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Dienstag, 31. Dezember 2019

Teil 11 - Rahn und die Frauen



Manchmal kam es mir ein bisschen so vor, als würden sich gewisse Dinge wiederholen. Wie an diesem warmen Sommertag, als ich vom Fischen nach Hause kam und von einem Mädchen vom Ahn-Stamm abgefangen wurde. Es war diesmal nicht Rin, es war ihre kleine Schwester, aber es erinnerte mich trotzdem an letztes Jahr.


Und ich sollte Recht behalten. Sie kam schnurstraks auf mich zu, baute sich vor mir auf und verkündete: „Ich bin Lann vom Ahn-Stamm, wie du bestimmt weißt.“ Ich hatte noch nie von ihr gehört. „Ich werde als nächstes unseren großen Stamm anführen, also solltest du besser mein Gefährte werden.“
      Ich brauchte erstmal eine Weile, um mich davon abzuhalten, loszulachen. Sie sah nicht so aus, als ob sie Spaß verstehen würde. Sie schien das wirklich ernst zu meinen.
     „Ich glaube nicht, dass das eine gute Idee ist“, versuchte ich, ihr klarzumachen. „Unsere Väter verstehen sich nicht so gut.“


„Deswegen ja!“, unterbrach sie mich barsch, und obwohl sie noch ein Kind war, kam sie mir gerade vor wie eine alte Frau. „Mein Vater nimmt euch bestimmt wieder auf, wenn du erstmal mein Gefährte bist. Aber dann musst du natürlich auf mich hören. Ich führe dann den Stamm an, nicht du“, meinte sie, als ob das alles schon beschlossene Sache und klar war, dass wir ihrem Stamm beitreten wollten.


Ich wollte ihr gerade sagen, dass ihr Angebot ja verlockend war, aber ich leider ablehnen musste, als ich erneut unterbrochen wurde. „Du bist noch ein Kind, Lann“, lachte jemand. „Was er braucht ist eine Frau und kein Kind“


Es war Nama, die jüngste Schwester von Ur und Vater, mit der ich in meiner Kindheit so gut wie nichts zu tun gehabt hatte, dafür jetzt umso mehr. Sie blieb zwischen uns stehen und warf mir einen überaus zweideutigen Blick zu, dass ich mich sofort nackt fühlte. Sie hatte so eine direkte Art an sich, wie ich sie kaum je erlebt hatte. Sie hatte mir schon mehr als einmal Angebote gemacht, bei denen mir hören und sehen vergangen war. 
     „Er braucht jemanden wie mich!“, war sie sich sicher und präsentierte sich dabei anzüglich. 


„Er wäre bescheuert, wenn er dich und nicht mich nehmen würde! Also hau ab!“, fauchte Lann.
     Die beiden gerieten jetzt in einen Streit miteinander, zu dem ich anscheinend nichts zu melden hatte, und es wurde nicht besser. Als nächstes kam Ana an.


„Zieht Leine, ihr Schabracken, Rahn gehört mir!“, rief sie und war sofort zur Stelle. Seitdem sie herangewachsen war, war sie überzeugt davon, dass wir zusammengehören würden.
     Der Streit ging jetzt mit drei Mädchen in die nächste Runde, und ich wollte doch einfach nur nach Hause.


Hilfesuchend sah ich mich um, während ich zunehmend von allen Seiten in Bedrängnis geriet, und da entdeckte ich sie. Eine blonde, anmutige Schönheit, die mir in diesem Moment von Schicksal zu meiner Rettung gesandt zu sein schien. Und das Beste war, sie kam direkt auf uns zu!


„Entschuldigung“, unterbrach sie die streitenden Mädchen vorsichtig, und ich war von ihrem Mut ja beeindruckt, sich der wütenden Meute auch nur zu nähern. „Ich bin schon den ganzen Tag unterwegs und bin auf der Suche nach einer Bleibe für die Nacht. Könnt ihr mir vielleicht helfen?“
     Ich nutzte meine Chance, mich unauffällig aus der Schusslinie zu ziehen und trat hastig vor sie, bevor eines der Mädchen mir zuvorkommen konnte.
     „Wir haben hier in der Nähe eine Höhle. Ich kann dich hinbringen, wenn du möchtest.“
     „Das wäre nett von dir.“ 
     Sie lächelte und ich merkte, wie meine Ohren warm wurden. Ich hatte noch nie etwas so Schönes gesehen.


Bevor die Mädchen sich noch auf sie stürzen konnten, so giftig, wie sie jetzt guckten, sah ich zu, dass wir entkamen.


Wanda war der Name der Schönheit, und ich fand, es war der schönste Name, den ich je gehört hatte. Sie erzählte Vater nicht viel von sich, nur, dass sie eigentlich ein neues Zuhause suchte, und als ich das hörte, beschloss ich, dass ich sie an meiner Seite haben wollte.


Das Problem war nur, wie gewann man eigentlich eine Frau für sich?


Ich hatte meinen Vater bislang noch nie um Rat gefragt, aber ich hatte auch niemand anderen, den ich fragen konnte. Unser Stamm bestand nur noch aus drei - vielleicht bald vier - Leuten und außer mir war der einzige andere Mann nun mal mein Vater. Aber egal wie oft ich es auch versuchte, ich konnte es einfach nicht über mich bringen, ihn zu fragen. Es war mir so peinlich und ich wollte nicht, dass er mich für schwach hielt, nachdem ich endlich seinen Respekt hatte.


Ich überlegte also hin und her, bis mir die Idee kam, Sen zu fragen. Seitdem er mir damals mit dem Bogenschießen geholfen hatte, hatten wir immer mal wieder miteinander zu tun gehabt. Er hatte mir einiges beigebracht, inzwischen zogen wir sogar manchmal zusammen los, um zu jagen. Kinder hatte er auch, also musste er ja Ahnung von Frauen haben, und damit war er wohl meine beste Anlaufstelle für sowas.


Er war zum Glück immer recht leicht zu finden, da er jeden Morgen am großen Strand fischen ging. Ich begrüßte ihn, stellte mich neben ihn, um so zu tun, als wäre ich auch nur wegen den Fischen hier, und dann stellte ich irgendwann ganz nebensächlich meine Frage.


„Zeig ihr, dass du für sie und eure Kinder sorgen kannst“, war seine eindeutige Antwort.
     Ich zögerte. „Ist es nicht auch wichtig, dass sie einen… naja, gernhat?“
    „Ist natürlich praktisch, aber was hilft sowas der Frau, wenn der Mann zu schwach ist, um auf sie und die Kinder aufzupassen und für sie zu sorgen?“ Er wirkte einen Moment merkwürdig niedergeschlagen und als er mich jetzt wieder ansah, war er ungewohnt ernst. „Frauen suchen sich deshalb am liebsten starke und geschickte Männer. Glaub mir, ich bin schon einiges rumgekommen und es war überall so. Auch hier. Ich weiß also, wovon ich rede.“
     „Und wie zeige ich ihr, dass ich stark und geschickt bin?“, fragte ich, obwohl mir lieber gewesen wäre, Wandas Herz für mich zu gewinnen, als sie mit Stärke zu beeindrucken.


„Geh Jagen und bring ihr ordentlich Beute als Beweis mit, dass du für sie sorgen kannst“, war seine Antwort gewesen.
     Also war ich nach Hause gegangen, hatte meinen Bogen geholt und war dann losgezogen, um im Nebelwald Jagen zu gehen. Da die meisten Leute noch immer Angst vor dem Nebel hatten, konnte man hier das beste Wild finden, wie ich wusste.
     Sen war inzwischen leider weg, aber ich kam trotzdem nicht weit, bevor ich schon wieder jemandem vom Uruk-Stamm über den Weg lief.


Diesmal war es jemand, den ich erst erkannte, als er vor mir stand und: „Ich bin’s, Tann“, sagte.
     Großartig. Ich hatte bislang nicht mehr mit ihm zu tun gehabt und darüber war ich auch ganz froh gewesen, wie er mir gleich mal bewies.
     „Ich bin auf meiner Stammesführerprüfung.“ Er präsentierte seinen Speer. „Einen Tag und eine Nacht allein draußen überleben. Einen ordentlichen Braten für mein Fest später hab ich auch schon erlegt“, erklärte er enthusiastisch, obwohl ich nicht nachgefragt hatte. Plötzlich hatte er mich im Visier. „Und du? Bist du inzwischen Stammesführer?“


„Nein“, gab ich knapp zurück.
     „Wann ist es denn bei dir soweit?“
     „Wenn Vater es für richtig befindet.“
     Vater hatte bislang noch nichts dergleichen gesagt und ich hatte es auch nicht eilig, ihn daran zu erinnern.
     „Ah, Mann, du armes Schwein! Ich kann es ja gar nicht erwarten, dass ich endlich übernehmen kann. Ich bin echt froh, dass meine Mutter mich gleich gelassen hat.“
     „Hm.“


„Und du gehst jagen?“, fragte er jetzt mit Fingerzeig auf meinen Bogen blöderweise.
     „Ja.“ Oh, bitte, lass ihn mich nicht begleiten wollen!
     „Ich würde dich ja gern begleiten“, sagte er und ich fluchte, „aber die Regeln sagen, ich muss allein zurechtkommen.“
     Ja! „Kann man nichts machen.“ Ich winkte. „Ich muss dann auch weiter.“
     „Klar. Lass uns wann anders mal zusammen Jagen gehen.“ Und als ich schon halb weg war, rief er noch: „Und komm zu meiner Feier, wenn ich es geschafft habe, ja?“


Ich nickte über die Schulter hinweg und wünschte ihm viel Glück, aber eigentlich gedachte ich nicht, da hinzugehen. Seit dieser ganzen Sache mit meiner Mutter, die angeblich im Uruk-Stamm lebte, war ich nicht mehr zu dem anderen Stamm gegangen. Ich glaubte noch immer nicht, dass es stimmte, aber ich wollte es auch nicht herausfinden.


Die folgende Jagd war schnell und unspektakulär wie immer. Ich wich einem Bären aus…


…nahm die Fährte eines Hirsches auf, was ich aber in letzter Sekunde verwarf, weil ich sowas Großes niemals allein nach Hause bekommen würde…


…und entschied mich schließlich für einen ordentlich großen Hasen. Sie waren inzwischen meine Spezialität. Hoffentlich würde es auch Wanda reichen.


Zufrieden mit meiner Ausbeute kehrte ich danach hastig nach Hause zurück. Doch als ich sah, dass Wanda nicht allein war, sondern mit einem Fremden redete, versteckte ich mich schnell, schlich näher ran und lauschte. Ich konnte gar nicht anders; ich wollte unbedingt wissen, was da vor sich ging. Wer war der Andere? Und was wollte er von Wanda?


„…Lu, vom Uruk-Stamm“, hörte ich den Fremden sagen. Moment, der Name sagte mir aber was. Ich riskierte einen unauffälligen Blick, und tatsächlich, es war der kleine Junge vom Nebelsee, der inzwischen nicht mehr so klein war. Mist, hoffentlich bedeutete der keine Konkurrenz. Er war ja eigentlich ganz in Ordnung gewesen.
     „Das da hinten sind meine Eltern“, fuhr er jetzt fort, „und sie wollen, dass ich mit dir rede. Und ich wäre dir ehrlich dankbar, wenn du einfach lächeln, ab und an nicken und irgendetwas sagen würdest, damit sie zufrieden sind und mich in Ruhe lassen.“
     Mir fiel ein Stein vom Herzen, als ich das hörte.


„Ja, das kenne ich nur zu gut. Meine Eltern haben auch immer versucht, mich mit jemandem zu verkuppeln. Deswegen bin ich von ihnen weggegangen. Ich bin übrigens Wanda.“
     Das wiederum hörte ich überhaupt nicht gern. Ganz und gar nicht.
     „Lass dich nicht von ihnen unterkriegen!“, fügte Wanda hinzu. „Sag ihnen einfach, dass ich kein Interesse habe oder Tuck ein Auge auf mich geworfen hat. Dann lassen sie dich bestimmt in Ruhe.“
     Was?
     Ich war so paralysiert von dieser Neuigkeit, dass ich gar nicht richtig wahrnahm, wie Lu jetzt zu besagten Eltern zurückging. Und ich verpasste Wanda auch fast.


Also rief ich ihren Namen, dass sie zu mir kam, bevor sie in der Höhle verschwinden konnte, und sagte ihr: „Entschuldige, aber ich habe gerade mitbekommen, was du gesagt hast.“ Ich zögerte. „Stimmt es, dass mein Vater…“
     Ich konnte es nicht einmal aussprechen.


„Oh, nein, natürlich nicht!“, wehrte sie hastig ab. „Dein Vater ist ein netter Mann, aber wir kennen uns kaum einen Tag lang. Und außerdem bin ich auch gerade gar nicht auf der Suche nach einem Mann.“
     „Gar nicht?“, fragte ich bang.
     Sie schüttelte den Kopf. „Vielleicht irgendwann mal, aber… wenn du alles gehört hast, kannst du vielleicht verstehen, dass ich gerade erstmal genug von Männern habe. Es war sehr unschön, das mit meinen Eltern.“
     „Das tut mir leid“, sagte ich aufrichtig, auch wenn mir das Herz blutete. Ich hatte es ja schon befürchtet.


Tara und Sen waren nach einem ärgerlichen Ausflug schließlich wieder nach Hause zurückgekehrt. Es dauerte trotzdem noch bis zum Abend, nachdem er damit fertig war, Jin die Leviten zu lesen, dass er seine Pflicht vernachlässigt hatte, auf Lenn und Lulu aufzupassen, bis Sen bemerkte, was schon den ganzen Tag offensichtlich war: Etwas beschäftigte Tara. Und es war kein gutes Beschäftigen, sondern eines der sorgenvollen Art, das sie ganz traurig aussehen ließ. Sie sah schon über einen Jahreszeitenwechsel lang so aus.


„Hey, mach dir nicht so viele Gedanken wegen Lu“, sagte er, während er sich neben sie stellte. „Dass er seine Fehler zugibt, zeigt, dass er Verantwortung übernimmt.“
     „Es… ist nicht wegen Lu“, gab sie zu, aber dann zögerte sie.
     „Ist es wieder wegen deinem anderen Jungen?“
     „Ich hatte heute so gehofft, ihn zu sehen…“
     „Warum gehst du dann nicht einfach zu ihm? Das sage ich dir schon ewig, dass du das machen sollst.“


Da war sie auf Abstand. „Nein! Das ist zu gefährlich!“
     Ihre Wangen wurden rot vor Wut und Sen musste ja zugeben, dass sie ihm gefiel, wenn sie so war. Doch er schob den wenig hilfreichen Gedanken zur Seite, vor allen Dingen, als Tibit jetzt auftauchte. Er konnte mit dem alten Mann nicht so gut, aber Tara konnte es scheinbar.
     „Ich geh jetzt besser schlafen“, verkündete sie, ging zu Tibit und ließ sich von ihm in den Arm nehmen.


Sen wandte da den Blick ab und versuchte sich auf das eigentliche Problem zu konzentrieren. Wenn er ihr nur helfen könnte. Er konnte vielleicht nicht so für sie da sein, wie Tibit, aber vielleicht würde er ihr anders helfen können.  


Fest entschlossen ging er zu Luma hinüber, die am Feuer saß, und bat sie um ein Gespräch unter vier Augen.
     „Luma, du bist hier doch aufgewachsen, oder?“, fragte er, und als sie nickte, fuhr er fort: „Kennst du zufällig jemanden namens Minos?“
     „Woher kennst du den denn?“, wollte Luma erschrocken wissen.
     „Ich kenne ihn nicht, habe nur von ihm gehört. Aber ich muss ihn finden. Weißt du, wo er lebt?“
     „Was willst du denn von ihm? Er ist... gefährlich, Sen. Mein Vater hatte zum Glück nur einmal mit ihm zu tun, aber das war beängstigend genug.“
     „Ja, das habe ich schon gehört, aber ich kann dir nicht sagen, warum ich ihn suche. Kannst du mir nicht einfach sagen, wo er ist?“


Luma sah ihn jetzt finster mit ihrem durchbohrenden Blick an, der ihn so an seine Mutter erinnerte. Es war ein bisschen unheimlich. Doch obwohl es sonst wirkte, würde er diesmal standhaft bleiben. Er konnte Tara nicht so hintergehen.
     „Es geht um Tara, nicht wahr?“, kam Luma aber von ganz allein drauf. Und als er nicht antwortete, sagte sie: „Du kannst ruhig mit mir reden, ich weiß von ihrem Jungen.“


„Sie hat dir von ihm erzählt?“, war Sen überrascht.
    „Ja, sie hat ihn früher, als er noch ganz klein war, öfter gesehen.“ Sie seufzte. „Ich habe schon bemerkt, dass etwas mit ihr nicht stimmt. Seitdem Dala gestorben ist, ist sie so komisch.“
     „Dann wirst du ja verstehen, dass ich diesen Minos finden muss. Ich muss herausfinden, ob er überhaupt noch nach ihr sucht.“


„Moment! Moment! Warum „sucht“? Was hat Minos mit Tara zu tun?“
     Scheinbar kannte sie nicht die ganze Geschichte, wurde Sen klar.
     „Tut mir leid, Luma, aber das kann ich dir nicht sagen. Ich habe schon zu viel verraten, weil ich dachte, du wüsstest es. Aber Tara will nicht, dass ich darüber spreche. Also, kannst du mir jetzt sagen, wo sich dieser Minos aufhält?“
     Luma sah ihn noch einmal finster an, aber schließlich nickte sie. Es gefiel ihr nicht, dass man sie so im Dunkeln ließ und Sen sich derart in Gefahr begab, aber als Stammesführerin hatte sie gelernt, die Geheimnisse ihrer Leute zu respektieren. 
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