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Mittwoch, 15. Januar 2020

Kapitel 105 - Wulfgar und Luna



Lu haderte danach nicht lange. Gleich nachdem er das Gespräch mit Samuela beendet hatte, kehrte er schnurstraks ins Haus zurück, um Julius zur Rede zu stellen. Jegliche Scheu, die er zuvor noch vor dem Hausherrn gehabt hatte, war verschwunden. Wenn das, was Samuela erzählte hatte, tatsächlich wahr war, hatte er sich auch gehörig in ihm getäuscht.


Er fand Julius, wie erwartet, im Esszimmer. Doch er war nicht allein. Wulf war bei ihm, und als Lu sah, dass er selig neben einem Weinkrug lag und schlief, war er erstmal abgelenkt. Er hatte Wulf völlig vergessen, musste er sich beschämt eingestehen.
     „Oh nein! Sag mir bitte nicht, dass du ihm Wein gegeben hast?“, fragte er Julius, der sich gerade erhoben hatte und nun etwas irritiert über dem Schlafenden stand.
     „Nun, da du mir deine Gesellschaft verwehrtest, suchte ich nach jemand anderem, der einen guten Wein zu schätzen weiß. Es stellte sich nur leider heraus, dass er den Wein zu sehr schätzte.“
     „Ja, er versucht gerade auch, davon loszukommen. Deshalb wäre ich dir bedankt, wenn du ihm nichts mehr zu trinken gibst.“
     Julius neigte das Haupt, wie er es so oft tat und versicherte: „Wie du es wünschst. Und was verschafft mir die Ehre deines erneuten Besuches, Lu Pulcher? Steht dir der Sinn nun doch nach einem süßen Wein in erhebender Gesellschaft?“


„Eigentlich würde ich gerne etwas mit dir besprechen. Ich habe nämlich gehört, dass ihr hier Sklaven haltet.“
     Lu hatte natürlich nicht vor, Samuela in Schwierigkeiten zu bringen, deshalb würde er ihren Namen auch nicht erwähnen und Julius zunächst einmal wegen den Sklaven auf den Zahn fühlen.
     „So ist es.“
     „Ich denke, dass ihr das nicht tun solltet. Dass es niemand tun sollte. Die Götter haben alle Menschen gleich geschaffen, und sie wandten sich von uns ab, als wir uns gegeneinander wandten. Deshalb werden sie es nicht gerne sehen, dass du andere gegen ihren Willen festhältst und sie zwingst, für dich zu arbeiten.“


„Deine Götter scheinen mir wie jene, denen mein Vater opferte, als er noch eine kleine Hütte sein Heim nannte, die kaum besser war als das Finster einer kärglichen Höhle. Aber diese Götter verehren wir schon seit vielen Gezeiten nicht mehr. Deine Götter sind nicht die meinen, Lu Pulcher, und meine Götter, groß und erhaben, interessieren sich nicht für solch kleinliche Belange Sterblicher. Solange ich ihnen die Opfer darbringe, die sich gehören, und tue, was sie verlangen, werden sie mir wohlgesonnen sein und mir und den meinen wird kein Leid widerfahren. Deshalb – deine Sorge ehrt dich, ehemaliger Schamane, aber sie ist nicht vonnöten.“   
     Dann schwieg er, und auch wenn sich Lu erneut wie ein Landei vorkam, wusste er, dass er diesmal nicht still sein konnte. Er musste etwas gegen diese Ungerechtigkeit tun. 
     „Und was ist mit dir? Wie würdest du es finden, ein Sklave zu sein? Nicht mehr frei darüber verfügen zu können, wo du hingehst, was du tun kannst? Sklaverei ist unmenschlich“, fügte er angeekelt hinzu.
     Julius betrachtete ihn einen Moment lang abschätzend, und er hatte keine Ahnung, ob er gerade in unmittelbarer Gefahr schwebte oder nicht.
     „Gewiss liegt mir meine Freiheit am Herzen, die ich mit harter Arbeit rechtens verdient“, antwortete er schließlich. „So wie auch die Geknechteten ihren Platz verdient. Doch ich sorge für jene unter meiner Obhut gut, dessen sei versichert. In Freiheit würden sie ein Leben in Armut und Elend fristen, ein Leben schlechter als jenes in Knechtschaft bei mir.“


„Ach und deswegen lässt du sie schlagen?“, gab Lu unbeeindruckt zurück. Julius‘ Gesicht verfinsterte sich, aber obwohl es ihn dabei eiskalt durchfuhr, blieb er standhaft. „Knaben, die kaum aus den Kinderschuhen raus sind?“, fügte er stattdessen hinzu.
     Da sah Julius plötzlich überrascht aus. „Ich habe noch niemals einen meiner Diener gezüchtigt, denn dies war bislang noch niemals vonnöten. Sage mir, wenn du gesehen hast, was du behauptest, wer war der Diener, gegen den man die Hand erhob?“
     „Es war der, den du geschickt hast, um mich vorhin zu holen.“
     „Rufus? Das…“ 
     Julius brach ab und ging eine Weile wütend umher.
     „Es ist armselig, diejenigen zu schlagen, die sich nicht wehren können“, streute Lu weiter Salz in die Wunde.


Da blieb Julius endlich wieder stehen, und als er ihn jetzt ansah, war sein Blick erneut so finster, dass es Lu erneut kalt wurde. 
     „Ich würde niemals die Hand gegen Rufus erheben. Er ist von allen meinen Diener mir der Liebste, und das weiß auch sie.“
     „Sie?“
     „Meine Schwester ist nicht einverstanden, dass ich es bin, der die Geschäfte des Hauses führt. Sie will die Herrin sein, die sie nicht ist, und so spinnt sie Intrigen, wo sie nur kann.“
     Als er geendete hatte, versank Julius in Gedanken, und Lu wusste nicht, was er davon halten sollte. Samuela hatte ihm gesagt, dass es Julius war, der sie schlug und der die Sklaven hielt, und jetzt behauptete der, dass eigentlich sie die Böse bei der ganzen Sache war.


Plötzlich stand Julius so unvermittelt vor ihm, dass Lu von seinen Gedanken abgelenkt wurde, zusammenzuckte und rot wurde. Er konnte das gar nicht verhindern.
     „Mein Dank sei dir gewiss, dass du mich in Kenntnis über diese schändliche Angelegenheit setztest“, sagte er ernst. „Wenn du etwas dergleichen jemals wieder erfährst, zögere nicht, mir davon zu berichten. Denn ich versichere dir, dass ich keinen meiner Diener züchtige, da dies unnötig ist. Ich bin ihnen ein guter Herr und sie alle würden aus eigenem Willen Entscheidung bei mir verbleiben. Du…“
     Weiter kam er nicht, da er in diesem Moment nach hinten gerissen wurde. Lu bemerkte eine Bewegung aus den Augenwinkeln heraus, noch bevor die Männer, die Julius immerzu begleiteten, hinter ihm zu Boden gingen.


Der Hausherr landete daraufhin an der Hauswand und hatte im nächsten Moment ein Messer am Hals. Es war Wulfgar, der vor ihm stand und ihn bedrohte. Sein Wulfgar. Und ihn plötzlich dort zu sehen, war für Lu so irreal, dass er eine Weile nichts anderes tat, als mit offenem Mund zu starren und sich einen Reim darauf zu machen, was er da eigentlich gerade sah.
     „Lass deine widerlichen, schmutzigen Pfoten von Lu, du dreckiger Schweinehirte, oder die gebrochene Nase von letztem Mal wird geradezu angenehm sein im Vergleich zu dem, was ich dir sonst antun werde!“, knurrte Wulfgar bedrohlich.


Julius sah zuerst erschrocken aus, aber dann kam wohl ein Erkennen über ihn und auch sein Gesicht wurde eiskalt. 


Da kam auch Lu endlich wieder zu Sinnen. „Wulf!“, rief er seinen Gefährten laut, was den anderen, schlafenden Wulf jetzt erschrocken in die Höhe brachte.
     „Was? Was? Ich bin ja wach! Ich hab nix getrunken!“
     Als der Schlaftrunkene sich umsah, bot sich ihm die Szene, wie Lu gerade an die anderen beiden Männer herangegangen war und der schmächtige Kerl den viel kräftiger aussehenden Fremden heftig am Arm zurückzog. Und er sah dabei tatsächlich wütend aus. Der Kräftigere löcherte Julius mit noch einem letzten warnenden Blick, ließ dann aber von ihm ab. Nur, um sich jetzt, mit immer noch gezücktem Messer, Lu zuzuwenden.


Als er das sah, war Wulf hellwach und so schnell er konnte, hatte er sich zwischen den vermeintlichen Angreifer und Lu geschoben und die Fäuste gehoben. Der Mann mit dem Messer wandte sich nun ihm zu und sah ihn böse an.
     Da trat Lu schließlich an ihm vorbei und schob sie beide auseinander. „Schluss jetzt! Hört auf damit! Alle beide! Und du tu dein Messer weg!“
     Wulf versuchte ein: „Aber…“, doch Lu fuhr streng dazwischen und sagte: „Kein aber!“, und da war Wulf still und schaute wie ein getretenes Hündchen.
     Nur der ältere Wulfgar war leider nicht so einsichtig. „Damit der da hinten mich hinterrücks abstechen kann? Ganz sicher nicht!“, erwiderte er mit Blick auf Julius.
     Lu warf dem Hausherrn einen gequälten Blick zu und sagte: „Entschuldige den Angriff. Ich bringe sie besser von hier weg.“


Dann packte er beide Wulfgars am Arm und ging mit ihnen woanders hin. Sein Wulfgar warf zwar fortwährend Blicke über seine Schulter zu Julius und auch zum anderen Wulf, aber er kam glücklicherweise, wie auch sein Namensvetter, der mehr Probleme damit hatte, sich auf den Beinen zu halten als sonst was.


Als sie schließlich draußen waren, wandte sich Lu an seinen Wulfgar und sagte: „Himmel, Wulf, was sollte das?“
     Beide Wulfgars fingen zu sprechen an, verstummten aber auch gleich wieder, um sich gegenseitig böse Blicke zuzuwerfen.


Und in diesem Moment wurde Lu daran erinnert, dass da ja noch etwas anderes war. Etwas, weshalb er Wulfgars Rückkehr hierher ein bisschen mit gemischten Gefühlen entgegengesehen hatte.


Also wandte er sich zuerst an den jüngeren Wulf und bat ihn: „Würdest du uns vielleicht einen Moment allein lassen? Das dort ist… Wulfgar. Der, von dem ich dir erzählt habe.“
     Da starrte Wulf seinen Namensvetter an, aber anstatt zu tun, um was Lu ihn gebeten hatte, ging er plötzlich auf den Neuankömmling los.


Lu konnte gerade noch so zur Seite springen und selbst der ältere Wulfgar war so überrascht davon, dass sein Angreifer beinahe einen Treffer in sein Gesicht landen konnte. Stattdessen hatte er die Fäuste des Anderen kurz darauf im Griff, sie rangen einen Moment miteinander, aber schließlich erlangte der scheinbar kampferfahrenere der beiden schnell die Oberhand.

 
Er drehte seinem Angreifer die Hände auf den Rücken, zwang ihn, sich umzudrehen und nagelte ihn am Boden fest.
     „Was ist denn mit dem los?“, wollte Wulfgar von ihm wissen.
     Aber da war Lu auch überfragt. Der Jüngere wand sich noch immer, aber er hatte keine Chance.
     „Wulfgar! Bitte beruhige dich!“, versuchte Lu es.
     Aber das tat der Andere nicht. Nicht einmal, als der ältere Wulfgar, der seinen Gefährten einen Moment lang irritiert ansah, seinen Druck auf ihn verstärkte.
      „Hör auf! Du tust ihm weh!“


Wulf wand sich wie ein Verrückter und dann fing er an, Worte von sich zu geben, die Lu nicht verstand. Wulfgar aber anscheinend schon. Zumindest erstarrte er. Das tat auch Lu im nächsten Moment, als er hörte, dass der Rasende anfing, lautstark zu heulen. Da erst fiel ihm ein, dass Wulf noch immer betrunken war.


Er ging auf die Knie, strich dem Rasenden über den Kopf, als würde er ein Kind trösten. „Beruhige dich! Es ist alles gut!“, versicherte er sanft. „Die schlimmen Gefühle werden vorbeigehen. Du musst nur ein bisschen schlafen und morgen dann gehen wir Luna besuchen, in Ordnung?“
     Da erschlaffte Wulf endlich und Lu hörte auf, ihn zu streicheln.
     „Du solltest schlafen gehen, sonst wird sich Luna nur Sorgen machen, dass du ganz schläfrige Augen hast. Und sie braucht doch deine Hilfe. Damit du ihr wieder übersetzt, wenn ihr die Sklavin sucht, die verschwunden ist.“


Als Wulf keinen Mucks mehr von sich gab, nickte Lu seinem Gefährten zu, der den Anderen daraufhin losließ. Wulf rappelte sich langsam wieder auf, aber er konnte sich kaum auf den Beinen halten.
     „Ich hoffe, wir finden sie nie“, murmelte er. „Xanthippe. Sie ist eine böse Schlampe, die Luna nur Sorgen macht. Ich hoffe, sie ist gestorben.“
     „Komm, ich bringe dich ins Bett“, bot Lu an.


Doch Wulfs Blick glitt träge zu Wulfgar hinüber. „Wegen dir war Mutter immer nur unglücklich. Du hast sie umgebracht. Du kriegst Luna nicht. Nicht Luna. Sie hat eine Familie. Sie hat uns. Sie braucht dich nicht. Sie hat dich nie gebraucht. Du hast gar kein Recht, jetzt einfach aufzutauchen. Verschwinde einfach wieder! Bleib weg!“
     Lu war genauso erschrocken und irritiert über diese Aussage wie Wulfgar. Doch als er jetzt eine Hand auf Wulfs Arm legte, kam er diesmal wenigstens.


Der Betrunkene schlief beinahe augenblicklich ein, als er endlich im Bett lag. Und Lu stand danach noch einige Zeit lang in seinem Zimmer. Er stand einfach nur da in der Dunkelheit und hörte Wulf leise schnarchen. Er wollte nicht da raus. Nicht jetzt schon. Er wollte Wulfgar nicht gegenübertreten und dieses Gespräch führen. Alles in ihm sträubte sich dagegen und er hatte immer noch keine Ahnung, warum.


Als er bemerkte, dass die Tür aufging und Wulfgar einen Blick riskierte, gab er sich aber einen Tritt und ging zu ihm nach draußen. Es musste endlich getan werden.


„Könntest du mir erklären, was das gerade eben war?“, fragte Wulfgar ihn, als sie wieder draußen im Hof waren.
     „Sag du es mir doch!“, schoss Lu aufgebracht zurück. „Woher soll ich es bitte wissen, hm? Ich habe keine Ahnung, und du hast du nichts Besseres zu tun, als aufzutauchen und unseren Gastgeber anzugreifen!“
      Er hatte nicht so wütend werden wollen, aber er war es einfach. Wulfgars Anblick machte ihn so wütend. Mehr noch als damals, als sie von Zuhause losgefahren waren und er nur wegen Lulu wütend gewesen war. Wegen Wulfgars Ignoranz. Wegen den Dingen, die er ihm all die Jahre über nicht erzählt hatte.


„Das… Dazu hatte ich auch allen Grund!“, erwiderte Wulfgar. „Dieser Samuel ist ein verlogener, böser Hund! Ich habe dich nur vor ihm gerettet!“
     „Samuel? Wer ist Samuel? Der Mann, den du angegriffen hast, heißt Julius.“
     „Mir egal, wie der sich jetzt nennt, er ist und bleibt ein verlogener Schweinehund!“
     „Ach, und das weißt du ja auch so genau, weil?“
     „Ich… hatte schon mal mit ihm zu tun, deshalb“, antwortete Wulfgar ausweichend.
     „Und?“
     „Was und? Ich will jetzt nicht über Samuel sprechen, sondern über das, was da gerade mit dem Kerl passiert ist, der mich angegriffen hat. Wer ist er?“
     „Natürlich willst du nicht darüber reden!“, lachte Lu abfällig. „Du erzählst mir ja eh nie was!“


„Was soll das denn heißen?“ Wulfgar seufzte und rieb sich die Augen, um sich zu beruhigen. „Bitte, Lu, ich erzähle dir später gerne alles über Samuel, aber würdest du erst meine Frage beantworten?“
      Lu warf ihm einen bösen Blick zu, erzählte dann aber: „Warum fragst du mich überhaupt? Du hast es doch sowieso schon gehört. Dieser „Kerl“ hat deinen Namen. Muss ich mehr erzählen?“              


„Ja, bitte. Was weißt du über ihn?“
     „Nicht viel, weil er kaum über sich erzählt. Erzähl mir mal lieber, warum er sagt, dass du seine Mutter umgebracht hast!“
     „Ich habe keine Ahnung, Lu, aber ich habe sie ganz sicher nicht umgebracht. Das schwöre ich dir! Warum sollte ich das auch tun? Ich mochte Shana. Und als ich von da weg bin, war sie putzmunter.“


Lu hatte jetzt nichts mehr zu sagen, also schwieg er. Ließ Wulfgar Zeit für seine Gedanken.
     „Klein-Wulf, huh“, sagte der schließlich zu sich selbst. „Warum ist er nur so sauer auf mich?“
     Warum er, Lu, so sauer auf ihn war, war ihm wohl vollkommen gleich. Lu war so kurz davor, einfach umzudrehen und ihn stehen zu lassen. Er wusste nur, dass Wulfgar ihn nicht lassen würde.


Nein, so ging das nicht weiter. Er musste damit aufhören, seine Wut an Wulfgar auszulassen. Er sollte ihm wenigstens die Chance geben, erst einmal anzukommen, die Sache mit Wulf zu klären und vor allen Dingen die Frau kennenzulernen, die wohl seine Tochter war. Danach konnten sie immer noch miteinander besprechen, was im Argen lag.
     Ja, so sollten sie es machen. Lu war erwachsen und vernünftig genug, um sich zurückzustellen. Nur, dass er mal wieder nicht verhindern konnte, dass allein der Gedanke an diese Luna seinem Vorhaben einen ganz herben Dämpfer verpasste.


Er seufzte geschlagen. „Hör zu, Wulf, ich habe keine Ahnung, was da los ist. Du siehst ja, dass er ein paar Probleme hat. Er… trinkt gerne und das tut ihm nicht sehr gut. Aber viel spannender für dich ist, dass er nicht allein hier ist.“ Er brauchte einen Moment, um fortzufahren und zu offenbaren: „Er ist in Begleitung einer Frau namens Luna. Ich weiß es natürlich nicht, ob es stimmt, was ich vermute, weil ich sie nicht gefragt habe, aber ich würde so ziemlich meine Hand ins Feuer dafür legen, dass… sie deine Tochter ist.“
     Das hatte gesessen. Wulfgar starrte ihn an. Damit hatte er ganz offensichtlich nicht gerechnet. Wer rechnete auch schon damit, dass nach vielen Jahren plötzlich ein Kind auftauchte, von dem man bislang nichts wusste?
     „Wie… kommst du darauf?“, fragte Wulfgar schließlich.
     „Nun, sie sieht aus wie deine Zwillingsschwester mit hellem Haar.“


Plötzlich trat Wulfgar an ihn heran, aber anstatt überrascht zu sein oder eine vertraute Nähe zu empfinden, die er sonst immer spürte, wenn Wulfgar bei ihm war, fühlte er sich mit einem Mal unbehaglich.
     „Wo ist sie?“, wollte er wissen.
     Lu wies unwillig in eine Richtung. „In einem Gasthaus in der Gegend.“


Wulfgar ließ ihn danach einfach stehen. Und alles, was er bei Lu zurückließ, war Ernüchterung.


Wulfgar bereute bald schon, dass er so überstürzt aufgebrochen war, ohne sich nicht wenigstens den Weg zeigen zu lassen. Doch er ging nicht zurück. Er ging weiter, und derweil konnte er nicht verhindern, dass ihm erneut die Frage kam, warum Wulf meinte, dass er seine Mutter umgebracht hatte. Er hatte das nämlich nicht getan.
     Er erinnerte sich noch gut an seine Zeit auf Lao-Pao. Der Ort, an dem er einige der schönsten, aber auch schrecklichsten Erinnerungen gesammelt hatte.


Er war damals auf seinen Reisen mit seiner Ziehtochter Mari zusammen in eine tropische Gegend gekommen. Dort hatten sie Isaac getroffen, sie waren zusammen vor Menschenfressern geflohen und er hatte sie auf die Insel gebracht, auf der er und seine Leute im Dorf Lao-Pao gelebt hatten.


Isaac war ein aufgeweckter, schlauer und überaus neugieriger Kerl gewesen, und Wulfgar hatte sich ein bisschen in ihn verguckt, wenn er ehrlich war.


Doch er hatte nie die Chance erhalten, es ihm zu sagen. Isaac hatte sich nämlich – unerwartet – eine Frau namens Shana genommen gehabt, als Wulfgar gerade den Mut dazu zusammengekratzt hatte.


Die beiden hatten ihren Erstgeborenen nach ihm benannt, weil er Isaac zweimal das Leben gerettet hatte.


Schließlich war Mari gestorben, getötet von den Menschenfressern. Er hatte Rache für sie genommen, blutige Rache, und dann war er einfach abgehauen. Er hatte nicht mehr an diesem Ort bleiben können.


Bevor er aber gegangen war, hatte er versucht, Mari zurückzuholen. Auf der Insel hatte auch Maris Tante Eris gelebt, die von weit her gekommen und in Lao-Pao heimisch geworden war. Da sie keine Kinder hatte, aber gerne welche wollte, hatte sie Mari wie eine eigene Tochter angenommen gehabt. Sie hatte sie geliebt, wie auch er die Kleine geliebt hatte. Und als sie gestorben war, hatte auch sie das schwer getroffen gehabt.


„Dort wo ich herkomme, glauben wir daran, dass der Geist eines Getöteten solange an diese Welt gefesselt ist, bis er gerufen wird und in einem neuen Körper wiedergeboren werden kann.“ Wulfgar erinnerte sich noch gut an diese Worte, die sie ihm damals gesagt hatte. „Wenn wir Mari rufen, mit unserem Herzen wir beide, kann ihr Geist in unserem Kind wiedergeboren werden.“
     Er hatte nie an so etwas geglaubt, aber in diesem Moment hatte er es glauben wollen. Also hatten sie versucht, ein Kind zu bekommen.


Aber es hatte nicht funktioniert. Sie hatte geblutet, er war gegangen, um Rache zu nehmen und war danach davongelaufen. Wie so oft in seinem Leben.
     Doch sollte es etwa geklappt haben? Sollte Eris tatsächlich von ihm schwanger geworden sein und Mari zu ihnen zurückgekommen sein?


Während er sich das noch fragte, sah er schließlich ein Haus in der Ferne auftauchen. Er hielt darauf zu, und tatsächlich, als er anklopfte und nachfragte, erfuhr er, dass er das gesuchte Gasthaus erreicht hatte.


Er war schon in einigen Häusern gewesen, aber diese Leute hier verstanden sich wirklich gut darin, in protzigem Luxus zu leben. Er hatte Königspaläste gesehen, die ärmlicher ausgestattet gewesen waren. 
     Persönlich bevorzugte er ja die einfachen Verhältnisse von Daheim, doch momentan hatte er sowieso keine Augen für sowas. Wie zuvor schon, nachdem er erfahren hatte, dass Samuel in der Gegend lebte und er nur noch seinen Lu vor ihm hatte retten wollen, hatte er nun nur noch die Frau vor Augen, die vielleicht seine Tochter war. Er wusste nicht einmal, nach wem er eigentlich Ausschau halten sollte.
     „Mari?“, rief er auf gut Glück, denn er war sich absolut sicher, dass Eris ihre Tochter nach der Verstorbenen benannt hatte. „Bist du hier?“
     Er bekam ein paar Blicke ab, aber es waren alles Männer. Keine Frau war zu sehen.


Bis ein liebliches „Ja?“ ihn auf sie aufmerksam machte.
      Da stand sie, vor ihm im Türrahmen, der zum Hinterhof hinausführte. Ihr helles Haar schien beinahe weiß in der Dunkelheit zu leuchten, wie er es von ihrer Mutter kannte, und als Wulfgar ihr ins Gesicht sah, erkannte er, dass Lu recht gehabt hatte. Sie sah aus wie seine Zwillingsschwester Greta.
      „Woher kennst du den Namen, mit dem ich geboren wurde?“, fragte sie vorsichtig.


Wulfgar trat näher, damit sie ihn sehen konnte und mit einem Mal wurden ihre Augen groß. Sie hatte so überhaupt nichts von Eris in ihrem Gesicht.
      „Ich kann es nicht glauben! Du…“
      Er trat noch näher und nahm ihr Gesicht in seine Hände. Sie starrte ihn an, ein bisschen ängstlich vielleicht, aber sie machte keine Anstalten, zurückzuweichen.
      „Wer bist du?“, fragte sie stattdessen.


Wulfgar trat wieder zurück und nannte ihr seinen Namen und da machte sich Überraschung auf ihrem Gesicht breit.
     „Vater?“
     „Ich… denke schon.“
     Er wusste nicht, wie sie reagieren würde. Ob sie ihn überhaupt sehen wollte oder ob sie ihn auch niederschlagen würde, so wie Klein-Wulf. Er hatte bislang, wenn er ehrlich war, nicht darüber nachgedacht. Er hatte sie nur sehen wollen.


Doch Luna stürmte auf ihn zu und legte glücklicherweise die Arme um ihn.
     „Vater! Es ist so schön, dich zu sehen!“
     Sie umarmten sich kurz, wobei ein eigentümlich herber Geruch in seine Nase stieg, der ihn an Lu erinnerte, dann löste sie sich wieder von ihm.
     „Ich wollte dich immer schon kennenlernen“, erzählte sie aufgeregt. „Isaac hat mir so viel von dir erzählt, aber ich hätte nie gedacht, dass ich dich tatsächlich einmal treffen würde.“


„Es tut mir so leid, dass ich bislang nicht für dich da sein konnte. Ich hatte keine Ahnung, dass du überhaupt existierst. Eris erzählte mir, dass sie geblutet habe…“
     „Ja, sie hatte es auch nicht leicht mit mir. Die Schwangerschaft war sehr schwer“, erklärte sie traurig.
     „Wie geht es deiner Mutter?“


„Sie schenkte mir das Leben und gab ihres dafür.“ Sie legte sich eine Hand aufs Herz. „Dafür werde ich ihr immer dankbar sein.“
      „Das… tut mir so leid! Wenn ich nur gewusst hätte, dass du da warst, hätte ich mich um dich kümmern können…“
      „Mach dir keine Gedanken. Ich hatte eine wundervolle Familie“, meinte sie lächelnd.
      Und Wulfgar wollte wissen: „Wer hat dich aufgezogen?“


Sie wies zur Tür. Wulfgar folgte ihr und sie gingen zusammen nach draußen, wo sie ungestört reden konnten. Am Brunnenplatz vorm Gasthaus ließen sie sich auf einer der Steinbänke nieder.


„Ayra, Yunn und ihre Töchter sind meine Familie geworden“, eröffnete sie dort.
     Das überraschte Wulfgar ein bisschen.


Ayra war Isaacs ausgestoßene Schwester gewesen, die allein und zurückgezogenen im nahegelegenen Dschungel gelebt hatte. Sie und Eris waren sich sehr nahe gewesen, aber trotzdem hätte Wulfgar nicht gedacht, dass die Leute aus Lao-Pao Eris‘ Kind einer Ausgestoßenen überlassen würden, weil sie Eris doch als Stück vom Mond verehrt hatten.


Yunn wiederum war damals sehr offensichtlich an Mari interessiert gewesen. Er war der begehrteste Junggeselle im Dorf gewesen, aber er hatte trotzdem lange auf Mari gewartet gehabt, nur um sie letztendlich an die Menschenfresser zu verlieren.


Doch da gab es noch etwas anderes, das Wulfgar wissen wollte. Zögerlich fragte er seine neugefundene Tochter: „Ich weiß nicht, wie ich dich das fragen soll, aber… bist du Mari? Bist du wirklich wiedergeboren worden? Ich meine… weißt du überhaupt, wer Mari war?“
     „Natürlich weiß ich das. Papa, also Yunn, hat mir viel von ihr erzählt. Er sagte, ich solle das wissen, weil sie meiner Mutter sehr wichtig war. Aber“, sagte sie und ließ dabei den Kopf hängen, „wenn ich wirklich ihre Wiedergeburt bin, dann erinnere ich mich nicht an mein früheres Leben. Tut mir leid.“

     „Warum entschuldigst du dich denn?“
     „Weil mir alle sagten, dass sie auch dir sehr wichtig war, und du und Mutter wollten, dass sie wiederkommt. Dass sie in mir wiedergeboren wird.“
     „Vielleicht bist du das ja auch und weißt es nur nicht mehr.“ Er schenkte ihr ein liebevolles Lächeln. „Aber es ist auch nicht wichtig. Wichtig ist nur, dass du da bist und dass ich dich endlich kennenlernen durfte. Dafür bin ich sehr dankbar.“
     „Das geht mir genauso“, meinte sie, ebenfalls lächelnd.


„Erzähl mir etwas über dich“, fragte er sie als nächstes. „Ich möchte dich gerne kennenlernen. Was machst du so? Was magst du gerne? Dein Name. Ich weiß nicht einmal deinen Namen. Ist es Mari?“
     „Nein, ich heiße Luna. Mari ist der Name, mit dem ich geboren wurde. Aber ich bin eine Namensverbindung mit derjenigen eingegangen, die als Luna geboren wurde.“
     Bei einer Namensverbindung tauschten zwei Personen die Namen und wurden daraufhin eins, wie Wulfgar sich erinnerte. Sie teilten von da an all ihr Glück, aber trugen auch allen Schmerz gemeinsam. Isaac hatte einmal mit ihm sowas machen wollen, aber der Schamane ihres Dorfes hatte es verboten, weil er kein Mitglied der Dorfgemeinschaft gewesen war.


„Und was machst du hier?“
     Also erzählte Luna ihm von ihrer Mission. Wulfgar hörte ihr zu, aber auch er hatte noch nie etwas von einer Kreatur mit spitzen Ohren gehört, die auf zwei Beinen lief.
     „Das hört sich ziemlich nach Götterkram an“, befand er. „Vielleicht weiß Lu ja was davon.“ Er stockte. „Hast du Lu schon getroffen?“
     „Ja, er ist ein netter Mann. Wulf scheint ihn auch zu mögen. Also… ich meine den anderen Wulfgar.“


„Weißt du überhaupt davon, dass Isaac seinen ersten Sohn nach dir benannt hat?“, fragte sie.
     „Klar! Ich hab seine Geburt miterlebt. Also ich stand draußen vor der Hütte und hab’s gehört. Ich hab miterlebt, wie Klein-Wulf seine ersten Schritte gemacht hat.“
     Luna kicherte. „Klein-Wulf?“
     „Ja, so haben wir ihn damals immer genannt. Luna, ich muss dich mal etwas fragen“, wurde Wulfgar jetzt ernst. „Wulf war vorher… nicht sehr gut auf mich zu sprechen. Warum meint er, dass ich seine Mutter umgebracht habe?“
     Luna sah ihn einen Moment lang überrascht an und dann wurde auch ihr Gesicht bitter.


„Wulf hat ein paar Probleme mit seinem Vater. Er fühlt sich von ihm missachtet, weil er glaubt, dass er nicht so schlau wie sein Vater oder seine Schwester ist.“
     „Er hat eine Schwester?“
     „Ja. Isaac und Shana hatten noch eine Tochter. Sie ist diejenige, mit der ich eine Verbindung eingegangen bin und die jetzt meinen Geburtsnamen trägt: Mari. Sie versteht sich, im Gegensatz zu Wulf, sehr gut mit ihrem Vater, und Wulf glaubt, dass Isaac nichts mit ihm zu tun haben will. Aber das stimmt natürlich nicht“, versicherte sie. „Wulf traut sich nur zu wenig zu. Und Isaac… nun, du hast ihn ja kennengelernt. Er ist oft in seiner ganz eigenen Welt und bekommt dann gar nichts mit.“
     Wenn Isaac in seine Gedanken verschwunden war, um neue Dinge zu ersinnen, war er manchmal tatsächlich kaum ansprechbar gewesen. Aber wenn er dann aus seinen Gedanken zurückgekehrt war, hatte er immer die tollsten Ideen mitgebracht und schon allein dafür war er in seinem Dorf hochangesehen gewesen. Isaac hatte so beispielsweise auch sein erstes Segelboot ersonnen.


„Shana ist dann irgendwann krank geworden und gestorben“, erzählte sie weiter, „und Wulf glaubt bis heute, dass das seinen Vater vollkommen kalt gelassen hat.“
     „Das kann ich mir nicht vorstellen. Er hat Shana sehr geliebt“, meinte er.
     „Ich weiß. Mama sagte, dass Shanas Tod Isaac sehr mitgenommen hat und er sich seitdem noch mehr von den Anderen zurückgezogen und aufgehört hat, zu zeigen, was in ihm vorgeht. Ich kenne ihn nicht anders und auch Wulf tut es nicht, weil wir beide noch sehr jung waren, als Shana starb. Und deshalb glaubt Wulf auch, dass seinem Vater alles egal ist. Seine Frau. Er.“ Sie schüttelte den Kopf. „Aber ich wette, dass Isaac sehr in Sorge darüber ist, dass Wulf die Insel verlassen hat. Ich bin ja froh, dass er mich gefunden hat.“


„Aber warum gibt er mir die Schuld für Shanas Tod?“
     „Weil er allen die Schuld dafür gibt. Wulf kennt nur noch die Wut. Seitdem er die Insel verlassen hat, ist er dem Alkohol erlegen. Seitdem geht es mit ihm stetig bergab“, erzählte sie besorgt. „Ich versuche ihm zu helfen, wo ich nur kann, aber ich bin machtlos. Ich kann ihn nicht einmal erreichen, wenn er im Rausch ist. Ich mache mir wirklich Sorgen um ihn. Wulf ist wie ein Bruder für mich.“
     „Ich kann ja mal versuchen, mit ihm zu reden“ bot er an.


Da schlich sich plötzlich ein Lächeln auf ihr Gesicht. „Ich glaube nicht, dass das nötig sein wird. Ich hoffe es. Ich kann ihn vielleicht nicht erreichen, aber ich glaube, dass dieser Lu ihn irgendwie erreicht hat. Du kennst ihn also auch?“
     Wulfgar verlagerte ein bisschen unbehaglich sein Gewicht. „Das kann man so sagen.“
     Er und Lu hatten sich noch vor ihrer Abreise darauf geeinigt, dass sie während ihrer Reise vor anderen nur Weggefährten waren. Das war gesünder so. Es ging ja auch niemanden etwas an. Luna, seiner Tochter, würde er bestimmt noch davon erzählen, aber nicht hier, nicht jetzt. Er wollte sie erst richtig kennenlernen. Wollte erst ergründen, wie sie wohl darauf reagieren würde, dass er einen anderen Mann an seiner Seite hatte.
     Luna kicherte derweil. „Es ist ein bisschen komisch, aber ich glaube, dass Wulf in diesem Lu so etwas wie einen Vater sieht.

  
Wulf sieht ihn nämlich genauso an, wie er Kane immer angesehen hat. Oder Ayra. Die beiden und seine Mutter waren immer die Einzigen, auf die er gehört hat. Vor allen Dingen Kane hat er sehr bewundert.“ Sie seufzte schwer. „Seitdem er nicht mehr da ist, fehlt ihm ein bisschen die Vaterfigur.“
     „Wo ist Kane denn hingegangen?“


Kane war Isaacs Bruder gewesen. Ein Berg von einem Mann, der noch während Wulfgars Aufenthalt der neue Häuptling des Dorfes geworden war.
     „Er ist vor ein paar Jahren ebenfalls an einer Krankheit gestorben“, eröffnete Luna betroffen. „Es war damals eine schlimme Epidemie, der viele Leute erlegen sind.“
     „Wow, ich… hätte ja nie für möglich gehalten, dass Kane mal was zu Fall bringen würde. Was ist mit seiner Frau? Wie hieß sie noch gleich? Ani?“


Luna nickte. „Es hat sie ganz schön mitgekommen natürlich. Aber sie hat sich trotzdem nicht unterkriegen lassen. Obwohl unser Schamane es verboten hat, dass eine Frau das Dorf anführt, hat sie es trotzdem beinahe einen Jahreszeitenwechsel lang getan.“
     „Und dann?“
     „Dann hat sich Isaac wieder gefasst und offiziell die Führung übernommen.“ Sie zuckte mit den Schultern. „Aber eigentlich ist es trotzdem Ani, die das Dorf anführt. Isaac ist nur der Form halber eingesprungen.“
     Letztendlich war also doch Isaac der Häuptling geworden, nachdem er seinem Bruder zuvor noch im Wettkampf um die Dorfführung unterlegen war. Welch Ironie.


„So war es, als ich das Dorf verlassen habe zumindest. Alle haben nur darauf gewartet, dass Kanes einziger Sohn Abe endlich alt genug wird, um übernehmen zu können.“


Wulfgar schwieg einen Moment in Gedanken, dann befand er: „Da ist ja ganz schön was passiert. Armer Kane. Er war echt ein guter Kerl.“
     „Ja, ich weiß. Ich hatte ihn auch sehr gern. Aber Wulf hat sein Tod viel mehr getroffen. Er hat Kane immer respektiert und nachgeeifert. Auf ihn hat er immer gehört und Kane konnte ihn auch dazu bekommen, aufzustehen und zu arbeiten. Ansonsten hat Wulf keinen Finger krumm gemacht, sich gehen lassen und den ganzen Tag in seiner Wut geschwelt.“ Sie lächelte. „Deswegen bin ich so froh, dass er diesen Lu getroffen hat. Wulf sieht ihn genauso an, wie er Kane angesehen hat und er hört auf ihn. Darüber bin ich sehr froh.“
     „Lu hat auch eine ganz besondere Art, andere Menschen zu erreichen und ihnen zu helfen“, erklärte Wulfgar mit einem liebevollen Blick beim Gedanken an seinen Gefährten. „Auch ich verdanke ihm viel.“


Er schwieg erneut und rutschte in seine Gedanken ab, verschwand in seine Vergangenheit und seine Sorgen, die ihn wegen Lu plagten. Oder besser gesagt, die Sorgen, die Lu vor allen Dingen wegen Luis plagten und mit denen Wulfgar ihm einfach nicht helfen konnte. Lu war ein Naturtalent darin, anderen Leuten zu helfen, aber selber Hilfe anzunehmen fiel ihm dafür umso schwerer, kam es ihm vor.
     Als er aber Lunas Hand an seinem Arm bemerkte und ihren besorgten Blick sah, zwang er sich aus seinen Gedanken zurückzukehren und das Thema zu wechseln. „Apropos! Du musst unbedingt mal mit mir nach Hause kommen. Dann kannst du auch deinen Bruder Leif kennenlernen.“
      „Oh, ich habe einen Bruder?“
      Wulfgar lächelte. „Ja.“ Doch sein Lächeln erstarb sofort wieder und kurz darauf erfuhr Luna die traurige Geschichte ihres Bruders Ragna, den sie nie würde kennenlernen dürfen.
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Hier weiterlesen -> Kapitel 106 

RICHTIGSTELLUNG 1: Ich habe letztes Kapitel geschrieben, dass Julius mit Beinamen "Varo" hieße, was aber falsch ist. Er heißt "Pavo". Ich weiß nicht, warum ich "Varo" schrieb, weil es in meinen Notizen richtig stand, aber ich habe es inzwischen geändert, nachdem es mir aufgefallen war. Und da wir gleich mal dabei sind:

RICHTIGSTELLUNG 2: Ich habe vor Urzeiten mal behauptet, dass sie damals alle nicht schwimmen konnten, was aber nicht stimmt, wie ich inzwischen erfahren habe. Tatsächlich war Schwimmen in der Antike ein beliebter Sport, der erst im Mittelalter unpopulär wurde, als die Kirche ihn verpönte. Ich habe die Anmerkung dazu im betreffenden Kapitel geändert, doch storytechnisch bleibt es dabei, dass meine Leute damals einfach alle nich schwimmen konnten. Regionale Eigenart und so...

Soviel dazu. Jetzt wissen wir also, was es mit Wulf und Luna auf sich hat. Es sind alles Ereignisse aus Wulfgars Geschichte, die ich gar nicht geplant hatte, so sehr in die Hauptgeschichte zu verankern. Eigentlich sollte nur Luna vorkommen, aber ich hoffe, dass ich alles verständlich erzählt habe. Ist natürlich alles arg zusammengefasst und die Lao-Pao-Bilder sind mehr symbolischer Art (und da ich sie zensieren musste, da dort die meisten nackt rumlaufen, sind die Bilder manchmal ein bisschen komisch geworden..). Ich hatte wirklich mit dem Gedanken gespielt, Lao-Pao komplett aufzubauen, aber ich habe mir von dem Inseldorf in meinem Kopf ein ganz bestimmtes Bild gemacht, das ich einfach nicht nachbauen konnte. Deshalb habe ich mich damit begnügt, die Ereignisse, wann es ging, an den schon bekannten Strand zu legen, obwohl das natürlich nicht alles da geschehen ist. 
     Da aber doch einige (neue) Leute vorkamen, hier mal noch eine kurze Charakterübersicht über die alte Generation aus Wulfgars Geschichte (links immer die jüngere Version aus Wulfgars Erinnerungen und rechts die Ältere aus Lunas Erzählungen):


Wulfgar hat Isaac auf seinen Reisen getroffen, als beide gerade Gefangene von Menschenfressern gewesen waren. Während Wulfgars zweieinhalbjährigen Aufenthalts in Isaacs Heimatdorf Lao-Pao sind die beiden gute Freunde geworden. 
     Isaac ist ein intelligenter, neugieriger und anständiger Mann mit dem Hang dazu, überstürzt zu handeln und gedanklich abzuschweifen. Er ist der ältere Bruder von Ayra und Kane und war der Mann von Shana, mit der er zwei Kinder, Wulfgar und Mari, hat. Nach dem Tod seines Bruders Kane ist er der formelle neue Häuptling von Lao-Pao geworden.


Kane war der jüngere Bruder von Isaac und Ayra. Er war ein kräftiger, sonniger, aber etwas einfältiger Kerl, der einige Jahre der Häuptling seines Heimatdorfes gewesen ist, bevor eine Krankheit ihn dahinraffte. Mit seiner Frau Ani hat er einen Sohn namens Abe. 


 Ayra ist die mittlere der drei Geschwister. Sie lebt als Ausgestoßene im Dschungel außerhalb des Dorfes. Was genau sie verbrochen hat, um das zu verdienen, ist nach wie vor ein Mysterium. Sie ist als sture, stolze Frau mit derbem Humor bekannt. Mit ihrem Mann Yunn hat sie vier Töchter, und sie ist auch die Mutter für Luna geworden, die ihr von ihrer Freundin Eris noch kurz vor ihrem Tod anvertraut worden ist. 


Shana war die Frau von Isaac und Mutter von Wulfgar und Mari, die ihr wie aus dem Gesicht geschnitten ist. Vor einigen Jahren beendete eine Krankheit ihr Leben vorzeitig.


Ani ist die Frau von Kane gewesen, und sie ist die Mutter seines Sohnes Abe. Obwohl sie früher sehr schüchtern gewesen ist, hat sie nach Kanes Tod dessen Posten als Häuptling übernommen, den sie noch immer inoffiziell innehat. Sie ist es eigentlich, die die Geschicke des Dorfes leitet, obwohl es ihr als Frau verboten ist, anzuführen.
  

Yunn hatte einst ein Auge auf Mari geworfen gehabt und ihr Tod hat ihn in eine schwere Krise gestürzt. Hätte Ayra ihn nicht gefunden und ihm den Weg zurück ins Leben gezeigt, hätte er sich vor Jahren das Leben genommen. Stattdessen hat er freiwillig das Dorf verlassen, um bei Ayra leben zu können, mit der er vier Töchter hat. Auch für Luna ist er der Vater geworden.


Eris war die Tante der verstorbenen Mari. Sie stand der ausgestoßenen Ayra sehr nahe. Für ihr helles, beinahe weißes Haar wurde sie in Lao-Pao als Stück vom Mond verehrt und war damit unantastbar. Das hieß, dass sie dazu verdammt war, ein Leben ohne eigenen Nachwuchs zu fristen, weshalb sie Mari wie ihr eigenes Kind angenommen hatte. 
     Deshalb hat Maris Tod sie schwer getroffen und sie hat danach versucht, mit Wulfgar ein Kind zu bekommen, "um Mari zurückzuholen", was diesen in arge Schwierigkeiten gebracht hatte, da er sich an der Unantastbaren "vergriffen" hatte. Obwohl sie geglaubt hatte, dass ihr einziger Versuch nicht geklappt hatte, ist sie dennoch von ihm schwanger geworden, ohne dass Wulfgar davon wusste. Sie starb jedoch bei der Geburt ihrer Tochter, die sie Mari nannte und die heute Luna heißt.
 

Wulfgar hat Mari auf der ersten Station seiner Reise getroffen. Damals noch ein kleines Mädchen, hat sie mit ihrer Mutter Ura unweit vom Dorf Bärenwald in einer kleinen Hütte im Wald gelebt. Obwohl sie Wulfgar zuerst nicht leiden konnte, da dieser das Pech gehabt hatte, ihren toten Vater zu finden, ist er für sie mit der Zeit zu einer Vaterfigur avanciert. Deshalb hat er sie auch mitgenommen, als der mutmaßliche Mörder ihres Vaters ihre Mutter zur Frau genommen hat und die kleine Mari nun selber in unmittelbarer Gefahr schwebte.
     Im Dorf Lao-Pao hat Mari schließlich eine neue Heimat gefunden gehabt und sie hatte eigentlich geplant, mit Wulfgar zusammen auf der Insel zu bleiben. Doch ihr frühzeitiger Tod durch die unweit entfernt lebenden Menschenfresser hat das leider verhindert.  

EDIT: Da mammut mich nachträglich auf die Idee gebracht hat, habe ich noch zwei Stammbäume der Leute aus Lao-Pao gemacht, damit es ein bisschen übersichtlicher wird (wie immer: zum Vergrößern draufklicken). Was man hier sieht, sind alles Informationen, die man aus Wulfgars Geschichte und den bisherigen Kapiteln von Zeitalter bekommen hat. Da ist nur eine kleine, winzige Sache drin, die man so noch nicht weiß, aber ich verrate natürlich nicht, was das ist. 
     Von den Personen, die man hier sieht, sind jedoch eigentlich nur Isaac, seine beiden Kinder, eine von Yunns und Ayras Töchtern, und natürlich Luna (und der ältere Wulfgar, aber das ist ja klar) wichtig für den weiteren Verlauf der Geschichte (voraussichtlich). 



 
So, ich hoffe, dass man nun ein bisschen mehr Überblick hat/dass es half, die alte Geschichte aufzufrischen. Die jüngere Generation, also Wulfgar, seine Schwester Mari, Luna und Abe, habe ich jetzt erstmal außen vor gelassen, da sie bereits selber für sich gesprochen haben/es evtl. noch tun werden. Von den obigen werden, ohne zu spoilern, die meisten auch nur noch namentlich vorkommen. Wenn überhaupt. Übrigens, ja, das ist Absicht, dass man Isaac nie von vorne sieht 😉 .

Nächstes Mal dann hören wir, was der junge Wulf zu der ganzen Sache zu sagen hat, und dann hat Lu nicht nur mit Wulfgars Rückkehr zu kämpfen.

Bis dahin, danke fürs Vorbeischauen, und ich verabschiede mich!

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