Es passierte am nächsten Tag, als ich gerade nach draußen
gegangen war, um wenigstens mal kurz allein zu sein. Wandas indirekte Abfuhr
hatte mich schon ein bisschen getroffen und auch wenn ich mein Bestes gab, mir
nichts anmerken zu lassen, war es trotzdem nicht einfach, dauernd mit ihr zu
tun zu haben.
Ich hatte aber nicht mal Zeit, mich in Selbstmitleid zu
suhlen, da kamen sie schon an. Ur und sein gesamter Stamm. Ich wusste sofort,
als ich in die versammelten Gesichter sah, dass das nichts Gutes bedeuten
würde.
„Schick deinen Vater her, Junge!“, forderte Ur
unfreundlich.
„Er ist gerade
nicht da, und ich weiß nicht, wann er wiederkommt. Solange bin ich für alles
hier verantwortlich.“
Ich versuchte,
mich breiter hinzustellen und größer zu erscheinen, aber es gelang mir nicht
sehr gut, glaubte ich. Ich war halt nicht so groß und respekteinflößend wie
mein Vater. Ur sah nicht mal unzufrieden darüber aus, fiel mir, zu meinem
Unmut, auf.
„Gut, dann kannst ja du
dafür sorgen, dass ihr eure Sachen packt und endlich unsere Höhle räumt! Wir waren lange genug geduldig mit euch.“
„Ihr habt kein
Recht auf diese Höhle!“, schoss ich zurück. „Sie gehört unserem Stamm seit
alters her! Ihr könnt nicht einfach die traditionellen Rechte missachten!“
Ur lachte
freudlos. „Das wirst du aber sehen, dass wir das können.“
„Wenn ihr das tut, werden wir die Versammlung der Stämme
einberufen“, warnte ich.
Die
Versammlung der Stämme war eine Methode, um Streitigkeiten zwischen den Stämmen
zu schlichten. Sie war so alt wie die Gegend selber, aber sie war, seitdem ich
mich erinnern konnte, nicht ein Mal einberufen worden.
„Und du glaubst, dass der Uruk-Stamm euch helfen wird?“, blieb
Ur leider unbeeindruckt. „Mach die Augen auf, Junge, diese Höhle hier ist
heißbegehrt wegen ihrer günstigen Lage. Wenn wir sie nicht nehmen, wird sie
sich eines Tages der Uruk-Stamm holen. Also solltest du, im Gegensatz zu deinem
Vater, lieber vernünftig sein und den Platz räumen, solange wir euch noch
friedlich darum bitten. Denn, sieh es ein, ihr habt keine Chance gegen uns.
Gegen keinen der anderen Stämme. Ihr seid nur noch so wenige, dass ihr es schon
gar nicht mehr verdient, als Stamm bezeichnet zu werden.“
Ich hatte letztendlich keine andere Wahl, als mit den
wenig verbliebenen Leuten, die ich hatte, zu gehen. Ur hatte uns schon ein
paarmal gedroht, aber er hatte nie seinen gesamten Stamm mitgebracht. Die Sache
war ernst. Er würde diesmal nicht nur drohen. Und wenn ich nicht tat, was er
sagte, würde das ungesund für uns alle ausgehen.
Deshalb
packten wir unsere Sachen und hatten wenig später die Höhle verlassen, die wir
so viele Jahre lang unser Zuhause genannt hatten. Ur hatte recht, sie war die
beste Höhle in der Gegend. Aufgrund ihrer Lage hatte man Wasser und der Wald
mit Jagdwild, Beeren, Nüssen und Pilzen war auch um die Ecke, sodass man das
ganze Jahr über versorgt war.
Als wir geschlagen abzogen, besaß Ur tatsächlich
noch die Unverfrorenheit, den beiden Frauen anzubieten, seinem Stamm
beizutreten und zu bleiben. Doch ich muss ja sagen, ich war ziemlich stolz, als
nicht nur Ana, sondern auch Wanda das Angebot ablehnte. Ich musste Ana sogar
zurückhalten, dass sie uns nicht in Schwierigkeiten brachte. Aber dafür sorgte
ich kurz darauf ja auch selbst schon.
Plötzlich kam einer der Ahn-Jungen dazu. Es war Ren, wie
ich sofort erkannte, obwohl ich ihn ewig nicht mehr gesehen hatte.
„Du solltest
dir wirklich noch mal überlegen, mit diesen Verlierern da zu gehen. Bei uns
bist du viel sicherer. Und du gefällst mir auch ganz gut“, meinte er mit
tanzenden Augenbrauen zu Wanda.
„Ich habe doch
nein gesagt.“
„Ach, komm
schon, Schönheit!“
Er wurde aufdringlich, und ich war so kurz davor, ihm die
Nase zu brechen. Ich ging aufgebracht dazwischen, schob Wanda beschützend
hinter mich. Doch zu unserem Glück rief sein Vater ihn da zurück und wir kamen
noch einmal um eine Eskalation herum.
Ich fühlte mich so hilflos. Wir waren ein kleines Stück
weit gegangen, um wenigstens nicht mit ansehen zu müssen, wie die Anderen unser
Zuhause bezogen, und hatten uns dann an einer Stelle niedergelassen, von wo aus
wir Vater zurückkommen sehen würden.
Ana hatte eine
ganze Weile lang geweint, und ich war ja froh, dass Wanda da war, um das Trösten zu
übernehmen. Ich war noch viel zu sehr in Gedanken. Ich konnte nicht aufhören,
mich zu fragen, was Vater anders gemacht hätte. Ob es ein Fehler gewesen war,
klein beizugeben.
Als Vater dann schließlich auftauchte, war es schon
später Nachmittag. Ich wollte ihm gar nicht erzählen müssen, was passiert war,
aber ich hatte keine andere Wahl.
„Tut mir
leid“, sagte ich, als ich berichtet hatte. „Ich habe versagt.“
„Nein, du hast
alles richtig gemacht“, meinte Vater aber. „Sie waren in der Überzahl, und du
hast die Frauen beschützt. Ich hätte nichts anderes getan.“
Ich war
ehrlich erleichtert, das zu hören.
„Und was machen wir jetzt?“, mischte sich Ana ein. „Wir
holen uns unser Zuhause doch zurück, oder?“
„Ich fürchte,
wir sind machtlos gegen sie. Wir müssen uns wohl damit abfinden, was geschehen
ist und uns ein neues Zuhause suchen. Aber ich würde auch verstehen, wenn ihr lieber
in dem anderen Stamm bleiben wollt.“
Ana sah jetzt
aus, als würde sie wieder anfangen zu weinen, aber die Frauen blieben.
Stattdessen trat Wanda jetzt vor, kniete sich hin und fragte
das kleine Mädchen, das halb hinter Vater versteckt stand: „Und wer bist du
denn?“
Ich hatte sie
bis jetzt nicht mal bemerkt.
„Das ist Roa“, erklärte Vater nur. „Sie wird von heute an
bei uns leben.“
Mehr erzählte
er nicht über sie, und ich fragte auch nicht weiter nach, da meine Gedanken noch
immer ganz woanders waren.
Ur hatte uns wenigstens ein paar Materialien für Zelte
gegeben, aber es war trotzdem ein klägliches Lager, das wir wenig später
aufschlugen. Vater hatte uns zum alten Lagerplatz des Ahn-Stammes gebracht. Er
war abgelegen, aber durch die Berge im Rücken, die unser Lager in einem Halbkreis
umgaben, gut geschützt. Trotzdem war es nicht dasselbe. Aber es war nicht
einmal der Umstand, dass wir unser Zuhause verloren hatten, was mich
beschäftigte. Es war etwas, das Ur gesagt hatte und das mich einfach nicht mehr
losließ.
Am späten Abend, nachdem das Lager dann schließlich
stand, ging ich zu Vater, um mit ihm darüber zu sprechen.
„Willst du
eigentlich die Versammlung der Stämme einberufen?“, fragte ich zum Auftakt.
Vater
verneinte. „Das ist allein unsere Sache und ich will nicht, dass ein anderer
Stamm unsere Kämpfe führen muss. Ich will Kämpfe im Allgemeinen vermeiden, wenn
es geht.“
Das leuchtete mir ein. „Sag mal“, begann ich zögerlich
mein eigentliches Anliegen, „wir sind ja nur noch sehr wenige. Wäre es da nicht
klüger, wenn wir uns einem anderen Stamm anschließen würden?“
„Sicher wäre
es das, aber solange ich diesen Stamm anführe, wird das nicht geschehen.“
„Warum
nicht?“, fragte ich verständnislos.
„Nun, ich
glaube nicht einmal, dass der Ahn-Stamm uns überhaupt aufnehmen würde.“
„Ja, schon.
Aber was ist mit dem Uruk-Stamm?“
„Nein!“, versetzte er scharf. „Und ich will auch nicht,
dass du noch einmal darüber redest!“
Ich hatte
schon geahnt, dass dieses Thema kein sehr angenehmes für meinen Vater sein
würde. Ihm vorzuschlagen, die Führung abzugeben, aufzugeben, was er so viele
Jahre aufgebaut hatte, aber seine heftige Reaktion überraschte mich trotzdem.
Warum reagierte er so, wenn ich den anderen Stamm erwähnte? Ob es überhaupt
daran lag? Ich musste etwas testen.
„Ja, Vater“, tat ich unterwürfig. „Apropos Uruk-Stamm.“
Seine Augen verengten sich. Es lag wirklich daran. Also ging ich weiter: „Ich
habe gestern Tann getroffen. Er war gerade bei seiner Stammesführerprüfung und
er hat mich zu seinem Übernahmefest eingeladen.“
„Da hast du
nichts verloren“, verbot Vater einfach.
„Nun, ich soll
irgendwann unseren Stamm anführen“, merkte ich an, obwohl ich ihn eigentlich
nicht daran hatte erinnern wollen.
„Und solange hast du nichts bei solch einem Fest verloren, bis du das auch tust. Ich
werde hingehen als unser Oberhaupt, und du wirst hierbleiben, um auf die Anderen
aufzupassen“, bestimmte er, und ich hatte nichts dazu zu sagen. Er ließ mich
einfach stehen.
Ich war es gewohnt, dass Vater streng war, aber das war
selbst für mich neu. Dass er sich nicht einmal zu erklären versuchte. Warum nur
wollte er nicht, dass ich zum Uruk-Stamm ging? Der Uruk-Stamm… Konnte es
vielleicht sein, dass es mit meiner ominösen anderen Mutter zu tun hatte, die
angeblich da lebte?
Es war, wie es war, letztendlich beschloss
ich trotzdem, dem nicht weiter nachzugehen. Vater hatte seine Gründe und als
sein Sohn musste ich ihm vertrauen. Und außerdem hatte ich mir doch
vorgenommen, dass es mir nichts ausmachte, ob Dala nun wirklich meine Mutter
gewesen war oder nicht.
Also beschloss
ich, nicht weiter darüber nachzudenken.
Es war nur ziemlich schwer, sich daran zu halten, als
ausgerechnet am nächsten Tag Luma vom Uruk-Stamm auftauchte. Da konnte ich doch
nicht anders, als irgendwelche Ähnlichkeiten in ihrem Gesicht zu suchen, und
ich fühlte mich so schlecht meiner Mutter Dala gegenüber.
Luma war
hergekommen, um die offizielle Einladung für Tanns Fest zu überbringen, aber sie
war schnell vom Thema abgekommen. „Ich habe das
mit dem Ahn-Stamm und eurer Höhle gehört“, begann sie gerade.
Anstatt zu antworten, wandte sich mein Vater jetzt an
mich und sagte: „Rahn, nimm die Kinder und geh auf sie aufpassen.“
Hieß, er
wollte uns loswerden. Allen voran mich, wahrscheinlich. Ich hätte am liebsten
protestiert, weil die Frauen ja dafür da waren, auf die Kinder aufzupassen, aber ich konnte ihm nicht vor
dem anderen Stammesführer widersprechen. Also winkte ich die Kinder
widerwillig zu mir. Roa kam zögerlich und auch die beiden Jungen von Luma kamen
an, aber ihr Mädchen guckte mich nur mit erschrockenen Augen an.
„Lulu trennt
sich nicht gern von mir“, erklärte Luma lächelnd. „Lass sie ruhig bei mir.“
Wir gingen ein Stück vom Lager weg, und da holte Ana uns
ein. Sie war sofort begeistert von den Kleinen oder von mir mit den Kleinen,
ich wusste es nicht und es war mir auch egal. Ich war mit den Gedanken noch
immer dabei, was Vater und Luma wohl gerade besprachen.
„Hey, Lenn, lass uns ans Meer gehen und gucken, wer
weiter Steine schmeißen kann“, fuhr die laute Stimme eines der Uruk-Jungen in
meine Gedanken.
Ich kannte ihn
nicht, genauso wenig wie den Anderen, glaubte ich, der jetzt anmerkte: „Lieber
nicht. Wegen dir sind Lulu und ich erst letztens fast von einem Panther
gefressen worden.“
„Kann ich ja nix für, wenn du dich immer verläufst“,
meinte der sichtbar vorlautere der beiden unbeeindruckt. Er grinste. „Nur
deshalb hat Mama dich mitgenommen und vorgehen lassen. Dass du mal den Weg
findest, du taube Nuss!“
„Selber taube
Nuss, du Blödmann!“
Der Vorlaute streckte ihm die Zunge raus, und dann geriet
ich in sein Visier. „He, du, Mama hat erzählt, dass du schon mal mit mir am
Meer warst, als ich klein war.“
Ich brauchte
einen Moment, aber dann erinnerte ich mich schließlich an ihn. „Ach, du warst…“
„Jin“, half er
mir mit stolzgeschwellter Brust auf die Sprünge. „Und die taube Nuss da ist
mein kleiner Bruder Lenn. Du siehst aus, als ob du keine so taube Nuss bist,
also gehen wir jetzt ans Meer runter?“
Ich wollte ihm gerade sagen, dass wir das nicht tun
würden, als Roa zu heulen anfing wie ein Wolf bei Vollmond. Sie war bislang ruhig gewesen,
ich hatte sie kaum je sprechen hören, dass ich nicht mal gedacht hätte, dass
sie überhaupt laut sein könnte. Doch da stand sie und heulte aus voller Kehle.
„Ich will
nicht zum Wasser! Ich will nach Hause!“
Da niemand was
tat, ging ich zu ihr und versuchte, sie zu trösten. „Wir gehen nicht zum
Wasser“, versprach ich ihr. „Hab keine Angst.“
Ihr Heulen ebbte ein bisschen ab, und sie ließ sich
schließlich sogar in den Arm nehmen, was Ana ganz entzückend fand.
„Du kannst so
gut mit Kindern umgehen“, schwärmte sie. „Du wirst ein wunderbarer Vater sein,
wenn wir erstmal Kinder haben.“
„Bah! Das kann
doch jeder! Ich pass Zuhause auch immer auf die Mädchen auf“, tat Jin seine
Meinung kund.
Wofür Ana ihm den Kopf tätschelte, was ihn
sichtlich ärgerte und Lenn zum Lachen brachte, was ihn noch mehr ärgerte. Blöderweise
war Ana aber noch nicht fertig mit mir.
„Also, Rahn“, begann sie ganz ungewohnt schüchtern, „was
das mit den Kindern angeht…“
Mist. Jetzt
kam ich also in die Bredouille. Ich hatte ja eigentlich nicht vor, sie zu
nehmen; ich hatte immer noch keine Ahnung, wie sie überhaupt darauf kam, dass
wir zusammengehörten. Aber ich wollte sie auch nicht verletzen. Ich hatte
bisher nur gehofft, dass sie sich das endlich aus dem Kopf schlagen würde.
Glücklicherweise hörten wir in diesem Moment Lärm, was mir noch
mal aus der Patsche half. Ich nutzte die Chance natürlich sofort, um abzuhauen. Ich sagte Ana, sie solle hierbleiben und auf die Kleinen achtgeben,
und machte ich mich aus dem Staub.
Der Lärm
verwandelte sich bald in Stimmen, die immer deutlicher wütend klangen, je
näher ich kam. Und eine davon gehörte Wanda, erkannte ich. Da legte ich nochmal
einen Zahn zu.
Ich fand sie, wie sie gerade im Laufschritt vor einem
äußerst aufdringlichen Ren floh. Als sie mich bemerkte, suchte sie sofort
Schutz hinter mir.
Ren starrte mich böse an, doch noch bevor ich
nachfragen konnte, was er vorgehabt hatte, machte er sich davon.
„Alles in Ordnung? Hat er dir was getan?“, fragte ich
Wanda.
„Ja… also, es
ist alles in Ordnung, er hat mir nichts getan.“
„Aber er
wollte.“
„Ich weiß
nicht“, antwortete sie unbehaglich. „Aber ich bin froh, dass ich es nicht
herausfinden musste. Danke. Du hast mich wirklich gerettet.“
Und dann kam sie tatsächlich an und gab mir einen Kuss
auf die Stirn, dass ich gar nicht verhindern konnte, rot zu werden.
„Du bist mein
kleiner Held“, sagte sie mit ihrem wunderbaren Lächeln, das mir den Rest gab.
Obwohl ich es
mir vorgenommen hatte, konnte ich nicht anders, als mir nun doch wieder
Hoffnungen bei ihr zu machen.
Bevor ich aber in die Verlegenheit kam, ihr zeigen zu müssen,
dass ich inzwischen nur noch des Stotterns mächtig war, kam glücklicherweise
Ana mit den Kindern an und lenkte Wanda von mir ab.
Ich war Wandas Held, also musste ich natürlich auch etwas
Heldenhaftes tun. Es ging ja sowieso nicht, dass Ren meinte, Frauen belästigen
zu müssen. Also ging ich trotz unserer schlechten Beziehungen zum anderen Stamm
hinüber, um ihm mal die Leviten zu lesen. Für eine handfestere Auseinandersetzung war ich
auch jederzeit bereit, wenn er sich nicht einsichtig zeigen würde.
Ich fand ihn zum Glück außerhalb ihrer neuen Höhle – ich
konnte darauf verzichten, mich auch noch mit dem Reste seines Stammes anlegen zu
müssen – und als er mich sah, legte er sofort Ablehnung auf.
Wir waren früher die besten Freunde gewesen, und ich war nicht einmal wirklich sauer darüber gewesen, dass er mir die Schuld für etwas gegeben hatte, an dem ich nur als Helfer beteiligt gewesen war, um seine Haut zu retten. Ich hatte mich all die Jahre sogar eher schlecht gefühlt und hatte mich mit ihm aussöhnen wollen. Aber ich hatte es nicht gekonnt und jetzt war es dafür zu spät. Mit so jemandem, der Frauen belästigte, wollte ich wirklich nicht befreundet sein.
Wir waren früher die besten Freunde gewesen, und ich war nicht einmal wirklich sauer darüber gewesen, dass er mir die Schuld für etwas gegeben hatte, an dem ich nur als Helfer beteiligt gewesen war, um seine Haut zu retten. Ich hatte mich all die Jahre sogar eher schlecht gefühlt und hatte mich mit ihm aussöhnen wollen. Aber ich hatte es nicht gekonnt und jetzt war es dafür zu spät. Mit so jemandem, der Frauen belästigte, wollte ich wirklich nicht befreundet sein.
„Was sollte das vorhin mit Wanda?“, begann ich ohne
Umschweife. Und als er mich nur weiter böse anstarrte, sagte ich: „Du hast doch
gehört, dass sie nicht an dir interessiert ist. Also lass sie in Zukunft
gefälligst in Ruhe, sonst kriegst du es mit mir zu tun!“
„Als ob ich
Angst vor dir hätte!“, lachte er abfällig.
Ich ließ mich
nicht auf seine Provokation ein. Ich schüttelte den Kopf. „Du bist echt
armselig, dass du Frauen belästigst.“
„Du bist armselig, dass du so ein erbärmliches Weichei
bist! Ein echter Mann nimmt sich, was er will!“, warf er wütend zurück. „Aber
ist ja auch kein Wunder, dass du so ein Schwächling bist, wenn du nur unter
Frauen aufgewachsen bist.“
Seine Worte
trafen mich nicht im Geringsten. Es kümmerte mich nicht einmal, dass er meinen
Vater beleidigt hatte. Doch er musste endlich einsehen, dass seine Handlungen
falsch waren.
Deshalb preschte ich jetzt nach vorne und nagelte ihn an den Baum in seinen Rücken. Die Jahre des Trainings schienen sich endlich auszuzahlen. Ich war nicht mehr der langsame Junge, den er kannte; er hatte nicht einmal ansatzweise schnell genug reagieren können, um sich zu wehren.
Ich starrte ihn so böse an, wie ich nur konnte, damit er sah, dass ich es ernst
meinte. Obwohl er viel kräftiger als ich aussah, wagte er es nicht einmal, einen
Muskel zu rühren. Er hatte tatsächlich Angst, erkannte ich.
„Ich bin
lieber ein Weichei, anstatt so ein Scheusal wie du. Und ich warne dich nur noch
einmal: Lass Wanda in Ruhe oder ich zeige dir mal, wie gut ich inzwischen mit dem Bogen geworden bin!“
Ich ließ ihn wieder los, hielt den Blickkontakt aber
weiter aufrecht, bis er es war, der ihn schließlich abbrach. Er war blass geworden.
Ich hoffte nur, dass das bedeutete, dass er meine Warnung auch verstanden
hatte. Ich mochte nicht, dass ich das hatte tun müssen, aber es war nötig
gewesen.
„Du klopfst so große Sprüche, aber du bist selber nicht
besser“, fand Ren jedoch seinen Mut wieder, als ich nicht mal eine Handvoll
Schritte weit gekommen war. Die Abscheu, die in seinem Gesicht jetzt zutage
trat, war so tief, dass es mich ein bisschen erschreckte. „Um eine Wildfremde
kümmerst du dich, aber meine Schwester lässt du hängen, du Heuchler!“
„Was meinst du
damit?“
Er machte ein abfälliges Geräusch. „Natürlich weißt du
das nicht, weil sie dich nicht interessiert. Sie ist weggelaufen, weil Vater
ihr verboten hat, deine Gefährtin zu werden. Wir wissen nicht mal, wo sie ist.
Dachten, sie wär bei dir, aber… Wahrscheinlich ist sie tot. Von wilden Tieren
aufgefressen worden oder sowas.“
Ich war
schockiert. Wenn ich so darüber nachdachte, hatte ich Rin wirklich vor einem
Jahreszeitenwechsel das letzte Mal gesehen. Damals, als ich sie darum gebeten
hatte, meine Gefährtin zu werden, was ihr Vater verboten hatte. Ich hatte
danach nicht weiter darüber nachgedacht, weil ich sie nur gefragt hatte, um
Frieden zwischen unseren Stämmen zu erreichen, der letztendlich nie eingetreten
war. Ich hatte nicht darüber nachgedacht, nicht über sie oder darüber, warum
sie plötzlich nicht mehr bei mir aufgetaucht war, obwohl sie das früher
regelmäßig getan hatte. Weil es mir egal gewesen war. So beschämend das auch
war, es war die Wahrheit.
„Deshalb: Führ dich nicht so auf!“, brachte Rens wütende
Stimme mich aus meinem Schrecken zurück. „Für Rin hast du auch nichts getan.
Hast ihr nur Hoffnungen gemacht und sie dann hängen lassen.“
Und dann war
er es, der mich stehen ließ.
Obwohl ich hergekommen war, um Ren eine Lektion zu
erteilen, war ich es jetzt, der sich schuldig fühlte. Und das zu Recht. Ich
hatte mich selbstgefällig wie ein Held aufgeführt, obwohl ich selber nicht
besser als er war. Er hatte recht, ich war ein Heuchler.
„Du solltest
ihm nicht alles glauben“, fuhr eine Stimme in meine Gedanken.
Als ich nachsah, näherte sich Nama mir. Sie hatte schon
eine ganze Weile abseits des Geschehens gestanden, aber ich hatte sie nicht
gesehen.
„Er erzählt
Mist.“
„Rin ist also
nicht weggelaufen?“, fragte ich hoffnungsvoll.
„Doch.“ Sie
zuckte mit den Schultern. „Aber ich weiß, wo sie ist. Irgendwie. Jeder weiß
das.“
„Wo ist sie
denn?“ Hastig fragte ich: „Und geht es ihr gut?“
„Naja, wie gesagt weiß ich das nicht exakt. Sie ist mit
Reisenden mitgegangen. Aber sie war vor einer Weile mal da. Sah gut aus. Hat
jetzt einen Mann, mit dem sie ziemlich glücklich aussah. Und das ist dein
Verdienst.“
„Mein
Verdienst?“
„Ja.“ Ihr
Lächeln erstarb und ihr Gesicht wurde so ernst, wie ich es gar nicht von ihr
kannte. „Ist nicht gerade einfach, hier zu leben. Ur ist ziemlich strikt. Bin
selber am Überlegen, von hier wegzugehen. Rin war jedenfalls auch nicht
glücklich hier. Doch sie hat sich nicht getraut, zu gehen. Erst, als du
aufgetaucht bist. Du hast ihr geholfen, frei zu sein.“
Ich war so unendlich erleichtert, das zu hören, dass ich
gar nicht merkte, wie Nama plötzlich grinsend vor mir stand. „Weißt du, wenn du
mich mitnehmen würdest, würde ich den Stamm sofort verlassen.“
„Ähm, also… du
bist eine tolle Frau, aber ich bin mir noch nicht sicher, wen ich zur Gefährtin
nehmen will“, gab ich beschämt zurück.
Sie zog sich zurück und ihr Lächeln erstarb ein zweites
Mal. „Das sagst du immer. Weißt du, wenn du das immer sagst, dann kommt es
einem wirklich irgendwann so vor, als würdest du einen nur an der Nase herumführen.
Ich hätte lieber eine klare Ansage von dir. Also?“
Ich tat es ihr gleich und erwiderte ernst: „Ich möchte
dich nicht zur Gefährtin, Nama.“ Und kleinlaut fügte ich hinzu: „Entschuldige.
Es…“
Sie hob eine
Hand und unterbrach mich. „Du musst dich nicht entschuldigen und/oder erklären.
Bin froh, dass du’s mir endlich gesagt hast.“
Sie zwinkerte. „Jetzt kann ich mir endlich jemand anderen
suchen.“
Sie ging, ich
rief ihr noch ein „Danke“ hinterher, aber sie hob nur wieder die Hand. Sie
drehte sich nicht einmal mehr um. Nama war eigentlich in Ordnung, musste ich
feststellen. Ziemlich direkt, aber in Ordnung.
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