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Mittwoch, 1. Januar 2020

Kapitel 104 - Unvollkommenes Paradies



Sie erreichten das Gasthaus, kurz bevor Phoebus Apollon die Hälfte seines Weges mit dem Sonnenwagen zurückgelegt hatte, wie Luna gemeint hatte. Sie hatte die ganze Zeit über ganz fasziniert von den hiesigen Göttern erzählt, aber Lu hatte ihr, ehrlich gesagt, nicht so richtig zugehört. Er war zu beschäftigt damit gewesen, sein Frühstück drinnen zu behalten und gleichzeitig nicht vom Pferd zu fallen.


Deshalb war er auch mehr als froh, als sie das Gasthaus, in dem Luna untergekommen war, endlich erreichten. Er verhedderte sich zum Abschluss noch einmal im Sattel, und er war ja erleichtert, dass seine beiden Begleiter gerade zu abgelenkt waren, um seine prekäre Lage zu bemerken. Den Rest des Weges Richtung Boden legte er fliegend zurück, aber immerhin beruhigte sich sein Magen diesmal schnell wieder, als seine Welt zu schwanken aufhörte.


Das war dann auch der Moment, in dem er an das erinnert wurde, was er bislang erfolgreich verdrängt hatte: Seine Abneigung gegenüber Luna.
      Er hatte gestern nach reichlicher Überlegung noch beschlossen, dass seine Angst unsinnig war und er etwas dagegen tun musste. Was befürchtete er denn schon? Dass Luna ihm seinen Wulfgar wegnehmen würde?


Also hatte er sich dazu entschlossen, ihr eine Chance zu geben. Sie kennenzulernen.
     „Ich muss dir übrigens danken, dass du uns geholfen hast“, eröffnete er ihr, als er die Chance bekam, sich in die Unterhaltung der anderen beiden einzuklinken. „Ohne deine Vision wären wir niemals auf die Idee gekommen, den Wassergott um Hilfe zu fragen.“
     „Ich freue mich, dass ich helfen konnte und es eurer Begleiterin wieder besser geht.“
     „Wulfgar“, sagte er mit Fingerzeig auf den passiven Jüngeren, „erzählte, dass du diese Visionen schon lange hast.“
     „Oh ja! Die große Göttin hat mich gefunden und schon zu mir gesprochen, als ich noch Zuhause gelebt habe. Sie hat mich in die Ferne gerufen und mich auf eine wichtige Mission geschickt.“


Sie stockte. „Du weißt nicht zufällig etwas von einer Kreatur mit langem Fell, spitzen Ohren und Schnurrhaaren, die auf zwei Beinen geht, oder?“
     „Nein“, erwiderte er irritiert. „Warum?“
     „Weil die Göttin mir aufgetragen hat, diese Kreatur zu finden und sie hierher zu führen.“
     „Warum sollte deine Göttin dir… so einen merkwürdigen Auftrag geben?“
     „Ich weiß es nicht. Ich weiß nur, dass sie hierher kommen muss. Wenn sie es nicht tut, dann… Dann wird etwas schreckliches geschehen. Ich sah Katastrophen, Blut und Feuer. Ich kann nicht einmal sagen, ob die Kreatur in Gefahr ist oder wir…“ Sie ließ den Kopf hängen. „Aber egal, wo ich bislang auch gewesen bin, ich habe sie nirgends gefunden. Das macht mir, ehrlich gesagt, Angst.“


Lu betrachtete sie einen Moment nachdenklich, bevor er ihr sagte: „Ich bin mir sicher, dass du sie finden wirst. Du scheinst ein gutes Herz zu haben, dein Glaube ist stark, und auch wenn ich nicht dasselbe glaube wie du, bin ich mir sicher, dass deine Göttin über dich wachen wird, wenn du sie nur weiterhin in deinem Herzen trägst.“
     Luna starrte ihn überrascht an, dann wurde ihr Lächeln gequält. „So etwas Ähnliches habe ich letztens auch erst zu jemandem gesagt“, meinte sie.


Lu war aber schon wieder woanders. Da war etwas, das ihn schon beschäftigte, seitdem er sie das erste Mal gesehen hatte. „Das Muster des Bandes an deinem Hut: Was bedeutet es eigentlich?“, fragte er.
     „Das ist der Nachthimmel mit den Sternen.“
     „Wo hast du es her? Ich… kenne es nämlich auch.“ Es war schließlich ihr heiliges Göttersymbol, das er jahrelang an seiner Schamanentracht getragen hatte.
     „In meinem Heimatdorf hat das früher der Priester getragen, zusammen mit den Zeichen für den Taghimmel, die Welt und die Erde. Damals, als unser Schöpfer noch in vier Teile geteilt war. Und seitdem habe ich es überall auf der Welt immer wieder gesehen. Das zeigt mir, dass der Schöpfer wahrlich überall gewaltet hat und die anderen Götter auf dieser Welt seine Kinder sind. So wie auch meine Göttin.“


Bevor Lu aber weiter nachfragen konnte, trat Wulf zu ihnen und sagte: „Können wir weitergehen? Ich wäre gerne noch vorm Mittagessen wieder zurück.“
     Lu brauchte ihm nur einen Blick zuzuwerfen, um zu erkennen, was mit ihm los war. Luna wusste es wahrscheinlich auch. Also nickte er, sie verabschiedeten sich von ihr, obwohl Lu ihr noch immer nicht die Fragen hatte stellen können, die ihn beschäftigten, und dann gingen er und Wulf – zu Fuß zum Glück – zurück zum Hof.
     Doch kaum dass Luna fort war, wurde der Jüngere von Schritt zu Schritt zunehmend nervöser.


Sie kamen nicht weit, bis sie schließlich wieder anhalten mussten. Wulf zeigte inzwischen deutlich, dass es ihm überhaupt nicht gut ging.
     „Bist du sicher, dass du nicht lieber bei Luna bleiben willst?“, fragte Lu ihn, um ihn abzulenken.
     „Nein, ich … ich will nicht, dass sie mich so sieht…“ Er begann heftig zu zittern. „Schöpfer, ich will was trinken! Ich sollte einfach was trinken!“
     „Nein, das solltest du nicht!“ Lu berührte ihn behutsam am Arm, dass der Andere ihn ansah, aber Wulf ignorierte ihn. Er war zu sehr in seinem Schmerz gefangen. „Komm, lass uns weitergehen.“
     „Ich will aber nicht!“, ging Wulf ihn plötzlich wütend an. „Ich will was trinken. Ich will, dass das aufhört. Ich will mich nicht mehr so beschissen fühlen.“


Plötzlich kehrte ein Ausdruck von Entschlossenheit auf sein Gesicht zurück, der Lu zuerst hoffen ließ, doch als der Andere dann sagte: „Ich gehe jetzt was trinken“, und ihn stehen ließ, wurde Lu eines Besseren belehrt.
      „Wulfgar, bitte, denk daran, was du dir vorgenommen hast!“
      „Ist mir egal! Ich will nur einen Schluck trinken, damit es besser wird. Danach trink ich auch nie wieder was.“
      „Das sagst du jetzt, aber dann tust du es trotzdem wieder.“


Lu holte auf und stellte sich ihm in den Weg, packte ihn an den Schultern. „Komm schon, du schaffst das! Du bist stärker als das!“
     Doch da wurde Wulf richtig wütend. Er schubste Lu barsch, der wie ein Zweig im Wind unspektakulär und ohne Gegenwehr zu Boden ging.  


Wulf war erschrocken darüber, und es war nicht so, dass Lu es nicht war, aber er fing sich schnell wieder und rappelte sich auf, als wäre er nicht gerade böse auf sein Steißbein gefallen. Er unterdrückte den schreienden Schmerz, tat ruhig und klopfte sich den Dreck ab.
      „Weißt du, du solltest schon allein deswegen nicht mehr trinken, damit dir das nie bei Luna passiert. Du willst ihr doch nicht wehtun, oder?“


Als Wulf betroffen den Kopf schüttelte, versuchte Lu es erneut, eine Hand auf seine Schulter zu legen. „Gut, dann kämpfe dafür aufzuhören! Sei stark und trink nicht mehr! Nie wieder, hörst du?“
      „Ich schaff das nicht. Ich halt das nicht durch.“
      „Du schaffst das! Ich weiß es!“


„Und ich bin ja auch noch da, um auf dich aufzupassen“, versicherte Lu und schenkte dem Anderen ein zuversichtliches Lächeln. „Du kannst immer zu mir kommen, wenn du glaubst, es nicht zu schaffen. Na komm! Lass uns zurückgehen und ich erzähle dir ein paar Geschichten. Vielleicht werden sie dich ablenken können.“
      Wulf nickte unsicher und ließ es dann zu, dass Lu ihn sachte umdrehte und wegführte.


Sie kehrten also zum Hof zurück. Wulfs Zittern war den Weg über zunächst so schlimm geworden, dass er seine eigenen Hände hatte festhalten müssen, aber schließlich hatte er sich wieder beruhigen können. Zumindest ein bisschen.
     Als sie dann in Julius‘ Hof einkehrten, fanden sie Elrik bei der Arbeit im Garten vor. Um Wulf abzulenken, ging Lu zu ihm. Anya war auch dort, doch sie saß auf einem Stuhl hinter dem Arbeitenden. Lu war erleichtert, sie wieder wach zu sehen, auch wenn sie gerade ein ziemlich unglückliches Gesicht machte.


„Was macht ihr denn da?“, fragte Lu das Offensichtliche.
     „Das nennt man helfen“, gab Elrik zurück. „Als Dank dafür, dass sie uns hier aufgenommen haben.“
      Da sprang Anya plötzlich auf die Beine und protestierte: „Ich will auch helfen!“
     „Du bist noch immer krank, also ruh dich bloß aus! Eigentlich solltest du nicht mal hier sein, sondern im Bett liegen. Ich habe dich bloß mitkommen lassen, weil die Sonne dir guttun wird“, erwiderte Elrik und fügte dann leiser hinzu: „Und weil ich dich nicht allein lassen wollte.“


Lu war sich ziemlich sicher, dass er Anya bloß um sich haben wollte. Es war ihm schon zuvor aufgefallen, dass sich etwas bei Elrik verändert hatte. Seitdem Anya fortgegangen war, seitdem er sie wiedergefunden und voller Sorge um sie gewesen war. Und wenn er Elrik jetzt sah, dann wirkte er genauso wie damals, als er zu ihm gekommen und ihn wegen Akara um Hilfe gebeten hatte. Nicht so verzweifelt vielleicht, aber genauso vernarrt. Lu war froh, dass Anya und Elrik scheinbar doch noch zusammengefunden hatten nach all den Jahren. Sie taten sich gegenseitig gut und es war eine Erleichterung, dass Elrik nicht mehr andauernd wütend war.


„Ich helfe auch mit“, eröffnete Lu. „Und du auch, Wulfgar! Na komm!“
     Was Elrik dazu brachte, sich irritiert umzusehen. „Seit wann ist Wulfgar denn zurück?“
     Lu musste also erstmal aufklären, dass sein junger Begleiter ebenfalls Wulfgar hieß, was Elrik glücklicherweise mit einem Schulterzucken abtat, bevor er sich wieder an die Arbeit machte.


Es war, als sie gerade mit der Gartenarbeit begonnen hatten, dass Lu die wunderschöne Musik auffiel, die leise zu ihnen drang. Er lauschte ihr eine Weile und fragte sich, wo sie wohl herkam, bis ihm auffiel, dass jemand auf sie zukam und ausgerechnet vor ihm stehen blieb.


Es war ein junger Knabe. Der, der ihn damals in Julius‘ Schlafzimmer hatte helfen sollen, sich anzukleiden. Er wirkte sehr höflich. Nur verstand Lu trotzdem kein Wort von dem, was er zu ihm sagte. Mal wieder.


Doch Wulf kam ihm glücklicherweise zu Hilfe und übersetzte: „Er sagt, dass sein Herr dich rufen lässt.“
     „Dann solltest du ihn lieber nicht warten lassen. Das wäre unhöflich“, meinte Elrik.
     Lu wollte aber alles andere, als mit Julius allein zu sein. Der Mann hatte noch immer so eine unheimliche Wirkung auf ihn.
     „Ich würde aber lieber zuerst die Gartenarbeit beenden“, sagte er und Wulf bat er: „Kannst du ihm das vielleicht sagen?“
     „Wir machen das schon“, grätschte Elrik blöderweise dazwischen. „Geh du nur.“


Also ging Lu unwillig mit dem Jungen, der ihn geradewegs dorthin führte, wo die Musik herkam. Und obwohl sie ihn davor noch so fasziniert hatte, fühlte er sich jetzt, als würde man ihn zur Schlachtbank führen, je näher sie ihr kamen.


Er nahm kaum etwas wahr, bis er schließlich vor dem Hausherrn stand, der ein merkwürdiges Instrument in den Händen hielt, das Lu noch nie zuvor gesehen hatte. Und dessen Klang ihn augenblicklich in seinen Bann zog. Es war ihm, als hätte das Instrument jegliche Befangenheit, jegliche Sorge und Scham von seinen Schultern gefegt, so als wären sie nie dagewesen. Plötzlich schien es nur noch ihn und das wundervolle Lied zu geben, das Julius sang.


Erst als das Spiel plötzlich unterbrochen wurde, kehrte auch Lu ins Diesseits zurück, und erst da bemerkte er, dass Julius ihn ansah. Doch jegliche Scham, die er zuvor noch verspürt hatte, war verschwunden. Stattdessen brach er jetzt in jubelnden Applaus aus.
    „Das war wundervoll!“, rief er begeistert. „Das Lied, das du gesungen hast: Von was handelt es?“
    „Oh, es ist eine gar herzzerreißende Fabel zweier Nachbarn, des schönen Jünglings Pyramus und der holden Thisbe, die in Liebe zueinander entflammten, doch denen die Väter die Ehe verwehrten.“
    „Was ist dann passiert?“
    „Ihre Häuser teilten eine Wand und in der Wand war ein Ritz, durch den die Liebenden im Geheimen kosende Worte austauschten, und eines Tages verabredeten sie, des Nachts davonzuschleichen und sich unter einem Maulbeerbaum, nahe einer kühlen Quelle, zu treffen. 
     Thisbe kam zuerst, doch sie sah eine Löwin nahen, das Maul vom letzten Mahle noch blutverschmiert. Da floh sie und suchte Zuflucht in einer finsteren Höhle, und wie sie floh, fiel ihr der Schleier vom Rücken. Die Löwin stillte ihren Durst und als sie den Schleier fand, zerriss sie ihn mit blutigem Maul. 
     Pyramus, der nun den Ort des Treffens erreichte, fand nur jenen blutigen Schleier und da er dacht', dass seine Liebste gefressen ward, stößt er sich das Schwert in den eignen Leib, und sein Blut färbt die strahlenden Früchte des Maulbeerbaumes schwarz. 
     Thisbe kehrt da zurück, und als sie den Baum sieht, ist sie verwirrt ob der fremden Farbe der Früchte. Und wie sie Pyramus‘ blutigen Leib bemerkt, wird sie bleich. Sie ruft ihn, aber der Sterbende schafft es nur einmal noch, die Augen zu öffnen. Thisbe klagt um den Toten und beschließt, ihn  in den Tod zu folgen. Sie bittet die Eltern, wenn schon die Liebe zu Leibzeiten ihnen verwehrt, ihnen das gemeinsame Grab nicht zu wehren, bevor sie sich ebenfalls auf des Liebsten Schwert wirft. 
     Und tatsächlich rührt ihre Bitte die Götter und die Eltern: Der Maulbeerbaum trägt von da an schwarze Früchte als Zeichen des Mordes und Pyramus und Thisbe ruhen in gemeinsamer Urne.“      


Lu war so fasziniert, dass er sogar noch starrte, als Julius seine Erzählung schon beendet hatte. Der lächelte gefällig, bevor er neben sich wies und sagte: „Ich hoffte, dass du inzwischen wieder hierhergekommen bist, Lu Pulcher. Geselle dich zu mir und erfreue uns mit deiner wohlklingenden Stimme Lied.“
     „Nun… ich… weiß nicht, ob ich das Zeug dazu habe. Ich würde dein wunderbares Spiel nur verunstalten mit meinem Gesang.“
     „Hab nur keine Scheu. Deine Stimme wird meinem Spiel gewiss schmeicheln.“


Er wies erneut neben sich und Lu blieb keine andere Wahl, als neben ihn zu treten und anzufangen, das rituelle Lied zu singen, das er schon am See für den Wassergott gesungen hatte. Es war viel schneller und holpriger als das melodische, sanfte Stück, das Julius davor gespielt hatte, aber der begleitete ihn, als hätte er nie etwas anderes gemacht, und es hörte sich ganz fantastisch an. Lu hatte nicht einmal gedacht, dass dieses sanfte Instrument zu solch lebhaften Weisen fähig war.  


Während er sang, im Einklang mit dem Spiel von Julius, erreichte Lu einen Zustand, den er für gewöhnlich nur erreichte, wenn er zu den Göttern betete. Ein Gefühl von Freiheit und Leichtigkeit, das ihn geradezu berauschte. Er verlor sich in seinem Gesang und wurde noch eine Spur schneller, noch ein wenig inbrünstiger. Die Welt um ihn herum war vollkommen verschwunden, da waren nur noch er, seine Stimme und das liebliche des göttergleichen Instrumentes.


Und als er das Lied schließlich beendete und in die Wirklichkeit zurückkehrte, war er verschwitzt und vollkommen heiser, und er sah plötzlich er in zahlreiche Gesichter. Sie hatten inzwischen Zuhörer bekommen. Das war Lu schon ein bisschen peinlich. Er war es ja gewohnt, vor anderen zu singen, aber bislang waren das immer nur die vertrauten Gesichter seines Stammes gewesen. Er hatte nie vor so vielen Fremden gesungen.


„Das war ganz wundervoll, Lu Pulcher“, lenkte ihn Julius Stimme jetzt glücklicherweise von seiner Scham ab.
     „Das hörte sich bloß gut an, weil du so gut gespielt hast. Dein Instrument. Was ist das? Ich habe so etwas noch niemals gesehen.“
     Im Stamm benutzten sie nur Trommeln und Luis hatte ihn bei seinen Gesängen manchmal mit der Flöte begleitet.
     „Dies ist das Instrument Apollos: die Lyra.“
     „Sie klingt wundervoll. Ich habe so etwas Schönes noch niemals zuvor gehört.“


„Dann sei mein Gast, wenn ich die Musiker und Dichter allerorten einlade, dass wir zusammen musizieren. So Fortuna dir hold ist und Darsteller meiner Ladung folgen, können wir gar ein Theater aufführen. Ich selber bin der Dichtkunst und der Kunst der Schauspielerei nicht abgeneigt und es würde mein Herz erfreuen, dir etwas vorzutragen.“
     Lu war begeistert davon. Er wäre am liebsten so lange geblieben, bis er all die Dinge gesehen hatte, von denen Julius sprach. All die Dinge, die so wunderbar für ihn klangen, aber denen er in seinem Stamm viel zu selten nachgehen konnte. Es hatte sich auch nie jemand gefunden, mit dem er seine Leidenschaft für diese Dinge, die Julius Kunst nannte, hatte teilen können. Er war ja schon froh gewesen, dass sie aufgehört hatten, es als Zeitverschwendung abzutun, nachdem er Schamane geworden war.


Es gab da nur ein Problem.
     „Ich würde mich freuen, eure Aufführungen anzusehen... So lange, wie wir noch hier sind, versteht sich.“
     „Du und auch deine Begleiter seien herzlich eingeladen, meines Hauses Gäste zu sein, so lang es euch auch beliebt.“
     „Ich fürchte nur, dass meine Begleiter nach Hause gehen wollen, sobald Anya wieder ganz gesund ist. Sie können solchen Dingen nicht so viel abgewinnen.“


„Wie bedauerlich. Es muss eine gar triste Gegend sein, aus der du stammst.“
     Es traf Lu irgendwie, dass er das sagte. Er hatte bislang nie an seinem Zuhause gezweifelt, hatte nie in die Welt hinausgehen wollen, aber jetzt, wo er es doch getan hatte, sah er, dass es scheinbar noch so viel mehr gab, das er kennenlernen und erleben konnte. Leute, die Hilfe brauchten, Künste, denen er nachgehen könnte.


„Dennoch“, fuhr Julius fort, als Lu nur mit Schweigen antwortete, „wünschest du zu bleiben oder erneut eine Reise hierher anzutreten, bist du immer gern als Gast in meinem Hause gesehen. Diese Gefilde, die sind mein Heim, fern der großen Stadt, ermangeln leider gar zu oft guter Gesellschaft wie der deinen.“
     „Die große Stadt?“
     „Rom, die Beherrscherin der Welt, die Blüte der Kunst, Wissenschaft und Philosophie. Einer Rose inmitten von verdorrender Ödnis gleich. Solltest du dorthin reisen – du solltest dorthin reisen! – erbiete ich mich dir auch mit Freuden als Städteführer.“  
     Alin hatte schon von der Stadt erzählt. Er war dahin aufgebrochen, weil er gemeint hatte, dass sie ziemlich groß war. Ziemlich groß und verwirrend für Landeier wie sie wahrscheinlich. Lu kam sich plötzlich so hinterwäldlerisch vor. Da gab es so viele Dinge, die er nicht kannte. Vielleicht sollte er wirklich einfach mal mit Julius nach Rom gehen.
     Andererseits…


„Nun, wenn ich Rom jemals besuchen werde, weiß ich ja, an wen ich mich wenden muss“, erwiderte er reservierter.
     „Ich bin immer gern zu Diensten, Lu Pulcher.“
     „Warum nennst du mich eigentlich immer so? Was bedeutet dieses Pulcher?“
     „Was es bedeutet, musst du selbst ergründen“, antwortete Julius schmunzelnd. „Es ist eine Gewohnheit der Leute hier, Titel anzuhäufen wie manch anderer Reichtum. Deshalb schenke ich meiner Bekanntschaft gern den ein oder anderen Titel, sofern mir nicht geläufig ist, welchen Titel sie in Wahrheit führen. Bekleidest du denn ein Amt, das eines Titels würdig ist, Lu Pulcher?“
     „Nein. Ich war bislang Schamane, aber mein Nachfolger hat inzwischen übernommen.“
     Und jetzt war er nur noch ein Bauer, aber das wollte er lieber nicht sagen. Er kam sich schon ärmlich genug vor.


„Ein Schamane“, probierte Julius das Wort, als würde er in einen bitteren Apfel beißen. „Dies erklärt, weshalb deiner Gedanken Welt und die der Priesterin sind von einer Art.“
     „Was weißt du eigentlich über sie?“
     „Meine Kenntnis der Priesterin ist leider nur gering. Sie kam vor ein paar Wochen erst hierher und ersuchte nach ihrer entschwundenen Sklavin.“
     „Sie hat eine Sklavin?“, fragte Lu erschrocken. Er hatte schon von seinem Wulfgar gehört, was ein Sklave war.
     „Sofern sich mein Gehör nicht getäuscht, ist die Sklavin eine Entflohene unter der Priesterin Schutz. Sie verschwand hier in diesen Gefilden, und jetzt fürchtet die Priesterin, Händlern oder Jägern der Sklaven könnte sie in die Hände gefallen sein.“
     Luna suchte also nach einer geflohenen Sklavin, die unter ihrem Schutz stand. Merkwürdig, dass sie davon vorher nicht gesprochen hatte. Nach der Kreatur ihrer Göttin hatte sie gefragt, aber nicht danach, ob Lu vielleicht die verschwundene Sklavin gesehen hatte.
     „Möchtest du mir Gesellschaft leisten bei einem gar köstlich süßen Wein, Lu Pulcher?“, fragte Julius ihn. Lu schreckte aus seinen Gedanken, lehnte aber höflich ab, und da neigte Julius das Haupt, wie er es immer zum Abschied tat.


„Oh, Julius!“, rief Lu ihm nach, als der Hausherr schon die Bühne verlassen hatte, und dann stolperte er wieder ein bisschen über seine Worte. „Danke für das freundliche Angebot, unser Gastgeber zu sein. Nein… danke dafür, dass du uns jetzt schon eine Herberge gibst. Dass du uns den Wein gegeben hast, damit wir die Räuber überlisten konnten. Dass du uns geholfen hast, meine ich.“
     „Dies ist meine Pflicht, um ein guter Gastgeber genannt zu werden. Doch du musst nicht solch förmliche Anreden benutzen und mich bei dem Namen meiner Familie rufen, Lu Pulcher. Es würde mein Herz erfreuen, dich einen guten Freund zu nennen, und wenn du bist ein Freund, so nenne mich bei meinem Rufnamen: Pavo.“
     Lu war ein bisschen verwirrt darüber, weil er noch nie davon gehört hatte, dass jemand mehr als nur einen Namen hatte. Aber dann erinnerte er sich daran, dass das nicht stimmte. Die Mitglieder der Familien in seiner Gegend hatten alle neben ihrem Rufnamen noch einen zweiten Namen, den alle Familienmitglieder teilten. Sein Wulfgar beispielsweise hieß Blum, wie seine Schwester Greta ebenfalls Blum hieß.
     „In Ordnung… Pavo.“
     Julius schenkte ihm noch einen Blick, der ihm heiß werden ließ, bevor er ging. Und alle ihre Zuschauer waren auch längst wieder verschwunden, wie ihm auffiel.


Lu war – wie immer, wenn er mit Julius zu tun hatte – ziemlich zerstreut, als er in den Innenhof zurückkehrte. Deshalb dauerte es ein bisschen, bis er überhaupt realisierte, dass seine Gefährten nicht mehr dort waren, wo er sie zuletzt gesehen hatte. Der Garten des Hofes war wie leergefegt.
      Während er noch überlegte, wo sie wohl hingegangen waren, bemerkte er, dass das Singen ihn ziemlich durstig gemacht hatte. Er bedauerte ein klein wenig, dass er Julius‘ Angebot eines guten Weines nicht doch angenommen hatte, schob den Gedanken dann aber hastig beiseite. Nie und nimmer nicht würde er mit diesem gefährlich anziehenden Mann allein trinken gehen. Oder überhaupt mehr als unbedingt nötig mit ihm zu tun haben.


Also suchte er auf eigene Faust nach einem Trinkbrunnen. Ein leises Wasserplätschern hatte vorher seine Aufmerksamkeit erregt, also war er dem nachgegangen und hatte sich bald darauf in einem nahgelegenen, offenen Raum wiedergefunden. Neben zweien dieser Brunnen, bei denen das Wasser auf magische Weise aus geformten Steinmäulern aus der Wand lief, gab es hier tatsächlich einen gebändigten Fluss. Einen Fluss! Er war in einem langen, steinernen Kasten gefangen, der oben zahlreiche Löcher hatte, durch die Lu den Fluss fließen sehen konnte. 
     Er fand sowas ja völlig verrückt. Wie man wohl aus sowas trank? Und was wohl diese ganzen Schwämme da machten?
     Er hatte sich gerade dazu entschlossen, einfach mal mit der Hand durch eines der Löcher zu greifen und zu schöpfen, als eine laute Stimme von draußen ihn davon abhielt, unwissentlich aus einer Toilette zu trinken.


Draußen wurde er dann Zeuge davon, wie ein älterer Mann den Knaben schlug, der ihn vorher erst zum Hausherrn gerufen hatte.


Lu ging natürlich sofort dazwischen, doch erneut erwies sich die Sprache, die er nicht verstand, als unüberwindbare Barriere.


„Was gibt es denn für ein Problem?“, mischte sich jemand ein, und als Lu nachsah, kam gerade Samuela auf sie zu.
     „Dieser Mann da schlug diesen armen Jungen“, berichtete er mit verhohlener Entrüstung. „Ich weiß natürlich nicht, was er angestellt hat, aber seine Reaktion schien mir ein wenig übertrieben zu sein.“
     „Nun, es ist aber seine Aufgabe, die anderen Sklaven zu züchtigen, wenn sie nicht spuren“, erklärte Samuela ihm.
     „Sklaven?“ Lu sah erschrocken von dem Schläger zu dem Jungen. „Er ist ein Sklave?“
     „Ja, das ist er. Sie beide. Als Gast dieses Hauses solltest du dich aber nicht mit solchen Ärgernissen beschäftigen müssen. Das tut mir leid.“


„Warum habt ihr überhaupt Sklaven? Die Götter schufen uns alle gleich und niemand sollte einem anderen die Freiheit nehmen und ihn die Arbeit verrichten lassen, die man selber verrichten kann.“
     Samuela sah tatsächlich überrascht aus. Schließlich fing sie sich aber wieder, sagte zu den anderen beiden etwas in ihrer Sprache und nahm Lu dann zur Seite. 


Als sie eine ruhige Ecke erreicht hatten, erklärte sie: „Du solltest das lieber nicht zu laut sagen. Mein Bruder wird das nicht gern hören. Und er ist derjenige, der hier das Sagen auf dem Hof hat.“ Untröstlich fügte sie hinzu: „Ich weiß ja, was du meinst. Ich sehe es genauso, aber mein Bruder will nicht auf mich hören. Er sagt, dass wir den Hof niemals führen könnten, wenn wir keine Sklaven hätten. Aber ich sehe das anders. Wir haben genug Geld, um Arbeiter zu bezahlen. Und wenn er auch mal mit anpacken würde, anstatt den ganzen Tag nur in Müßiggang zu schwelgen, bräuchten wir keine Sklaven.“
     Lu war erschrocken, als er das hörte. Er hatte zuvor noch so große Stück auf Julius gehalten, ihn wie ein Idol angehimmelt, aber plötzlich sah er, dass sein Idol auf ziemlich wackeligen Beinen stand. Dass er auf dem Rücken zahlreicher armer Sklaven stand.


„Aber, bitte, du darfst ihm nicht sagen, dass du das von mir weißt“, fuhr sie jetzt beinahe ein bisschen verängstigt fort. „Sonst wird er mich wieder auspeitschen lassen.“
     „Er hat tatsächlich die Hand gegen dich erhoben?“, fragte er entgeistert.
     „Er ist der Hausherr und ich bin nur eine Frau. Ich habe ihm nichts zu sagen.“
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Hier weiterlesen -> Kapitel 105 

Hier stellt sich natürlich die Frage, ob Julius überhaupt so eine Verfügungsgewalt über seine Schwester haben kann. Römerinnen waren, im Vergleich zu bspw. den Griechinnen, Germaninnen oder den Frauen im Mittelalter, sehr emanzipiert und gleichberechtigt. Aber eben nur im Vergleich. Sie waren nur beschränkt geschäftsfähig, konnten keine politischen Ämter bekleiden, nicht wählen, ihre Rechte gingen kaum über ihre eigene Person hinaus und sie standen meistens unter der Vormundschaft, der patria potestas von jemandem (unter der jedoch auch die Männer standen. So konnten Männer und Frauen, egal welchen Alters bspw. nicht einmal ohne Zustimmung heiraten, sofern ihr Vater noch lebte. Und der konnte auch die Ehen seiner Kinder einfach scheiden lassen, wenn er denn wollte.). Aber das kam auch alles auf die Zeit, die Eheform und den Umstand der Frau an, und das hier alles zu erklären, würde doch den Rahmen sprengen. (Weiterführende Informationen hier: Frauen im alten Rom)
     Deshalb zurück zur spezifischen Frage: Ja, Julius hat in diesem Fall so eine Verfügungsgewalt, da er die patria potestas über seine Schwester bekommen hat. Ist nur die Frage, ob Samuela auch die Wahrheit erzählt oder Lu nicht nur einen vom Bären erzählt. Ich will zu gegebener Zeit, wenn Samuelas und Julius' Hintergründe mal beleuchtet werden, noch mehr darauf eingehen, warum das so ist.

Zu den Namen: Wie wir erfahren haben, ist Julius gar nicht der Name vom Gastgeber unserer Reisenden, sondern nur sein Familienname (auch wenn er im Text weiterhin Julius bleiben wird). Und zwar ist das in den Anfangszeiten von Rom so gewesen, dass man zuerst zwei Namen hatte, bevor sich später drei Namen etabliert hatten. Und das sieht dann so aus: 

Vorname (Praenomen), Familienname (Nomen gentile), Beiname (Cognomen)

In Julius Fall ist das:              Sextus Julius Pavo

Der Vorname wurde kaum je benutzt. Bekannte/Fremde/Höhergestellte sprach man mit ihrem Familiennamen an (es gab KEIN! höfliches Sie/Ihr/Euch/Er, man sprach den anderen mit "du" an und drückte Höflichkeit aus, indem man den Familiennamen benutzte). Und Freunde wurden beim Beinamen gerufen. Der Beiname sollte dabei eine besondere Eigenschaft der Person beschreiben. Wie in diesem Fall Pavo, was "Pfau" heißt. Oder Pulcher "Der Schöne". Neben diesen drei Namen konnte man noch Ehrentitel und dergleichen in seinem Namen führen (bis zu dem Extremfall des Konsuls, der 38 Namen führte). 
     Dies gilt für Männer, Frauen wiederum trugen meistens den Familiennamen ihres Vaters in weiblicher Form (Bspw. Julius -> Julia, Claudius -> Claudia etc.). Schwestern wurden mit "maior" (die Ältere), "minor" (Die Jüngere), "tertia" (Die Dritte), etc. durchnummeriert. Beispiel: Julia maior, Julia minor etc.

Das war jetzt schon ein bisschen mehr, als ich das wollte, deshalb die anderen Punkte schnell noch:
1. Die "Lyra" ist natürlich eine Harfe. Ich habe leider keine Lyra für S3 gefunden, die zu jener Zeit eher gespielt wurden, als Harfen. 
2. Ja, Lu hätte fast aus einer Toilette getrunken (wer mal sehen will, wie so eine latrina in echt aussah hier ein Bild.)
3. Die Geschichte von Pyramus und Thisbe stammt aus den "Metamorphosen" von Ovid, und ich habe sie gewählt, weil sie mir wie eine Oma von "Romeo und Julia" vorkommt (Shakespeare war begeisterter Metamorphosen-Leser).

Und zu guter Letzt geht mein Dank mal wieder an mammut raus, die meine Klage vernommen und Julius' armen Sklaven geholfen hat, nicht mehr so auszusehen, als würden sie in Unterwäsche rumlaufen. Einmal vorher:


Und nacher:


Vor allen Dingen die Frau ganz links bedankt sich sehr. Ich hatte mich sowieso geärgert, dass ich sie so wie oben hergerichtet hatte. Denn Julius würde seine Diener nie so liederlich rumlaufen lassen und ohne den Gürtel lief sie bislang ja in ihrer Unterwäsche rum. Deshalb habe ich die drei Szenen oben nochmal neu aufgelegt. Allerdings werden die alten Versionen auch noch einmal vorkommen, da ich bereits eine Szene gemacht habe, die ziemlich aufwändig gewesen war und die doch ziemlich gut rausgekommen ist, finde ich.

Nächstes Mal dann versucht Lu, Julius wegen den Sklaven ins Gewissen zu reden, und Wulfgar und Luna führen ein Gespräch miteinander. 

Ach ja, Rahns Geschichte geht übrigens auch weiter, sieben Kapitel zu seiner Jugend:




Das war es dann aber auch (endlich!). Ich entschuldige mich für das viele Blabla, bedanke mich für eure Aufmerksamkeit und verabschiede mich! Ich hoffe, ihr seid gut ins neue Jahr gekommen, und wünsche euch alles Gute für 2020!

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