Der Mond war hinter Wolken verborgen, die im Dunkel der Nacht geradezu violett leuchteten. Nur ab und an lugte er zwischen zweien hervor, schaute durch die Löcher in den dicken Vorhängen, um den verstohlenen Weg zu erleuchten, den Nila heute zu gehen hatte. Er huschte hastig von einem Schatten zum nächsten, und bald schon hob sich das Ahn-Haus düster aus der kahlen Umgebung empor. Er hielt genau darauf zu.
Die Ahn-Leute verschlossen ihre Tür jede Nacht, seitdem Lann tot war, aber Nila hatte seine Mittel und Wege, trotzdem ins Haus zu kommen. Er hatte für genau solche Fälle vor Ewigkeiten mal ein dünnes Stück Blech von den Hells mitgehen lassen, das er jetzt geschickt zwischen zwei Bretter der Tür schob. Er musste ein bisschen probieren, aber schließlich gelang es ihm, den Riegel des Schlosses hochzudrücken. Die Tür schwang auf und gab das pechschwarze Innere des Hauses preis, das beinahe wie der Schlund einer Bestie aussah, und Nila zögerte schon deshalb eine ganze Weile, bevor er doch hineinschlüpfte.
Er war zum Glück umsichtig genug gewesen, bei jedem seiner bisherigen Besuche darauf zu achten, welche Stufen der Treppe beispielsweise Geräusche von sich gaben, wenn man darauf trat. Er hatte das getan, seitdem Reinard ihn zu seinem Handlanger gemacht hatte, um für alle Eventualitäten gerüstet zu sein, und jetzt machte sich seine Vorsicht bezahlt.
Unbemerkt gelangte er ins obere Geschoss, wo die Bewohner des Hauses bereits alle tief schlafend in den Betten lag. Er bekam es trotzdem jedes Mal mit der Angst zu tun, wenn sich auch nur jemand in seinem Bett drehte oder schnarchte.
Deshalb legte er ihr die Hand auf den Mund, drückte fest zu, dass sie merkte, dass jemand bei ihr war und sie wach wurde. Sie schlug die Augen auf und erstarrte sofort. Er wusste ja, dass sie das schmerzlich hatte lernen müssen, ruhig zu sein. Immer, wenn Lin des Nächtens zu ihr gekommen war.
Ihre Augen waren zuerst voller Angst, dass er sich noch schlechter fühlte als ohnehin schon, aber als sie erkannte, wen sie vor sich hatte, beruhigte sie sich endlich. Nila legte einen Finger an die Lippen, um ihr zu signalisieren, ruhig zu sein und nahm dann seine Hand von ihrem Mund, wartete, bis sie sich aus dem Bett geschält hatte, um ihr nach unten zu folgen. Sie ging so geschickt voraus, ohne auch nur einen Lärm zu veranstalten, dass sogar er dagegen alt aussah.
„Reinard sagte, dass du schwanger bist!“, begann er mit schwerlich verhohlenem Schrecken. „Stimmt das?“
Nara lächelte liebevoll, strich sich über den Bauch, dass es ihm schon alles sagte. Es war in diesem Moment, dass seine Welt vollkommen aus den Fugen geraten würde.
„Ja. Du hast endlich ein Kind in mein Bauch gemacht. Jetzt sind wir eine richtig echte Familie“, sagte sie fröhlich strahlend, und Nila wurde schlecht.
„Bist du… bist du dir sicher?“
„Ja. Tante Sharla hat das gesagt, weil ich lange nicht mehr da unten blute. Und mein Bauch auch ganz rund worden ist, wie wenn ich ganz doll zu viel gegessen hab.“
Er erwiderte nichts darauf, begann stattdessen, unruhig auf und ab zu gehen und nachzudenken. Als er ins Mondlicht trat, konnte man den Angstschweiß auf seiner Stirn glänzen sehen. Er hatte es ja befürchtet, dass es irgendwann passieren könnte, obwohl er versucht hatte, vorsichtig zu sein. Sie hatten alles Mögliche probiert, hatten Nara mit Milch und Honig unten eingeschmiert. Er hatte sogar Kräuter besorgt, von denen er gehört hatte, dass sie zur Verhütung geeignet waren. Aber es hatte alles nichts gebracht, wie sich nun herausstellte.
„Was los?“, hörte er sie besorgt fragen. „Nicht gut? Freust du dich nicht?“
„Natürlich nicht!“, ging er sie an. „Das ist eine Katastrophe!“
Sie gab augenblicklich dieses Geräusch von sich, von dem er sofort wusste, dass sie gleich in Tränen ausbrechen würde.
Ganz automatisch ging er da zu ihr, nahm ihre Hände in seine und sagte einfühlsamer: „Versteh doch, Naralein, wir können kein Kind miteinander bekommen. Schon allein, weil wir doch nicht wollen, dass es so wird wie du, oder? Du weißt doch, wie sie hier mit Leuten wie dir umgehen. Was du alles durchmachen musstest.“
Sie ließ den Kopf hängen, nickte.
„Außerdem wollen wir doch nicht riskieren, dass jemand das mit uns erfährt, oder? Wenn es auch nur irgendjemand erfährt, werden sie uns beiden verbieten, dass wir uns sehen dürfen.“
„Das will ich nicht!“, rief sie erschrocken, wie erhofft.
„Gut. Deswegen müssen wir dafür sorgen, dass das Kind verschwindet.“
Eine Falte bildete sich zwischen ihren Augenbrauen.
„Wie geht das?“, wollte sie wissen.
„Nila“, fing sie stattdessen an, nervös an ihren Fingern nestelnd, „können wir weggehen von hier? Wenn wir allein leben, kann niemand böse zu unserm Kind sein und wir können uns immer sehen, wann wir wollen.“
„Sei nicht dumm!“, rügte er sie. „Wo sollen wir denn hingehen? Unser Zuhause ist doch hier!“
„Ich find’s doof hier. Ich will mit dir woanders hingehen.“
Es war nicht das erste Mal, dass sie damit anfing, und es war nicht so, dass er nicht selber schon darüber nachgedacht hatte. Aber so schnell, wie der Gedanke ihm gekommen war, hatte er ihn auch jedes Mal wieder verworfen. Nara war schließlich keine Frau, die er heiraten und mit der er den Rest seines Lebens verbringen konnte. Und sie war vor allen Dingen keine Frau, die er als Mutter für seine Kinder wollte. Denn was sollte er denn mit Kindern anfangen, die genauso dumm waren wie die Mutter?
Zudem hatte er hier auch noch einiges vor. Immerhin wollte er noch immer seine Schwester stürzen und ihren Platz als Stammesführer einnehmen. Wenn er das erstmal geschafft hatte, würde er auch Nara nicht mehr brauchen. Dann würden sich die ordentlichen Frauen nämlich nur so um ihn reißen. Er würde Nara trotzdem als seine heimliche Affäre behalten, hatte er beschlossen, aber sie heiraten oder gar zu ihr stehen, würde er nie.
„Ich kann aber nicht von hier weg. Deswegen ist es unmöglich, dass wir „woanders hingehen“.“ Er präsentierte ihr den Becher mit Nachdruck. „Na los! Sei lieb und trink das für mich.“
Sie war noch immer unsicher, das konnte man ihr selbst in der Dunkelheit ansehen, aber schließlich – endlich – nahm sie den Becher doch. Wieder unsicheres Gucken, dass Nila schon ein bisschen arg die Geduld mit ihr verlor.
„Ich hab dich lieb, Nila“, sagte sie ihm plötzlich.
Und er zögerte nicht, ihr ins Gesicht zu lügen: „Ich hab dich auch lieb, Naralein.“
Dann endlich setzte sie den Becher an die Lippen. Trank. Nila sah ihr dabei zu und war so aufgeregt, dass er glaubte, sein Herz würde demnächst versagen. Er betete still zu allen Göttern, dass es wirken möge, obwohl er nie an irgendwelche Götter geglaubt hatte.
Als sie ausgetrunken hatte, verzog sie das Gesicht, sagte: „Bitter!“, und da ging er zu ihr und nahm sie erleichtert in den Arm. Strich ihr übers Haupt und wartete darauf, dass es losgehen würde. Er hatte davon gehört. Von der Geschichte, was seiner Mutter einst widerfahren war. Wie sie viele Male von ihrem eigenen Vater schwanger gewesen war und Gift genommen hatte, um abzutreiben, und wie sie beinahe daran gestorben war. Er hatte das Nara natürlich verheimlicht, aber er würde für sie da sein, wenn die Schmerzen losgingen. Das war er ihr wenigstens schuldig.
Und es dauerte nicht lange, bis es anfing. Nara krampfte sich in seinen Armen zusammen, krallte sich an ihn, fing zu jammern an.
„Ganz ruhig! Sch! Alles wird gut!“, sagte er ihr, und irgendwann sagte er es nur noch zu sich selber, um sich selber davon zu überzeugen, dass alles gut werden würde.
Im nächsten Moment war er auf den Beinen, Nara auf den Armen, und rannte durch die finstere Nacht. Obwohl es eiskalt war, war ihm so heiß, dass er erbärmlich schwitzte. Bald schon war es ihm, als würde er nur noch Feuer atmen, aber er ging trotzdem weiter. Er stolperte dreimal fast, rappelte sich wieder auf und lief weiter. Ohne Rücksicht auf Verluste. Selbst als er flach aufs Gesicht fiel, Nara verlor und die Nase zu bluten begann, ignorierte er das, sammelte sie auf und lief unbeirrt weiter. Er hielt erst an, als ein weiteres Haus vor ihm aufragte: Sein Zuhause.
Er legte Nara neben dem Stall ab, ging allein zum Haus hinüber. Er musste sich zwingen, leise einzutreten, zu schleichen, obwohl er hätte rennen müssen. In seiner Panik fand er das Bett zuerst nicht, war blind in der Dunkelheit und benebelt von der Angst. Dann stand er schließlich davor, rüttelte vorsichtig an ihr. Sie brauchte eine ganze Weile, um überhaupt zu verstehen, wer da vor ihr stand, aber als sein Hilfegesuch sie schließlich erreicht hatte, war sie sofort hellwach.
„Du hast was getan?“
„Bitte! Du musst ihr helfen! Sie stirbt!“ Er ging auf seine Schwester zu, griff nach ihrem Arm und zerrte daran. „Wir haben keine Zeit! Komm!“
Er hatte nicht daran gedacht, dass sie sterben könnte. Er hatte so eine Angst gehabt, nachdem Reinard ihm gedroht hatte, ans Licht zu bringen, dass er Nara geschwängert hatte, dass jegliches Denken bei ihm ausgesetzt hatte.
Malah setzte sich endlich in Bewegung, ließ sich von ihrem Bruder zum Stall hinüber bringen, neben dem Nara an der Wand saß, blass wie der Tod und stöhnte. Sofort war Malah bei ihr, versuchte zu helfen, aber das war natürlich vergebliche Liebesmüh. Sie war keine Heilerin. Sie brauchten…
„Großvater! Du musst Großvater holen!“, half Nila ihr freundlicherweise auf die Sprünge.
„Ich? Du solltest ihn holen gehen und erklären, wie es dazu kam, dass Nara Gift getrunken hat!“
„Bitte, Malah! Ich… ich kann nicht… ich… ich habe Angst… ich…“
Er schluckte und plötzlich sah sie, dass er weinte. Das erschütterte sie so sehr, dass jegliche Wut augenblicklich verrauchte. Sie hatte ihren Bruder noch nie weinen gesehen.
„Wenn sie stirbt“, wimmerte er. „Wenn sie stirbt…“ Tränennasse Augen trafen sie. „Bitte…“
Sie hatten keine Zeit. Nara hatte die nicht. Alles andere musste bis später warten. Also ging sie ins Haus zurück und weckte ihren Großvater.
„Und du hast sie gefunden?“, fragte Tann seine Enkelin, während er seine Arbeitsutensilien zusammenräumte und sich den Schweiß von der Stirn wischte. Er fühlte sich seit gestern selber ein bisschen krank.
Malah sah zu Nara hinüber, die in ihrem Bett lag und zwar immer noch blass im Gesicht war, aber glücklicherweise endlich friedlich schlief. Das hatte sie lange Zeit nicht getan. Lange Zeit hatte sie schmerzvoll gestöhnt, geschrien und Blut gespuckt, und es hatte nicht so ausgesehen, als ob sie es schaffen würde. Tann hatte alles Mögliche aus seinem Repertoire versucht, bis eine spezielle Kräutermischung, die Sharla ihm einst gezeigt hatte, geholfen hatte. Nara hatte sich danach langsam beruhigt und war schließlich erschöpft eingeschlafen, als der Morgen bereits zu grauen begonnen hatte.
„Es war jedenfalls gut, dass du sie gefunden hast. Lange hätte sie nicht mehr durchgehalten“, eröffnete Tann, und Malah sah in ihren Augenwinkeln, wie Nila zusammenzucke.
„Aber sie wird doch wieder, oder?“
„Das kann ich noch nicht sicher sagen, aber ich denke schon. Es wird wirklich immer gefährlicher in der Gegend. Erst Roah, dann Lann und jetzt ein armes, hilfloses Mädchen. Wir sollten besser jemanden zum Ahn-Stamm rüberschicken, um Bescheid zu geben, dass sie hier ist, damit sie sich keine Sorgen machen.“
Malah nickte, aber sie wusste, dass die Probleme damit gerade erst anfangen würden.
Sie begannen, als Reinard wiederkam. Er war am Morgen schon persönlich hergekommen, um seine Schwester abzuholen, die immer noch bewusstlos war und es auch blieb, als er sie mit sich nahm.
Die Zeit danach hatte Malah genutzt, um sich ihren Bruder vorzuknöpfen, aber Nila war noch so unter Schock gewesen, dass das keinen Sinn gehabt hatte.
Und gegen Mittag war Reinard schließlich zurückgekommen.
„Meine Schwester ist schwanger“, eröffnete er unverblümt.
Sie befanden sich glücklicherweise in kleiner Runde. Nur sie und er, und Malah war froh, dass sie sich dazu entschieden hatte, die Anderen wegzuschicken.
„Ich nehme mal nicht an, dass das geplant war.“
„Nein, natürlich nicht! Meine Schwester ist wie ein Kind! Sie versteht nicht einmal, was ihr angetan wurde oder was es bedeutet, dass sie schwanger ist. Irgendein Schweinehund hat sich an ihr vergangen und sie dann Gift trinken lassen, um es zu vertuschen.“
„Was ist mit dem Kind?“, wagte Malah, nachzufragen.
„Das wissen wir noch nicht. Es sieht aber eher danach als, dass sie es verloren hat, sagt Sharla. Als sie aufgewacht ist, hat sie nämlich wieder zu bluten begonnen. Diesmal nur… unten herum, du verstehst. Aber das spielt eigentlich auch keine Rolle. Wichtig ist nur, dass wir herausfinden, wer ihr das angetan hat.“
„Hat sie denn etwas gesagt? Wer es war?“, fragte sie– besorgt diesmal – weiter.
Reinard presste die Lippen zusammen. „Nein. Sie weigert sich, zu sprechen, wenn wir sie danach fragen.“
Malah fiel ein Stein vom Herzen, obwohl sie wusste, dass das falsch war. Sie sollte es eigentlich allen sagen, dass sie wusste, wer Nara das angetan hatte. Aber sie konnte es nicht. Nila war ihr Bruder, und sie konnte ihn nicht so einfach verraten. Nicht, nachdem er doch zu ihr gekommen war und um ihre Hilfe gebeten hatte. Die Hilfe, die sie ihm selbst einst angeboten hatte. Egal, was da auch kommen möge.
„Aber nachdem Roah verschwunden ist, kam euer Leif zu mir, um mir zu sagen, dass dein Bruder, Malah, nichts damit zu tun haben könnte, weil er ihn zur fraglichen Zeit mit Nara zusammen gesehen hätte“, erzählte Reinard plötzlich und brachte den Schrecken wieder zu Malah zurück. „Damals habe ich dem nicht viel Glauben geschenkt, aber nach dem, was meiner Schwester widerfahren ist, denke ich anders darüber.“
„Dein Bruder, er soll herkommen und für sich sprechen.“
„Ja, das hat Leif mir auch erzählt“, schwindelte Malah einfach weiter.
Sie musste verhindern, dass Nila jetzt schon mit in die Sache hineingezogen wurde. Jetzt, wo er noch so unter Schock stand, dass er sich sofort verraten würde.
„Aber mein Bruder hat das dementiert. Ich… muss ja leider zugeben, dass Nila sich nicht sehr gut mit Nara versteht. Er denkt, dass sie weniger wert sei, weil sie… nicht so intelligent ist wie die Anderen. Er sagte auch, dass…“ Sie machte eine dramatische Kunstpause. „Es „unter seiner Würde“ sei, sich mit mir einzulassen.“
Sie hasste sich selber dafür, diese Dinge widerzugeben und auch zuzugeben, dass ihr Bruder sie gesagt hatte. Aber es war nötig, Nilas hässlichste, verachtenswerteste Seite hervorzukehren, um den Verdacht von ihm abzulenken.
„Ich muss mich wirklich für seine Worte entschuldigen, Reinard, aber ich schwöre dir, dass er es nicht war. Ich kenne meinen Bruder. Er ist wirklich kein Unschuldslamm, aber so etwas geht selbst für ihn zu weit.“
„Und da bist du dir so sicher?“
„Ja, das bin ich“, log sie munter weiter. „Bitte, vertrau mir!“
Reinard sah sie forschend an, aber dann zuckte es um seinen Mundwinkel herum, als würde er ein Lächeln unterdrücken. Malah war das schon ein paarmal aufgefallen, und es hatte meistens nur Gutes für sie bedeutet. Eine weitere Hilfslieferung Schweinefleisch für ihren Stamm, obwohl er zuvor noch gesagt hatte, selber kaum noch Vorräte zu haben. Sie glaubte inzwischen, dass der andere Stammesführer, obwohl er gerne hart und unfreundlich tat, in Wahrheit gar nicht so schlimm war. Mit seiner Mutter hatte sie es jedenfalls wesentlich schwerer gehabt, als mit ihm.
„In Ordnung. Wenn du mir dein Wort gibst, werde ich darauf vertrauen.“
„Danke, Reinard. Ich werde meinem Bruder natürlich trotzdem noch einmal auf den Zahn fühlen und alles dafür tun, euch zu helfen, herauszufinden, wer es wirklich getan hat. Nara ist schließlich eine werte Freundin für mich.“
Er nickte, und kurz darauf verabschiedeten sie sich voneinander, und Malah fühlte sich einfach nur elend. Darüber, dass sie gelogen hatte. Dass sie einen anderen Stammesführer angelogen hatte. Und dass sie ihm ihr Wort als Stammesführerin gegeben hatte. Was war dieses Wort jetzt nämlich noch wert, nachdem sie das getan hatte?
Denn natürlich kam Tann sofort zu ihr, fragte: „Und? Was wollte Reinard?“
Malah erzählte es ihm, doch sie verschwieg, dass Nila mal wieder in Verdacht geraten war. Doch ihr Großvater schien ihr sowieso nicht zuzuhören.
„Was ist denn los?“
„Hm, mir ist nur gerade etwas eingefallen. Lass mich kurz etwas ausprobieren.“
Tann ging zur Herdstelle, und die nächste Zeit, in der Malah sich fragte, ob sie endlich gehen sollte, um nach Nila zu suchen, konnte sie dabei zusehen, wie er einen Kräutersud aufsetzte. Sie war so in Gedanken darüber, was sie jetzt wegen ihrem Bruder tun sollte, dass sie erst erkannte, dass es derselbe war, den er heute schon einmal für Nara gebraut hatte, als sich der Geruch schon überall im Haus verteilt hatte.
„Was hast du damit vor?“, fragte sie ihn.
„Als ich Akara vorhin untersucht habe, ist mir etwas aufgefallen. Nämlich, dass sie ähnliche Symptome wie Nara hat. Nur nicht so stark.“
„Glaubst du etwa, dass sie auch Gift getrunken hat?“
„Möglich. Ich weiß es nicht.“
Also bekam auch Akara den Sud verabreicht. Aber entgegen ihrer Hoffnung, brachte es keinerlei Besserung.
„Dabei hatte ich so gehofft, dass ihr das helfen würde“, sagte Tann nach einer Stunde des Wartens resigniert.
„Ich auch. Aber es war leider sehr unwahrscheinlich, dass auch sie vergiftet war.“
Malah hatte es kaum ausgesprochen, als plötzlich die Tür aufflog und Lulu hereingeplatzt kam.
„Tann! Tann!“, rief sie panisch in den Raum hinein, kam zu ihm und zog ihn am Arm. „Komm schnell! Alin ist umgefallen!“
Er war umgefallen und wies dieselben Symptome auf, die auch Akara hatte. Nur schlimmer.
„Was hat er denn?“.
Und er hasste es, schon wieder zugeben zu müssen: „Ich weiß es nicht, Lulu.“
„Du kannst ihm also nicht helfen?“, fragte sie bang.
„Leider nicht. Aber ich werde gleich mal zu Sharla hinübergehen und sehen, ob sie es vielleicht kann“, beeilte er sich, zu sagen, als seine Schwester ihn jetzt zu Tode erschrocken anstarrte.
Er ging also und wäre im Flur beinahe mit der jungen Fremden zusammengestoßen, die ihn von der Art her ein bisschen an Greta erinnerte. Die übrigens auch dabei war.
„Geht es Alin besser?“, fragte diese.
Er berichtete ihr, was er schon Lulu gesagt hatte, und da wandte sich Greta an ihre Begleiterin, sagte: „Du hast doch erzählt, dass dein Onkel sich mit Medizin auskennt.“
Die Jüngere zog ein Gesicht, brummte zustimmend.
„Ist das so? Das wäre natürlich überaus praktisch. Wo ist Isaac denn?“
Er hatte ihn seit ein paar Tagen schon nicht mehr gesehen, weil es seiner Patientin Akara immer schlechter gegangen war und er deshalb Zuhause in ihrer Nähe hatte bleiben müssen. Und das hatte ihn beinahe wahnsinnig vor Sorge gemacht, denn auch Isaac hatte nicht gesund ausgesehen, als er ihn das letzte Mal gesehen hatte.
Greta sah auffordernd zu Eris, musste sie jedoch erst anstupsen, dass sie genervt erzählte: „Ich nicht wissen. Ich seit Tagen nicht sehen.“
„Er ist seit ein paar Tagen schon nicht mehr hier gewesen“, pflichtete Lulu ihr bei. „Ich habe gehört, wie er sich mit Wulfgar gestritten hat und dann weggegangen ist. Unten am Strand. Seitdem habe ich ihn nicht mehr gesehen.“
Tann wurde ein bisschen kalt, als er das hörte. Isaac würde doch nicht einfach weggehen von hier, oder? Er hatte schon von Lu gehört, dass er sich heftig mit seiner Nichte und danach mit Wulfgar gestritten hatte, aber er würde doch nicht einfach ohne Erstere fortgehen, oder?
Doch er hatte jetzt nicht die Zeit dafür, um sich wegen Isaac Sorgen zu machen. Also ließ er es dabei bewenden und ging danach, um Sharla zu holen.
Doch wie er, war auch die alte Kräuterkundige ratlos, wie sie dem Kranken helfen sollte.
„Ich gebe dir recht“, sagte sie nach der Untersuchung zu ihm. „Das sieht tatsächlich dem sehr ähnlich, was ich bei der kleinen Nara gesehen habe.“ Sie schnüffelte an Alin. „Es riecht nur nicht.“
„Wieso riechen?“
„Manche Gifte riechen. Zyankali beispielsweise hinterlässt einen typischen Geruch nach Mandeln. Ich wünschte nur, ich hätte bei Lann darauf geachtet, bevor wir sie beerdigt haben.“
„Du kennst dich mit Giften aus?“
„Leider nur sehr begrenzt. Und das einzige Gegengift, das ich kenne, ist das, was ich dir gezeigt habe. Wir hatten wirklich sehr viel Glück, dass es bei Nara gewirkt hat, denn nicht jedes Gegengift hilft bei jedem Gift.“ Sie sah zu Alin hinüber. „Ich bin mir aber ziemlich sicher, dass wir es hier trotzdem mit einer Vergiftung zu tun haben. Es wird nur ein anderes Gift sein als das, was bei Nara verwendet wurde.“
„Und was machen wir jetzt deswegen?“
Sharla ließ den Kopf hängen, was Lulu dazu brachte, jetzt doch verzweifelt in Tränen auszubrechen.
„Mein Onkel auch gut Gifte kennen“, erklärte Eris in die aufkommende Stille hinein. „Auch Heilung für Gifte.“
Jetzt galt es nur noch, ihn zu finden.
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