Während die Flüchtigen am nächsten Morgen gleich nach dem
Frühstück aufgebrochen waren, waren die beiden Wulfgars noch länger geblieben, um sich von Luna (und den anderen beiden Hausbewohnern)
zu verabschieden. Obwohl es ihr nicht gefiel, hatte Luna sich schließlich dazu
bereit erklärt, zu bleiben, bis Lu aus Rom zurückgekommen war, um dann mit ihm
zusammen zu den Anderen zu stoßen.
Wulfgar nahm
seine Tochter gerade in den Arm, sagte ihr: „Pass bitte auf dich auf, ja? Und
komm gleich nach, wenn Lu da ist. Aber geh nicht allein raus, in Ordnung?“
„Vater, ich bin
nicht das erste Mal alleine.“
Wulfgar wusste
das. Er wusste, dass Luna allein auskam, dass sie bislang auch ohne ihn
zurechtgekommen war, aber er konnte einfach nicht anders. Sie war seine
Tochter, und er hatte feststellen müssen, dass er als Vater um seine Tochter
besonders besorgt war. Er hatte es bislang für einen Mythos gehalten, wusste es
nun jedoch besser.
„Pass trotzdem auf dich auf!“, fügte er stattdessen hinzu.
Luna verdrehte die Augen, nickte und winkte ihnen zum Abschied, sah ihnen nach, während sie zusammen davongingen.
Woraufhin der Jüngere an Ort und Stelle festfror und überfordert: „Ähhh…“, machte.
„Darüber
müssen wir aber noch ein ernstes Wörtchen reden, Junge“, spielte er den Bösen
und konnte sich ein Lachen beim überforderten Anblick des Anderen dabei fast nicht verkneifen.
„Lu…“
„Lu!“
Endlich hatte er ihn erreicht und konnte ihm ins Gesicht sehen. Dasselbe Gesicht, kaum
verändert, vielleicht ein bisschen dünner und kantiger, aber immer noch
dasselbe Gesicht, das er vor viel zu langer Zeit aus den Augen verloren hatte.
Sein Haar war inzwischen von erschreckend vielen grauen Strähnen durchzogen,
aber es war Lu, der da vor ihm stand und der ihn nun mit großen Augen ansah.
Mit einem
Schritt war Wulfgar bei ihm und hatte ihn in die Arme geschlossen. Der ganz
typische Geruch, der seinen Liebsten immer schon ausgemacht hatte – eine Mischung aus Erde
und Kräutern – erfüllte ihn sofort, und das war der Moment, in dem er endlich
loslassen konnte. All die Sorgen, all die Ängste der letzten Zeit, fielen mit
einem Mal von ihm ab, und er wusste, dass er endlich wieder Zuhause war. Er
konnte nicht verhindern, dass sich seine Augen mit Tränen füllten und sie
ungeniert über seine Wangen liefen.
„Du bist es
wirklich!“, flüsterte er heiser. „Ich habe mir solche Sorgen um dich gemacht!
Ich habe dich so schrecklich vermisst!“
Er wollte seinen Gefährten nie wieder loslassen, auch
wenn dieser keine Anstalten machte, seine Umarmung zu erwidern. Stattdessen sah
er wirklich erschrocken aus, als Wulfgar ihn nun doch wieder gehen ließ.
Erstarrt und erschrocken. Warum nur sah Lu so erschrocken aus?
Aber er hatte
gar keine Chance, weiter darüber nachzudenken, da Lu im nächsten Augenblick auf jemand anderen aufmerksam
wurde. Und bei dessen Anblick stahl sich sofort Überraschung und Freude auf sein Gesicht.
„Wulfgar!“
Doch es war nicht er, der gemeint war. Lu schob ihn zur
Seite, und es war Wulfgar, als ob er ihn von sich gestoßen hätte. Für einen
Moment blieb ihm tatsächlich die Luft weg und er glaubte, zu Boden zu gehen.
Lu
ließ ihn einfach stehen, als wäre er gar nicht da und ging zu dem jüngeren
Wulf hinüber, legte ihm die Arme auf die Schultern, und sein Gesicht war so
erleichtert, wie Wulfgar sich wünschte, er ihn angesehen hätte. Aber es galt nicht
ihm.
„Du bist ja frei! Wir haben gehört, dass es einen
Sklavenaufstand in dem Ort gab, in dem du gelebt haben sollst.“
Wulf lächelte
schief. „Ja, für den bin ich irgendwie verantwortlich.“
„Was?“,
mischte sich erschrocken der andere Mann ein, der mit Lu zusammen angekommen
war. Vermutlich handelte es sich hierbei um Tiberius Scipio Lucanus, den
Hausherrn. Er sah sich gehetzt um, winkte sie dann zu sich. „Los, rein mit
euch! Ich kann mir nicht leisten, dass hier Gerüchte aufkommen. Ihr könnt
drinnen reden.“
Es ging also nach drinnen, Syrus wurde
losgeschickt, um Bescheid zu geben, dass die beiden Wulfgars noch nicht
nachkommen würden, und der ältere der beiden bekam keine Chance mehr, mit seinem
Gefährten zu reden. Nicht vor dem Essen, das bald darauf stattfand und auch
danach nicht.
Stattdessen stellte
sich der jüngere Wulf sofort zu Lu, um mit ihm zu reden, und sein Schützling Syrus, der ihn
scheinbar innig bewunderte und der inzwischen zurückgekehrt war, stand auf der
anderen Seite. Artemisia, der wortkarge Scipio und Luna vor ihm, und sie alle
lauschten in diesem Moment gespannt seinem Bericht von seiner Reise nach Rom,
der damit endete, dass er jetzt sogar einen neuen Namen hatte: Tiberius Scipio
Lupinus.
„Ich weiß, dass ich dir gegenüber als Freigelassener eigentlich
immer noch verpflichtet bin“, schloss Lu gerade in Scipios Richtung, „aber ich
bitte trotzdem um deine Erlaubnis, dass ich nach Hause gehen darf. Ich kann
nicht hierbleiben, wenn meine Familie woanders ist.“
„Als ich dir
sagte, dass du nach deiner Freilassung hingehen darfst, wohin du willst, meinte
ich das auch so.“
„Ich danke
dir, Lucanus!“, benutzte Lu Scipios Namen, der Freunden vorbehalten war.
„Wir sind es,
die dir zu Dank verpflichtet sind, Lupinus.“
Wulfgar sah diese ganze Szene, aber er nahm sie nicht
wirklich wahr. Nachdem er vorher noch geglaubt hatte, alle seine Sorgen
losgeworden zu sein, war er jetzt wieder voll davon. Er konnte nicht aufhören,
sich zu fragen, warum Lu ihn wie Luft behandelte. Er hatte sich so darauf gefreut,
hatte es gar nicht mehr abwarten können, seinen Liebsten wiederzusehen, aber Lu
hatte nur erschrocken ausgesehen. Und jetzt tat er so, als wäre er gar nicht
da. Er hatte nicht ein einziges Mal in seine Richtung gesehen. Das tat ihm
ziemlich weh und machte ihm Angst, dass etwas nicht stimmte.
Doch er
versuchte, seine Angst beiseite zu schieben und sich nichts anmerken zu lassen.
Immerhin waren sie in der Öffentlichkeit, und er hatte mit Lu ja ausgemacht,
dass sie außerhalb ihres Zuhauses nur als Freunde auftraten, wenn sie nicht
allein waren. Wahrscheinlich benahm sich Lu nur deshalb merkwürdig, und er
würde sich wieder normal benehmen, wenn sie dann endlich allein waren. Ja, so
war es bestimmt.
Es war
trotzdem schwer. Einfach nur abseits zu stehen und nicht zu demjenigen gehen zu
können, den er liebte und den er all die Zeit so schmerzlich herbeigesehnt und
vermisst hatte. Es war schwer, ignoriert zu werden.
„Alles in Ordnung, Vater?“, tauchte Lunas besorgtes
Gesicht plötzlich vor ihm auf. „Du siehst nicht gut aus.“
Wulfgar zwang
sich, für sie zu lächeln. „Es ist alles gut. Jetzt ist Lu ja wieder da…“
Er konnte
trotzdem nicht verhindern, dass sich die Sorge auch im Folgenden immer wieder
auf sein Gesicht stahl und Luna das bemerkte.
Als sich die Traube um Lu schließlich gelichtet
hatte, wagte Wulfgar es dann endlich, zu seinem Gefährten zu gehen. Inzwischen
war Alaric ebenfalls wiedergekommen, um Wulf abzulenken, und praktischerweise
lenkte er auch Syrus gleich mit ab, und das war für ihn die Chance, zu Lu
zu gehen, der sich gerade erhoben hatte, um zu Artemisia und Scipio zu
hinüberzugehen. Nicht zu ihm, den er so lange nicht mehr gesehen hatte.
Er stellte sich Lu in den Weg, nahm ihm jede
Möglichkeit zur Flucht, und erneut wirkte dieser wie ein verschrecktes Reh bei seinem Anblick.
„Könnte ich
dich vielleicht mal unter vier Augen sprechen?“
Lu sah so aus,
als ob er das überhaupt nicht wollte. Er warf Blicke hin und her, als suche er
nach Hilfe und knetete dabei nervös seine Hände. Dann aber gab er schließlich
auf und sah ihn an. Es war das erste Mal, dass er ihn richtig ansah. Dass er
überhaupt zu ihm sprach.
„Ja,
natürlich.“
Aber er konnte sich nicht dazu bringen, sich umzudrehen und Wulfgar in die Augen zu sehen. Diese Augen, die so kalt gewesen waren, als er getötet hatte, und die vorher so getroffen und traurig ausgesehen hatten. Die immer warm und voller Liebe waren, wenn er ihn ansah.
Lu wusste ja, dass Wulfgar ihm wahrscheinlich nie etwas tun würde – und er hatte in der letzten Zeit einiges durchgemacht, das ihn mehr hätte ängstigen sollen – aber er konnte diese Angst in sich einfach nicht loswerden.
„Ich hab dich so schrecklich vermisst“, hörte er Wulfgar flüstern.
Die Arme drückten noch fester zu.
„Ich hatte solche Angst, dass dir etwas passiert ist.“
Er spürte Wulfgars Atem an seinem Nacken und es bereitete ihm eine Gänsehaut. Er fühlte sich so elend. Er wollte sich einfach nur befreien und Wulfgar ins Gesicht sagen, dass er ihn in Ruhe lassen sollte, aber er hatte zu große Angst davor.
Doch als er merkte, wie Wulfgar das Gesicht in seinem
Haar vergrub und mit tränenerstickter Stimme sagte: „Sag doch endlich was!“,
machte das etwas mit ihm. Plötzlich fühlte er sich so schlecht, dass er Wulfgar
tatsächlich zum Weinen gebracht hatte. Er hatte den Anderen bislang nur einmal
weinen sehen. Damals, als sein Sohn gestorben war.
„Bitte, Lu!
Sag doch was! Sag mir, dass alles in Ordnung ist!“
Mit einem Mal war da nur noch Mitleid in ihm.
Also drehte er sich um und legte die Arme um ihn. Er sah
ihn nicht an, sagte nichts zu ihm – das konnte er noch nicht – aber er drückte
ihn an sich, und Wulfgar erwiderte das innig. Er küsste ihn auf den Scheitel,
auf die Wange, und da hob Lu den Kopf, dass er ihn auf die Lippen küssen
konnte. Wulfgar küsste ihn erst sachte, vorsichtig, dann wurde sein Kuss bald
schneller und fester.
Und das war es auch, was ihn jetzt glücklicherweise zu erfüllen begann, und da konnte er sich endlich fallen lassen.
Kurz darauf schon war er in Wulfgars Armen eingeschlafen.
Lu rannte durch den Schnee, wie er es schon einmal vor
langer Zeit getan hatte. Diesmal war kein Hund bei ihm, aber das war auch nicht
nötig. Er wusste ja, wohin er gehen musste. Er war diesen Weg die letzte Zeit schon so
oft gegangen, dass er ihn auswendig konnte. Nur dass er bislang niemals schnell genug
gewesen war.
Auch diesmal kam
er nicht rechtzeitig.
Wulfgar kniete bereits im Schnee, eine Hand auf der
Wunde, die kein Blut verlor. Das tat sie nie.
Lu kam schlitternd
vor ihm zum Stehen, wie so viele Male zuvor schon, ließ sich vor ihm auf die
Knie fallen. Er hob unschlüssig seine Hände, aber wie immer wusste er nicht,
was er tun sollte. Die Angst hatte seinen Hals mit einem dicken Kloß
verschlossen und es fiel ihm schwer, überhaupt zu atmen.
„Was machst du
denn hier?“, presste Wulfgar unter Schmerzen hervor. „Ich dachte, du willst mit
mir und meinen hinterwäldlerischen Ansichten nichts zu tun haben.“
Er schaffte es tatsächlich, zu grinsen, und Lu musste
sich zusammenreißen, ihn nicht anzugehen. Er war so wütend. Wie damals, als er
ihm das an den Kopf geworfen hatte, was Wulfgar gerade eben gesagt hatte.
Stattdessen beruhigte
er sich, strich dem Verletzten über den Kopf und kam sich dämlich dabei vor. Er
wusste immer noch nicht, was er tun sollte, doch er wusste, dass er Wulfgar nicht
verlieren wollte.
„Bitte geh
nicht weg!“, bat er hilflos.
„Du hast doch gesagt, dass ich weggehen soll“, lachte Wulfgar tatsächlich. „Du hast gesagt, ich nerve dich. Deswegen hab ich doch auch das Boot gebaut und werde weggehen.“
„Nein, bitte
mach das nicht! Ich will nicht, dass du wegfährst! Wenn du es tust…“
Er konnte es nicht aussprechen. Aber es war auch nicht
nötig. Wulfgar verdrehte plötzlich die Augen nach oben und fiel mit dem Gesicht voraus
in den Schnee.
Lu erschrak bis ins Mark. Es war schon so oft passiert, doch er
konnte es nicht akzeptieren. Er wollte zu ihm, wollte ihn wieder aufrichten,
aber man ließ ihn nicht.
Er wurde harsch auf die Beine gezogen und sah sich
plötzlich einem älteren Wulfgar gegenüber. Sein Blick so eiskalt, dass es ihm
das Blut in den Adern gefrieren ließ.
„Es ist zu
spät“, hauchte er gnadenlos.
Er schleuderte ihn von sich, dass Lu böse zu Boden ging.
Im nächsten Moment erschien Wulfgar wie ein Schatten über ihm, ein Messer in
seiner Hand.
„Gib es auf.
Er kommt nicht zurück. Ich habe ihn endlich umgebracht. Es wird Zeit, dass wir
ihn unter die Erde bringen.“
Lu schüttelte
den Kopf. Er wollte das nicht. Er wollte das nicht mehr sehen; er wollte nicht
einsehen, dass Wulfgar, der wütende und nervige, aber friedliche Kerl, der
niemals jemanden getötet hatte, tot war. Getötet von dem Unmenschen, der nun
über ihm stand und ihn bedrohte.
„Na los, sieh
zu, dass du die Totenfeier abhältst, Schamane, sonst werde ich dich auch
umbringen.“
Die Tränen ließen sein Gesicht eiskalt und taub werden,
als er den Kopf drehte und zu dem Jungen sah, der tot im Schnee lag und den er
verloren hatte. Er würde nie mehr zu ihm zurückkommen.
Hilflos streckte er eine
Hand aus, die den Anderen nicht erreichen würde, während sich der Schnee
unter dem Toten blutrot färbte.
Im nächsten Moment war er Aug in Aug mit dem Monster über
sich und die Klinge des Messers raste auf ihn zu.
Lu hatte lange nicht mehr unter freiem Himmel geschlafen.
Damals, nachdem Wulfgar frisch von seiner Reise zurückgekehrt war, hatten sie
sich abends oft gemeinsam davongestohlen, waren zu den Klippen gegangen und hatten die
ganze Nacht dort verbracht. Er war meist spät eingeschlafen, in den Armen des
Menschen, den er liebte, eingehüllt von seiner Wärme und seinem Geruch.
Auch diesmal
hatte er das getan. Aber als er an diesem Tag erwachte, war das kein schönes
Erwachen für ihn. Wulfgars Arme lagen wie Fesseln auf ihm, und Lu musste sie erst zur Seite schieben, um von ihm loszukommen.
Seinen Albtraum jetzt plötzlich vor sich zu sehen, war
hart. Er hatte diese Träume öfter, seitdem er Wulfgar hatte töten sehen.
Manchmal war Wulfgar in ihnen das Monster, das sein früheres Ich getötet hatte
und dasselbe mit ihm vorhatte. Manchmal musste er eine Totenfeier abhalten und
Wulfgar war der Tote. Es waren nie gute Träume, und er hasste sie. Doch bislang
hatte er sich dem echten Wulfgar danach nie stellen müssen.
Jetzt aber war das anders. Wulfgar erwachte,
rieb sich den Schlaf aus den Augen, und für einen Moment durchfuhr Lu die
Angst, dass sein Blick so kalt und gnadenlos werden würden wie zu dem
Augenblick, als er getötet hatte.
Doch als er ihn erblickte, wurde sein Gesicht
glücklicherweise von einem Lächeln zerfurcht. Seine Augen leuchteten liebevoll.
Ja, das war
Wulfgar, wie er ihn kannte. Sein Gefährte. Er musste keine Angst vor ihm haben.
Das versuchte er sich zumindest einzureden.
„Morgen, Lu,
mein Herz!“
Lu zwang sich zu einem Lächeln, und da kam Wulfgar an und zog ihn an sich. Er gab ihm einen Kuss auf die Wange, ließ ihn danach aber glücklicherweise wieder gehen, was Lu gleich mal nutzte, um aufzustehen und Abstand zu gewinnen. Dummerweise tat Wulfgar es ihm sofort gleich.
„Ich hab’s so vermisst, neben dir aufzuwachen.“
Lu wollte „ich
auch“ sagen, aber er konnte es nicht. Es wäre gelogen gewesen. Die Tage, an
denen er Wulfgar wirklich vermisst hatte, waren rar gewesen.
Als es still zwischen
ihnen blieb, versuchte Lu krampfhaft, ein Gesprächsthema zu finden, während
Wulfgar einfach nur strahlte.
„Ähm… also bevor wir nach Hause gehen, würde ich gerne
noch einen kleinen Umweg machen, um mit Julius zu sprechen“, sagte er
schließlich, nur um irgendetwas zu sagen. Er sah nicht, wie Wulfgar jetzt erstarrte. „Ich weiß ja, dass du dich nicht so gut mit ihm verstehst, deshalb…“
„Ach, was
willst du denn da noch?“, tat Wulfgar ab und lächelte gestellt.
„Ich habe, ehrlich gesagt, die Vermutung,
dass seine Schwester uns hat entführen lassen. Die Sklavenhändler haben davon
gesprochen, dass sie beauftragt wurden, mich zu entführen. Julius hat mich auch
schon vor ihr gewarnt. Er sagte, dass sie oft Leute quäle, die ihm wichtig
seien. Er riet mir deswegen sogar, bei dir zu bleiben, Wulf, und ich weiß ja,
dass ihr nicht so Grün miteinander wart. Meine Recherchen in Rom haben meine
Vermutung auch nur bestätigt. Die Sklavenhändler haben Kontakte zu Samuela.“
Wulfgar trat zurück und ließ den Kopf hängen. Jetzt
war der Moment also gekommen. Er kam nicht mehr darum herum, zu gestehen, was
er getan hatte.
„Lu… es gibt
da etwas, das ich dir erzählen muss.“ Er zögerte lange, dann gab er zu: „Samuel…
Julius, er… ist tot. Ich habe ihn getötet.“
„Was? Wa-rum?“
„Weil ich dich
finden wollte. Samuela hat mir Geld und Informationen über dich versprochen,
wenn ich es tue. Ich hatte keine andere Wahl. Samuel hätte mir nie geholfen und…
Samuela hat mir erzählt, dass er dich
an die Sklavenhändler verkauft hat.“
Lu wollte ihn fragen, ob er ihr das wirklich geglaubt
hatte, aber als er den Mund aufmachte, verließ kein Wort seine Kehle. Plötzlich
hatte er seinen Albtraum vor sich. Wulfgar mit den eiskalten Augen. Wulfgar mit
dem Messer in der Hand über ihm. Wie er getötet hatte. Das Blut an seinen
Händen und die Erbarmungslosigkeit in seinem Gesicht.
Mit einem Mal war
es ihm, als würde der Boden unter seinen Füßen wegbrechen. Die Angst zerdrückte
sein Herz, ließ ihn nicht atmen und seinen Magen zu Boden sinken. Er kämpfte
verzweifelt gegen das Zittern an, aber es ließ sich nicht unterdrücken. Er
konnte nicht mehr. Es war alles zu viel.
Als Wulfgar jetzt besorgt einen Schritt auf ihn zumachte,
wich er ganz automatisch zurück und hob eine Hand.
„Wulfgar, ich
muss mit dir reden“, begann er ruhig, obwohl alles in ihm tobte. „Es… es geht nicht
mehr. Ich wusste, dass du schon einige Menschen auf dem Gewissen hast, aber der
Räubervater, Julius…“ Er sah ihn an. „Wie konntest du das tun?“
„Ich wollte
dich doch nur retten, Lu!“
„Das macht es umso schlimmer! Du wusstest doch genau,
dass ich das nicht wollte, nicht wahr?“
„Was hätte
ich denn tun sollen?“, gab Wulfgar bitter zurück. „Dich einfach sterben lassen?
Dich im Stich lassen?“
„Ja! Weil es
das war, was ich wollte!“ Er schalt sich zur Ruhe, schüttelte den Kopf. „Nein,
es tut mir leid. Ich bin schuld daran. Ich habe dich in diese Lage gebracht.
Ich bin schuld am Tod dieser beiden Menschen.“ Er hob eine Hand, um Wulfgars
Einwand zu ersticken. „Aber es ändert nichts daran, dass ich nicht länger an
deiner Seite sein kann.“
„Was? Was… redest du denn da?“
„Ich möchte
nicht länger dein Gefährte sein.“
Wulfgar tat
eine ganze Weile nichts anderes, als ihn erschrocken anzustarren. Der Schrecken
und der Horror machten sich in ihm breit und drohten, ihn innerlich zu
zerreißen. Aber dann kam die Wut und versuchte, das Ruder zu übernehmen und ihn
vom Erkennen abzuhalten, was eine schlechte Idee war.
Er machte einen bedrohlichen Schritt auf Lu zu, fragte
wütend: „Hast du eigentlich eine Ahnung, wie lange ich dich gesucht habe? Was
ich alles auf mich genommen habe?“
Lu hatte die
ganze Zeit eine so fürchterliche Angst vor Wulfgar gehabt, doch jetzt, als er
vor ihm stand, so wütend wie er ihn noch nie zuvor gesehen hatte, ergriff
plötzlich eine unheimliche Ruhe Besitz von ihm. Endlich – endlich! – konnte er
Wulfgar so gegenübertreten, wie er auch allen anderen zuvor gegenübergetreten
war, die ihn in der Vergangenheit bedroht hatten. Ruhig. Distanziert.
Friedlich. Jetzt, wo Wulfgar wie ein Fremder für ihn war.
„Ich weiß, dass du viel für mich getan hast, und dafür
danke ich dir“, sagte er ruhig, „aber es ändert nichts an meiner Entscheidung.
Wenn du wütend deshalb bist, steht es dir frei, mich zu schlagen.“
„Nur zu. Tu dir keinen Zwang an.“
Lu streckte
die Arme links und rechts von sich aus. Er würde sich sowieso nicht dagegen wehren können.
Er hatte das die letzte Zeit über oft getan, aber erstaunlich viele Leute
schlugen nicht zu. Und die, die es taten, begnügten sich oft mit nur einem
Schlag. Wenn sie sahen, dass es ihm nichts ausmachte, zogen sie sich meistens
zurück, um ihre eigene Würde zu bewahren. Natürlich gab es auch die, die ihn
weitergeschlagen hatten, um seinen Willen zu brechen, und als sie das nicht
erreicht hatten, hatten sie ihn so lange geschlagen, bis er ohnmächtig geworden
war.
Doch Wulfgar
erkannte jetzt glücklicherweise, was er tat und zog sich erschrocken zurück.
Beschämt über seinen Ausbruch und erschrocken über sich
selber. Sein ganzes Gesicht war gerötet und er sah so hilflos aus, dass er Lu
wieder leid tat und er ihm nur noch helfen wollte.
Doch Wulfgar
wurde schließlich von der Erkenntnis getroffen, dass er Lu verloren hatte. Er
drohte, zu zerbrechen. Doch bevor das geschehen konnte, machte er dicht. Er
schob alles von sich, verschloss sich seiner Angst und seiner Verzweiflung. Er
wusste, dass das eine schlechte Idee war – er hatte das schließlich schon
einmal getan und es war nicht gut ausgegangen – aber er konnte nichts anderes
tun, wenn er weiterbestehen wollte. Als er einen Schritt zurücktrat, das
Gesicht gefasst und ernst, wusste Lu, dass er aufgegeben hatte.
„Wenn du das so willst, dann... Lebe wohl, Lu.“
Er wollte
davongehen, aber Lu ließ ihn nicht. Er hatte keine Angst mehr vor ihm, jetzt
da er sich von ihm losgesagt hatte. Jetzt machte er sich nur noch Sorgen um den
Anderen.
„Warte! Wo
willst du hin?“
„Kann dir das
nicht egal sein?“, gab Wulfgar kalt zurück.
„Ich möchte
nicht, dass du wegläufst. Du hast ein Zuhause, eine Familie und Freunde, die
dich brauchen.“
„Keine Sorge,
ich werde sie schon nochmal besuchen kommen. Später. Wenn ich getan habe, was
ich vorhabe.“
„Und was ist
das?“
Er drehte ihm
den Rücken zu. „Den Entflohenen helfen, nach Hause zu kommen.“ Und ließ ihn
stehen.
Lu wusste, dass Wulfgar wahrscheinlich etwas brauchte,
das ihn ablenkte, also ließ er ihn gehen, obwohl er auch wusste, dass das eine
gefährliche Ablenkung war.
Während er Wulfgar
nachsah, fühlte er sich befreit. Und gleichzeitig auch voller Sorge, dass dem
Anderen etwas zustoßen könnte. Denn das hätte er nie gewollt.
Luna fiel sofort auf, dass mit ihrem Vater etwas nicht
stimmte, als er von draußen wieder hereinkam. Sie hatte bemerkt, wie er gestern
mit Lu zusammen hinausgegangen war und hatte mit Freude gesehen, dass beide
scheinbar die ganze Nacht zusammen verbracht hatten. Aber als ihr Vater jetzt
allein wieder hereinkam, das Gesicht so ausdruckslos wie eine schlecht bemalte
Maske, machte sie sich augenblicklich Sorgen.
Sie ging zu ihm, bekam gerade noch mit, wie er Alaric dazu aufforderte, ihn zu seinen Leuten zu bringen. Sofort mischte sie sich ein, und der Junge nutzte die Chance, sich davonzustehlen. Es bedurfte nicht einmal viel Nachbohrens, damit Wulfgar ihr erzählte, was geschehen war. Dass Lu ihn verlassen hatte.
„Und jetzt willst du wirklich so einfach gehen?“
„Was soll ich
auch anderes machen, Luna?“
„Nachdem du
ihn all die Zeit gesucht hast! Das kann doch nicht dein Ernst sein! Geh zurück
und rede mit ihm!“
„Es hat keinen
Sinn!“, erwiderte er geschlagen. „Ich habe mit ihm geredet. Wir haben sogar sehr gesittet darüber geredet – oder
besser gesagt, er hat das getan, aber
ich habe eher Angst, dass ich mich vergesse, wenn ich da wieder rausgehe.“
„Und
stattdessen willst du weglaufen?“
„Lu war der einzige Grund, warum ich damals sesshaft
geworden bin. Obwohl die Ferne mich immer gerufen hat, bin ich bei ihm
geblieben. Er war mein Zuhause. Jetzt wo er das nicht mehr sein will, habe ich
keinen Ort mehr, den ich Zuhause nennen kann. Also kann ich genauso gut wieder
durch die Welt reisen. Und das werde ich tun. Wenn du das weglaufen nennst,
dann bitte. Es ist mir egal. Ich werde einmal noch Leif besuchen gehen und ihn
fragen, ob er mich begleiten will, aber ich werde weiterreisen. Und anfangen
werde ich damit, diese armen Leute da nach Hause zu bringen. Sie brauchen
jemanden, der ihnen zeigt, wie man überhaupt eine Waffe hält.“
Luna wollte ihren Vater fragen, ob es ihn gar nicht
berührte, dass der Mann, den er liebte und den er so lange gesucht hatte, sich
von ihm losgesagt hatte. Aber sie traute sich nicht. Wulfgar sah zwar nicht so
aus, als ob es ihn berührte, aber sie war lange genug mit ihm gereist, um zu
wissen, dass es das doch tat. Sehr sogar.
Und während ihrer späteren, gemeinsamen Reise
sollte sie das auch oft genug sehen. Im Gegensatz zum ersten Mal, als Maris Tod
sein Herz gebrochen hatte, ließ Wulfgar es diesmal nämlich nicht einfach
erfrieren.
„Aber du musst mit Wulf gehen“, sagte er milder zu ihr. „Was
ich vorhabe, ist gefährlich.“
„Ich habe dich
bis jetzt begleitet und das werde ich auch weiterhin tun! Ich kann schon auf mich
aufpassen und werde mich nicht unnötig in Gefahr bringen. Aber auch ich habe
eine Mission, und sie führt mich in keine bestimmte Richtung. Deshalb kann ich
guten Gewissens bei dir bleiben.“
„Das ist meine
Tochter!“ Er versuchte, für sie zu lächeln, aber es zerbrach beinahe wieder. „Danke,
Luna…“
Kurz darauf verabschiedete Lu sich von seiner
zeitweiligen Familie, um zurück nach Hause zu kehren. Er lächelte zwar und tat
so, als ob alles in Ordnung war, doch das war es natürlich nicht. Er hatte
gehört, dass Wulfgar das Haus kurz zuvor mit Alaric zusammen verlassen hatte.
Wulf und Luna waren auch bei ihm gewesen.
Er hätte sich gewünscht, dass er sich wenigstens noch von
ihnen hätte verabschieden können, aber es sollte wohl nicht sein. Letztendlich
hatte er nicht einmal Wulf gegenüber sein Versprechen halten können, auf ihn
aufzupassen.
Doch als er dann keine zehn Minuten unterwegs war, wurde
er ausgerechnet von jenem eingeholt.
„He! Du kannst
doch nicht einfach abhauen! Ich war gerade bei deren Haus und du warst nicht
mehr da.“
„Ich dachte,
du wärst mit Luna und ihrem Vater gegangen.“
„Ich wollte
ja, aber dich kann ich ja auch nicht
alleinlassen.“
„Hat Wulf
dich darum gebeten, mich zu begleiten?“
„Pff! Als ob ich irgendwas machen würde, um was der mich
bittet.“ Kleinlaut fügte er hinzu: „Er hat mich zwar gefragt, aber ich bin
hier, weil ich hier sein will.“
„Willst du
nicht lieber bei Luna sein?“, fragte Lu irritiert.
„Ihr Vater
hat versprochen, auf sie aufzupassen, und da nehm ich ihn beim Wort. Ansonsten“,
er hob die Faust, „kriegt er es mit mir zu tun.“
„Ich brauche
keinen Aufpasser, weißt du.“
„Aber jetzt
bin ich ja sowieso da, also…“
Also ging Wulf mit ihm. Wenn es darum ging, auf ihn
aufpassen zu wollen, waren sich beide Wulfgars wirklich erstaunlich ähnlich.
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Hier weiterlesen -> Kapitel 114
Und so endet der Abstecher in die Außenwelt schon wieder. Ich denke mal, dass es wohl schon seit einer Weile absehbar war, dass die Beziehung der beiden an den Ereignissen zerbrechen würde. Und jetzt muss Wulfgar, der ja erst letztens festgestellt hat, dass er eigentlich gar nicht mehr so gerne reist, genau das wieder tun. Aber ob es diesmal ein Abschied für immer ist? Es ist auf jeden Fall gut für ihn, dass seine Tochter diesmal bei ihm ist.
Nächstes Mal kehrt Lu dann nach Hause zurück, und man erfährt, wer da eigentich vor zwei Kapiteln angekommen ist.
PS: Falls ihr mal ein paar Bilder von Lu während seiner weniger schlimmen Zeit als Sklave sehen wollt, habe ich 13 Aufnahmen für euch in die Outtakes gesteckt. Und die Links vom letzten Kapitel zum Zoo habe ich auch eingefügt, falls ihr Tuniken und Togen auch für die armen vernachlässigten Sims-Altersgruppen sucht. Im letzten Kapitel ganz unten zu finden.
Bis dahin, danke euch fürs Vorbeischauen, passt auf euch auf, und ich verabschiede mich!
Hier weiterlesen -> Kapitel 114
Und so endet der Abstecher in die Außenwelt schon wieder. Ich denke mal, dass es wohl schon seit einer Weile absehbar war, dass die Beziehung der beiden an den Ereignissen zerbrechen würde. Und jetzt muss Wulfgar, der ja erst letztens festgestellt hat, dass er eigentlich gar nicht mehr so gerne reist, genau das wieder tun. Aber ob es diesmal ein Abschied für immer ist? Es ist auf jeden Fall gut für ihn, dass seine Tochter diesmal bei ihm ist.
Nächstes Mal kehrt Lu dann nach Hause zurück, und man erfährt, wer da eigentich vor zwei Kapiteln angekommen ist.
PS: Falls ihr mal ein paar Bilder von Lu während seiner weniger schlimmen Zeit als Sklave sehen wollt, habe ich 13 Aufnahmen für euch in die Outtakes gesteckt. Und die Links vom letzten Kapitel zum Zoo habe ich auch eingefügt, falls ihr Tuniken und Togen auch für die armen vernachlässigten Sims-Altersgruppen sucht. Im letzten Kapitel ganz unten zu finden.
Bis dahin, danke euch fürs Vorbeischauen, passt auf euch auf, und ich verabschiede mich!
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