Manchmal kam es mir ein bisschen so vor, als würden sich
gewisse Dinge wiederholen. Wie an diesem warmen Sommertag, als ich vom Fischen
nach Hause kam und von einem Mädchen vom Ahn-Stamm abgefangen wurde. Es war
diesmal nicht Rin, es war ihre kleine Schwester, aber es erinnerte mich
trotzdem an letztes Jahr.
Und ich sollte Recht behalten. Sie kam schnurstraks auf
mich zu, baute sich vor mir auf und verkündete: „Ich bin Lann vom Ahn-Stamm,
wie du bestimmt weißt.“ Ich hatte noch nie von ihr gehört. „Ich werde als
nächstes unseren großen Stamm anführen, also solltest du besser mein Gefährte
werden.“
Ich brauchte
erstmal eine Weile, um mich davon abzuhalten, loszulachen. Sie sah nicht so
aus, als ob sie Spaß verstehen würde. Sie schien das wirklich ernst zu meinen.
„Ich glaube
nicht, dass das eine gute Idee ist“, versuchte ich, ihr klarzumachen. „Unsere
Väter verstehen sich nicht so gut.“
„Deswegen ja!“,
unterbrach sie mich barsch, und obwohl sie noch ein Kind war, kam sie mir
gerade vor wie eine alte Frau. „Mein Vater nimmt euch bestimmt wieder auf, wenn
du erstmal mein Gefährte bist. Aber dann musst du natürlich auf mich hören. Ich
führe dann den Stamm an, nicht du“, meinte sie, als ob das alles schon
beschlossene Sache und klar war, dass wir ihrem Stamm beitreten wollten.
Ich wollte ihr gerade sagen, dass ihr Angebot ja
verlockend war, aber ich leider ablehnen musste, als ich erneut unterbrochen
wurde. „Du bist noch ein Kind, Lann“, lachte jemand. „Was er braucht ist eine
Frau und kein Kind“
Es war Nama, die jüngste Schwester von Ur und Vater, mit
der ich in meiner Kindheit so gut wie nichts zu tun gehabt hatte, dafür jetzt
umso mehr. Sie blieb zwischen uns stehen und warf mir einen überaus
zweideutigen Blick zu, dass ich mich sofort nackt fühlte. Sie hatte so eine
direkte Art an sich, wie ich sie kaum je erlebt hatte. Sie hatte mir schon mehr
als einmal Angebote gemacht, bei denen mir hören und sehen vergangen war.
„Er braucht jemanden wie mich!“, war sie sich sicher und präsentierte sich dabei anzüglich.
„Er braucht jemanden wie mich!“, war sie sich sicher und präsentierte sich dabei anzüglich.
„Er wäre
bescheuert, wenn er dich und nicht mich nehmen würde! Also hau ab!“, fauchte
Lann.
Die beiden
gerieten jetzt in einen Streit miteinander, zu dem ich anscheinend nichts zu
melden hatte, und es wurde nicht besser. Als nächstes kam Ana an.
„Zieht Leine, ihr Schabracken, Rahn gehört mir!“, rief
sie und war sofort zur Stelle. Seitdem
sie herangewachsen war, war sie überzeugt davon, dass wir zusammengehören
würden.
Der Streit ging jetzt mit drei Mädchen in die nächste
Runde, und ich wollte doch einfach nur nach Hause.
Hilfesuchend sah ich mich um, während ich zunehmend von
allen Seiten in Bedrängnis geriet, und da entdeckte ich sie. Eine blonde,
anmutige Schönheit, die mir in diesem Moment von Schicksal zu meiner Rettung
gesandt zu sein schien. Und das Beste war, sie kam direkt auf uns zu!
„Entschuldigung“, unterbrach sie die streitenden Mädchen
vorsichtig, und ich war von ihrem Mut ja beeindruckt, sich der wütenden Meute
auch nur zu nähern. „Ich bin schon den ganzen Tag unterwegs und bin auf der
Suche nach einer Bleibe für die Nacht. Könnt ihr mir vielleicht helfen?“
Ich nutzte
meine Chance, mich unauffällig aus der Schusslinie zu ziehen und trat hastig
vor sie, bevor eines der Mädchen mir zuvorkommen konnte.
„Wir haben
hier in der Nähe eine Höhle. Ich kann dich hinbringen, wenn du möchtest.“
„Das wäre nett
von dir.“
Sie lächelte und ich merkte, wie meine Ohren warm wurden. Ich hatte noch nie etwas so Schönes gesehen.
Sie lächelte und ich merkte, wie meine Ohren warm wurden. Ich hatte noch nie etwas so Schönes gesehen.
Bevor die Mädchen sich noch auf sie stürzen konnten, so
giftig, wie sie jetzt guckten, sah ich zu, dass wir entkamen.
Wanda war der Name der Schönheit, und ich fand, es war
der schönste Name, den ich je gehört hatte. Sie erzählte Vater nicht viel von
sich, nur, dass sie eigentlich ein neues Zuhause suchte, und als ich das hörte,
beschloss ich, dass ich sie an meiner Seite haben wollte.
Das Problem war nur, wie gewann man eigentlich eine Frau
für sich?
Ich hatte meinen Vater bislang noch nie um Rat gefragt, aber
ich hatte auch niemand anderen, den ich fragen konnte. Unser Stamm bestand nur
noch aus drei - vielleicht bald vier - Leuten und außer mir war der einzige andere Mann nun mal mein
Vater. Aber egal wie oft ich es auch versuchte, ich konnte es einfach nicht
über mich bringen, ihn zu fragen. Es war mir so peinlich und ich wollte nicht,
dass er mich für schwach hielt, nachdem ich endlich seinen Respekt hatte.
Ich überlegte also hin und her, bis mir die Idee kam, Sen
zu fragen. Seitdem er mir damals mit dem Bogenschießen geholfen hatte, hatten
wir immer mal wieder miteinander zu tun gehabt. Er hatte mir einiges
beigebracht, inzwischen zogen wir sogar manchmal zusammen los, um zu jagen. Kinder hatte er auch, also musste er ja Ahnung von Frauen haben, und damit war er wohl meine beste Anlaufstelle für sowas.
Er war zum Glück immer recht leicht zu finden, da er
jeden Morgen am großen Strand fischen ging. Ich begrüßte ihn, stellte mich
neben ihn, um so zu tun, als wäre ich auch nur wegen den Fischen hier, und dann
stellte ich irgendwann ganz nebensächlich meine Frage.
„Zeig ihr, dass du für sie und eure Kinder sorgen
kannst“, war seine eindeutige Antwort.
Ich zögerte. „Ist
es nicht auch wichtig, dass sie einen… naja, gernhat?“
„Ist natürlich praktisch, aber was hilft sowas der Frau, wenn der Mann zu schwach ist, um auf sie
und die Kinder aufzupassen und für sie zu sorgen?“ Er wirkte
einen Moment merkwürdig niedergeschlagen und als er mich jetzt wieder ansah,
war er ungewohnt ernst. „Frauen suchen sich deshalb am liebsten starke und
geschickte Männer. Glaub mir, ich bin schon einiges rumgekommen und es war
überall so. Auch hier. Ich weiß also, wovon ich rede.“
„Und wie zeige ich ihr, dass ich stark und
geschickt bin?“, fragte ich, obwohl mir lieber gewesen wäre, Wandas Herz für
mich zu gewinnen, als sie mit Stärke zu beeindrucken.
„Geh Jagen und bring ihr ordentlich Beute als Beweis mit,
dass du für sie sorgen kannst“, war seine Antwort gewesen.
Also war ich
nach Hause gegangen, hatte meinen Bogen geholt und war dann losgezogen, um im
Nebelwald Jagen zu gehen. Da die meisten Leute noch immer Angst vor dem Nebel
hatten, konnte man hier das beste Wild finden, wie ich wusste.
Sen war
inzwischen leider weg, aber ich kam trotzdem nicht weit, bevor ich schon wieder
jemandem vom Uruk-Stamm über den Weg lief.
Diesmal war es jemand, den ich erst erkannte, als er vor
mir stand und: „Ich bin’s, Tann“, sagte.
Großartig. Ich
hatte bislang nicht mehr mit ihm zu tun gehabt und darüber war ich auch ganz
froh gewesen, wie er mir gleich mal bewies.
„Ich bin auf
meiner Stammesführerprüfung.“ Er präsentierte seinen Speer. „Einen Tag und eine
Nacht allein draußen überleben. Einen ordentlichen Braten für mein Fest später hab ich auch schon erlegt“, erklärte er enthusiastisch, obwohl ich nicht nachgefragt hatte.
Plötzlich hatte er mich im Visier. „Und du? Bist du inzwischen Stammesführer?“
„Nein“, gab ich knapp zurück.
„Wann ist es
denn bei dir soweit?“
„Wenn Vater es
für richtig befindet.“
Vater hatte
bislang noch nichts dergleichen gesagt und ich hatte es auch nicht eilig, ihn
daran zu erinnern.
„Ah, Mann, du
armes Schwein! Ich kann es ja gar nicht erwarten, dass ich endlich übernehmen kann. Ich bin echt froh, dass meine Mutter mich gleich gelassen hat.“
„Hm.“
„Und du gehst jagen?“, fragte er jetzt mit Fingerzeig auf
meinen Bogen blöderweise.
„Ja.“ Oh,
bitte, lass ihn mich nicht begleiten wollen!
„Ich würde
dich ja gern begleiten“, sagte er und ich fluchte, „aber die Regeln sagen, ich
muss allein zurechtkommen.“
Ja! „Kann man
nichts machen.“ Ich winkte. „Ich muss dann auch weiter.“
„Klar. Lass
uns wann anders mal zusammen Jagen gehen.“ Und als ich schon halb weg war, rief
er noch: „Und komm zu meiner Feier, wenn ich es geschafft habe, ja?“
Ich nickte über die Schulter hinweg und wünschte ihm viel
Glück, aber eigentlich gedachte ich nicht, da hinzugehen. Seit dieser ganzen
Sache mit meiner Mutter, die angeblich im Uruk-Stamm lebte, war ich nicht mehr
zu dem anderen Stamm gegangen. Ich glaubte noch immer nicht, dass es stimmte,
aber ich wollte es auch nicht herausfinden.
Die folgende Jagd war schnell und unspektakulär wie immer. Ich
wich einem Bären aus…
…nahm die Fährte eines Hirsches auf, was ich aber in
letzter Sekunde verwarf, weil ich sowas Großes niemals allein nach Hause bekommen würde…
…und entschied mich schließlich für einen ordentlich
großen Hasen. Sie waren inzwischen meine Spezialität. Hoffentlich würde es auch
Wanda reichen.
Zufrieden mit meiner Ausbeute kehrte ich danach hastig
nach Hause zurück. Doch als ich sah, dass Wanda nicht allein war, sondern mit
einem Fremden redete, versteckte ich mich schnell, schlich näher ran und
lauschte. Ich konnte gar nicht anders; ich wollte unbedingt wissen, was da vor sich
ging. Wer war der Andere? Und was wollte er von Wanda?
„…Lu, vom Uruk-Stamm“, hörte ich den Fremden sagen. Moment,
der Name sagte mir aber was. Ich riskierte einen unauffälligen Blick, und
tatsächlich, es war der kleine Junge vom Nebelsee, der inzwischen nicht mehr so
klein war. Mist, hoffentlich bedeutete der keine Konkurrenz. Er war ja
eigentlich ganz in Ordnung gewesen.
„Das da hinten
sind meine Eltern“, fuhr er jetzt fort, „und sie wollen, dass ich mit dir rede.
Und ich wäre dir ehrlich dankbar, wenn du einfach lächeln, ab und an nicken und
irgendetwas sagen würdest, damit sie zufrieden sind und mich in Ruhe lassen.“
Mir fiel ein
Stein vom Herzen, als ich das hörte.
„Ja, das kenne ich nur zu gut. Meine Eltern haben auch
immer versucht, mich mit jemandem zu verkuppeln. Deswegen bin ich von ihnen
weggegangen. Ich bin übrigens Wanda.“
Das wiederum
hörte ich überhaupt nicht gern. Ganz und gar nicht.
„Lass dich
nicht von ihnen unterkriegen!“, fügte Wanda hinzu. „Sag ihnen einfach, dass ich
kein Interesse habe oder Tuck ein Auge auf mich geworfen hat. Dann lassen sie
dich bestimmt in Ruhe.“
Was?
Ich war so
paralysiert von dieser Neuigkeit, dass ich gar nicht richtig wahrnahm, wie Lu jetzt zu besagten Eltern zurückging. Und ich verpasste
Wanda auch fast.
Also rief ich ihren Namen, dass sie zu mir kam, bevor sie
in der Höhle verschwinden konnte, und sagte ihr: „Entschuldige, aber ich habe
gerade mitbekommen, was du gesagt hast.“ Ich zögerte. „Stimmt es, dass mein
Vater…“
Ich konnte es
nicht einmal aussprechen.
„Oh, nein, natürlich nicht!“, wehrte sie hastig ab. „Dein
Vater ist ein netter Mann, aber wir kennen uns kaum einen Tag lang. Und
außerdem bin ich auch gerade gar nicht auf der Suche nach einem Mann.“
„Gar nicht?“,
fragte ich bang.
Sie schüttelte
den Kopf. „Vielleicht irgendwann mal, aber… wenn du alles gehört hast, kannst
du vielleicht verstehen, dass ich gerade erstmal genug von Männern habe. Es war
sehr unschön, das mit meinen Eltern.“
„Das tut mir
leid“, sagte ich aufrichtig, auch wenn mir das Herz blutete. Ich hatte es ja
schon befürchtet.
Tara und Sen waren nach einem ärgerlichen Ausflug
schließlich wieder nach Hause zurückgekehrt. Es dauerte trotzdem noch bis zum
Abend, nachdem er damit fertig war, Jin die Leviten zu lesen, dass er seine
Pflicht vernachlässigt hatte, auf Lenn und Lulu aufzupassen, bis Sen bemerkte,
was schon den ganzen Tag offensichtlich war: Etwas beschäftigte Tara. Und es
war kein gutes Beschäftigen, sondern eines der sorgenvollen Art, das sie ganz
traurig aussehen ließ. Sie sah schon über einen Jahreszeitenwechsel lang so
aus.
„Hey, mach dir nicht so viele Gedanken wegen Lu“, sagte
er, während er sich neben sie stellte. „Dass er seine Fehler zugibt, zeigt,
dass er Verantwortung übernimmt.“
„Es… ist nicht
wegen Lu“, gab sie zu, aber dann zögerte sie.
„Ist es wieder
wegen deinem anderen Jungen?“
„Ich hatte
heute so gehofft, ihn zu sehen…“
„Warum gehst
du dann nicht einfach zu ihm? Das sage ich dir schon ewig, dass du das machen
sollst.“
Da war sie auf Abstand. „Nein! Das ist zu gefährlich!“
Ihre Wangen
wurden rot vor Wut und Sen musste ja zugeben, dass sie ihm gefiel, wenn sie so
war. Doch er schob den wenig hilfreichen Gedanken zur Seite, vor allen Dingen,
als Tibit jetzt auftauchte. Er konnte mit dem alten Mann nicht so gut, aber
Tara konnte es scheinbar.
„Ich geh jetzt
besser schlafen“, verkündete sie, ging zu Tibit und ließ sich von ihm in den
Arm nehmen.
Sen wandte da den Blick ab und versuchte sich auf das
eigentliche Problem zu konzentrieren. Wenn er ihr nur helfen könnte. Er konnte
vielleicht nicht so für sie da sein, wie Tibit, aber vielleicht würde er ihr
anders helfen können.
Fest entschlossen ging er zu Luma hinüber, die am Feuer
saß, und bat sie um ein Gespräch unter vier Augen.
„Luma, du bist
hier doch aufgewachsen, oder?“, fragte er, und als sie nickte, fuhr er fort:
„Kennst du zufällig jemanden namens Minos?“
„Woher kennst du den denn?“, wollte Luma erschrocken
wissen.
„Ich kenne ihn
nicht, habe nur von ihm gehört. Aber ich muss ihn finden. Weißt du, wo er
lebt?“
„Was willst du
denn von ihm? Er ist... gefährlich, Sen. Mein Vater hatte zum Glück nur einmal
mit ihm zu tun, aber das war beängstigend genug.“
„Ja, das habe
ich schon gehört, aber ich kann dir nicht sagen, warum ich ihn suche. Kannst du
mir nicht einfach sagen, wo er ist?“
Luma sah ihn jetzt finster mit ihrem durchbohrenden Blick
an, der ihn so an seine Mutter erinnerte. Es war ein bisschen unheimlich.
Doch obwohl es sonst wirkte, würde er diesmal standhaft bleiben. Er konnte Tara
nicht so hintergehen.
„Es geht um
Tara, nicht wahr?“, kam Luma aber von ganz allein drauf. Und als er nicht
antwortete, sagte sie: „Du kannst ruhig mit mir reden, ich weiß von ihrem
Jungen.“
„Sie hat dir von ihm erzählt?“, war Sen überrascht.
„Ja, sie hat
ihn früher, als er noch ganz klein war, öfter gesehen.“ Sie seufzte. „Ich habe
schon bemerkt, dass etwas mit ihr nicht stimmt. Seitdem Dala gestorben ist, ist
sie so komisch.“
„Dann wirst du
ja verstehen, dass ich diesen Minos finden muss. Ich muss herausfinden, ob er
überhaupt noch nach ihr sucht.“
„Moment! Moment! Warum „sucht“? Was hat Minos mit Tara zu
tun?“
Scheinbar
kannte sie nicht die ganze Geschichte, wurde Sen klar.
„Tut mir leid,
Luma, aber das kann ich dir nicht sagen. Ich habe schon zu viel verraten, weil
ich dachte, du wüsstest es. Aber Tara will nicht, dass ich darüber spreche.
Also, kannst du mir jetzt sagen, wo sich dieser Minos aufhält?“
Luma sah ihn
noch einmal finster an, aber schließlich nickte sie. Es gefiel ihr
nicht, dass man sie so im Dunkeln ließ und Sen sich derart in Gefahr begab, aber
als Stammesführerin hatte sie gelernt, die Geheimnisse ihrer Leute zu
respektieren.
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