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Mittwoch, 1. April 2020

Kapitel 111 - Seher



Das Meer war unruhig.


Ein eisiger Wind.
Grauer Himmel, kleine Wellen, die die beinahe gespenstisch ruhige Oberfläche in Unordnung brachten.


Er glitt übers Meer.
Länder flogen unter ihm hinweg, Berge, Täler, weite Wiesen und die Spitzen von Bäumen und Dächern.


Eine Küste.
Ein Schiff, in praller Sonne auf spiegelglattem Wasser, das anlegte.


Er sah Gesichter, die er glaubte, noch nie gesehen zu haben.
Zwei Männer, eine Frau.
Reden.
Er kann sie nicht verstehen.
Wer sind sie?


Schwarzes Haar, vertraute Augen.
Ist das… Elrik?
Er hatte ihn seit seiner Kindheit nicht mehr so klar und deutlich gesehen.
Worte, die seinen Mund verlassen.
Bekannte Namen.
Wo ist er?
Bedauern auf seinem Gesicht.


Dann flog er wieder übers Meer, und das Schiff kam mit ihm.


Zurück nach Hause.
Es hatte wieder zu regnen begonnen.


Als Luis die Augen aufschlug, zurück in die Dunkelheit kehrte, war ihm schwindelig. Es war anstrengend, wenn er sah, und er hatte sich noch immer nicht daran gewöhnt, bezweifelte, dass er es jemals tun würde. 
     Irgendetwas an seinem Ohr rauschte leise. Kleine, kalte und nasse Nadeln, die ihn sachte stachen. Er fühlte noch immer den Wind an der Haut, als er übers Meer geflogen war. Wie ein Vogel. Frei und unbeschwert. Doch das war er nicht länger. Das Gewicht seines Körpers fühlte sich mit einem Mal unerträglich schwer an.


Ein seichter Druck an seinem Arm riss ihn schließlich vollends in die Gegenwart zurück, sagte ihm, dass Jana bei ihm war.
     „Alles okay?“, hörte er sie unbeschwert fragen.
     Luis nickte. Er brauchte eine ganze Weile, um überhaupt sprechen zu können. Um sich aus dem Sog seiner Vision zu ziehen. Es war manchmal schwierig, überhaupt zu erkennen, wo sie aufhörte und wo die Realität anfing. Man sollte meinen, dass die Tatsache, dass er bei einem sah und beim anderen blind war, das ziemlich klar machte, aber das war leider nicht so.
     „Ein Schiff“, brachte er mühsam hervor, während er sich auf alle Viere quälte, „sag Bescheid, dass ein Schiff anlegt. Sie bringen Neuigkeiten über Elrik… und Anya, glaube ich. Ich habe sie gesehen.“
     Jana drückte seinen Arm, um ihm zu signalisieren, dass sie verstanden hatte. Sie fragte nicht, ob er Hilfe brauchte, und er war ihr dankbar dafür. Dabei wusste er ja, dass ihr Helferdrang noch größer war als der seines Vaters, und normalerweise machte sie auch vor ihm nicht halt. Doch sie wusste, was momentan wichtiger war, und ließ ihn allein, um Bescheid zu geben.


Er kam schwankend auf die Beine, tastete nach dem Schrein, und als er den rauen Stein unter seinen Fingern spürte, lehnte er sich dagegen, um auszuruhen. Sein Kopf schwirrte noch immer, aber dennoch konnte er nicht aufhören, sich immer wieder dieselbe Frage zu stellen: Wo nur war er? Sein Vater. Er hatte ihn nicht in der Vision gesehen und er hatte das beklemmende Gefühl, dass die Sorge in Elriks Gesicht ihm gegolten hatte.


So kam es, dass sich kurz darauf der gesamte Uruk-Stamm am Hafen versammelt hatte, bevor das Schiff auch nur am Horizont hatte erscheinen können. Doch statt der Uruk-Rückkehrer, kam nur Alin von Bord, und er brachte schlechte Neuigkeiten mit sich. Man hatte zwar Anya gefunden, aber Lu war dafür verschwunden.


„Wo ist Vater?“, fragte Luis ihn, der jetzt erst als Nachzügler mit Jana zusammen angekommen war. Er hatte bis gerade eben noch mit seiner Schwäche wegen der Vision zu kämpfen gehabt und hatte kaum einen Schritt gehen können.
     „Wir wissen leider nicht, wo dein Vater ist“, antwortete ihm Alin kopfschüttelnd. „Er ist wohl in die Sklaverei verkauft wurden. Die Anderen sind alle dort geblieben, um nach ihm zu suchen, und sie haben mich hergeschickt, um euch Bescheid zu geben. Ich werde auch gleich Marduk hinterherschicken. Ich glaube, dass er sich besser im Aufspüren von Personen eignet als ich.“
     Die Nachricht schlug natürlich unerwartet ein. Jana erschrak so heftig, dass sie beinahe hinfiel, als sie hörte, was ihrem Mentor passiert war. Auch Malah war schnell dabei, Suchtrupps schicken zu wollen, aber Alin riet ihr davon ab. Es würde wahrscheinlich nur dazu führen, dass noch mehr Leute aus dieser friedlichen Gegend in der rauen Außenwelt verschwinden würden.


Und Malah musste einsehen, dass er recht hatte. Sie legte Luis mitfühlend eine Hand auf den Arm, doch der Gehilfe der Schamanin lächelte beruhigend.
     „Sorgt euch nicht! Die Götter werden über meinen Vater wachen und ihn sicher wieder hierhin zurückführen.“


Sofort war Jana an seiner Seite, ergriff seinen Arm und schlug gefasst vor: „Wir sollten für sie opfern.“
     „Das sollten wir.“


Also brachten sie den Göttern, trotz der Nahrungsmittelknappheit, großzügige Opfer dar, um für die sichere Rückkehr des ehemaligen Schamanen zu bitten.


Währenddessen hatte Alin die anderen Uruk-Leute in den Handelsposten eingeladen, um ihnen zu erzählen, was Lu und seinen Reisegefährten so alles widerfahren war. Und als er schließlich dazu übergegangen war, andere Geschichten zum Besten zu geben, hatte Malah die doch wieder recht heiter gewordene Runde verlassen und war nach draußen gegangen, um nachzudenken. 
     Die Sonne war gerade dabei, im Meer zu versinken und tauchte die Umgebung in ein wunderschönes Abendlicht, dass man kaum glauben konnte, dass es vor kurzem noch heftig geregnet hatte. Doch Malah sah die Sonne nicht, die sich so lange hinter den Regenwolken versteckt gehalten hatte. Sie konnte nicht die Wärme auf ihrem Gesicht genießen. Sie war wie immer nur mit den Sorgen der Stammesführerin beschäftigt.


„Ich hab mich schon gefragt, wo du abgeblieben bist“, fuhr Aleks Stimme in ihre Gedanken und riss sie unsanft daraus hervor. Sie musste sich zusammenreißen, nicht laut zu fluchen, dass man sie gestört hatte. „Was ist denn los?“
     „Lu ist verschwunden und keiner weiß, wo er ist, falls du das nicht mitbekommen hast. Er und mein Großvater waren ja meine Mentoren. Sie haben mir alles darüber beigebracht, wie man einen Stamm anführt. Und die schwindenden Vorräte machen mir auch große Sorgen.“
     „He, es wird schon alles gut werden. Einer eurer Leute ist doch ein Seher, und er hat gesagt, dass der Verschwundene schon wiederkommen wird. Und wenn wir alle den Gürtel ein bisschen enger schnallen, wird das mit den Vorräten auch schon hinhauen. Bis jetzt ist ja noch keiner hier verhungert, obwohl wir schon schlechtere Ernten hatten.“


„Ich hoffe, du hast recht. Immerhin ist die Sommerdürre endlich vorbei. Vielleicht können wir ja doch noch ein bisschen was ernten.“ Sie seufzte sorgenschwer. „Nur dass Luis auch gesagt hat, dass es die nächste Zeit oft regnen wird. Ich hoffe, dass das nicht überhandnimmt und uns noch die letzten Ernte absäuft.“
     „Wird schon nicht! Sei ein bisschen zuversichtlicher! Na komm, lächel zur Abwechslung mal wieder!“, sagte er und machte es ihr gleich mal vor. „Ich erzähl dir auch eine lustige Geschichte, damit du mal ein bisschen abgelenkt bist, wenn du willst.“
     „Du hast ja recht. Ich sollte mich lieber zusammenreißen. Als Stammesführerin ist es schließlich meine Aufgabe, meinen Leuten Zuversicht zu geben, anstatt sie in Sorge zu versetzen. Danke, dass du mir zugehört hast, Alek. Seitdem ich den Stamm anführe, habe ich das Gefühl, dass ich ziemlich allein bin. Also… ich bin natürlich nie allein. Es kommt immer irgendwer und will was von mir, aber… naja, ich weiß nicht mal, was gerade im Leben meiner Kindheitsfreunde vor sich geht.“


„Dann frag sie doch einfach.“
     Sie schaute einen Moment überrascht, bevor sie lachen musste. „Ja, vielleicht ist es wirklich so einfach. Ich bin echt froh, dass du hier bist, weißt du das? Du bist ein guter Freund.“


Sie stockte, zog beschämt den Kopf ein. „Wir sind doch noch Freunde, oder? Ich meine, ähm… weil ich ja… du weißt schon…“
     Weil sie ihn abgewiesen hatte. Sie wollte gar nicht wissen, wie merkwürdig das Ganze für ihn  gerade sein musste. Doch er grinste nur.
     „Klar sind wir das! Mach dir nicht immer so viele Sorgen.“


Ja, vielleicht sollte sie wirklich damit aufhören, sich andauernd um alles Sorgen zu machen und stattdessen ein bisschen zuversichtlicher in die Zukunft blicken.


Nur dass es tags darauf nicht besser wurde. Es regnete wieder, und Alek wollte gerade aufbrechen, um zu versuchen, Nara in den Stamm zu holen, als Lärm vom Nachbargrundstück zu ihnen drang. Malah tauschte einen ernsten Blick mit Alek, und beide gingen zusammen zum Hell-Haus hinüber.
     Schon als sie näherkamen, sahen sie, dass Griswold und Jin gerade momentan waren, sich zu prügeln, während Dana und Greta danebenstanden und heftig miteinander stritten.

 
Es bedurfte erst Aleks Eingreifen, der gleich noch selber ein paar Schläge abbekam, um beide Männer auseinanderzubringen. Auch Dana und Greta waren nun endlich still, warfen sich aber weiterhin böse Blicke zu.
     „Was ist hier los?“, forderte Malah zu wissen
     „Ihr seid hier los!“, fauchte Greta in Danas Richtung. „Ich bin lange genug ruhig geblieben, aber jetzt reicht es mir endgültig mit euch!“
     „Was ist denn eigentlich passiert?“
     Jin spuckte auf den Boden. „Die glauben, unsere Jade beleidigen zu können!“
     „Es ist ja wohl ihre Entscheidung, wen sie wählen, und nicht eure!“, pflichtete Dana ihm bei.


„Es war alles geregelt, bis ihr euch eingemischt habt! Erst meint dieser Hurensohn von Elrik, mit meinen Schwestern zu spielen und sie in Gefahr zu bringen, dann entführt euer Krüppel unsere Tochter, und jetzt das! Ich will, dass ihr meine verbliebene Schwester wieder rausgebt! Sofort!“
     „Ruhig Blut!“, versuchte Malah zu beschwichtigen. „Es ist ja alles gutgegangen. Anya ist zwar nicht hier, aber sie ist in Sicherheit. Das haben wir gestern erst erfahren.“
     „Glaubt bloß nicht, dass du was zu sagen hast, du kleine Mistkröte!“, ging Griswold sie böse an. „Du und dein dreckiger Bruder sind eine Schande unserer Familie, die niemals hätten geboren werden sollen!“
     Jin, der schon bei der abfälligen Erwähnung seines Enkels Alistair mit den Fäusten gezuckt hatte, machte jetzt Anstalten, ihn wieder anzugreifen, aber Alek griff geistesgegenwärtig ein und hielt ihn davon ab. Er hatte dennoch ziemliche Probleme, den aufgebrachten Älteren zurückzuhalten.


Glücklicherweise tauchte da jemand weiteres auf. Es war Luis, der vorsichtig tastend ankam.
     „Es wäre besser, die Gemüter abkühlen zu lassen, bevor man etwas sagt, das man später bereut“, sagte er ruhig. „Wir sind Nachbarn, und keiner möchte das, was in der Vergangenheit liegt, wiederholen, nicht wahr?“
     „Ich glaube eher, dass ich in der Vergangenheit einen Fehler gemacht habe, nicht auf der anderen Seite gestanden zu haben!“, spie Griswold wütend.


„Bist du dir da so sicher?“
     Er drohte Griswold nicht, aber dennoch war allein Luis‘ Auftreten von einer derartigen Intensität, dass der Schmied verstummte. Da war etwas Unheimliches an dem Jungen. Etwas unwirkliches, seitdem er angefangen hatte zu sehen. Seitdem kam es nicht nur Malah so vor, als wäre eine göttliche Gestalt bei hm, die ihn immerzu begleitete. Vielleicht war das ja auch so.


„Lass uns reden, werter Nachbar“, fuhr er ruhig fort, bot ihm die ausgestreckte Hand an.
     Doch Griswold antwortete ihm nicht einmal. Er ließ sie einfach stehen, Greta folgte ihm, und sie knallten die Tür lautstark hinter sich zu, sodass selbst für den Blinden klar wurde, dass sie fort waren.


Nachdem sie weg waren, wandte sich Malah an den Seher und fragte ihn: „Hast du wieder etwas gesehen, Luis?“
     „Die Götter zeigten mir, wie Griswold mit Reinard redete und darüber wütete. Lenn war auch dabei, soweit ich das sehen konnte. Deswegen kam ich her, als ich den Lärm hörte.“
     „Reinard und Lenn? Was hat das zu bedeuten?“
     Sie sah Alek an, der blass geworden war.


„Ich glaube, daran bin ich schuld“, gab er kleinlaut zu. „Nachdem klar war, dass Lin Giselinde nicht heiraten würde, kam Reinard zu mir, noch bevor ich weg bin, um mich darum zu bitten, sie an Lins Stelle zu heiraten. Er meinte, ich bin ja trotzdem ein Teil des Stammes und deswegen würde das schon gehen. Aber ich hab ihm gesagt, dass er sie halt heiraten soll und Nefera dazu, und bin abgehauen. Ich hätte ja nie gedacht, dass der Hell mich überhaupt akzeptieren würde. Weil ich ja keine Sohn von Lann bin.“ Er schnitt eine unwillige Grimasse. „Und ich hab auch echt keine Lust, in dieser schrecklichen Familie zu leben.“
     Malah sagte nichts dazu. Ihr Mund war vor lauter Sorge nur noch ein schmaler Strich.


„Wir sollten auf jeden Fall etwas deswegen tun. Das wird sonst nicht gut ausgehen“, fügte Luis hinzu.
     „Was meinst du damit?“
     „Ich sah Feuer und Blut, Malah. Einen Krieg. Du weißt sicherlich selber, wie angespannt die Lage mit unseren Nachbarn schon immer war. Und wenn jetzt nicht einmal mehr Greta vermitteln will…“
     Sie hatte auch kein Interesse daran, wenn ihr Bruder Wulfgar sie nicht darum bat, das wussten sie alle.


Malah war erschrocken, und nicht nur sie. Einen Moment lang sagte niemand von ihnen ein Wort, dann fragte Alek den Seher zögerlich: „Deine Visionen… treten sie eigentlich immer ein? Kann man sie überhaupt verhindern?“
     „Sie treten immer ein, wenn man sie nicht verhindert. Und manche von ihnen kann man auch gar nicht verhindern“, setzte er düster hinzu. „Außer den Göttern kann beispielsweise niemand das Wetter beeinflussen.“
     „Gut. Dann werde ich etwas dagegen unternehmen“, verkündete Alek ernst.
     „Was hast du vor?“
     „Zurück zum Ahn-Stamm gehen und tun, worum Reinard mich gebeten hat. Ich wäre echt gerne hier geblieben, aber es geht nicht anders.“


Und damit war er verschwunden. Malah hatte ihren Freund nicht darum bitten wollen, und sie war wirklich froh, dass er es von sich aus anbot, aber sie fühlte sich dennoch schlecht deswegen. Es war schließlich nicht das, was Alek gewollt hatte.


Derweil regnete es weiter, und der Regen ließ das Wasser immer höher steigen, sodass Marduk nicht hatte ablegen können und Lulu zunehmend besorgt zum Meer hinabsah.
     „Wenn das so weitergeht, werde ich die nächste Zeit überhaupt nicht mehr rausfahren können“, beklagte sich Marduk gerade gelangweilt. „Erst der Sturm, dann die Sommerdürre, jetzt Dauerregen. Diese Gegend ist wirklich gottverlassen.“
     „Tja, wenn die Ernten ausbleiben, heißt das mehr Umsatz für mich“, entgegnete Alin grinsend.


Worauf er einen erschrockenen und vorwurfsvollen Blick von Lulu erntete.
     Alin lachte, als er das sah. „Schau doch nicht so erschrocken! Das war doch bloß ein Scherz!“
     „Hoffen wir einfach mal, dass es bald aufhört“, sagte Marduk und streckte sich, dass die müden Knochen knackten. „Ich hau mich eine Weile aufs Ohr.“


Alin nickte ihm zu, und nachdem der Andere den Raum verlassen hatte, gesellte er sich zu Lulu ans Fenster. Einen Moment betrachtete auch er das graue Rechteck mit Sorge, dann wandte er sich seiner neuen Angestellten zu.
     „Machst du dir immer noch Sorgen?“ Als sie nur mit bedrücktem Schweigen antwortete, fügte er hinzu: „Hey, deinen Männern wird schon nichts passieren. Einer ist immerhin frei und der Andere… Nun, sofern er nicht in die Minen oder die Arena geschickt wird, kann man es als Sklave ganz gut dort haben.“
     Sie schaute ihn böse an, sodass er sich wie ein kleiner Junge vorkam, der etwas ausgefressen hatte. „Sie sind nicht meine Männer“, murmelte sie leise.
     „Schon, aber du machst dir trotzdem Sorgen um sie. Sie sind ja auch die Väter deiner Söhne. Das ist nur normal.“
     Sie konnte aber nicht verhindern, dass sie sich ein bisschen wünschte, dass Lu einfach wegbleiben würde. Und sie fühlte sich so schuldig deswegen. Sie wusste ja, dass es trotzdem nichts ändern würde. Aber Wulfgar fehlte ihr so. Seitdem er weg war. Seitdem er wusste, was sie für ihn empfand. Seitdem hatten sie so gut wie nicht mehr miteinander geredet, und das war ihre eigene Schuld.


„Na komm!“, sagte Alin, als sie wieder nur schwieg. „Warum gehst du nicht nach Hause? So gern ich dich auch um mich habe, musst du nicht andauernd zugegen sein, wenn der Laden zu ist.“
     „Ich wollte nur warten, bis du wieder da bist.“
     „Das klingt ja fast so, als wärst du die ganze Zeit über hier gewesen, während ich fort war“, erwiderte er amüsiert.
     „Das ist doch meine Aufgabe, während du nicht da bist.“
     Er musste wieder lachen. „Dafür habe ich Marduk herkommen lassen. Du musst nicht immer auf mich warten. Also wirklich, ich habe in so ziemlich jedem Hafen ein Mädchen, aber ich wurde noch nie von einem von ihnen mit Essen erwartet.“
     Das hatte Lulu tatsächlich getan. Als er angekommen war, hatte sie sich in die Küche gestellt und ihr gewöhnungsbedürftiges Essen für ihn gekocht.


„Hast du keine Familie?“, fragte sie ihn überrascht.
     „Nein. Meine Eltern sind schon lange tot, und Geschwister habe ich auch keine.“
     „Ich dachte, du hättest irgendwo Frau und Kinder.“
     „Wenn ich sowas hätte, würde ich sie sicher nicht zurücklassen“, meinte er lachend. „Du solltest froh sein, dass du eine hast. Familie ist das Wichtigste.“
     „Warum hast du dann keine?“
     „Oh, das ist ganz einfach. Ich kann keine Kinder machen, und deshalb ist meine erste Frau mit jemand anderem durchgebrannt. Die Zweite ist auch auf und davon. Danach habe ich mich dazu entschlossen, nie mehr zu heiraten und Händler zu werden.“
     „Das... tut mir leid für dich“, sagte sie und machte ein betroffenes Gesicht.
     „Muss es nicht! Manche können nicht sehen, andere nicht laufen, ich kann keine Kinder zeugen. Immerhin geht es mir ansonsten gut. Ich habe also noch ein ziemlich gutes Los im Gegensatz zu anderen.“


Lulu war einen Moment lang abwesend, dann rutschte ihr heraus: „Und ich war mein ganzes Leben lang nur Mutter…“
     „Daran ist nichts verkehrt.“
     „Ja, vielleicht…“
     Aber inzwischen wurde sie als Mutter nicht mehr gebraucht, und seitdem sie etwas anderes tat, als nur Mutter zu sein, fragte sie sich immer mehr, ob sie nicht all die Jahre etwas verpasst hatte. Denn die Arbeit im Laden war unerwartet erfüllend. Anstrengend und oftmals beängstigend, aber am Ende des Tages hatte man ein unheimlich befriedigendes Gefühl. Manchmal hatte sie sich sogar zu fragen begonnen, wie es wohl dort war, wohin Alin immer wieder segelte. Wie es jenseits des Meeres wohl war.
     „Wie ist es eigentlich so da draußen in der Welt?“, hörte sie sich ihre Gedanken aussprechen, bevor sie es verhindern konnte.


Alin wies auf den Tisch, der ihnen am nächsten war, und Lulu folgte ihm und ließ sich neben ihm nieder. Sie hatte einen Moment damit geliebäugelt, sich auf den Stuhl zu setzen, der am weitesten von ihm entfernt war, sich aber schließlich dazu überwunden, sich neben ihn zu setzen. Sie wollte ja nicht unhöflich sein.
     Und dann begann der Händler zu erzählen.


Nur dass er nicht sehr weit kam, da keine Minute später das laute Poltern einer umgestürzten Feuerschale sie darauf aufmerksam machte, dass sie Gäste bekommen hatten.
     „Ach, Mist! Nicht immer noch!“, fluchte eine bekannte Frauenstimme.


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 Hier weiterlesen -> Kapitel 112

Wer da wohl angekommen ist?

Reinard hat scheinbar weniger Probleme damit, die Söhne anderer zu verheiraten, um Verbindungen zu knüpfen, als seine Mutter, die ja noch kategorisch abgelehnt hatte, Alek als Bräutigam für Giselinde anzubieten, da er ja nicht ihr Sohn ist. Spricht schon ziemlich dafür, was Reinard wohl für einer ist. Vielleicht hatte Alek mit seiner Befürchtung, dass er eine Gefahr für den Uruk-Stamm darstellen könnte, ja doch recht...

Lu ist letztendlich also tatsächlich in die Sklaverei geraten, wie es aussieht. Wulfgar und die Anderen scheinen ihn wohl nicht gefunden zu haben. Nächstes Mal dann gibt es erneut einen Szenenwechsel und wir erfahren, wie es in der Außenwelt weitergeht. Werden sie Lu endlich finden, und was ist eigentlich mit dem jüngeren Wulf, der ja ebenfalls verschwunden war?

Bis dahin, danke euch fürs Lesen, passt auf euch auf, und ich verabschiede mich!

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