Deshalb beschloss ich, von Zuhause wegzulaufen. Wenn ich
immer nur eine Enttäuschung für meinen Vater war, egal, wie sehr ich mich auch anstrengte,
war es besser, wenn ich einfach gar nicht mehr da war.
Noch vor Sonnenaufgang stand ich auf und schlich mich davon. Eine Weile ging ich einfach
drauflos, um weit genug von unserer Höhle wegzukommen, doch eigentlich hatte ich
keine Ahnung, wo ich hingehen sollte.
Die Sonne ging
jetzt auf, aber es war immer noch verdammt kalt. Und ich hatte nicht mal daran
gedacht, mir wärmere Sachen einzupacken. Oder ein Messer. Mist! Wenn jetzt was Gefährliches
auftauchte, sah ich ganz schön alt aus. Besser, ich blieb erstmal von
irgendwelchen Wäldern weg.
Ich ging, bis
ich das Meer vor mir sah, das mir den Weg versperrte. Als ich noch überlegte,
ob ich mir vielleicht ein Boot bauen sollte, bemerkte ich plötzlich, dass da
jemand am Strand war.
Zuerst wollte ich in Deckung gehen, dass ich nicht
gefunden wurde, aber dann sah ich, dass es ein Kind war. Ein kleines Kind dazu!
Und es war ganz allein!
Da dachte ich
nicht weiter nach und rannte sofort zu ihm. Es war ein kleiner Junge, erkannte
ich jetzt. Wahrscheinlich. Konnte man bei den Kleinen ja nie so genau sagen.
Sein schwarzes Haar war zumindest kurz wie bei einem. Und er war auch ziemlich
aufgebracht, als ich ihn jetzt davon abhielt, im Wasser zu ertrinken. Er schrie
und versuchte mich mit seinen Beinen und Fäusten zu erwischen, aber zum Glück war ich schneller als er.
„He! Beruhig
dich mal! Das ist nicht gut, wenn du da zum Wasser gehst. Du kannst ertrinken“,
erklärte ich ihm.
Doch er war
noch viel zu klein, um mich zu verstehen.
Also nahm ich
ihn an der Hand und ging mit ihm zusammen zum Wasser. Er blieb stehen, kurz
bevor das Wasser seine kleinen Füße erreichen konnte, und beobachtete die
näherkommenden Wellen fasziniert. Mal versuchte er, einen Fuß ins Nass zu
strecken, dann spielte er Fangen mit den Wellen.
Ich ließ ihn
los und schaute ihm eine Weile dabei zu, bis er sich dazu entschloss, lieber im
Sand zu spielen.
„Du hast es
echt gut, weißt du das?“, sagte ich zu ihm und sah dabei zu, wie er eine Hand
voll Sand probierte. „Du hast noch überhaupt keine Sorgen. Deine Eltern tun
bestimmt noch gar nichts von dir erwarten. Das muss schön sein.“
Der Kleine
prustete und spuckte, da der Sand ihm scheinbar nicht schmeckte, und dann fasste
er mich ins Auge, streckte die Hände nach mir aus. „Happa! Happa!“, verlangte
er.
Ich gab ihm
einen Apfel, den einzigen Proviant, den ich von Zuhause mitgenommen hatte. Er
griff danach und verschlang die Frucht genüsslich, während mir der Bauch zu
knurren begann. Ich hatte noch überhaupt kein Frühstück gehabt. Was sie wohl
Zuhause gerade aßen? Ob sie schon bemerkt hatten, dass ich weg war?
Als der Kleine jetzt fertig mit Essen war, wollte
er mehr, aber da ich nichts mehr hatte, wurde er wieder quengelig. Ich wollte
gerade aufstehen und schauen, ob ich was für uns beide fand, als ich bemerkte,
dass sich jemand näherte. Ein Junge, ungefähr in meinem Alter, schätzte ich,
und er hatte einen braunen Wolf dabei.
Er blieb vor mir stehen, warf dem Kleinen bei
mir einen Blick zu und sagte: „Jin, da bist du ja!“ Und mich fragte er: „Hast
du auf ihn aufgepasst?“ Ich nickte. „Danke dir. Mein Bruder ist einfach von
Zuhause abgehauen“, erzählte er, und dann guckte er mich ganz komisch an. „Du
bist Tucks Sohn, oder?“
Natürlich. Wer
brauchte schon einen Namen? Ich war ja immer nur „Tucks Sohn“. Also nickte ich
bloß, und da grinste er.
„Ich bin Tann,
der älteste Sohn von Luma, der Stammesführerin vom Uruk-Stamm. Ich werde also
irgendwann unseren Stamm anführen. So wie du deinen. Ist das nicht toll? Ich
hoffe, dass wir gut zusammenarbeiten werden.“
Ich beschloss,
dass ich ihn nicht mochte.
„Und wie heißt
du jetzt?“, erinnerte er sich doch noch dran, nachzufragen.
„Tucks Sohn.
Hast du doch schon gesagt.“
„Nein, ich
meine dein Name.“
Ich kam aber
nicht mehr dazu, ihn in das gutgehütete Geheimnis meines Namens einzuweihen, da
in diesem Moment zwei Erwachsene dazukamen. Eine Frau und ein Mann. Und noch
ein Wolf. Die Frau ging gleich zu dem kleinen Jungen namens Jin, der inzwischen
wieder angefangen hatte, zu versuchen, ob der Sand nun doch essbar war, und nahm
ihn hoch. Ein bisschen bekam ich ja Heimweh, wenn ich jetzt sah, wie der Kleine
von seiner Mama geknuddelt wurde.
„Er hier hat Jin gerettet“, berichtete Tann
und damit geriet dummerweise wieder ich in den Fokus.
Diesmal war es
der Mann, der zu mir kam. Er hatte ganz langes, schwarzes Haar. Ich hatte noch
nie einen Mann mit langen Haaren gesehen. Komisch. Und komisch war auch, wie er
mich jetzt anguckte. Ob ich was im Gesicht hatte?
„Ich kenne dich“, meinte er schließlich.
„Du bist… ähm… wie war noch gleich dein Name?“
„Tucks Sohn“, half ich nach.
Er hob eine Augenbraue, kam dann aber selber
drauf. „Rahn war dein Name, oder?“
Wow, es gab echt jemanden, der meinen Namen kannte.
Jenseits meiner Mama. Der Mann mit den langen Haaren war ganz okay, befand ich.
„Ja, woher kennst du mich?“
„Ich war bei deiner Geburt dabei“, erklärte er
nur, bevor die Frau dazukam und ihn am Arm zog, dass er mitkam. „Ich bin
übrigens Sen. Wir sollten mal zusammen jagen gehen. Dann kannst du auch deinen
Bruder kennenlernen.“
Ich wollte ihm
gerade sagen, dass er mich wohl verwechselte, weil ich keinen Bruder hatte,
aber er fuhr schon fort: „Wir müssen jetzt los. Danke, dass du dich um Jin
gekümmert hast. Und… geh du bitte auch vom Wasser weg, ja?“
Tann winkte
noch und auch die Frau lächelte und ließ den Kleinen winken, und dann war ich
wieder allein. Und verwirrt. Was hatte dieser damit nur gemeint?
Ich entschloss mich dann dazu, doch wieder nach Hause zu
gehen. Immerhin musste ich ja herausfinden, was dieser Sen damit gemeint hatte,
dass ich einen Bruder hätte. Ich wollte ja schon immer einen Bruder haben.
Also ging ich zurück, und meine Mama
kam mir schon von weitem entgegen. Sie schloss mich in den Arm, so wie vorher
der Kleine Jin von seiner Mama begrüßt worden war, und als ich hörte, dass sie
schniefte, fühlte ich mich doch ganz schön schlecht, einfach weggegangen zu
sein.
„Wo bist du
nur gewesen?“, wollte sie wissen. „Wir haben uns solche Sorgen um dich
gemacht!“
„Entschuldige!
Ich wollte nicht so weit weggehen, aber da war ein kleiner Junge, dem ich
geholfen habe“, beschönigte ich die Wahrheit ein bisschen.
„Er war ganz allein und ich hab mit ihm gewartet, bis
seine Eltern gekommen sind. Und sein Vater kannte mich“, erzählte ich schnell
weiter, um von meinem Verschwinden abzulenken. „Er sagte, er will mit mir jagen
gehen und ich habe einen Bruder. Habe ich echt einen Bruder?“
Mama lächelte
ein bisschen komisch. „Was? Wer sagt denn sowas? Wie heißt dieser Mann, der dir
das gesagt hat?“
„Sen. Glaube
ich.“
„Oh, ja, Sen.
Er hat vor ein paar Jahren mal ganz kurz bei uns gelebt.“ Sie lächelte wieder
komisch. „Und da muss er etwas durcheinandergebracht haben.“ Plötzlich sah sie
traurig aus. „Denn du hast zwar keinen Bruder, aber du hattest tatsächlich mal
eine Schwester. Ihr Name war Dana.“
„Echt? Was ist
mit ihr passiert? Wo ist sie?“, fragte ich aufgeregt. Eine Schwester war zwar
nicht so toll wie ein Bruder, aber auch in Ordnung.
Mama schüttelte
den Kopf. „Ich weiß es nicht. Eines Morgens war sie einfach aus ihrer
Schlafstätte verschwunden. Sie war noch ganz klein. Wir haben sie danach
überall gesucht, aber... wir haben sie nicht gefunden.“
„Glaubst du, ein Wolf hat sie
mitgenommen und jetzt lebt sie unter Wölfen?“
„Du wieder!“
Sie tätschelte mir den Kopf. „Auf was für Ideen du immer kommst.“
Ich überlegte
eine Weile, dann versprach ich ihr: „Wenn ich groß bin, werde ich Dana finden
und nach Hause bringen!“
Da lächelte
Mama endlich wieder richtig und nahm mich ein zweites Mal in den Arm. Und
diesmal ließ sich mich nicht wieder los, dass es mir schon irgendwann peinlich war.
Erst, als Ida dazukam, konnte ich endlich entkommen.
Dala war sauer. Sie hatte Tara extra eingebläut, dafür zu
sorgen, dass Rahn nichts von seiner Abstammung erfuhr, aber scheinbar schien
sie es überall herumzuerzählen, dass selbst dieser Sen davon wusste. Es war
wohl mal wieder an der Zeit, dass sie vorbeischneite und Tara daran erinnerte,
dass sie ihr noch immer gefährlich werden konnte.
Doch kaum,
dass sie ihre Höhle an diesem Nachtmittag hinter sich gelassen hatte, sah sie
sich plötzlich selber der Gefahr gegenüber, die sie gerne zu verdrängen
versuchte.
„Ah, wen haben
wir denn da? Genau die Frau, die ich suche. Wie schön, dich mal wiederzusehen, Schwesterherz!“
„Lyca!“
Es war ihr
Bruder. Halbbruder. Einer von Minos‘
unzähligen Söhnen. Soweit sie sich erinnerte, war er der Zweitälteste nach
Daan.
„Was machst du
denn hier?“, fragte sie ihn. Sie versuchte alles in ihrer Macht stehende, aber
sie konnte nicht verhindern, dass ihre Stimme zitterte. Sie wusste, was Lycas
Auftauchen hier für sie alle bedeutete: Ärger. „I-ich habe Vater alles
berichtet, was es zu berichten gab“, erklärte sie hastig. „Es gibt nichts
Neues. Hier passiert nicht viel.“
„Ich weiß. Ich weiß“, sagte Lyca ruhig,
aber Dala wurde noch angespannter.
Er begann, sie
zu umkreisen wie ein Raubtier seine Beute. Sie erkannte das, weil sie es selber
oft genug getan hatte.
„Ich bin nur
zu Besuch. Mal schauen, wie es meiner
großen Schwester so ergeht. Vater hörte, dass du noch keine Kinder hast.“
Ein verbaler
Schlag in ihr Gesicht.
„Das… stimmt“,
gab sie zu.
„Hm-hm.“ Er
grinste. „Soll ich ihn fragen, ob er dir eines schickt?“
„Nein.“ Sie
wollte nicht in seiner Schuld stehen. Das war nie gut. „Ich ziehe den Sohn
meines Mannes mit auf. Das reicht mir.“
Sie hätte
lügen können. Erzählen, dass Rahn ihr eigener Sohn war. Aber sie wusste, dass
sie ihn damit viel mehr in Gefahr bringen würde. Es war für Rahn wesentlich
gesünder, wenn er nicht mit ihr – mit Minos – verwandt war. Und für sie alle
war es gesünder, wenn sie nicht lügen würde.
Als sie vor Jahren erfahren hatte,
wer ihr Vater war, hatte sie den Fehler begangen, ihn zu suchen. Sie hatte ihn
gefunden, aber dabei beinahe ihr Leben verloren. Wie sie erfahren hatte, hielt
Minos nichts auf seine Töchter. Offiziell existierten sie nicht. Und als sie
ihn in den Zwang gebracht hatte, sie aus dem Weg räumen zu müssen, war ihr
keine andere Wahl geblieben, um ihn davon abzuhalten, als sich ihm nützlich zu
machen. Sie war von da an seine Späherin gewesen.
Seine Spionin. Sie hatte feindliche Stämme infiltriert,
Feinde verführt und betrogen, und Gegenden überwacht.
Irgendwann
hatte ihr Vater ihr schließlich erlaubt, hierher in diese Gegend zu kommen, um
die örtlichen Stämme im Auge zu behalten. Damals war der Zoth-Stamm noch groß
genug gewesen, um eine potentielle Gefahr für Minos zu sein. Aber sie hatte
dafür gesorgt, dass er das nicht mehr war. Dafür hatte sie hierbleiben dürfen.
Dennoch musste
sie ihrem Vater nach wie vor regelmäßig berichten. Einmal im Jahr zog sie
deshalb aus, um ihn zu sehen. Auch dieses Jahr hatte sie das getan. Doch wenn
er jetzt einen seiner Söhne schickte, hieß das, dass irgendetwas vorgefallen
war. Egal, was es auch war, Minos war nicht zufrieden mit ihr. Lycas Auftauchen
war eine Drohung.
„Gut“, sagte
Lyca jetzt zufrieden grinsend. „Zeit, deine Familie mal kennenzulernen.“
Dala hoffte
nur, dass er Rahn nicht sagen würde, was sie um alles in der Welt verhindern
wollte, dass er wusste: dass sie nicht seine wirkliche Mutter war. Denn Rahn
war, trotz allem, ihr Sohn und das würde er immer bleiben. Sie würde alles für
ihn tun. Selbst, wenn es bedeutete, dass sie sich dafür Minos widersetzen
musste. Selbst wenn sie dafür töten musste!
Onkel Lyca war zu Besuch gekommen. Ich hatte ihn zwar
noch nie zuvor gesehen, aber vielleicht hatte ich dann endlich mal ein bisschen
Freizeit, wenn er da war. Oder ich musste ihm vorsingen. Was nicht so gut sein würde.
Ana sagte, er
sei unheimlich, aber Ida war ganz begeistert von ihm. Seitdem er da war, redete
sie ununterbrochen mit ihm. Mit mir hatte er auch eine Weile geredet, und ich fand
ihn ganz nett.
Nur Mama war ein bisschen komisch, seitdem er da war. Sie
schwirrte dauernd um mich herum und wenn Onkel Lyca nicht hinguckte, sah sie
irgendwie besorgt aus. Ob er wohl krank war, oder so, dass sie sich Sorgen um
ihn machte?
Ich hatte zwar Glück, nicht vorsingen zu müssen, aber
stattdessen schleppte mich Vater am nächsten Tag mit auf die Jagd. Mama hatte
ihn drum gebeten, aber das änderte nichts daran, dass ich noch immer eine Niete
im Bogenschießen war. Vater war schon ein paarmal mit mir jagen gewesen, aber
ich musste ja nicht sagen, dass ich auch die beweglichen Ziele namens Tiere nie
getroffen hatte.
Trotzdem waren
wir hier, mitten im weitest entferntesten Wald der Gegend, wo wir noch niemals
zuvor gejagt hatten. Hier gab es ziemlich viel Nebel und ich hatte gehört, dass
da Geister drin lebten. Aber Vater hatte mir zum Glück versprochen, dass wir von
den nebligen Stellen wegbleiben würden.
Rettete mich
trotzdem nicht davor, dass er jetzt anhielt und lauschte. Er hatte eine Fährte
aufgenommen, erkannte ich. Mist, jetzt würde es bald losgehen. Ich nahm mir
meinen Bogen und wappnete mich, ließ ihn dann aber trotzdem fallen, als sich
plötzlich was von hinten näherte.
„Ach, ihr seid
das“, begrüßte Vater die Neuankömmlinge.
Es waren nur
ein paar andere Leute. Kein Grund, zu schreien wie ein kleines Mädchen. Was ich
fast getan hatte. Ich schluckte meine Angst runter, nahm meinen Bogen wieder an
mich und tat tapfer, um Vater nicht zu blamieren. Es waren zwei Männer und zwei
Jungen. Und als ich sah, dass ich zwei von denen schon kannte, entspannte ich
mich ein bisschen. Tann und Sen, vom Strand letztens.
„Und ihr habt
Tibit wieder dabei“, sagte Vater mit einem ziemlich schiefen, falschen Grinsen und Blick auf den alten Mann, den ich bislang gar nicht bemerkt hatte.
„Keine Sorge,
er ist nur zum Kräutersammeln hier“, versuchte der Mann zu beruhigen, den ich
erst viel später als Enn kennenlernen sollte. „Er geht meistens allein los.“
Wie
beschworen, verschwand der alte Mann da wortlos in den Nebelschwaden, als wäre
er nie dagewesen.
„Sollte er
wirklich da reingehen?“, hörte ich Vater fragen.
„Er kommt
allein zurecht“, sagte Enn und dann fragte er: „Und du? Bist du allein
unterwegs?“
„Nein.“ Vater
schob mich vor, obwohl ich so schön hinter einem Busch versteckt gestanden
hatte. „Mein Sohn Rahn“, stellte er mich vor, und ich stellte mich aufrechter
hin und grüßte.
„Wir sind auch gerade mit unseren Jungs
unterwegs“, erklärte Sen. „Erstjagd.“
Vater nickte anerkennend, dann sagte Enn: „Das
ist mein Junge. Tann.“
Tann grüßte
höflich und ließ mir ein Grinsen da, das ich schief erwiderte. Wie er aussah,
konnte er es wohl gar nicht abwarten, dass die Jagd endlich losging.
„Und das ist…“,
fing Sen an, brach aber ab, weil er feststellen musste, dass sein Sohn
gar nicht mehr da war. „Lu! Lu, wo bist du?“
Er suchte eine
Weile, dann kam er wieder zurück und meinte (sichtlich genervt): „Geht schon
mal ohne uns los. Ich muss ihn suchen.“
Und weg war
er.
„Sollten wir
ihm nicht suchen helfen?“, fragte Vater Enn, als wir zusammen losgingen. Auch
das noch! Jetzt durfte ich mich auch noch vor Zuschauern von einem anderen
Stamm zum Deppen machen. Großartig!
„Nein. Mach
dir keine Gedanken. Sein Junge hat das schon letztes Mal gemacht, als wir ihn
mit zur Jagd nehmen wollten. Lu ist ein bisschen“, Enn überlegte, „speziell. Ich
glaube, die Jagd liegt ihm nicht so.“
„Er ist ein
Junge. Er wird sich dran gewöhnen müssen“, meinte Vater erbarmungslos.
„Lu
ist nur ein bisschen ängstlich“, hörte ich Tann jetzt leise zu mir sagen, als
müsste er den Anderen vor mir entschuldigen.
Ich begnügte
mich mit einem aufmunternden Lächeln. Ich hätte diesen Lu ja bemitleidet, wenn
ich nicht selber bald vorgeführt werden würde. Momentan hätte ich nämlich
lieber mit ihm getauscht.
Dieser Wunsch wurde nicht gerade gemildert, als Tann kurz
darauf einen Hasen erlegte. Einen Hasen! Einen winzigen, schnellen Hasen! Ganz
allein! Und mit dem ersten Schuss! Alle waren mächtig beeindruckt davon, sein
Vater war stolz bis zum geht nicht mehr, und ich fühlte mich, als wäre ich als
nächstes dran, gejagt zu werden.
Doch
stattdessen gebührte mir die Ehre, mich als nächstes bis auf die Knochen zu blamieren.
Als Vater schließlich eine Fährte aufnahm, wurde mein Muffensausen so schlimm,
dass ich am liebsten weggelaufen wäre. Was ich dann auch tat.
Bevor ich
wusste, was ich tat, war ich hinter dem nächsten Busch abgetaucht, war eine
Weile geschlichen, und dann rannte ich schließlich, als wäre ich tatsächlich die
Beute. Ich ließ meinen Bogen mittendrin fallen, und dann ging es querwaldein.
Ich wusste, dass ich später mächtig Ärger deshalb bekommen würde, aber damit
konnte ich mich jetzt nicht auch noch auseinandersetzen.
Erst, als ich
mit irgendwas zusammenprallte, das sich lautstark darüber beschwerte, hielt
ich wieder an. Es war der andere verschwundene Junge, erkannte ich. Wir fielen
beide hin und als wir uns jetzt gegenüberstanden, starrten wir uns an. Ich
überfordert, er erschrocken.
„Du bist Lu,
oder? Dein Vater sucht dich“, sagte ich ihm.
Was vielleicht
nicht die beste Idee war, da er jetzt aussah, als würde er gleich wieder
abhauen. Aber als er sich davon vergewissert hatte, dass sein Vater nicht bei
mir war, entschied er sich wohl, zu bleiben.
„Ich weiß“,
erwiderte er. „Aber er wird mich nicht finden, weil er sich nicht in den Nebel
traut.“
„Und du tust
das?“
Er nickte und
deutete dann auf den alten Mann, den ich bislang gar nicht bemerkt hatte und
der unweit von ihm entfernt stand, um einen Baum anzustarren, schien mir. Es
war der, der vorher einfach im Nebel verschwunden war und der das jetzt auch
wieder tat. Zu meinem Schrecken folgte der andere Junge ihm schnurstraks, also
tat ich das auch.
„Bist du
sicher, dass wir uns hier nicht verlaufen werden?“, fragte ich ihn, nachdem ich
ihn wieder eingeholt hatte.
„Ja, solange wir
Tibit folgen, ist alles gut.“
Dann liefen
wir eine Weile nebeneinander her, bevor ich erzählte: „Ich hab gehört, dass es
hier Geister gibt.“
„Das stimmt“,
eröffnete Lu und ich blieb wie angewurzelt stehen.
„Hast du keine
Angst, dass wir welche treffen?“
„Nein. Ich sag
ja, solange wir Tibit folgen, ist alles gut.“ Er blieb stehen. „Tibit kann mit
den Geistern reden, weißt du. Sie zeigen ihm den Weg und sie haben uns noch nie
was getan. Aber wir dürfen ihn nicht verlieren.“
Er ging weiter
und ich sah zu, dass ich ihm schnell folgte.
„Was passiert denn, wenn wir ihn verlieren?“
„Ich weiß
nicht.“ Unbehagliche Pause. „Aber ich will’s auch gar nicht rausfinden.“
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