Ayras Töchtern, und natürlich Luna (und der ältere Wulfgar, aber das ist ja klar) wichtig für den weiteren Verlauf der Geschichte (voraussichtlich).



Bis dahin, danke fürs Vorbeischauen, und ich verabschiede mich!