Ich wusste wirklich nicht, was ich von all dem halten
sollte. Obwohl das Fest noch in vollem Gange war, hatte ich es frühzeitig
verlassen und wanderte nun ziellos durch die Gegend. Vater
würde noch nicht wieder Zuhause sein, aber ich konnte trotzdem gerade nicht
dorthin zurückgehen. Nachdem ich mit Tara gesprochen hatte, stand eines nun
nämlich todsicher für mich fest: Sie hatte mich ganz sicher nicht freiwillig
zurückgelassen. Nicht nur, dass sie das gesagt hatte, ich hatte es auch genau
in ihrem Gesicht gesehen. Sie war so glücklich gewesen, mich wiederzusehen,
dass ich ein bisschen ein schlechtes Gewissen hatte, dass ich nicht genauso
glücklich darüber war.
Ihr Auftauchen hatte einfach so vieles noch komplizierter
gemacht, was ohnehin schon kompliziert genug war. Und jetzt, jetzt wusste ich nicht
mehr, was ich machen sollte. Sollte ich einfach in mein altes Leben zurückkehren
und so tun, als wäre nie etwas geschehen, obwohl mir das als falsch erschien?
Und wenn nicht, was sollte ich dann tun?
Deshalb war ich umhergewandert, völlig in Gedanken
versunken, bis die Nacht beinahe hereingebrochen war. Erst, als ich in der
Ferne Stimmen hörte, kehrte ich ins Diesseits zurück. Ich war zuerst ein
bisschen alarmiert, entspannte mich dann aber, als sich da jetzt ein bekanntes
Gesicht näherte. Es war tatsächlich die verschwundene Rin.
Ich kannte die
anderen beiden nicht, die bei ihr waren, aber dennoch ging ich zu ihr. Als ich
ihren Namen rief, guckte sie etwas besorgt, aber dann hellte ihr Gesicht sich
schließlich auf, als sie mich erkannte.
„Rahn! Wie schön dich zu sehen!“
„Das kann ich nur zurückgeben. Ich habe erst
letztens gehört, dass du weggegangen seist“, erklärte ich ein bisschen
schuldbewusst. „Kommst du deine Eltern besuchen? Falls ja, solltest du wissen, dass sie nun in unserer alten Höhle wohnen.“
„Tatsächlich?
Ich hatte es ja befürchtet. Aber nein, ich würde es eher vermeiden wollen, dass
mich jemand von meiner alten Familie hier sieht.“
Plötzlich stand sie vor mir und hatte mich am Oberarm
gefasst. „Ich bin dir ja so dankbar, dass du mich dazu gebracht hast, von
Zuhause wegzugehen, Rahn. Ich habe es Zuhause so sehr gehasst. Immer dieser
vermaledeite Wettbewerb unter meinen Geschwistern, wer als nächstes den Stamm
anführt, obwohl ich daran nie Interesse hatte. Es hat unsere Familie vergiftet.
Immer nur Streit und Misstrauen. Es war schrecklich! Ich bin so froh, dass ich
jetzt eine richtige, liebende Familie habe.“
Sie ließ mich wieder los und wies auf den Mann hinter sich,
der ein kleines Kind im Arm hatte, wie ich jetzt sah. „Das ist mein Gefährte
Uri und meine Tochter Ronja. Und das hier“, erklärte sie mit Blick auf die
junge Frau bei ihnen, „ist Uris Schwester Rika. Ich weiß, dass mein Bruder Ren
es Zuhause auch hasst. Deshalb bin ich hier. Rika sucht noch einen Gefährten
und ich glaube, dass sie und Ren sich gut verstehen würden. Ich würde Ren gerne
bitten, mit uns zu kommen, aber… ich trau mich nicht wirklich, zu ihm zu gehen.
Ich will meinen Eltern lieber nicht über den Weg laufen.“
„Ich kann ihn für dich holen“, bot ich sofort an.
„Das würdest
du für uns tun? Ich wollte dich nicht darum bitten…“
„Natürlich.
Nur, ich glaube, dass ich ihn heute nicht mehr draußen abfangen kann. Ich bin
nicht sehr gerne dort gesehen, musst du wissen. Ich würde morgen hingehen, wenn
es wieder hell ist, wenn es dir nichts ausmacht.“
„Ich bin froh,
dass du uns überhaupt hilfst. Nun… ich würde dich ja einladen, ein wenig bei
uns zu bleiben, aber wir müssen noch unser Nachtlager erreichen.“
„Wollt ihr zu
uns kommen?“, bot ich an.
So würde ich wenigstens meinem Vater aus dem Weg gehen können. Wenn wir Gäste hätten, würde er bestimmt keinen Streit vom Zaun brechen. Und er würde bestimmt wütend sein, dass ich seinen Befehl einfach missachtet hatte und doch zum Fest gegangen war.
So würde ich wenigstens meinem Vater aus dem Weg gehen können. Wenn wir Gäste hätten, würde er bestimmt keinen Streit vom Zaun brechen. Und er würde bestimmt wütend sein, dass ich seinen Befehl einfach missachtet hatte und doch zum Fest gegangen war.
„Oh, nein, danke, das wird nicht nötig sein“, sagte Rin aber blöderweise ab. „Ein paar Verwandte meines Gefährten sind vor ein paar Tagen
hierhergekommen, um sich hier niederzulassen.“
Ich nickte
verständnisvoll, obwohl ich innerlich fluchte, und da hob Rin die Hand, um sich
zu verabschieden.
„Ähm… wäre es
vielleicht in Ordnung, wenn ich mit euch kommen würde?“, fragte ich, bevor ich
mich aufhalten konnte.
„Natürlich.
Ich meine, sie werden bestimmt nichts dagegen haben, mehr Helfer zu haben.“ Da
sah sie mich plötzlich besorgt an. „Ist alles in Ordnung bei dir, Rahn?“
„Mach dir
keine Sorgen. Ich… habe mich nur ein bisschen mit meinem Vater gestritten und
möchte jetzt nicht nach Hause gehen.“
Glücklicherweise fragte Rin da nicht weiter nach und
glücklicherweise durfte ich danach mit ihnen gehen und herausfinden, was sie
mit „Helfer“ gemeint hatte. Denn wie sich herausstellte, waren besagte Verwandte ihres Gefährten gerade dabei, eine Menge Holz herbeizuschaffen, um irgendetwas
zu bauen, von dem ich keine Ahnung hatte, was es war.
Sie hatten
sich einen Platz ausgerechnet am anderen Ende des Nebelwaldes ausgesucht. Ich
kam also in den Genuss, den unheimlichen Wald mal bei anbrechender Dunkelheit zu durchwandern,
und dann traf ich die merkwürdigsten drei Leute, die ich je gesehen hatte.
Es war nicht so sehr ihre Art, die schon merkwürdig genug
war, sondern ihre Kleidung, die sie trugen. Sie sah nicht so aus, als ob sie
aus Fell oder Leder gemacht war. Mir war vorher schon aufgefallen, dass auch Rin und ihre
Begleiter ähnliches trugen.
Uris Freunde
bestanden aus einem mittelalten Mann namens Wulf und seinen beiden Söhnen,
Wulfgar, mir auf Augenhöhe, und dem kleineren Wontan. Frauen sah ich keine,
weil sie wohl noch woanders waren und warteten, bis hier alles fertig war, wie
ich später erfuhr.
Kaum, dass ich
vorgestellt worden war, trat der Mittlere mit dem Namen Wulfgar vor, nickte Uri anerkennend
zu und wandte sich dann an mich. Er beschaute mich einmal von oben bis unten,
und ich hatte sofort das Gefühl, hier einen zweiten Ren vor mir zu haben.
„Ihr habt echt einen Wilden mitgebracht?“, fragte er
abfällig in Richtung der Anderen.
Es wäre
gelogen, zu behaupten, dass ich nicht beleidigt war, aber ich blieb höflich und
begnügte mich mit einem abgebrochenen Lächeln.
„Verstehst du
mich überhaupt, Wilder?“, sprach er extra langsam zu mir.
Er ging mir
schon ziemlich auf die Nerven. Ich war so kurz davor, ihm eine richtig schön
spitzfindig-beleidigende Antwort zu geben, aber ich beschränkte mich auf ein: „Ja,
ohne Probleme.“
Da guckte er angriffslustig, aber glücklicherweise griff
sein Vater ein. „Geh wieder an
die Arbeit, Junge!“, sagte er zu seinem Sohn, und ich war ja sehr froh, als der
endlich abzog. Er hatte eine ziemlich provozierende Art an sich.
Es versteht sich von selbst, dass ich den restlichen
Abend natürlich auch mit anpackte, obwohl ich keine Ahnung hatte, bei was
ich hier eigentlich half. Deshalb ging ich irgendwann dazu über, den Frauen
beim Abendessen zu helfen, wofür der beleidigende Kerl, der Wulfgar hieß, wie
ich herausgehört hatte, mich gebührend auslachte, dass ich Frauenarbeit
erledigte.
„Sie bauen ein Haus“, erklärte Rin, als ich sie fragte,
was sie hier eigentlich mit so viel Holz anstellen wollten.
„Ein was?“,
fragte ich verwirrt.
Da zuckte sie
aber nur mit den Schultern. „Ich weiß auch nicht genau, was das ist. Es ist ein
großes Zelt, glaube ich. Uri will uns auch eins bauen, wenn wir bei ihm Zuhause
angekommen sind. Wir waren bis jetzt nur unterwegs, um seine Schwester zu
holen, musst du wissen.“
Wirklich
schlauer war ich danach aber auch nicht.
Da ich keine Lust hatte, den Abend mit diesem komischen
Wulfgar (der sich dauernd mit mir prügeln wollte), seinem wortkargen Vater und Rins nicht minder derben Gefährten zu
verbringen, ging ich herum, um zu schauen, ob es noch irgendwo was zu tun gab.
Rin war nach dem Abendessen eingeschlafen und Rika hatte gerade mit deren
Tochter zu kämpfen. Die Kleine schien sich nicht beruhigen zu wollen und Rika
war doch ziemlich überfordert mit ihr, so wie sie aussah.
Also ging ich zu ihr und zeigte ihr mal mein Händchen für
Kinder, wie Ana immer meinte. Die Kleine beruhigte sich tatsächlich, als ich
sie auch nur in den Arm nahm und leicht zu schaukeln begann.
„Du bist gu-gut
m-m-mit Kindern“, bestätigte sie mir. Ich hatte schon bemerkt, dass sie
stotterte, wenn sie sprach. „Sie ist süß, nicht?“
Ronja war inzwischen eingeschlafen, und wie sie da so in
meinen Armen lag und ich sie ansah, fiel mir auf, dass ich das erste Mal wieder
sowas wie Frieden empfand, seitdem die letzten Tage alles den Bach
runtergegangen war. Ich hatte zuvor schon oft mit Kindern zu tun gehabt, aber
das erste Mal konnte ich mir richtig gut vorstellen, selber welche zu haben.
Deshalb gab
ich Ronja auch nur ungern wieder an Rika zurück, die daraufhin ging, die Kleine
in ihr Schlaffell einrollte und schlafen legte.
„Hassssst du
auch schon eine eigene F-F-Familie?“, fragte sie, als sie zu mir zurückkam.
Ich verneinte
und fragte sie: „Und du?“
Da schüttelte
sie den Kopf und sah traurig aus. „Mich w-will keiner, weil ich stotter-re.“
„Das eine hat
doch nichts mit dem anderen zu tun“, meinte ich.
„Da bist du
aber der Einzzzzige, der das so sieht.“
Als sie jetzt wieder traurig aussah, wechselte ich das
Thema und fragte: „Wo kommst du eigentlich her?“
„V-v-on einem
großen Stamm jenseits der Berge. Minos‘ Stamm, falls dir das was sagt. Er war
als ziemlicher Ty-ty-tyrann bekannt. Aber er hat gut auf seine Leute aufgepasst,
und ich durfte auch da leben. Bis er gestorben ist und sein Sohn den Stamm
übernommen hat. Da musste ich plötzlich gehen, weil ich stottere. Er sagte, ich
sei krank und würde die anderen anstecken. Mein Bruder ist dann mitgegangen,
und i-i-ch bin froh, dass ich bei ihm und Rin leben darf. Aber ich will meine
eigene Familie haben.“
Mir fiel auf,
dass sie viel weniger zu stottern schien, wenn sie erstmal erzählte.
„Und du? Was
ist deine Geschichte?“, fragte sie mich, obwohl ich gerade lieber nicht an
meine eigene Geschichte denken wollte.
„Ich lebe in einem Stamm hier in der Gegend, und ich bin
der Sohn von unserem Stammesführer und soll eigentlich den Stamm übernehmen“,
erzählte ich deshalb nur.
„Eigentlich?“
„Naja, ich
habe mich gerade mit meinem Vater gestritten… ich würde ja gerne sagen, dass
ich jetzt nicht mehr weiß, ob er mich übernehmen lässt, aber außer mir ist
niemand anderes da. Unser Stamm ist ziemlich klein und ich bin sein einziges
Kind…“
„Das hört sich ja nicht so a-an, als ob du
überhaupt übernehmen möchtest.“
„Es ist egal,
was ich möchte. Ich sagte doch, dass außer mir niemand anderes da ist…“
„Es ist nicht egal, wasss du mmmöchtest! D-d-das sollte
es niemmals sein!“, rief sie plötzlich so inbrünstig, dass ich ein bisschen
erschrak. Aber noch viel erschreckender war die Frage, die sie mir als nächstes
stellte: „Was möchtest du denn?“
„Ich…“ Ich
hatte noch niemals wirklich darüber nachgedacht, wurde mir klar. Seitdem ich denken
konnte, hatte ich immer gewusst, wie mein Leben aussehen würde, weil man es mir
gesagt hatte, sodass ich mir nie darüber Gedanken gemacht hatte, wie es
eigentlich anders aussehen könnte.
Als mein Blick jetzt unwillkürlich zu der kleinen Ronja
glitt, versuchte ich mir meine Zukunft vorzustellen, so, wie ich sie haben
wollte, und sagte abwesend: „Ich möchte einfach nur ein ruhiges Leben
führen. Eine Frau finden, eine Familie mit ihr gründen…“
Es war das
erste Mal, dass mir das bewusst wurde. All die Jahre hatte mich immer
irgendetwas gestört. Irgendwas hatte sich immer nicht richtig angefühlt und
jetzt wusste ich endlich, was es war. Und es war eine erschütternde Erkenntnis.
Denn ich wusste, dass ich dieses Leben niemals führen würde. Mir war anderes
bestimmt.
„D-dann solltest du das tun!“, schreckte Rika mich aus meiner Erschütterung. Etwas eingeschüchtert fügte sie hinzu: „Viel-l-l-leicht…
d-du hast ja g-g-esagt, dassss du nichts gegen mein sch-sch-stotternnn hast…“
In letzter
Zeit kam ich ein bisschen zu oft in diese Situation, fand ich.
„Du bist eine
tolle Frau, Rika, aber ich habe irgendwie schon jemandem versprochen, mit ihr
mein Leben zu verbringen“, sagte ich ihr ehrlich und seufzte. „Wenn
ich denn erstmal weiß, wie mein Leben aussehen wird. Ich kann nicht
einfach alles hinwerfen… Alle zählen schließlich auf mich…“
Ich machte die ganze Nacht kein Auge zu, weil mich die
Erkenntnis, dass ich bald ein Leben führen würde, das ich hasste, mich so sehr
beschäftigte. Immer wieder wälzte ich meine Gedanken hin und her und versuchte,
einen Ausweg aus einer ausweglosen Situation zu finden.
Am Morgen war ich dann dementsprechend fertig mit der
Welt, aber ich hielt mein Versprechen natürlich und ging nach dem Frühstück zum
Ahn-Stamm hinüber. Ich wurde blöderweise gleich von Ren und Ur feindlich
empfangen, aber diese ganzen dämlichen Stammesstreitigkeiten waren mir
plötzlich so sehr zuwider, dass es mir schlichtweg egal war.
„Ich muss dich
sprechen, Ren, obwohl ich lieber darauf verzichten würde“, ging ich ihn an.
„Aber wenn es dich nicht juckt, was ich dir zu sagen habe, könnte mir das
egaler nicht sein.“
Danach ging ich einfach weg, und wie erwartet dauert es
keine Minute, bis er mir, lauthals zeternd, nachlief.
„Und was
willst du jetzt von mir?“, fragte er gespielt desinteressiert.
„Ich habe dir nichts zu sagen, aber deine
Schwester will dich sprechen“, berichtete ich ihm. Und ich machte mir nicht mal
die Mühe, stehenzubleiben.
Ren tat mir aber auch danach leider nicht den Gefallen, mich in Ruhe zu
lassen, also ignorierte ich ihn den restlichen Weg über, nachdem ich ihn gewarnt hatte, sich ja anständig bei Rika zu benehmen.
Erst, als er Wiedersehen mit seiner Schwester
feierte, was ungewohnt rührend ausfiel, wurde ich ihn wieder los.
Zumindest, bis er Rika kennenlernte…
…und Rika meinte, ihre Zeit lieber bei mir zu verbringen.
„Du kö-kö-könntest auch mit uns kommmmen“, bot sie an,
als ich gerade versuchte, herauszufinden, wie die hier das Holz zu schmalen
Brettern machten.
Ich schlug
höflich aus, aber es bewahrte mich trotzdem nicht davor, dass Ren mich am Abend
abfing, als ich mich gerade zum Austreten abgesetzt hatte.
„Sag mal, was willst du eigentlich hier?“, fing er nicht
sehr freundlich an.
„Ich wüsste
nicht, was dich auch nur irgendwas angehen würde, was ich mache.“
„Hast du kein
Zuhause, oder was?“
Ich wollte ihn
stehen lassen, aber da hatte er mich plötzlich am Arm. Einem Reflex gleich riss
ich mich los und ging auf Abstand, weil ich dachte, er würde mich angreifen.
Aber stattdessen sah ich plötzlich in ein unglückliches Gesicht.
„Mann, du kannst doch jede haben, aber Rika ist perfekt
und sie würde mich echt nehmen. Bitte“, bat er mich plötzlich, und ich war
einfach nur sprachlos, dass das gerade geschah, „lass sie mir doch!“
Ich wollte nicht nach Hause gehen. Doch dass Ren, der
immer so überlegen getan hatte, sich tatsächlich dazu herabließ, mich um etwas
zu bitten, zeigte mir, wie wichtig ihm die ganze Sache mit Rika sein musste.
Ich hatte kein Interesse an ihr, aber er hatte recht. Es war für sie beide
besser, wenn ich nicht hier war. Es war schließlich offensichtlich, dass Rika
mich besser leiden konnte als ihn.
Also verabschiedete ich mich am nächsten Morgen von allen
und ging.
Doch ich war noch nicht bereit dazu, nach Hause zu gehen,
weshalb ich den Weg zum Uruk-Stamm einschlug. Meine Mutter, Tara, kam mir schon
entgegen, als sie mich näherkommen sah.
„Rahn! Dem
Himmel sei Dank, da bist du ja und dir ist nichts passiert!“, sagte sie
erleichtert, während sie wohl versuchte, dass mir doch noch was passierte, so
fest wie sie mich an sich drückte. „Ich habe mir solche Sorgen um dich
gemacht, als ich gehört habe, dass du verschwunden bist. Ich – dein Vater – wir
haben dich überall gesucht.“
Ich musste feststellen, dass die Erwähnung meines Vaters
eine aggressive Ader in mir ansprach, von der ich vorher gar nicht gewusst
hatte.
„Tut mir leid,
ich wollte nicht, dass du dir Sorgen machst“, unterdrückte ich meine Wut.
„Das ist alles
meine Schuld! Ich habe dich angelogen, Rahn. Ich war es,
die dich damals zurückgelassen hat – freiwillig. Dein Vater trifft überhaupt
keine Schuld. Er wollte mich sogar noch aufhalten. Und jetzt nimmt er die
Schuld auf sich, weil er mich schützen und mir eine Chance mit dir geben will.“
Ich wollte das einfach nicht hören. Denn im Endeffekt war
es eigentlich egal. Vater hatte auch so schon genug angerichtet über die Jahre
mit seiner Ignoranz und seiner gnadenlosen Strenge, dass es ohnehin egal war,
ob er jetzt auch noch daran Schuld
hatte oder nicht. Ich war mit ihm durch.
„Und wie sieht
es jetzt aus? Willst du mich jetzt hier haben?“, fragte ich sie trotzdem.
„Natürlich! Ich wollte nie etwas anderes, als dich zu…“
Sie brach ab, als ihr auffiel, dass sie sich verplappert hatte.
„Siehst du,
und genau deshalb glaube ich dir nicht, dass du mich freiwillig verlassen hast.
Du willst ihn nur in Schutz nehmen, und das ist nett von dir, aber unnötig. Ich
bin auch nicht deswegen weggegangen.“
Ich ging an ihr vorbei ins Lager und setzte mich zu dem
kleinen Mädchen, das bedächtig mit einem Steckspiel spielte. Sie machte große, verängstigte Augen, als sie mich bemerkte, doch dann fuhr sie in ihrem
Spiel fort, als wäre ich gar nicht da. Ich musste sofort an die kleine Ronja
denken und fühlte mich augenblicklich besser.
„Ich möchte nicht die Führung über den Zoth-Stamm
übernehmen“, eröffnete ich meiner Mutter schließlich, die mir natürlich gefolgt war. „Ich will
nur ein ruhiges Leben führen und nicht die Verantwortung für einen ganzen Stamm
haben, und ich weiß jetzt nicht, was ich deswegen tun soll.“
„Du musst nichts
tun muss, was du nicht tun willst“, versicherte sie mir inbrünstig. „Und du
kannst auch jederzeit hierher kommen und bei uns leben, wenn du das möchtest.
Es… würde mich auch freuen, wenn du hier wärst.“
„Ich glaube
nur leider nicht, dass das das Richtige zu tun ist. Ich kann nicht einfach alle
im Stich lassen.“
„Soll ich mal
mit deinem Vater reden?“, bot sie an, doch ich verneinte.
„Danke, dass du mir zugehört hast.“ Ich stand auf. „Doch
ich glaube, ich sollte jetzt besser wieder nach Hause gehen.“
Es war an der
Zeit. Ich hatte mich entschieden. Das Leben, das ich führen sollte, war mir
zuwider, aber ich würde es trotzdem führen. Weil das meine Aufgabe war und ich
nicht einfach alle anderen im Stich lassen konnte.
Ich kehrte danach nach Hause zurück, aber es war für mich
keine schöne Heimkehr. Ana, Wanda und Roa waren froh und erleichtert, mich
unversehrt wiederzusehen, und der große Streit mit meinem Vater blieb auch aus,
aber es war trotzdem unschön. Es war das erste Mal, dass es sich nicht danach
anfühlte, nach Hause zu kommen.
Anstatt mich anzubrüllen und zu bestrafen, strafte mein
Vater mich mit Schweigen, und ich tat es ihm gleich. Von dem Moment meiner
Rückkehr an redeten wir nur noch das allernötigste miteinander.
Stattdessen sah ich ihn die nächste Zeit sehr oft mit
Roa zusammen. Ich hatte sogar gehört, dass sie sich wünschte, meinem Vater als
Anführer nachzufolgen. Es war nicht so, dass mich das störte, weil ich mich
zurückgesetzt fühlte, sondern hatte ich Sorge, dass er ihr dasselbe antun würde
wie mir. Ihr die Kindheit, die sie nicht wiederbekommen konnte, mit Training
und Versagensangst zu rauben. Ich nahm mir jedenfalls vor, niemals so zu meinen
Kindern zu sein.
„Sag mal“, fragte ich Ana, als sie mich am Abend erneut
ein bisschen zu überschwänglich zurück willkommen hieß, „wie würdest du es
eigentlich finden, wenn ich nicht die Stammesführung übernehmen würde?“
Doch sie
schaute mich da nur an, als würde ich ihr das Blaue vom Himmel erzählen. „Was
redest du denn da? Du hast seit deiner Kindheit dafür gearbeitet, den Stamm anzuführen und das kann dir niemand einfach wegnehmen. Hast du etwa Angst, dass
dein Vater dich jetzt nicht übernehmen lässt, weil ihr euch einmal gestritten
habt? Das kommt vor. Streit ist völlig normal in der Familie. Mach dir keine
Sorgen.“
Vielleicht war es mit ihr doch nicht so einfach, wie ich
gehofft hatte. Aber ich würde sie wohl trotzdem zu meiner Gefährtin machen.
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