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Dienstag, 31. Dezember 2019

Teil 10 - Mutter



Als ich in unsere Höhle zurückkehrte, die wir vielleicht bald verlieren würden, war Mutter gerade wach. Da ich heute Morgen direkt nach dem Frühstück gegangen war und sie da noch geschlafen hatte, ging ich gleich zu ihr, um sie zu begrüßen. Vielleicht hatte sie ja eine Idee, was man wegen dieser ganzen Stammesstreitigkeiten tun konnte.   


„Geht es dir heute besser?“, fragte ich sie.
     Doch sie antwortete mir nicht. Sie sah mich nur an, als würde sie mich nicht verstehen – ja sie wirkte ängstlich, glaubte ich – und dann fragte sie: „Wer bist du?“ Sie sah sich verwirrt um. „Wo bin ich hier?“
     „Ich bin’s, Rahn, dein Sohn“, sagte ich ihr irritiert. „Und du bist Zuhause. Was ist los, Mama? Geht’s dir wieder schlecht?“


Erneut starrte sie mich an und ihr Blick war so vernichtend, dass ich einen Stich im Herzen fühlte, noch bevor sie behauptete: „Du bist nicht mein Sohn! Ich habe keinen Sohn! Was hast du mit mir gemacht? Wo hast du mich hingebracht?“


Plötzlich ging sie auf mich los und ich war so überrumpelt davon, dass sie es schaffte, mir die Wange zu zerkratzen. Ich sprang entsetzt auf die Beine, und sie blieb glücklicherweise, wo sie war. Stattdessen begann sie jetzt, wüst zu fluchen. Was war nur mit ihr los? Es war, als hätte ich eine Fremde vor mir. Ich konnte nicht verhindern, dass ich vor Angst gelähmt war. Das war mir ewig nicht mehr passiert.
     Erst, als sie sich an den Kopf fasste und ihr Gesicht Schmerzen zeigte, kam ich wieder zu mir.


Sofort war ich bei.
     „Mama…“
     Da sah sie mich an, und ich erkannte, dass sie wieder da war. „Rahn“, flüsterte sie schwach und dann wurden ihre Augen groß. Sie legte eine Hand auf meine Wange, die sie mir eben noch selber zerkratzt hatte. „Dein Gesicht… was ist passiert? Hattest du einen Jagdunfall?“


Sie erinnerte sich nicht daran, was sie getan hatte, wurde mir klar. Ich nahm ihre Hand in meine und lächelte beruhigend. „Das ist nur ein Kratzer. Ich hab ihn gar nicht bemerkt. Geht es dir wieder besser?“
     „Ja…“ Sie sah sich um. „Wo sind denn alle?“
     „Es ist Nachtmittag.“
     „Nachtmittag?“, fragte sie erschrocken. „Warum habt ihr mich denn nicht aufgeweckt?“
     „Wenn du wieder gesund werden willst, musst du dich ausruhen“, belehrte ich sie.
     Sie sah so betroffen aus. Sie wusste, dass etwas mit ihr nicht stimmte, mutmaßte ich.


Um sie abzulenken, erzählte ich ihr von meinen Versuch, Frieden zu stiften. Ich hatte mir ja sowieso Rat von ihr erhofft. Aber als ich fertig erzählt hatte, sah sie nur noch betroffener aus.


„Rahn“, begann sie streng, „ich weiß, dass du nur helfen willst, aber ich – wir, dein Vater und ich – wollen ganz sicher nicht, dass du dein Glück für das Wohl des Stammes opferst.“ Sie nahm meine Hand in ihre und sah mir fest in die Augen. „Für uns ist es das Wichtigste, dass du glücklich bist, mein Junge. Also such dir eine nette Frau, die du auch haben willst und lass uns diese unselige Sache mit Ur klären. Wir sind es schließlich, die für den Streit verantwortlich sind.“
     Ich war einfach nur sprachlos. Wo ich doch gedacht hatte, dass meine Eltern es sowieso nicht verstehen würden, dass mir bei meiner zukünftigen Gefährtin nicht unbedingt Kraft und Gesundheit, sondern Zuneigung wichtig war.


„Ich hab dich lieb, Rahn“, sagte sie jetzt und da tat mir wieder das Herz weh, weil ich unwillkürlich an ihren Ausbruch vorher denken musste. Aber als ich ihr liebevolles Lächeln sah, beruhigte es sich wieder.


Doch dann kehrte der Schmerz zu ihr zurück und zu mir die Angst.
     „Du solltest dich wieder hinlegen“, sagte ich ihr besorgt.


Sie gab ein zustimmendes Brummen von sich, und ich half ihr, sich wieder hinzulegen.


Ich wollte es Vater erzählen – ich wollte es wirklich. Aber alles, was ich ihm erzählte, war, dass Mutter mich einen Moment lang nicht erkannt hatte. Er nahm es so hin. So, wie er alles immer hinnahm. Ich konnte gar nicht sagen, ob er sich Sorgen machte oder nicht, er zeigte es ja nicht, und obwohl ich das sonst immer bei ihm bewundert hatte, störte es mich diesmal.


Mutter schlief den ganzen Tag hindurch und als sie auch am nächsten Tag Kopfschmerzen hatte, schickte Vater mich mit Ana los, damit sie Ruhe hatte. Ich hatte keine Ahnung, wo ich mit der Kleinen hingehen sollte – meine Gedanken waren eigentlich auch ganz woanders und ich wäre wirklich lieber Zuhause gewesen. Ich konnte nicht aufhören, mir Sorgen zu machen. Ana langweilte sich auch bald schon und beschwerte sich andauernd. Ich ignorierte sie, so gut es ging, bis sie mich irgendwann nicht mehr ließ.
     Also fragte ich sie, wo sie denn hingehen wollte, und dann ging ich mit ihr Richtung Nebelwald. An dessen Rand wuchsen wohl irgendwelche „hübschen Blumen“, die sie haben wollte.  


Wir waren gerade erst angekommen, Ana hatte erst eine Strophe unseres ellenlangen Stammesliedes gesungen, als wir Gesellschaft bekamen. Es war ein Mädchen, wie ich sie noch nie zuvor gesehen hatte. Mit Haar, so leuchtend rot wie ein Apfel. Halt, nein, ich hatte sie schon einmal gesehen, fiel mir ein. Ich hatte sie mit dem Jungen, Tann glaube ich, letztens zusammen am Strand gesehen.


Sie kam auf uns zu, als sie uns bemerkte, musterte erst Ana, dann mich von oben bis unten, bevor sie mit Fingerzeig auf meinen Bogen fragte: „Kannst du damit umgehen?“
     Ich hatte ihn für den Fall mitgenommen, dass wir irgendetwas begegneten, das man lieber nicht zu nahe an sich rankommen lassen sollte. Aber Ana hatte ja schon Angst, den Nebelwald zu betreten, in dem ich mit Vorliebe alleine jagte. Ich war da eine Ausnahme, wie ich wusste.
     „Ja, kann er“, antwortete Ana an meiner statt. „Er ist der beste Bogenschütze weit und breit“, behauptete sie.
     Die Andere ignorierte sie vollkommen und fragte mich weiter: „Kannst du’s mir beibringen, wie man damit schießt?“
     „Du bist ein Mädchen!“, empörte sich Ana, und ich kam immer noch nicht zu Wort.


Jetzt nahm die Andere doch mal Notiz von ihr. „Na und? Mädchen können alles tun, wenn sie wollen. Ich bin Tanna vom Uruk-Stamm“, stellte sie sich stolz vor und erinnerte mich damit ziemlich an Tann damals. „Und ich werde eines Tages die Gefährtin von Tann werden, der unser nächster Stammesführer sein wird. Also muss ich alles lernen, was er auch kann, um eine starke Frau für ihn zu werden.“


 „Pff! Sowas Bescheuertes! Wir Mädchen müssen keine Männersachen lernen, weil dafür sind ja die Männer da. Wir Mädchen müssen Frauensachen lernen, weil wer näht sonst die Kleider oder kocht das Essen? Wenn du nur Männersachen lernst, wird dich gar kein Mann haben wollen.“
     „Blumenpflücken wird mir aber bestimmt auch nicht dabei helfen.“
     Ana ließ ihre Blumen fallen und ihr Kopf wurde so rot wie das Haar des anderen Mädchens, und da beschloss ich, lieber einzugreifen. Sie war ja in guten Zeiten schon nicht gerade für ihr ruhiges Temperament bekannt.


 „Ich glaube nicht, dass es eine gute Idee ist, wenn du allein hier bist, Tanna“, lenkte ich ab. „Es ist hier nicht gerade ungefährlich.“
     „Ich bin aber doch gar nicht allein“, behauptete sie. „Die Geister sind immer bei mir und zeigen mir Verstecke und alles.“
     Ana lachte gackernd, aber mir fiel jetzt eine gewisse Ähnlichkeit mit jemandem bei Tanna auf.
     „Kann es sein, dass du irgendwie mit Tibit zu tun hast?“, fragte ich sie.
     „Tibit ist mein Papa“, antwortete sie stolz, dann gingen ihre Augen plötzlich an mir vorbei ins Leere.


„Da ist ein Geist neben dir“, berichtete sie mir abwesend. „Er will… er will dir irgendwas sagen… aber… ich weiß nicht was.“
     Ihr Finger ging jetzt in die andere Richtung und als ich sah, wohin sie zeigte, hatte ich sofort ein schlechtes Gefühl. „Er zeigt dahin. Und er hat Angst.“
     Nicht nur er. Ich fühlte mich plötzlich, als hätte ich Eis in den Adern.


Ich brachte Tanna natürlich noch nach Hause, obwohl sie sich vehement dagegen wehrte, bevor ich mit Ana heimkehrte. Mit jedem Schritt, den wir näherkamen, schien mir der Himmel plötzlich dunkler zu werden.
     Ich wusste schon, dass etwas passiert war, bevor ich das laute Rufen hörte, das aus unserer Höhle kam.


Als ich ankam, lag Mutter am Boden, Vater hatte sie in den Armen, aber sie reagierte nicht auf sein Rufen. Dann bemerkte er uns und seine Augen trafen mich. Ich sah, wie sich seine Lippen bewegten, aber ich konnte ihn einfach nicht verstehen. Da war nur das aschfahle Gesicht meine Mutter, die leblos am Boden lag.
     „Heiler!“, drang es schließlich zu mir vor. „Sie haben beim Uruk-Stamm einen Heiler! Geh und hol ihn!“


Ich nickte mechanisch und dann rannte ich so schnell, wie noch nie in meinem Leben. Meine Brust tat mir weh, aber ich lief weiter. Es fing an zu regnen, aber ich lief trotzdem immer weiter. Der Weg zu dem anderen Stamm, den ich bislang noch nie gegangen war, kam mir unendlich lang vor.


Zelte tauchten irgendwann im Regen auf. Ich hielt auf sie zu, versuchte anzuhalten und rutschte auf dem nassen Gras auf. Ich fiel um, sah ein paar Füße vor mir, und als ich aufschaute, sah ich einer Fremden ins Gesicht.


„Mutter!“, rief ich und die Augen meines Gegenübers zeigten Schrecken. Ich sprang auf. „Meine Mutter! Sie ist krank! Ich brauche Hilfe!“, versuchte ich ihr klarzumachen, doch sie schien nicht zu verstehen. „Schnell!“ 


Plötzlich ein bekanntes Gesicht vor mir. Ich erkannte die roten Haare von Tanna.
     „Papa!“, rief sie laut, und endlich erschien das Gesicht des Alten in irgendeinem Zelteingang.


Tibit lächelte milde. „Ruh dich am besten etwas aus, mein Kind“, sagte er zu meiner Mutter, die nach wie vor schwach war. 
      Sie konnte nicht einmal nicken. Ihre Augen fielen einfach wieder zu, und ich verbrachte einen ganzen bangen Augenblick damit, festzustellen, dass sie noch atmete, bevor ich mich wieder beruhigen konnte.


Der alte Heiler vom Uruk-Stamm erhob sich und verließ die Höhle. Mein Vater folgte ihm ohne Aufforderung, ich zögerte nur kurz, bevor auch ich mitging. Diesmal sagte niemand etwas dagegen.


Als Tibit schließlich anhielt und schwer den Kopf schüttelte, verkrampfte sich mein Herz vor Angst wieder, das gerade noch der trügerischen Hoffnung erlegen war.
     „Da ist etwas in ihrem Kopf, was da nicht hingehört, sagen mir die Geister“, eröffnete er. „Es bereitet ihr Schmerzen, die immer schlimmer werden und lässt sie Dinge vergessen. Es wird zuerst nur kurz sein, aber es wird immer häufiger passieren. Sie wird immer wunderlicher werden. Vielleicht wird sie traurig, wütend oder auch fröhlich. Und dann wird sie…“
     Er sprach es nicht aus, aber das war auch nicht nötig. Wir wussten es auch so. Auch wenn ich weit davon entfernt war, es zu akzeptieren.
     „Wie lange hat sie noch?“, hörte ich Vater, gewohnt gefasst, fragen.


„Halt!“, fuhr ich dazwischen und fragte Tibit erschrocken: „Du kannst ihr doch helfen, nicht wahr?“
     Er schüttelte den Kopf, und mit einem Mal hatte ich einen Kloß im Hals, an dem ich glaubte, ersticken zu müssen.
     „Alles, was ich tun kann, ist, ihr Leid zu verringern“, bot er an.
     „Was soll das heißen?“, fragte ich entgeistert.
     Er präsentierte einen kleinen Beutel.
     „Was ist das?“
     „Schierling. Und Mohn. Er wird die Schmerzen während des Sterbens betäuben.“


Das konnte doch nicht sein Ernst sein! Fassungslos schaute ich von ihm zu Vater, aber als ich sah, dass er aussah, als würde er tatsächlich darüber nachdenken, ging ich ihn an: „Nein! Das können wir doch nicht machen! Das ist Mutter, über die wir hier sprechen! Wir müssen doch etwas tun können, um sie zu retten! Wir können sie nicht einfach töten!“


„Er hat recht“, meinte Vater da, und ich war so unendlich erleichtert, das zu hören. „Wir können das nicht für sie entscheiden. Das muss sie selber tun.“
     Und da war sie wieder, die Angst.


Tibit blieb, bis Mutter wieder aufwachte, und dann ließen wir sie beide allein. Ich wollte das ganz sicher nicht – ich traute ihm zu, dass er sie ohne unser Wissen umbrachte – aber ich hatte keine andere Wahl.


So verbrachten wir eine schrecklich bange Weile draußen, bis Tibit wieder erschien, und alles, was er sagte, war: „Ich habe ihr etwas gegeben, das die Schmerzen betäubt. Ihr solltet jetzt mit ihr reden können.“
     Er verschwand, aber ich beachtete ihn schon nicht weiter. Ich wollte natürlich zu Mutter, aber Vater hielt mich zurück. „Lass mich kurz allein mit ihr reden“, sagte er.


Das gefiel mir nicht, aber ich ließ ihn unwillig zuerst gehen. Erneut Warten. Erneut Bangen. Mit jedem Moment, der verstrich, kroch die Angst ein Stück weiter an mir hoch und ich wurde immer ungeduldiger.


Dann endlich kam er zurück und ich durfte zu ihr. Sie war noch immer viel zu blass, fand ich.
     Sie streckte die Arme nach mir aus und ich ging zu ihr, ließ sie mich umarmen und suchte Trost bei ihr, wie ich es zuletzt getan hatte, als ich ein kleiner Junge gewesen war.
     „Du wirst doch wieder gesund, nicht wahr?“, fragte ich sie, obwohl ich es besser wusste.


Ihr mechanisches Streicheln wurde kurz unterbrochen, aber sie antwortete nicht. Nicht darauf. Stattdessen sagte sie: „Rahn, du weißt, dass ich dich liebe, nicht wahr?“


Ich löste mich von ihr. „Natürlich weiß ich das. Ich liebe dich doch auch.“
     „Du bist das Beste, das mir je passiert ist. Du warst immer das Licht in meinem Leben, das Allerwichtigste, und ich könnte stolzer nicht sein, einen Sohn wie dich zu haben.“
     Sie lächelte so herzlich, dass ich wieder zu hoffen anfing, obwohl es unsinnig war. Doch dann zerbrach ihr Lächeln und mir wurde wieder kalt.


„Du bist mein Sohn“, begann sie mit brüchiger Stimme. „Du wirst immer mein Sohn bleiben. Aber es gibt da etwas, dass ich dir sagen muss.“ Sie zögerte, und was sie dann sagte, traf mich vollkommen unvorbereitet: „Ich habe dich nicht geboren.“ Plötzlich waren da überall Tränen in ihrem Gesicht. „Es gibt da eine andere Frau… im Uruk-Stamm… sie… sie hat dich geboren.“
     Plötzlich sah sie mich an, die Augen so voller Angst und Bestürzung, dass ich selber erschrak.
     „Aber du bist mein Sohn!“, rief sie inbrünstig. „Du wirst immer mein Sohn bleiben, Rahn!“
     Sie starrte mich an, und ich wusste nicht, was ich denken oder fühlen sollte. Alles, was ich denken konnte, war: Sie weiß gar nicht, was sie da sagt. Das muss das Ding in ihrem Kopf sein, das sie wieder wirre Dinge sagen lässt.


Plötzlich verschleierten sich ihre Augen und sie war wieder weg. „Dana… ich habe sie auch nicht geboren… sie ist die Tochter meines Bruders… aber er ist tot, sagt Vater.“ Pause. „Ich habe Durst“, erklärte sie müde.
     Ich reichte ihr abwesend den Becher, der neben ihrer Schlafstätte stand, und dann half ich ihr noch, sich hinzulegen. Ich deckte sie zu und gab ihr einen Kuss, sagte ihr Gutenacht, obwohl ich so durcheinander war, dass ich es nicht einmal realisierte.


Die ganze Nacht hindurch stellte ich mir unsinnige Fragen. Ob sie die Wahrheit gesprochen hatte. Ob sie tatsächlich nicht meine leibliche Mutter war. Oder ob das nur das Ding in ihrem Kopf gewesen war, dass sie wieder Unsinn hatte reden lassen. So wie damals, als sie mich nicht erkannt hatte. Die ganze Nacht hindurch zerbrach ich mir den Kopf über diese unwichtige Frage.


Aber da hatte ich ja auch noch keine Ahnung, dass Dala, meine Mutter, am nächsten Morgen tot sein würde.


Als ich auf halbem Wege zum Uruk-Stamm war, holte Vater mich ein und stellte sich mir in den Weg.


„Was hast du vor?“, wollte er wissen.
     „Ist das nicht offensichtlich?“, gab ich zurück und ging dann einfach um ihn herum.


Doch er ließ mich nicht. Sofort hatte er mich am Arm.
     „Beruhige dich gefälligst, Junge! Wenn du jetzt losziehst und ihn tötest, ist niemandem geholfen.“
     Ich riss mich los. „Er hat sie getötet!“
     „Reiß dich zusammen, Junge, und geh nach Hause, bevor du etwas tust, was wir alle bereuen werden!“
     „Er hat sie getötet!“, beharrte ich uneinsichtig. „Und dafür muss er bezahlen!“


Ich kam keine drei Schritte, da stand er plötzlich wieder vor mir und hatte mich niedergeschlagen. Meine Wange pochte böse von seinem Schlag, aber die Enttäuschung tat noch viel mehr weh.
     „Du wirst keinen Streit zwischen den Stämmen auslösen! Tu, was ich dir sage und geh nach Hause!“
     „Kümmert dich ihr Tod etwa gar nicht?“, warf ich ihm ins Gesicht, doch er zuckte nicht mal mit der Wimper. Er hatte nicht mal eine Regung gezeigt, als wir sie gefunden hatten.


„Sie wollte sterben“, offenbarte er schließlich. Und sie hatte es mir nicht gesagt. Sie hatte es mir verschwiegen, als wäre ich ein Kind. „Sie hat ihn darum gebeten und sie hat mich darum gebeten, ihr den Todesbecher zu geben. Wenn du es nicht gemacht hättest, hätte ich es getan.“
     Aber ich hatte es getan. Ich hatte ihr den Giftbecher gegeben, weil sie Durst gehabt hatte und ich gedacht hatte, dass in dem Becher neben ihrer Schlafstätte nur Wasser gewesen war. Weil ich nicht nachgedacht hatte. Weil ich zu sehr mit unwichtigen Dingen beschäftigt gewesen war. Und jetzt war sie tot.


Ich stand auf, drehte ihm den Rücken zu.
     „Wo willst du hin?“, wollte er wissen.
     „Allein sein.“ Ich fügte schnell hinzu: „Ich werde nichts tun, um dir… um ihr Schande zu bereiten.“
     Ich hörte, wie er meinen Namen rief, doch ich ignorierte ihn. Ich konnte ihn gerade einfach nicht sehen.


Ihren Todestag verbrachte ich damit, mich irgendwo zu verkriechen, wo ich allein war und zu heulen wie ein Schlosshund. Ich hatte keine Ahnung, was ich ohne sie machen sollte. Sie war meine Mutter gewesen, der einzige Mensch, der immer an mich geglaubt hatte und der für mich eingestanden war. Ohne sie und ihre Liebe hätte ich in der Vergangenheit niemals durchgehalten, so oft, wie mein Vater mich in meiner Kindheit bis zur Besinnungslosigkeit hat trainieren lassen. Damals, als ich noch zu schwach gewesen war. Inzwischen war ich das nicht mehr, und das war allein ihr zu verdanken. Und jetzt war sie fort. Ich war von nun an allein und musste ohne sie zurechtkommen.
     Ich wär am liebsten nie wieder aus meinem Versteck gekommen, so elend war mir selbst am Folgetag zumute, aber ich wusste, dass ich das nicht tun konnte. Ich hatte getrauert, aber von nun an musste ich wieder stark sein. Das war es schließlich, was von mir erwartet wurde. Als Sohn des Stammesführers. Als Mann. Aber vor allen Dingen als ihr Sohn.


Also verschloss ich meine Trauer und kehrte nach Hause zurück, kaum, dass mein Gesicht nicht mehr tränengeschwollen war. Vater sprach mit keinem Wort an, was ich beinahe getan hätte, und auch ich tat es nicht. Stille schien über dem ganzen Stamm zu liegen, seitdem Mutter gestorben war. Wir waren wie geschäftige Ameisen, die ihrem Tageswerk nachgingen, aber es fühlte sich alles so nichtig und hohl an. So unwirklich. Doch ich machte weiter.


Auch bei ihrer Totenfeier blieb ich stark. Das Loch in meinem Herzen schien wohl nie mehr gestopft werden zu können, kam es mir vor, aber ich vergoss keine einzige Träne. Ich würde mein Bestes geben, dass sie auch weiterhin auf mich stolz sein würde. Ich würde ihrem Namen als Sohn von Dala alle Ehre machen. Denn das war sie. Meine Mutter. Ob es nun stimmte oder nicht, was sie vor ihrem Tod gesagt hatte, sie würde es immer für mich bleiben, und das war alles, was zählte.    


Tara derweil war sehr wohl zum Heulen zumute. Seitdem Rahn vor ein paar Tagen so unerwartet mit ihr zusammengestoßen war, war alles durcheinandergeraten.
     Nachdem sie ihn vor so vielen Jahren zurückgelassen hatte, hatte sie das immer wieder bereut. Es hatte sie alles gekostet, um ihm fern zu bleiben, und sie hatte lange gebraucht, um überhaupt wieder einen Sinn in ihrem Leben zu sehen.


Das Glück war nie ganz zu ihr zurückgekehrt, trotz ihrer beiden anderen Kinder, die sie von Herzen liebte. Doch es hatte gereicht, um weiterzumachen.


Bis Rahn vor ein paar Tagen wieder in ihrem Leben erschienen war. Da hatte sie nicht einmal gewusst, was sie hatte tun sollen. Sie hatte ihn an sich drücken, ihm alles erzählen wollen, aber gleichzeitig hatte sie auch gewusst, dass sie das nicht hatte tun dürfen. Und als sie dann auch noch die Angst in seinem Gesicht gesehen hatte, als sie erfahren hatte, dass Dala gestorben war, war die Angst auch zu ihr gekommen.


Seitdem war sie ein ständiger Begleiter gewesen. Sie hatte mit sich gehadert – sie musste schließlich etwas tun, konnte nicht einfach untätig bleiben, jetzt, wo niemand mehr da war, der Rahn vor Minos beschützen konnte.
     Sie hatte sich deshalb an Luma wenden wollen, der Einzigen, der sie jemals von Rahn erzählt hatte.


Aber da hatte Sen sie gefunden, hatte sie auf ihren ersten Sohn angesprochen, und in ihrer Verzweiflung hatte sie ihm alles erzählt.


„Du solltest mit ihm reden und ihn warnen. Rahn, mein ich“, hatte er ihr geraten.
     Er hatte sogar angeboten, das für sie zu übernehmen, aber sie hatte beides abgelehnt. Sie hatte kein Recht dazu, so plötzlich in sein Leben zu platzen, nachdem sie ihn all die Jahre im Stich gelassen hatte. 
     „Wenn du schon nicht mit Rahn reden willst, dann musst du wenigstens Tuck warnen“, hatte er dann gesagt, und er hatte ja recht gehabt. Sie wusste nur nicht, wie sie das anstellen sollte.


Doch sie war trotzdem gegangen. Sie hatte Dalas Totenfeier aus der Ferne mit angesehen – nach all dem, was sie ihr angetan hatte, konnte sie einfach nicht traurig darüber sein, dass die Andere tot war – und hatte danach darauf gewartet, Tuck allein anzutreffen.


Sie waren ein Stück zusammen gegangen – Tuck war zum Glück sehr vernünftig, dass er überhaupt mit ihr sprach – und als sie wieder anhielten, wo sie hoffentlich ungestört reden konnten, war das ein wahnsinnig unangenehmer Moment für Tara. Sie hatte sich ihre Worte zuvor noch zurechtgelegt und hatte sie immer wieder geübt, aber ihr Kopf war plötzlich wie leergefegt. Doch sie musste es ihm sagen. Für Rahn!


„Jetzt, wo Dala… nicht mehr da ist, muss ich dir etwas erzählen.“ Sie räusperte sich dreimal, um den Kloß in ihrem Hals loszuwerden. „Es gibt da einen Mann. Er ist sehr gefährlich und ich habe ihn… verärgert. Dala hat mich und… Rahn bislang vor ihm beschützt, aber da sie das nicht mehr tun kann, musst du das ab jetzt machen. Wenn jemals ein Mann namens Minos bei euch auftaucht, sorge dafür, dass… Rahn in Sicherheit ist.“
     Mehr sagte sie ihm nicht. Sie konnte es einfach nicht. Es war nur die halbe Wahrheit, aber es war besser, wenn sie nach wie vor nichts mit Rahn zu tun hatte, hatte sie beschlossen. Besser, dass Minos nicht erfuhr, dass Rahn mit ihr verwandt war. Zu seinem eigenen Schutz. Und deshalb musste auch Tuck weiter daran glauben, dass sie sich nicht für ihren ersten Sohn interessierte.


Es gefiel ihr überhaupt nicht, aber es war besser so. Also drehte sie ab und ging, bevor sie es sich noch anders überlegte.
     Doch Tuck ließ sie nicht. „Möchtest du nicht mit ihm sprechen?“ Pause. Sie erstarrte. „Dala ist gestorben und deshalb könnte er seine Mutter jetzt wirklich gebrauchen.“
     Tara war überwältigt, dass Tuck ihr überhaupt dieses großmütige Angebot machte.


Deshalb fiel es ihr noch so viel schwerer, ihm jetzt zu sagen: „Nein. Ich bin nicht seine Mutter und werde das auch niemals sein.“ Und dann zu gehen.
     Sie hasste sich so sehr dafür.   
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