Wir gingen durch den Nebel, vorbei an gruseligen Bäumen
ohne Blätter, die im Dunst aussahen wie riesige, dürre Ungetüme. Ich musste
mich ja schon ein paarmal zusammenreißen, nicht zu schreien, wenn mal wieder
ein unheimlicher Laut zu hören war. Lu meinte, dass das nur Vögel waren. Eulen
und sowas. Ich war ja schon beeindruckt, wie mutig er war, und ich fühlte mich deshalb
ein bisschen besser, als er mir erzählte, dass er bei seiner ersten
Nebelwanderung wie ein kleines Mädchen geheult hatte.
„Der Trick
ist, nur auf eines zu gucken und alles Gruselige zu ignorieren“, erklärte er.
„Schau, ich guck nur auf Tibit. Außerdem finde ich das weniger gruselig als jagen“,
fügte er leise hinzu, dass ich es kaum verstand.
Inzwischen
hatten wir einen schmalen Durchgang durchquert und was an seinem Ende lag,
hätte ich ja nie an so einem unheimlichen Ort erwartet. Es war ein See, nebelig
wie alles andere auch, aber da waren keine toten Bäume mehr. Im Gegenteil,
überall blühten bunte Blumen, das Gras war so tief grün, wie ich es selten
gesehen hatte. Ab und an glaubte ich, leuchtende Punkte durch die Luft
schwirren zu sehen – Glühwürmchen, wie Lu meinte. Ich dachte, dass sowas nur
nachts herumflog, aber ich war viel zu sehr mit Staunen beschäftigt, um was zu
sagen.
Der Alte hockte jetzt am Boden und
war am Kräutersammeln, also gesellte ich mich zu Lu.
„Warum magst
du nicht jagen?“, fragte ich und Lus Mundwinkel fielen sofort herab. „Du hast
vorhin gesagt, du findest es gruselig. Und abgehauen bist du auch. Aber warum?
Du bist doch ein Junge.“
„Ich weiß,
aber… ich mag’s halt nicht“, nuschelte er unglücklich.
„Hast du Angst davor?“ Als er nicht
antwortete, gestand ich: „Ich mag’s auch nicht. Jagen, mein ich.“
Da schaute er
mich überrascht an. Ich hatte das noch niemandem gesagt, aber schon als ich den
anderen Jungen das erste Mal gesehen hatte, wie verloren und ängstlich er
hinter seinem Vater gestanden hatte, hatte ich gewusst, dass wir da wohl was
gemeinsam haben.
„Hast du Angst davor?“, fragte er jetzt.
„Nein. Ich
kann’s nur nicht. Und alle erwarten von mir, dass ich es kann.“
„Von mir auch.
Aber ich will nicht jagen.“ Plötzlich
sah er richtig verbittert aus. „Erwachsene sind manchmal echt doof, dass sie von
uns erwarten, dass wir was tun, was wir nicht wollen.“
Bevor ich ihm
rechtgeben konnte, fing er plötzlich an zu schreien. Als ich nachguckte, was
ihn so erschreckt hatte, sah ich ein riesiges, schwarzes Ungetüm, das mir
gerade seine eindrucksvoll spitzen Zähne zeigte. Es war ein Panther, glaubte
ich.
Während Lu jetzt
hinter mich schlüpfte, sah ich mich nach Hilfe um,
nur um festzustellen, dass wir auf uns gestellt waren. Der alte Mann war
verschwunden.
Mir war da ja
auch zum Schreien zumute, aber im Gegensatz zu Lu wusste ich, dass ich was
machen musste, damit wir nicht gleich gefressen wurden. Wir waren in einer Sackgasse
und der Panther würde uns schneller eingeholt haben, als wir würden gucken
können. Also war weglaufen sinnlos. Meinen Bogen hatte ich blöderweise auch
„verloren“, aber zum Glück fielen mir da die Steine ins Auge, die überall verstreut lagen.
Ich bückte
mich schnell und holte aus, als der Panther sprang, und tatsächlich traf ich
genau seine Nase. Das Vieh blieb jetzt stehen und legte kurz seine Pfote drauf,
aber dann guckte es noch grimmiger.
„Nicht!“,
hörte ich Lu rufen. „Du machst es nur noch wütender!“
Da er mir aber
nicht sagte, was ich sonst machen sollte, ignorierte ich ihn und warf gleich
noch einen zweiten Stein nach. Und einen Dritten. Und einen Vierten. Ich traf
jedes einzelne Mal die Nase, dass es sich jetzt doch zu überlegen schien, ob
die Zwischenmahlzeit, die wir waren, den ganzen Ärger überhaupt wert war.
„Das ist
jetzt genug“, hielt mich jemand anderes davon ab, einen fünften Stein zu werfen.
Es war Tibit,
der jetzt neben dem Panther auftauchte, der sofort unschuldig
guckte, als hätte er nicht gerade erst versucht, uns zu Mittag zu essen.
„Er wollte uns
fressen!“ verteidigte ich mich.
„Dies ist ein
Geist des Waldes. Ein Beschützer“, erklärte Tibit mit Blick auf den Panther,
der mir nach wie vor suspekt war. „Er ist nur hierhergekommen, um dich
Eindringling in Augenschein zu nehmen. Er hat deinen Mut und dein Geschick zur
Kenntnis genommen und dich als verwandten Geist akzeptiert. Aber wenn du weiter
Steine wirfst, dann wird er deine Natur als aggressiv und zerstörerisch werten
und dich zu vernichten trachten.“
„Und was ist mit mir?“, fragte Lu
jetzt ängstlich. „Ich war nicht mutig und geschickt. Wird er mich jetzt
fressen?“
„Nein. Der
Wald hat deine friedliche Natur bereits erkannt, Lu, und deshalb keinen Wächter
geschickt, um dich zu testen. Dir wird hier kein Leid geschehen, wenn auch du
kein Leid verursachst.“
Ich war ja nicht so überzeugt von
der ganzen Sache, aber als der Panther von Dannen trottete, entspannte
auch ich mich wieder ein bisschen.
„Wir sollten
jetzt zu euren Eltern zurückkehren“, sagte Tibit und erinnerte mich daran, dass
da ja noch was gewesen war, was ich lieber vergessen hätte.
Es ging also zurück durch den Nebel Richtung Verderben.
Lu sah von Minute zu Minute elender aus, weil er ja auch abgehauen war und
Ärger kriegen würde, und mir ging es genauso.
Tatsächlich
sahen unsere Väter nicht sehr erfreut aus, als wir sie erreichten. Sie standen
am Waldrand, und Sen kam als erster auf uns zu.
„Ich wusste, dass er wieder bei dir ist“,
versetzte er wütend in Tibits Richtung und warf Lu mit einem
vernichtenden Blick ab.
„Und du: Ich dachte, dass wir das mit dem Weglaufen
geklärt hätten! Wenn du dich weiter so benimmst, wirst du nie
zu einem richtigen Mann!“
Ich hatte ja
schon Mitleid mit ihm, wie er jetzt in Tränen ausbrach. Das war schon ein
bisschen beschämend für ihn, vor allen anderen zu weinen.
Es lenkte nur leider meinen Vater nicht davon ab, dass
ich genau so einen Mist wie er gemacht hatte. Doch anstatt mich vor allen
anderen bloßzustellen, begnügte er sich damit, mich böse anzustarren. Noch. Ich
wusste ja, dass er später dann über mich hereinbrechen würde, wenn wir erstmal
allein waren.
„Es ist Zeit
für uns, aufzubrechen“, sagte Vater jetzt zu den anderen Männern. „Lasst uns
doch wann anders nochmal losziehen. Aber dann ohne…“
Er sagte es
nicht, aber sein Blick zu Tibit reichte auch schon vollkommen aus.
Enn und Senn
nickten, und als hätte er es mitbekommen, sagte Tibit plötzlich: „Ich
sehe in deinem Sohn eine bekannte Seele. Wenn sein Kopf eines Tages krank sein
sollte, dann bring ihn zu mir, dass ich ihn heilen werde.“
Vater ließ ihm
noch einen skeptischen Blick da, bevor sie sich voneinander verabschiedeten, und
ich musste blöderweise mit ihm gehen.
Er verschonte mich noch mit seiner Wut, bis er sicher
war, dass die vom anderen Stamm uns nicht mehr hören oder sehen konnten.
„Was hast du
dir nur dabei gedacht, einfach wegzulaufen?“
„Ich bin nicht
weggelaufen“, schwindelte ich, bevor ich es verhindern konnte. „Ich hab euch
verloren und hab mich verlaufen.“
„Lüg mich bloß
nicht an!“, schalt mein Vater laut. „Es ist schlimm genug, dass du mich vor
den Anderen blamiert hast! Ich weiß, dass du wie ein Feigling weggelaufen bist!“
Er fasste sich an den Kopf und
begann, auf und ab zu gehen. Ich hätte ihm so gerne gesagt, dass er dann halt
nicht so hohe Ansprüche an mich haben sollte, wenn er nicht wollte, dass ich
aus Angst, zu versagen, weglief. Aber ich tat es nicht. Weil ich es mir nicht
traute. Wie immer. Ich hatte meinem Vater noch nie widersprochen.
„Niemand hat von dir erwartet, dass
du sofort etwas erlegst wie Enns Sohn, aber dass du es nicht einmal probiert
hast! Du hast mich bloßgestellt, Rahn! Du hast unseren gesamten Stamm bloßgestellt!“
Das war es
also. Ich hatte ihn blamiert. Ich hatte versagt. Und er hatte wahrscheinlich
nicht einmal etwas anderes erwartet. Hatte nicht einmal daran geglaubt, dass
ich etwas erlegen würde „wie Enns Sohn“, weil er wusste, dass ich ein Versager
war.
Die
Erkenntnis, dass mein Vater nicht an mich glaubte, traf mich so tief, dass ich
nicht verhindern konnte, dass mir die Tränen darüber kamen. Ich schaffte es
zwar, nicht zu heulen wie Lu vorhin, aber sie rollten trotzdem stumm über
meine Wangen. Als Vater das bemerkte, stellte er das Schimpfen ein, aber dafür
sah er jetzt wieder enttäuscht aus. Ich war nichts anderes von ihm gewohnt.
Er drehte mir
den Rücken zu. „Du wirst dafür natürlich bestraft werden, wenn wir Zuhause
sind.“
Dann ließ er
mich stehen. Aber ich folgte ihm nicht. Ich tat das, was ich scheinbar am
besten konnte: weglaufen. Er merkte es nicht einmal, bis es schließlich zu spät
für ihn war, mich einzuholen.
Ich würde nicht mehr nach Hause zurückgehen. Ich würde
von nun an einfach in der Wildnis leben und mich von Beeren und Wurzeln
ernähren. Das hätte ich schon beim ersten Mal tun sollen. Wenn ich so ein
Fehlschlag als Sohn war, war es besser, wenn ich von nun an niemandes Sohn mehr
war.
Während ich
noch überlegte, ob ich lieber in einer Höhle oder in einem Zelt wohnen sollte,
und wie man sowas überhaupt baute, erreichte ich eine
kleine Bucht. Es war, trotz des strahlend blauen Himmels, schon ziemlich windig
und unangenehm kalt hier, also wollte ich wieder umdrehen. Doch da fiel mir
etwas im Wasser auf. Ich musste aber erst bis ans Wasser rangehen, um darin
einen kleinen Wolf zu erkennen. Er paddelte im Wasser und er sah aus, als ob er
gleich untergehen würde. Wölfe konnten doch auch gar nicht schwimmen, oder? Es waren ja keine Enten.
Da überlegte
ich nicht lange. Es war zwar eiskalt, aber ich konnte den Kleinen ja nicht
einfach ertrinken lassen. Vielleicht würde er ja auch mein Begleiter werden.
Dann wäre ich nicht so allein.
Es war zum
Glück ziemlich flach, das Wasser, zumindest, bis ich mit einem Mal keinen Boden
mehr unter den Füßen hatte und meine Welt im nächsten Augenblick nur noch aus Blau bestand. In einer ersten Reaktion versuchte ich erschrocken, Luft zu
holen, aber als ich nur einen Mund voll Wasser atmete, hörte ich wieder auf
damit. Die Angst hatte ich einfach übersprungen und war gleich zu Panik
übergegangen. Ich ruderte wie wild mit meinen Armen und Beinen, um wieder an
die Oberfläche zu kommen, aber ich sank stattdessen zum Meeresboden hinab. Es
war immer noch nicht sehr tief hier, aber allemal tief genug, dass ich
ertrinken würde.
Als mir das
bewusst wurde, spürte ich, wie meine Augen heiß wurden. Ich kroch über den Meerboden, auf den steilen Abhang zu,
den ich vorher nicht bemerkt hatte, und schien mich doch davon zu entfernen.
Meine Brust tat mir so weh. Wenn ich nur… wenn ich nur nicht weggelaufen wäre.
Wenn ich nur meinen Vater nicht enttäuscht hätte. Wenn ich nur jetzt bei meiner
Mama wäre… Ich war so müde.
Plötzlich riss
mich etwas nach oben. Das Tageslicht war so grell, dass es
mich blendete. Ganz automatisch probierte ich jetzt wieder das Atmen und ich
war ja so froh, dass ich diesmal keinen Mund voll Wasser bekam. Als sich meine
Augen endlich wieder eingekriegt hatten, sah ich in Idas Gesicht. Sie war mir
noch nie so schön vorgekommen wie jetzt.
Ida brachte mich zum Strand zurück; sie war groß genug,
um im Wasser stehen zu können.
„Du hattest
Glück, dass ich hier war“, sagte sie mir. „Was hast du denn da gemacht?“
„Da war ein
Wolf. Er war am Ertrinken.“
Sie deutete
hinter sich, wo besagter Wolf putzmunter im Sand lag.
Er hatte es ganz ohne meine Hilfe geschafft.
„Was machst du
denn eigentlich hier? Ich dachte, du bist mit deinem Vater jagen gegangen.“
„Ja, aber ich lebe von nun an allein in der Wildnis“, erklärte ich, und sie sah mich jetzt an, als
hätte ich ihr gesagt, ich hätte zu fliegen versucht.
„Und warum
das?“
Ich zögerte,
erzählte ihr aber schließlich alles. Ich wollte ja nicht undankbar sein, wo sie
mich doch gerettet hatte.
„Dein Vater macht sich sicher große
Sorgen um dich“, tadelte sie, als ich fertig mit Erzählen war. „Du solltest
lieber zurück nach Hause gehen.“
„Hast du mir
gerade nicht zugehört?“, fragte ich beleidigt.
„Doch. Du hast
dich mit deinem Vater gestritten. Wie ein ganz normales Kind.“
„Ich hab ihn
enttäuscht, weil ich ein Versager bin.“
„Dann hast du eben versagt, na und?
Kinder tun das. Das ist normal. Das heißt es, ein Kind zu sein. Nicht gleich
alles zu können. Dein Vater weiß das auch. Er war schließlich auch mal ein Kind
und hat bestimmt hart daran arbeiten müssen, heute der zu sein, der er ist.“
„Das hat Mama
auch schon gesagt. Dass ich es nur weiter versuchen muss. Aber egal, was ich
auch mache, ich werde einfach nicht besser.“
„Aber wenn du
einfach aufgibst und wegläufst, wirst du auch nicht besser. Dann wirst du nie
erfahren, ob deine Mama nicht doch recht hatte. Und ich bin mir sicher, dass du
eines Tages ein guter, starker Mann werden wirst, wenn du weiter dein Bestes
gibst. So wie dein Vater.“
Als ich jetzt
schwieg, weil ich immer noch nicht ganz davon überzeugt war, war es eine Weile
ruhig.
Bis sie schließlich sagte: „Weißt du, ich überlege, ob
ich nicht hierbleibe. Bei eurem Stamm. Und ob ich nicht deine Gefährtin werde,
wenn du erst einmal ausgewachsen bist.“
„Wirklich?“,
fragte ich überrascht.
„Ja, aber nur,
wenn du auch ein ordentlicher Mann wirst.“
Ich schwieg
einen weiteren Moment, in dem ich alle Mühe hatte, nicht rot zu werden. Sie war
ja schon hübsch, fand ich. Dass jemand wie sie echt meine Gefährtin werden
wollte, war schon stark.
Also versprach ich ihr, alles zu geben, um ein guter Mann
zu werden, und dann gingen wir zusammen nach Hause.
Ich bekam danach natürlich einiges an Ärger. Aber ich
ließ es über mich ergehen und das erste Mal sah ich die Bestrafungen, die
folgten, nicht als solche, sondern als Chance. Als Training, um besser zu werden.
Von heute an würde ich mein Bestes geben, um eines Tages
meinem Vater als Sohn gerecht zu werden und ein guter Mann zu werden.
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