Als ich in unsere Höhle zurückkehrte, die wir vielleicht
bald verlieren würden, war Mutter gerade wach. Da ich heute Morgen direkt nach
dem Frühstück gegangen war und sie da noch geschlafen hatte, ging ich gleich zu
ihr, um sie zu begrüßen. Vielleicht hatte sie ja eine Idee, was man wegen
dieser ganzen Stammesstreitigkeiten tun konnte.
„Geht es dir heute besser?“, fragte ich sie.
Doch sie
antwortete mir nicht. Sie sah mich nur an, als würde sie mich nicht verstehen –
ja sie wirkte ängstlich, glaubte ich – und dann fragte sie: „Wer bist du?“ Sie
sah sich verwirrt um. „Wo bin ich hier?“
„Ich bin’s,
Rahn, dein Sohn“, sagte ich ihr irritiert. „Und du bist Zuhause. Was ist los,
Mama? Geht’s dir wieder schlecht?“
Erneut starrte sie mich an und ihr Blick war so
vernichtend, dass ich einen Stich im Herzen fühlte, noch bevor sie behauptete:
„Du bist nicht mein Sohn! Ich habe keinen Sohn! Was hast du mit mir gemacht? Wo
hast du mich hingebracht?“
Plötzlich ging sie auf mich los und ich war so
überrumpelt davon, dass sie es schaffte, mir die Wange zu zerkratzen. Ich
sprang entsetzt auf die Beine, und sie blieb glücklicherweise, wo sie war.
Stattdessen begann sie jetzt, wüst zu fluchen. Was war nur mit ihr los? Es war,
als hätte ich eine Fremde vor mir. Ich konnte nicht verhindern, dass ich vor
Angst gelähmt war. Das war mir ewig nicht mehr passiert.
Erst, als sie
sich an den Kopf fasste und ihr Gesicht Schmerzen zeigte, kam ich wieder zu
mir.
Sofort war ich bei.
„Mama…“
Da sah sie
mich an, und ich erkannte, dass sie wieder da war. „Rahn“, flüsterte sie schwach
und dann wurden ihre Augen groß. Sie legte eine Hand auf meine Wange, die sie mir eben noch selber zerkratzt hatte. „Dein Gesicht… was ist passiert? Hattest du einen Jagdunfall?“
Sie erinnerte sich nicht daran, was sie getan hatte, wurde mir klar. Ich
nahm ihre Hand in meine und lächelte beruhigend. „Das ist nur ein Kratzer. Ich
hab ihn gar nicht bemerkt. Geht es dir wieder besser?“
„Ja…“ Sie sah
sich um. „Wo sind denn alle?“
„Es ist
Nachtmittag.“
„Nachtmittag?“, fragte sie erschrocken. „Warum habt ihr mich denn nicht
aufgeweckt?“
„Wenn du
wieder gesund werden willst, musst du dich ausruhen“, belehrte ich sie.
Sie sah so
betroffen aus. Sie wusste, dass etwas mit ihr nicht stimmte, mutmaßte ich.
Um sie abzulenken, erzählte ich ihr von
meinen Versuch, Frieden zu stiften. Ich hatte mir ja sowieso Rat von ihr
erhofft. Aber als ich fertig erzählt hatte, sah sie nur noch betroffener aus.
„Rahn“, begann sie streng, „ich weiß, dass du nur helfen
willst, aber ich – wir, dein Vater und ich – wollen ganz sicher nicht, dass du dein
Glück für das Wohl des Stammes opferst.“ Sie nahm meine Hand in ihre und sah
mir fest in die Augen. „Für uns ist es das Wichtigste, dass du glücklich bist,
mein Junge. Also such dir eine nette Frau, die du auch haben willst und lass
uns diese unselige Sache mit Ur klären. Wir sind es schließlich, die für den Streit verantwortlich sind.“
Ich war
einfach nur sprachlos. Wo ich doch gedacht hatte, dass meine Eltern es sowieso
nicht verstehen würden, dass mir bei meiner zukünftigen Gefährtin nicht unbedingt Kraft und Gesundheit, sondern Zuneigung wichtig war.
„Ich hab dich lieb, Rahn“, sagte sie jetzt und da tat mir
wieder das Herz weh, weil ich unwillkürlich an ihren Ausbruch vorher denken
musste. Aber als ich ihr liebevolles Lächeln sah, beruhigte es sich wieder.
Doch dann kehrte der Schmerz zu ihr zurück und zu mir die
Angst.
„Du solltest
dich wieder hinlegen“, sagte ich ihr besorgt.
Sie gab ein zustimmendes Brummen von sich, und ich half
ihr, sich wieder hinzulegen.
Ich wollte es Vater erzählen – ich wollte es wirklich.
Aber alles, was ich ihm erzählte, war, dass Mutter mich einen Moment lang nicht
erkannt hatte. Er nahm es so hin. So, wie er alles immer hinnahm. Ich konnte
gar nicht sagen, ob er sich Sorgen machte oder nicht, er zeigte es ja nicht, und
obwohl ich das sonst immer bei ihm bewundert hatte, störte es mich diesmal.
Mutter schlief den ganzen Tag hindurch und als sie auch
am nächsten Tag Kopfschmerzen hatte, schickte Vater mich mit Ana los, damit sie
Ruhe hatte. Ich hatte keine Ahnung, wo ich mit der Kleinen hingehen sollte –
meine Gedanken waren eigentlich auch ganz woanders und ich wäre wirklich lieber
Zuhause gewesen. Ich konnte nicht aufhören, mir Sorgen zu machen. Ana langweilte sich auch bald schon und beschwerte sich
andauernd. Ich ignorierte sie, so gut es ging, bis sie mich irgendwann nicht mehr ließ.
Also fragte
ich sie, wo sie denn hingehen wollte, und dann ging ich mit ihr Richtung Nebelwald.
An dessen Rand wuchsen wohl irgendwelche „hübschen Blumen“, die sie haben
wollte.
Wir waren gerade erst angekommen, Ana hatte erst eine
Strophe unseres ellenlangen Stammesliedes gesungen, als wir Gesellschaft bekamen. Es war
ein Mädchen, wie ich sie noch nie zuvor gesehen hatte. Mit Haar, so leuchtend
rot wie ein Apfel. Halt, nein, ich hatte sie schon einmal gesehen, fiel mir
ein. Ich hatte sie mit dem Jungen, Tann glaube ich, letztens zusammen am Strand
gesehen.
Sie kam auf uns zu, als sie uns bemerkte, musterte
erst Ana, dann mich von oben bis unten, bevor sie mit Fingerzeig auf meinen Bogen
fragte: „Kannst du damit umgehen?“
Ich hatte ihn
für den Fall mitgenommen, dass wir irgendetwas begegneten, das man lieber nicht
zu nahe an sich rankommen lassen sollte. Aber Ana hatte ja schon Angst, den
Nebelwald zu betreten, in dem ich mit Vorliebe alleine jagte. Ich war da eine
Ausnahme, wie ich wusste.
„Ja, kann er“,
antwortete Ana an meiner statt. „Er ist der beste Bogenschütze weit und breit“,
behauptete sie.
Die Andere
ignorierte sie vollkommen und fragte mich weiter: „Kannst du’s mir beibringen,
wie man damit schießt?“
„Du bist ein
Mädchen!“, empörte sich Ana, und ich kam immer noch nicht zu Wort.
Jetzt nahm die Andere doch mal Notiz von ihr. „Na und?
Mädchen können alles tun, wenn sie wollen. Ich bin Tanna vom Uruk-Stamm“,
stellte sie sich stolz vor und erinnerte mich damit ziemlich an Tann damals. „Und
ich werde eines Tages die Gefährtin von Tann werden, der unser nächster
Stammesführer sein wird. Also muss ich alles lernen, was er auch kann, um eine
starke Frau für ihn zu werden.“
„Pff! Sowas Bescheuertes! Wir Mädchen müssen keine Männersachen lernen, weil dafür sind ja
die Männer da. Wir Mädchen müssen Frauensachen lernen, weil wer näht sonst die
Kleider oder kocht das Essen? Wenn du nur Männersachen lernst, wird dich gar
kein Mann haben wollen.“
„Blumenpflücken
wird mir aber bestimmt auch nicht
dabei helfen.“
Ana ließ ihre
Blumen fallen und ihr Kopf wurde so rot wie das Haar des anderen Mädchens, und
da beschloss ich, lieber einzugreifen. Sie war ja in guten Zeiten schon nicht
gerade für ihr ruhiges Temperament bekannt.
„Ich glaube nicht,
dass es eine gute Idee ist, wenn du allein hier bist, Tanna“, lenkte ich ab.
„Es ist hier nicht gerade ungefährlich.“
„Ich bin aber
doch gar nicht allein“, behauptete sie. „Die Geister sind immer bei mir und zeigen mir Verstecke und alles.“
Ana lachte
gackernd, aber mir fiel jetzt eine gewisse Ähnlichkeit mit jemandem bei Tanna auf.
„Kann es sein,
dass du irgendwie mit Tibit zu tun hast?“, fragte ich sie.
„Tibit ist mein Papa“, antwortete sie stolz,
dann gingen ihre Augen plötzlich an mir vorbei ins Leere.
„Da ist ein Geist neben dir“, berichtete sie mir
abwesend. „Er will… er will dir irgendwas sagen… aber… ich weiß nicht was.“
Ihr Finger ging jetzt in die andere Richtung und als ich sah, wohin sie zeigte, hatte ich sofort ein
schlechtes Gefühl. „Er zeigt dahin. Und er hat Angst.“
Nicht nur er.
Ich fühlte mich plötzlich, als hätte ich Eis in den Adern.
Ich brachte Tanna natürlich noch nach Hause, obwohl sie
sich vehement dagegen wehrte, bevor ich mit Ana heimkehrte. Mit
jedem Schritt, den wir näherkamen, schien mir der Himmel plötzlich dunkler zu
werden.
Ich wusste
schon, dass etwas passiert war, bevor ich das laute Rufen hörte, das aus
unserer Höhle kam.
Als ich ankam, lag Mutter am Boden, Vater hatte sie in
den Armen, aber sie reagierte nicht auf sein Rufen. Dann bemerkte er
uns und seine Augen trafen mich. Ich sah, wie sich seine Lippen bewegten, aber
ich konnte ihn einfach nicht verstehen. Da war nur das aschfahle Gesicht meine
Mutter, die leblos am Boden lag.
„Heiler!“,
drang es schließlich zu mir vor. „Sie haben beim Uruk-Stamm einen Heiler! Geh
und hol ihn!“
Ich nickte mechanisch und dann rannte ich so schnell, wie
noch nie in meinem Leben. Meine Brust tat mir weh, aber ich lief weiter. Es
fing an zu regnen, aber ich lief trotzdem immer weiter. Der Weg zu dem anderen
Stamm, den ich bislang noch nie gegangen war, kam mir unendlich lang vor.
Zelte tauchten irgendwann im Regen auf. Ich hielt auf sie
zu, versuchte anzuhalten und rutschte auf dem nassen Gras auf. Ich fiel um, sah
ein paar Füße vor mir, und als ich aufschaute, sah ich einer Fremden ins
Gesicht.
„Mutter!“, rief ich und die Augen meines Gegenübers
zeigten Schrecken. Ich sprang auf. „Meine Mutter! Sie ist krank! Ich brauche
Hilfe!“, versuchte ich ihr klarzumachen, doch sie schien nicht zu verstehen.
„Schnell!“
Plötzlich ein bekanntes Gesicht vor mir. Ich erkannte die
roten Haare von Tanna.
„Papa!“, rief
sie laut, und endlich erschien das Gesicht des Alten in irgendeinem
Zelteingang.
Tibit lächelte milde. „Ruh dich am besten etwas aus, mein
Kind“, sagte er zu meiner Mutter, die nach wie vor schwach war.
Sie konnte nicht einmal nicken. Ihre Augen fielen einfach wieder zu, und ich verbrachte einen ganzen bangen Augenblick damit, festzustellen, dass sie noch atmete, bevor ich mich wieder beruhigen konnte.
Sie konnte nicht einmal nicken. Ihre Augen fielen einfach wieder zu, und ich verbrachte einen ganzen bangen Augenblick damit, festzustellen, dass sie noch atmete, bevor ich mich wieder beruhigen konnte.
Der alte
Heiler vom Uruk-Stamm erhob sich und verließ die Höhle. Mein Vater folgte
ihm ohne Aufforderung, ich zögerte nur kurz, bevor auch ich mitging. Diesmal
sagte niemand etwas dagegen.
Als Tibit schließlich anhielt und schwer den Kopf schüttelte,
verkrampfte sich mein Herz vor Angst wieder, das gerade noch der trügerischen
Hoffnung erlegen war.
„Da ist etwas
in ihrem Kopf, was da nicht hingehört, sagen mir die Geister“, eröffnete er. „Es
bereitet ihr Schmerzen, die immer schlimmer werden und lässt sie Dinge
vergessen. Es wird zuerst nur kurz sein, aber es wird immer häufiger passieren.
Sie wird immer wunderlicher werden. Vielleicht wird sie traurig, wütend oder
auch fröhlich. Und dann wird sie…“
Er sprach es
nicht aus, aber das war auch nicht nötig. Wir wussten es auch so. Auch wenn ich
weit davon entfernt war, es zu akzeptieren.
„Wie lange hat
sie noch?“, hörte ich Vater, gewohnt gefasst, fragen.
„Halt!“, fuhr ich dazwischen und fragte Tibit erschrocken:
„Du kannst ihr doch helfen, nicht wahr?“
Er schüttelte
den Kopf, und mit einem Mal hatte ich einen Kloß im Hals, an dem ich glaubte,
ersticken zu müssen.
„Alles, was
ich tun kann, ist, ihr Leid zu verringern“, bot er an.
„Was soll das
heißen?“, fragte ich entgeistert.
Er
präsentierte einen kleinen Beutel.
„Was ist das?“
„Schierling.
Und Mohn. Er wird die Schmerzen während des Sterbens betäuben.“
Das konnte doch nicht sein Ernst sein! Fassungslos
schaute ich von ihm zu Vater, aber als ich sah, dass er aussah, als würde er
tatsächlich darüber nachdenken, ging ich ihn an: „Nein! Das können wir doch
nicht machen! Das ist Mutter, über die wir hier sprechen! Wir müssen doch etwas
tun können, um sie zu retten! Wir können sie nicht einfach töten!“
„Er hat recht“, meinte Vater da, und ich war so unendlich
erleichtert, das zu hören. „Wir können das nicht für sie entscheiden. Das muss
sie selber tun.“
Und da war sie
wieder, die Angst.
Tibit blieb, bis Mutter wieder aufwachte, und dann ließen
wir sie beide allein. Ich wollte das ganz sicher nicht – ich traute ihm zu,
dass er sie ohne unser Wissen umbrachte – aber ich hatte keine andere Wahl.
So verbrachten wir eine schrecklich bange Weile draußen,
bis Tibit wieder erschien, und alles, was er sagte, war: „Ich habe ihr etwas
gegeben, das die Schmerzen betäubt. Ihr solltet jetzt mit ihr reden können.“
Er verschwand,
aber ich beachtete ihn schon nicht weiter. Ich wollte natürlich zu Mutter, aber
Vater hielt mich zurück. „Lass mich kurz allein mit ihr reden“, sagte er.
Das gefiel mir nicht, aber ich ließ ihn unwillig zuerst
gehen. Erneut Warten. Erneut Bangen. Mit jedem Moment, der verstrich, kroch die
Angst ein Stück weiter an mir hoch und ich wurde immer ungeduldiger.
Dann endlich kam er zurück und ich durfte zu ihr. Sie war
noch immer viel zu blass, fand ich.
Sie streckte
die Arme nach mir aus und ich ging zu ihr, ließ sie mich umarmen und suchte
Trost bei ihr, wie ich es zuletzt getan hatte, als ich ein kleiner Junge
gewesen war.
„Du wirst doch wieder gesund, nicht wahr?“,
fragte ich sie, obwohl ich es besser wusste.
Ihr mechanisches Streicheln wurde kurz unterbrochen, aber
sie antwortete nicht. Nicht darauf. Stattdessen
sagte sie: „Rahn, du weißt, dass ich dich liebe, nicht wahr?“
Ich löste mich von ihr. „Natürlich weiß ich das. Ich
liebe dich doch auch.“
„Du bist das
Beste, das mir je passiert ist. Du warst immer das Licht in meinem Leben, das
Allerwichtigste, und ich könnte stolzer nicht sein, einen Sohn wie dich zu
haben.“
Sie lächelte
so herzlich, dass ich wieder zu hoffen anfing, obwohl es unsinnig war. Doch
dann zerbrach ihr Lächeln und mir wurde wieder kalt.
„Du bist mein
Sohn“, begann sie mit brüchiger Stimme. „Du wirst immer mein Sohn bleiben. Aber
es gibt da etwas, dass ich dir sagen muss.“ Sie zögerte, und was sie dann
sagte, traf mich vollkommen unvorbereitet: „Ich habe dich nicht geboren.“
Plötzlich waren da überall Tränen in ihrem Gesicht. „Es gibt da eine andere
Frau… im Uruk-Stamm… sie… sie hat dich geboren.“
Plötzlich sah
sie mich an, die Augen so voller Angst und Bestürzung, dass ich selber
erschrak.
„Aber du bist
mein Sohn!“, rief sie inbrünstig. „Du wirst immer mein Sohn bleiben, Rahn!“
Sie starrte
mich an, und ich wusste nicht, was ich denken oder fühlen sollte. Alles, was ich
denken konnte, war: Sie weiß gar nicht, was sie da sagt. Das muss das Ding in
ihrem Kopf sein, das sie wieder wirre Dinge sagen lässt.
Plötzlich verschleierten sich ihre Augen und sie war
wieder weg. „Dana… ich habe sie auch nicht geboren… sie ist die Tochter meines Bruders… aber er ist tot, sagt Vater.“ Pause. „Ich habe Durst“, erklärte
sie müde.
Ich reichte
ihr abwesend den Becher, der neben ihrer Schlafstätte stand, und dann half ich
ihr noch, sich hinzulegen. Ich deckte sie zu und gab ihr einen Kuss, sagte ihr
Gutenacht, obwohl ich so durcheinander war, dass ich es nicht einmal
realisierte.
Die ganze Nacht hindurch stellte ich mir unsinnige Fragen.
Ob sie die Wahrheit gesprochen hatte. Ob sie tatsächlich nicht meine leibliche
Mutter war. Oder ob das nur das Ding in ihrem Kopf gewesen war, dass sie wieder
Unsinn hatte reden lassen. So wie damals, als sie mich nicht erkannt hatte. Die
ganze Nacht hindurch zerbrach ich mir den Kopf über diese unwichtige Frage.
Aber da hatte ich ja auch noch keine Ahnung, dass Dala,
meine Mutter, am nächsten Morgen tot sein würde.
Als ich auf halbem Wege zum Uruk-Stamm war, holte Vater
mich ein und stellte sich mir in den Weg.
„Was hast du vor?“, wollte er wissen.
„Ist das nicht
offensichtlich?“, gab ich zurück und ging dann einfach um ihn herum.
Doch er ließ mich nicht. Sofort hatte er mich am Arm.
„Beruhige dich
gefälligst, Junge! Wenn du jetzt losziehst und ihn tötest, ist niemandem
geholfen.“
Ich riss mich
los. „Er hat sie getötet!“
„Reiß dich
zusammen, Junge, und geh nach Hause, bevor du etwas tust, was wir alle bereuen
werden!“
„Er hat sie
getötet!“, beharrte ich uneinsichtig. „Und dafür muss er bezahlen!“
Ich kam keine drei Schritte, da stand er plötzlich wieder
vor mir und hatte mich niedergeschlagen. Meine Wange pochte böse von seinem
Schlag, aber die Enttäuschung tat noch viel mehr weh.
„Du wirst
keinen Streit zwischen den Stämmen auslösen! Tu, was ich dir sage und geh nach
Hause!“
„Kümmert dich
ihr Tod etwa gar nicht?“, warf ich ihm ins Gesicht, doch er zuckte nicht mal
mit der Wimper. Er hatte nicht mal eine Regung gezeigt, als wir sie gefunden
hatten.
„Sie wollte sterben“, offenbarte er schließlich. Und sie
hatte es mir nicht gesagt. Sie hatte es mir verschwiegen, als wäre ich ein
Kind. „Sie hat ihn darum gebeten und sie hat mich darum gebeten, ihr den
Todesbecher zu geben. Wenn du es nicht gemacht hättest, hätte ich es getan.“
Aber ich hatte
es getan. Ich hatte ihr den Giftbecher gegeben, weil sie Durst gehabt hatte und
ich gedacht hatte, dass in dem Becher neben ihrer Schlafstätte nur Wasser
gewesen war. Weil ich nicht nachgedacht hatte. Weil ich zu sehr mit unwichtigen
Dingen beschäftigt gewesen war. Und jetzt war sie tot.
Ich stand auf, drehte ihm den Rücken zu.
„Wo willst du
hin?“, wollte er wissen.
„Allein sein.“
Ich fügte schnell hinzu: „Ich werde nichts tun, um dir… um ihr Schande zu
bereiten.“
Ich hörte, wie
er meinen Namen rief, doch ich ignorierte ihn. Ich konnte ihn gerade einfach
nicht sehen.
Ihren Todestag verbrachte ich damit, mich irgendwo zu verkriechen,
wo ich allein war und zu heulen wie ein Schlosshund. Ich hatte keine Ahnung, was ich ohne sie machen sollte. Sie war meine Mutter gewesen, der einzige Mensch, der immer an mich geglaubt hatte und der für mich eingestanden war. Ohne sie und ihre Liebe hätte ich in der Vergangenheit niemals durchgehalten, so oft, wie mein Vater mich in meiner Kindheit bis zur Besinnungslosigkeit hat trainieren lassen. Damals, als ich noch zu schwach gewesen war. Inzwischen war ich das nicht mehr, und das war allein ihr zu verdanken. Und jetzt war sie fort. Ich war von nun an allein und musste ohne sie zurechtkommen.
Ich wär am liebsten nie wieder aus meinem Versteck gekommen, so elend war mir selbst am Folgetag zumute, aber ich wusste, dass ich das nicht tun konnte. Ich hatte getrauert, aber von nun an musste ich wieder stark sein. Das war es schließlich, was von mir erwartet wurde. Als Sohn des Stammesführers. Als Mann. Aber vor allen Dingen als ihr Sohn.
Ich wär am liebsten nie wieder aus meinem Versteck gekommen, so elend war mir selbst am Folgetag zumute, aber ich wusste, dass ich das nicht tun konnte. Ich hatte getrauert, aber von nun an musste ich wieder stark sein. Das war es schließlich, was von mir erwartet wurde. Als Sohn des Stammesführers. Als Mann. Aber vor allen Dingen als ihr Sohn.
Also verschloss ich meine Trauer und kehrte nach Hause
zurück, kaum, dass mein Gesicht nicht mehr tränengeschwollen war. Vater sprach mit
keinem Wort an, was ich beinahe getan hätte, und auch ich tat es nicht. Stille
schien über dem ganzen Stamm zu liegen, seitdem Mutter gestorben war. Wir waren
wie geschäftige Ameisen, die ihrem Tageswerk nachgingen, aber es fühlte sich
alles so nichtig und hohl an. So unwirklich. Doch ich machte weiter.
Auch bei ihrer Totenfeier blieb ich stark. Das Loch in
meinem Herzen schien wohl nie mehr gestopft werden zu können, kam es mir vor,
aber ich vergoss keine einzige Träne. Ich würde mein Bestes geben, dass sie
auch weiterhin auf mich stolz sein würde. Ich würde ihrem Namen als Sohn von
Dala alle Ehre machen. Denn das war sie. Meine Mutter. Ob es nun stimmte oder
nicht, was sie vor ihrem Tod gesagt hatte, sie würde es immer für mich bleiben,
und das war alles, was zählte.
Tara derweil war sehr wohl zum Heulen zumute. Seitdem
Rahn vor ein paar Tagen so unerwartet mit ihr zusammengestoßen war, war alles
durcheinandergeraten.
Nachdem sie ihn vor so vielen Jahren zurückgelassen
hatte, hatte sie das immer wieder bereut. Es hatte sie alles gekostet, um ihm
fern zu bleiben, und sie hatte lange gebraucht, um überhaupt wieder einen Sinn
in ihrem Leben zu sehen.
Das Glück war nie ganz zu ihr zurückgekehrt, trotz ihrer
beiden anderen Kinder, die sie von Herzen liebte. Doch es hatte gereicht, um
weiterzumachen.
Bis Rahn vor ein paar Tagen wieder in ihrem Leben erschienen
war. Da hatte sie nicht einmal gewusst, was sie hatte tun sollen. Sie hatte ihn
an sich drücken, ihm alles erzählen wollen, aber gleichzeitig hatte sie auch
gewusst, dass sie das nicht hatte tun dürfen. Und als sie dann auch noch die
Angst in seinem Gesicht gesehen hatte, als sie erfahren hatte, dass Dala
gestorben war, war die Angst auch zu ihr gekommen.
Seitdem war sie ein ständiger Begleiter gewesen. Sie
hatte mit sich gehadert – sie musste schließlich etwas tun, konnte nicht
einfach untätig bleiben, jetzt, wo niemand mehr da war, der Rahn vor Minos
beschützen konnte.
Sie hatte sich
deshalb an Luma wenden wollen, der Einzigen, der sie jemals von Rahn erzählt
hatte.
Aber da hatte Sen sie gefunden, hatte sie auf ihren
ersten Sohn angesprochen, und in ihrer Verzweiflung hatte sie ihm alles
erzählt.
„Du solltest mit ihm reden und ihn warnen. Rahn, mein
ich“, hatte er ihr geraten.
Er hatte sogar
angeboten, das für sie zu übernehmen, aber sie hatte beides abgelehnt. Sie
hatte kein Recht dazu, so plötzlich in sein Leben zu platzen, nachdem sie ihn
all die Jahre im Stich gelassen hatte.
„Wenn du schon
nicht mit Rahn reden willst, dann musst du wenigstens Tuck warnen“, hatte er
dann gesagt, und er hatte ja recht gehabt. Sie wusste nur nicht, wie sie das
anstellen sollte.
Doch sie war trotzdem gegangen. Sie hatte Dalas
Totenfeier aus der Ferne mit angesehen – nach all dem, was sie ihr angetan
hatte, konnte sie einfach nicht traurig darüber sein, dass die Andere tot war –
und hatte danach darauf gewartet, Tuck allein anzutreffen.
Sie waren ein Stück zusammen gegangen – Tuck war zum Glück sehr
vernünftig, dass er überhaupt mit ihr sprach – und als sie wieder anhielten, wo sie
hoffentlich ungestört reden konnten, war das ein wahnsinnig unangenehmer Moment
für Tara. Sie hatte sich ihre Worte zuvor noch zurechtgelegt und hatte sie
immer wieder geübt, aber ihr Kopf war plötzlich wie leergefegt. Doch sie musste
es ihm sagen. Für Rahn!
„Jetzt, wo Dala… nicht mehr da ist, muss ich dir etwas
erzählen.“ Sie räusperte sich dreimal, um den Kloß in ihrem Hals loszuwerden. „Es
gibt da einen Mann. Er ist sehr gefährlich und ich habe ihn… verärgert. Dala
hat mich und… Rahn bislang vor ihm beschützt, aber da sie das nicht mehr tun
kann, musst du das ab jetzt machen. Wenn jemals ein Mann namens Minos bei euch
auftaucht, sorge dafür, dass… Rahn in Sicherheit ist.“
Mehr sagte sie
ihm nicht. Sie konnte es einfach nicht. Es war nur die halbe Wahrheit, aber es
war besser, wenn sie nach wie vor nichts mit Rahn zu tun hatte, hatte sie
beschlossen. Besser, dass Minos nicht erfuhr, dass Rahn mit ihr verwandt war.
Zu seinem eigenen Schutz. Und deshalb musste auch Tuck weiter daran glauben,
dass sie sich nicht für ihren ersten Sohn interessierte.
Es gefiel ihr überhaupt nicht, aber es war besser so.
Also drehte sie ab und ging, bevor sie es sich noch anders überlegte.
Doch Tuck ließ
sie nicht. „Möchtest du nicht mit ihm sprechen?“ Pause. Sie erstarrte. „Dala
ist gestorben und deshalb könnte er seine Mutter jetzt wirklich gebrauchen.“
Tara war
überwältigt, dass Tuck ihr überhaupt dieses großmütige Angebot machte.
Deshalb fiel es ihr noch so viel schwerer, ihm jetzt zu
sagen: „Nein. Ich bin nicht seine Mutter und werde das auch niemals sein.“ Und
dann zu gehen.
Sie hasste
sich so sehr dafür.
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