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Dienstag, 31. Dezember 2019

Teil 12 - Zweifel



Es passierte am nächsten Tag, als ich gerade nach draußen gegangen war, um wenigstens mal kurz allein zu sein. Wandas indirekte Abfuhr hatte mich schon ein bisschen getroffen und auch wenn ich mein Bestes gab, mir nichts anmerken zu lassen, war es trotzdem nicht einfach, dauernd mit ihr zu tun zu haben.


Ich hatte aber nicht mal Zeit, mich in Selbstmitleid zu suhlen, da kamen sie schon an. Ur und sein gesamter Stamm. Ich wusste sofort, als ich in die versammelten Gesichter sah, dass das nichts Gutes bedeuten würde.


„Schick deinen Vater her, Junge!“, forderte Ur unfreundlich.
     „Er ist gerade nicht da, und ich weiß nicht, wann er wiederkommt. Solange bin ich für alles hier verantwortlich.“
     Ich versuchte, mich breiter hinzustellen und größer zu erscheinen, aber es gelang mir nicht sehr gut, glaubte ich. Ich war halt nicht so groß und respekteinflößend wie mein Vater. Ur sah nicht mal unzufrieden darüber aus, fiel mir, zu meinem Unmut, auf.


„Gut, dann kannst ja du dafür sorgen, dass ihr eure Sachen packt und endlich unsere Höhle räumt! Wir waren lange genug geduldig mit euch.“
     „Ihr habt kein Recht auf diese Höhle!“, schoss ich zurück. „Sie gehört unserem Stamm seit alters her! Ihr könnt nicht einfach die traditionellen Rechte missachten!“
     Ur lachte freudlos. „Das wirst du aber sehen, dass wir das können.“


„Wenn ihr das tut, werden wir die Versammlung der Stämme einberufen“, warnte ich.
     Die Versammlung der Stämme war eine Methode, um Streitigkeiten zwischen den Stämmen zu schlichten. Sie war so alt wie die Gegend selber, aber sie war, seitdem ich mich erinnern konnte, nicht ein Mal einberufen worden.


„Und du glaubst, dass der Uruk-Stamm euch helfen wird?“, blieb Ur leider unbeeindruckt. „Mach die Augen auf, Junge, diese Höhle hier ist heißbegehrt wegen ihrer günstigen Lage. Wenn wir sie nicht nehmen, wird sie sich eines Tages der Uruk-Stamm holen. Also solltest du, im Gegensatz zu deinem Vater, lieber vernünftig sein und den Platz räumen, solange wir euch noch friedlich darum bitten. Denn, sieh es ein, ihr habt keine Chance gegen uns. Gegen keinen der anderen Stämme. Ihr seid nur noch so wenige, dass ihr es schon gar nicht mehr verdient, als Stamm bezeichnet zu werden.“


Ich hatte letztendlich keine andere Wahl, als mit den wenig verbliebenen Leuten, die ich hatte, zu gehen. Ur hatte uns schon ein paarmal gedroht, aber er hatte nie seinen gesamten Stamm mitgebracht. Die Sache war ernst. Er würde diesmal nicht nur drohen. Und wenn ich nicht tat, was er sagte, würde das ungesund für uns alle ausgehen.
     Deshalb packten wir unsere Sachen und hatten wenig später die Höhle verlassen, die wir so viele Jahre lang unser Zuhause genannt hatten. Ur hatte recht, sie war die beste Höhle in der Gegend. Aufgrund ihrer Lage hatte man Wasser und der Wald mit Jagdwild, Beeren, Nüssen und Pilzen war auch um die Ecke, sodass man das ganze Jahr über versorgt war.


Als wir geschlagen abzogen, besaß Ur tatsächlich noch die Unverfrorenheit, den beiden Frauen anzubieten, seinem Stamm beizutreten und zu bleiben. Doch ich muss ja sagen, ich war ziemlich stolz, als nicht nur Ana, sondern auch Wanda das Angebot ablehnte. Ich musste Ana sogar zurückhalten, dass sie uns nicht in Schwierigkeiten brachte. Aber dafür sorgte ich kurz darauf ja auch selbst schon.


Plötzlich kam einer der Ahn-Jungen dazu. Es war Ren, wie ich sofort erkannte, obwohl ich ihn ewig nicht mehr gesehen hatte.
     „Du solltest dir wirklich noch mal überlegen, mit diesen Verlierern da zu gehen. Bei uns bist du viel sicherer. Und du gefällst mir auch ganz gut“, meinte er mit tanzenden Augenbrauen zu Wanda.
     „Ich habe doch nein gesagt.“
     „Ach, komm schon, Schönheit!“


Er wurde aufdringlich, und ich war so kurz davor, ihm die Nase zu brechen. Ich ging aufgebracht dazwischen, schob Wanda beschützend hinter mich. Doch zu unserem Glück rief sein Vater ihn da zurück und wir kamen noch einmal um eine Eskalation herum.


Ich fühlte mich so hilflos. Wir waren ein kleines Stück weit gegangen, um wenigstens nicht mit ansehen zu müssen, wie die Anderen unser Zuhause bezogen, und hatten uns dann an einer Stelle niedergelassen, von wo aus wir Vater zurückkommen sehen würden.
     Ana hatte eine ganze Weile lang geweint, und ich war ja froh, dass Wanda da war, um das Trösten zu übernehmen. Ich war noch viel zu sehr in Gedanken. Ich konnte nicht aufhören, mich zu fragen, was Vater anders gemacht hätte. Ob es ein Fehler gewesen war, klein beizugeben.


Als Vater dann schließlich auftauchte, war es schon später Nachmittag. Ich wollte ihm gar nicht erzählen müssen, was passiert war, aber ich hatte keine andere Wahl.
     „Tut mir leid“, sagte ich, als ich berichtet hatte. „Ich habe versagt.“
     „Nein, du hast alles richtig gemacht“, meinte Vater aber. „Sie waren in der Überzahl, und du hast die Frauen beschützt. Ich hätte nichts anderes getan.“
     Ich war ehrlich erleichtert, das zu hören.


„Und was machen wir jetzt?“, mischte sich Ana ein. „Wir holen uns unser Zuhause doch zurück, oder?“
     „Ich fürchte, wir sind machtlos gegen sie. Wir müssen uns wohl damit abfinden, was geschehen ist und uns ein neues Zuhause suchen. Aber ich würde auch verstehen, wenn ihr lieber in dem anderen Stamm bleiben wollt.“
     Ana sah jetzt aus, als würde sie wieder anfangen zu weinen, aber die Frauen blieben.


Stattdessen trat Wanda jetzt vor, kniete sich hin und fragte das kleine Mädchen, das halb hinter Vater versteckt stand: „Und wer bist du denn?“
     Ich hatte sie bis jetzt nicht mal bemerkt.


„Das ist Roa“, erklärte Vater nur. „Sie wird von heute an bei uns leben.“
     Mehr erzählte er nicht über sie, und ich fragte auch nicht weiter nach, da meine Gedanken noch immer ganz woanders waren.


Ur hatte uns wenigstens ein paar Materialien für Zelte gegeben, aber es war trotzdem ein klägliches Lager, das wir wenig später aufschlugen. Vater hatte uns zum alten Lagerplatz des Ahn-Stammes gebracht. Er war abgelegen, aber durch die Berge im Rücken, die unser Lager in einem Halbkreis umgaben, gut geschützt. Trotzdem war es nicht dasselbe. Aber es war nicht einmal der Umstand, dass wir unser Zuhause verloren hatten, was mich beschäftigte. Es war etwas, das Ur gesagt hatte und das mich einfach nicht mehr losließ.


Am späten Abend, nachdem das Lager dann schließlich stand, ging ich zu Vater, um mit ihm darüber zu sprechen.
     „Willst du eigentlich die Versammlung der Stämme einberufen?“, fragte ich zum Auftakt.
     Vater verneinte. „Das ist allein unsere Sache und ich will nicht, dass ein anderer Stamm unsere Kämpfe führen muss. Ich will Kämpfe im Allgemeinen vermeiden, wenn es geht.“


Das leuchtete mir ein. „Sag mal“, begann ich zögerlich mein eigentliches Anliegen, „wir sind ja nur noch sehr wenige. Wäre es da nicht klüger, wenn wir uns einem anderen Stamm anschließen würden?“
     „Sicher wäre es das, aber solange ich diesen Stamm anführe, wird das nicht geschehen.“
     „Warum nicht?“, fragte ich verständnislos.
     „Nun, ich glaube nicht einmal, dass der Ahn-Stamm uns überhaupt aufnehmen würde.“
     „Ja, schon. Aber was ist mit dem Uruk-Stamm?“


„Nein!“, versetzte er scharf. „Und ich will auch nicht, dass du noch einmal darüber redest!“
     Ich hatte schon geahnt, dass dieses Thema kein sehr angenehmes für meinen Vater sein würde. Ihm vorzuschlagen, die Führung abzugeben, aufzugeben, was er so viele Jahre aufgebaut hatte, aber seine heftige Reaktion überraschte mich trotzdem. Warum reagierte er so, wenn ich den anderen Stamm erwähnte? Ob es überhaupt daran lag? Ich musste etwas testen.


„Ja, Vater“, tat ich unterwürfig. „Apropos Uruk-Stamm.“ Seine Augen verengten sich. Es lag wirklich daran. Also ging ich weiter: „Ich habe gestern Tann getroffen. Er war gerade bei seiner Stammesführerprüfung und er hat mich zu seinem Übernahmefest eingeladen.“
     „Da hast du nichts verloren“, verbot Vater einfach.
     „Nun, ich soll irgendwann unseren Stamm anführen“, merkte ich an, obwohl ich ihn eigentlich nicht daran hatte erinnern wollen.


„Und solange hast du nichts bei solch einem Fest verloren, bis du das auch tust. Ich werde hingehen als unser Oberhaupt, und du wirst hierbleiben, um auf die Anderen aufzupassen“, bestimmte er, und ich hatte nichts dazu zu sagen. Er ließ mich einfach stehen.


Ich war es gewohnt, dass Vater streng war, aber das war selbst für mich neu. Dass er sich nicht einmal zu erklären versuchte. Warum nur wollte er nicht, dass ich zum Uruk-Stamm ging? Der Uruk-Stamm… Konnte es vielleicht sein, dass es mit meiner ominösen anderen Mutter zu tun hatte, die angeblich da lebte?
     Es war, wie es war, letztendlich beschloss ich trotzdem, dem nicht weiter nachzugehen. Vater hatte seine Gründe und als sein Sohn musste ich ihm vertrauen. Und außerdem hatte ich mir doch vorgenommen, dass es mir nichts ausmachte, ob Dala nun wirklich meine Mutter gewesen war oder nicht.
     Also beschloss ich, nicht weiter darüber nachzudenken.


Es war nur ziemlich schwer, sich daran zu halten, als ausgerechnet am nächsten Tag Luma vom Uruk-Stamm auftauchte. Da konnte ich doch nicht anders, als irgendwelche Ähnlichkeiten in ihrem Gesicht zu suchen, und ich fühlte mich so schlecht meiner Mutter Dala gegenüber.
     Luma war hergekommen, um die offizielle Einladung für Tanns Fest zu überbringen, aber sie war schnell vom Thema abgekommen. „Ich habe das mit dem Ahn-Stamm und eurer Höhle gehört“, begann sie gerade.


Anstatt zu antworten, wandte sich mein Vater jetzt an mich und sagte: „Rahn, nimm die Kinder und geh auf sie aufpassen.“
     Hieß, er wollte uns loswerden. Allen voran mich, wahrscheinlich. Ich hätte am liebsten protestiert, weil die Frauen ja dafür da waren, auf die Kinder aufzupassen, aber ich konnte ihm nicht vor dem anderen Stammesführer widersprechen. Also winkte ich die Kinder widerwillig zu mir. Roa kam zögerlich und auch die beiden Jungen von Luma kamen an, aber ihr Mädchen guckte mich nur mit erschrockenen Augen an.
     „Lulu trennt sich nicht gern von mir“, erklärte Luma lächelnd. „Lass sie ruhig bei mir.“


Wir gingen ein Stück vom Lager weg, und da holte Ana uns ein. Sie war sofort begeistert von den Kleinen oder von mir mit den Kleinen, ich wusste es nicht und es war mir auch egal. Ich war mit den Gedanken noch immer dabei, was Vater und Luma wohl gerade besprachen.


„Hey, Lenn, lass uns ans Meer gehen und gucken, wer weiter Steine schmeißen kann“, fuhr die laute Stimme eines der Uruk-Jungen in meine Gedanken.
     Ich kannte ihn nicht, genauso wenig wie den Anderen, glaubte ich, der jetzt anmerkte: „Lieber nicht. Wegen dir sind Lulu und ich erst letztens fast von einem Panther gefressen worden.“


„Kann ich ja nix für, wenn du dich immer verläufst“, meinte der sichtbar vorlautere der beiden unbeeindruckt. Er grinste. „Nur deshalb hat Mama dich mitgenommen und vorgehen lassen. Dass du mal den Weg findest, du taube Nuss!“
     „Selber taube Nuss, du Blödmann!“


Der Vorlaute streckte ihm die Zunge raus, und dann geriet ich in sein Visier. „He, du, Mama hat erzählt, dass du schon mal mit mir am Meer warst, als ich klein war.“
     Ich brauchte einen Moment, aber dann erinnerte ich mich schließlich an ihn. „Ach, du warst…“
     „Jin“, half er mir mit stolzgeschwellter Brust auf die Sprünge. „Und die taube Nuss da ist mein kleiner Bruder Lenn. Du siehst aus, als ob du keine so taube Nuss bist, also gehen wir jetzt ans Meer runter?“


Ich wollte ihm gerade sagen, dass wir das nicht tun würden, als Roa zu heulen anfing wie ein Wolf bei Vollmond. Sie war bislang ruhig gewesen, ich hatte sie kaum je sprechen hören, dass ich nicht mal gedacht hätte, dass sie überhaupt laut sein könnte. Doch da stand sie und heulte aus voller Kehle.
     „Ich will nicht zum Wasser! Ich will nach Hause!“
     Da niemand was tat, ging ich zu ihr und versuchte, sie zu trösten. „Wir gehen nicht zum Wasser“, versprach ich ihr. „Hab keine Angst.“


Ihr Heulen ebbte ein bisschen ab, und sie ließ sich schließlich sogar in den Arm nehmen, was Ana ganz entzückend fand.
     „Du kannst so gut mit Kindern umgehen“, schwärmte sie. „Du wirst ein wunderbarer Vater sein, wenn wir erstmal Kinder haben.“
     „Bah! Das kann doch jeder! Ich pass Zuhause auch immer auf die Mädchen auf“, tat Jin seine Meinung kund.


Wofür Ana ihm den Kopf tätschelte, was ihn sichtlich ärgerte und Lenn zum Lachen brachte, was ihn noch mehr ärgerte. Blöderweise war Ana aber noch nicht fertig mit mir.


„Also, Rahn“, begann sie ganz ungewohnt schüchtern, „was das mit den Kindern angeht…“
     Mist. Jetzt kam ich also in die Bredouille. Ich hatte ja eigentlich nicht vor, sie zu nehmen; ich hatte immer noch keine Ahnung, wie sie überhaupt darauf kam, dass wir zusammengehörten. Aber ich wollte sie auch nicht verletzen. Ich hatte bisher nur gehofft, dass sie sich das endlich aus dem Kopf schlagen würde.


Glücklicherweise hörten wir in diesem Moment Lärm, was mir noch mal aus der Patsche half. Ich nutzte die Chance natürlich sofort, um abzuhauen. Ich sagte Ana, sie solle hierbleiben und auf die Kleinen achtgeben, und machte ich mich aus dem Staub.
     Der Lärm verwandelte sich bald in Stimmen, die immer deutlicher wütend klangen, je näher ich kam. Und eine davon gehörte Wanda, erkannte ich. Da legte ich nochmal einen Zahn zu.


Ich fand sie, wie sie gerade im Laufschritt vor einem äußerst aufdringlichen Ren floh. Als sie mich bemerkte, suchte sie sofort Schutz hinter mir.


Ren starrte mich böse an, doch noch bevor ich nachfragen konnte, was er vorgehabt hatte, machte er sich davon.


„Alles in Ordnung? Hat er dir was getan?“, fragte ich Wanda.
     „Ja… also, es ist alles in Ordnung, er hat mir nichts getan.“
     „Aber er wollte.“
     „Ich weiß nicht“, antwortete sie unbehaglich. „Aber ich bin froh, dass ich es nicht herausfinden musste. Danke. Du hast mich wirklich gerettet.“


Und dann kam sie tatsächlich an und gab mir einen Kuss auf die Stirn, dass ich gar nicht verhindern konnte, rot zu werden.
     „Du bist mein kleiner Held“, sagte sie mit ihrem wunderbaren Lächeln, das mir den Rest gab.
     Obwohl ich es mir vorgenommen hatte, konnte ich nicht anders, als mir nun doch wieder Hoffnungen bei ihr zu machen.


Bevor ich aber in die Verlegenheit kam, ihr zeigen zu müssen, dass ich inzwischen nur noch des Stotterns mächtig war, kam glücklicherweise Ana mit den Kindern an und lenkte Wanda von mir ab.


Ich war Wandas Held, also musste ich natürlich auch etwas Heldenhaftes tun. Es ging ja sowieso nicht, dass Ren meinte, Frauen belästigen zu müssen. Also ging ich trotz unserer schlechten Beziehungen zum anderen Stamm hinüber, um ihm mal die Leviten zu lesen. Für eine handfestere Auseinandersetzung war ich auch jederzeit bereit, wenn er sich nicht einsichtig zeigen würde.


Ich fand ihn zum Glück außerhalb ihrer neuen Höhle – ich konnte darauf verzichten, mich auch noch mit dem Reste seines Stammes anlegen zu müssen – und als er mich sah, legte er sofort Ablehnung auf. 
     Wir waren früher die besten Freunde gewesen, und ich war nicht einmal wirklich sauer darüber gewesen, dass er mir die Schuld für etwas gegeben hatte, an dem ich nur als Helfer beteiligt gewesen war, um seine Haut zu retten. Ich hatte mich all die Jahre sogar eher schlecht gefühlt und hatte mich mit ihm aussöhnen wollen. Aber ich hatte es nicht gekonnt und jetzt war es dafür zu spät. Mit so jemandem, der Frauen belästigte, wollte ich wirklich nicht befreundet sein.


„Was sollte das vorhin mit Wanda?“, begann ich ohne Umschweife. Und als er mich nur weiter böse anstarrte, sagte ich: „Du hast doch gehört, dass sie nicht an dir interessiert ist. Also lass sie in Zukunft gefälligst in Ruhe, sonst kriegst du es mit mir zu tun!“
     „Als ob ich Angst vor dir hätte!“, lachte er abfällig.
    Ich ließ mich nicht auf seine Provokation ein. Ich schüttelte den Kopf. „Du bist echt armselig, dass du Frauen belästigst.“


„Du bist armselig, dass du so ein erbärmliches Weichei bist! Ein echter Mann nimmt sich, was er will!“, warf er wütend zurück. „Aber ist ja auch kein Wunder, dass du so ein Schwächling bist, wenn du nur unter Frauen aufgewachsen bist.“
     Seine Worte trafen mich nicht im Geringsten. Es kümmerte mich nicht einmal, dass er meinen Vater beleidigt hatte. Doch er musste endlich einsehen, dass seine Handlungen falsch waren.


Deshalb preschte ich jetzt nach vorne und nagelte ihn an den Baum in seinen Rücken. Die Jahre des Trainings schienen sich endlich auszuzahlen. Ich war nicht mehr der langsame Junge, den er kannte; er hatte nicht einmal ansatzweise schnell genug reagieren können, um sich zu wehren. Ich starrte ihn so böse an, wie ich nur konnte, damit er sah, dass ich es ernst meinte. Obwohl er viel kräftiger als ich aussah, wagte er es nicht einmal, einen Muskel zu rühren. Er hatte tatsächlich Angst, erkannte ich.  
     „Ich bin lieber ein Weichei, anstatt so ein Scheusal wie du. Und ich warne dich nur noch einmal: Lass Wanda in Ruhe oder ich zeige dir mal, wie gut ich inzwischen mit dem Bogen geworden bin!“


Ich ließ ihn wieder los, hielt den Blickkontakt aber weiter aufrecht, bis er es war, der ihn schließlich abbrach. Er war blass geworden. Ich hoffte nur, dass das bedeutete, dass er meine Warnung auch verstanden hatte. Ich mochte nicht, dass ich das hatte tun müssen, aber es war nötig gewesen.


„Du klopfst so große Sprüche, aber du bist selber nicht besser“, fand Ren jedoch seinen Mut wieder, als ich nicht mal eine Handvoll Schritte weit gekommen war. Die Abscheu, die in seinem Gesicht jetzt zutage trat, war so tief, dass es mich ein bisschen erschreckte. „Um eine Wildfremde kümmerst du dich, aber meine Schwester lässt du hängen, du Heuchler!“
     „Was meinst du damit?“


Er machte ein abfälliges Geräusch. „Natürlich weißt du das nicht, weil sie dich nicht interessiert. Sie ist weggelaufen, weil Vater ihr verboten hat, deine Gefährtin zu werden. Wir wissen nicht mal, wo sie ist. Dachten, sie wär bei dir, aber… Wahrscheinlich ist sie tot. Von wilden Tieren aufgefressen worden oder sowas.“
     Ich war schockiert. Wenn ich so darüber nachdachte, hatte ich Rin wirklich vor einem Jahreszeitenwechsel das letzte Mal gesehen. Damals, als ich sie darum gebeten hatte, meine Gefährtin zu werden, was ihr Vater verboten hatte. Ich hatte danach nicht weiter darüber nachgedacht, weil ich sie nur gefragt hatte, um Frieden zwischen unseren Stämmen zu erreichen, der letztendlich nie eingetreten war. Ich hatte nicht darüber nachgedacht, nicht über sie oder darüber, warum sie plötzlich nicht mehr bei mir aufgetaucht war, obwohl sie das früher regelmäßig getan hatte. Weil es mir egal gewesen war. So beschämend das auch war, es war die Wahrheit.


„Deshalb: Führ dich nicht so auf!“, brachte Rens wütende Stimme mich aus meinem Schrecken zurück. „Für Rin hast du auch nichts getan. Hast ihr nur Hoffnungen gemacht und sie dann hängen lassen.“   
     Und dann war er es, der mich stehen ließ.


Obwohl ich hergekommen war, um Ren eine Lektion zu erteilen, war ich es jetzt, der sich schuldig fühlte. Und das zu Recht. Ich hatte mich selbstgefällig wie ein Held aufgeführt, obwohl ich selber nicht besser als er war. Er hatte recht, ich war ein Heuchler.
     „Du solltest ihm nicht alles glauben“, fuhr eine Stimme in meine Gedanken.


Als ich nachsah, näherte sich Nama mir. Sie hatte schon eine ganze Weile abseits des Geschehens gestanden, aber ich hatte sie nicht gesehen.
     „Er erzählt Mist.“
     „Rin ist also nicht weggelaufen?“, fragte ich hoffnungsvoll.
     „Doch.“ Sie zuckte mit den Schultern. „Aber ich weiß, wo sie ist. Irgendwie. Jeder weiß das.“
     „Wo ist sie denn?“ Hastig fragte ich: „Und geht es ihr gut?“


„Naja, wie gesagt weiß ich das nicht exakt. Sie ist mit Reisenden mitgegangen. Aber sie war vor einer Weile mal da. Sah gut aus. Hat jetzt einen Mann, mit dem sie ziemlich glücklich aussah. Und das ist dein Verdienst.“
     „Mein Verdienst?“
     „Ja.“ Ihr Lächeln erstarb und ihr Gesicht wurde so ernst, wie ich es gar nicht von ihr kannte. „Ist nicht gerade einfach, hier zu leben. Ur ist ziemlich strikt. Bin selber am Überlegen, von hier wegzugehen. Rin war jedenfalls auch nicht glücklich hier. Doch sie hat sich nicht getraut, zu gehen. Erst, als du aufgetaucht bist. Du hast ihr geholfen, frei zu sein.“


Ich war so unendlich erleichtert, das zu hören, dass ich gar nicht merkte, wie Nama plötzlich grinsend vor mir stand. „Weißt du, wenn du mich mitnehmen würdest, würde ich den Stamm sofort verlassen.“    
     „Ähm, also… du bist eine tolle Frau, aber ich bin mir noch nicht sicher, wen ich zur Gefährtin nehmen will“, gab ich beschämt zurück.


Sie zog sich zurück und ihr Lächeln erstarb ein zweites Mal. „Das sagst du immer. Weißt du, wenn du das immer sagst, dann kommt es einem wirklich irgendwann so vor, als würdest du einen nur an der Nase herumführen. Ich hätte lieber eine klare Ansage von dir. Also?“


Ich tat es ihr gleich und erwiderte ernst: „Ich möchte dich nicht zur Gefährtin, Nama.“ Und kleinlaut fügte ich hinzu: „Entschuldige. Es…“
     Sie hob eine Hand und unterbrach mich. „Du musst dich nicht entschuldigen und/oder erklären. Bin froh, dass du’s mir endlich gesagt hast.“


Sie zwinkerte. „Jetzt kann ich mir endlich jemand anderen suchen.“
     Sie ging, ich rief ihr noch ein „Danke“ hinterher, aber sie hob nur wieder die Hand. Sie drehte sich nicht einmal mehr um. Nama war eigentlich in Ordnung, musste ich feststellen. Ziemlich direkt, aber in Ordnung.   
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