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Mittwoch, 29. April 2020

Kapitel 113 - Tiberius Scipio Lupinus



Während die Flüchtigen am nächsten Morgen gleich nach dem Frühstück aufgebrochen waren, waren die beiden Wulfgars noch länger geblieben, um sich von Luna (und den anderen beiden Hausbewohnern) zu verabschieden. Obwohl es ihr nicht gefiel, hatte Luna sich schließlich dazu bereit erklärt, zu bleiben, bis Lu aus Rom zurückgekommen war, um dann mit ihm zusammen zu den Anderen zu stoßen.  
    Wulfgar nahm seine Tochter gerade in den Arm, sagte ihr: „Pass bitte auf dich auf, ja? Und komm gleich nach, wenn Lu da ist. Aber geh nicht allein raus, in Ordnung?“
    „Vater, ich bin nicht das erste Mal alleine.“
    Wulfgar wusste das. Er wusste, dass Luna allein auskam, dass sie bislang auch ohne ihn zurechtgekommen war, aber er konnte einfach nicht anders. Sie war seine Tochter, und er hatte feststellen müssen, dass er als Vater um seine Tochter besonders besorgt war. Er hatte es bislang für einen Mythos gehalten, wusste es nun jedoch besser.


Wulf warf ihr nun einen Blick zu, als würde er sie auch gerne umarmen, wie ein kleiner Junge, der eigentlich schon zu groß für Umarmungen war, und er ließ es auch bleiben.
     „Pass trotzdem auf dich auf!“, fügte er stattdessen hinzu.
     Luna verdrehte die Augen, nickte und winkte ihnen zum Abschied, sah ihnen nach, während sie zusammen davongingen.


Einen kurzen Weg legten die beiden schweigend zurück, in der Wulfgar versuchte, die nagende Sorge um Luna zu ignorieren, dann sagte er schließlich zu Wulf: „So, und du hast also ein Auge auf meine Tochter geworfen, ja?“
     Woraufhin der Jüngere an Ort und Stelle festfror und überfordert: „Ähhh…“, machte.
     „Darüber müssen wir aber noch ein ernstes Wörtchen reden, Junge“, spielte er den Bösen und konnte sich ein Lachen beim überforderten Anblick des Anderen dabei fast nicht verkneifen.


Bis er zumindest auf zwei Reiter aufmerksam wurde, die vor dem Haus abgesessen hatten, das sie gerade erst verlassen hatten. Sie waren nur kleine Gestalten in der Ferne, aber selbst über all die Entfernung war der eine von beiden für ihn unverkennbar. Das rötlich-braune Haar, das in der Sonne schimmerte, die dürren Arme.
     „Lu…“


Während die Tür aufging, Artemisia rauskam und ihrem Mann in die Arme fiel, hielt ihn nichts mehr. Er ließ seinen jüngeren Namensvetter stehen und rannte dorthin zurück, woher sie gerade erst gekommen waren. Er sah, wie sich die beiden Eheleute voneinander lösten, sah, wie Artemisia jetzt Lu an sich drückte. Syrus kam auch an, und sie alle umringten die Neuankömmlinge. Artemisia redete auf ihn ein, schließlich kam Luna aus dem Haus und Lu bemerkte sie. Ein Finger glitt in seine Richtung.
     „Lu!“


Endlich hatte er ihn erreicht und konnte ihm ins Gesicht sehen. Dasselbe Gesicht, kaum verändert, vielleicht ein bisschen dünner und kantiger, aber immer noch dasselbe Gesicht, das er vor viel zu langer Zeit aus den Augen verloren hatte. Sein Haar war inzwischen von erschreckend vielen grauen Strähnen durchzogen, aber es war Lu, der da vor ihm stand und der ihn nun mit großen Augen ansah.
     Mit einem Schritt war Wulfgar bei ihm und hatte ihn in die Arme geschlossen. Der ganz typische Geruch, der seinen Liebsten immer schon ausgemacht hatte – eine Mischung aus Erde und Kräutern – erfüllte ihn sofort, und das war der Moment, in dem er endlich loslassen konnte. All die Sorgen, all die Ängste der letzten Zeit, fielen mit einem Mal von ihm ab, und er wusste, dass er endlich wieder Zuhause war. Er konnte nicht verhindern, dass sich seine Augen mit Tränen füllten und sie ungeniert über seine Wangen liefen.
     „Du bist es wirklich!“, flüsterte er heiser. „Ich habe mir solche Sorgen um dich gemacht! Ich habe dich so schrecklich vermisst!“


Er wollte seinen Gefährten nie wieder loslassen, auch wenn dieser keine Anstalten machte, seine Umarmung zu erwidern. Stattdessen sah er wirklich erschrocken aus, als Wulfgar ihn nun doch wieder gehen ließ. Erstarrt und erschrocken. Warum nur sah Lu so erschrocken aus?
     Aber er hatte gar keine Chance, weiter darüber nachzudenken, da Lu im nächsten Augenblick auf jemand anderen aufmerksam wurde. Und bei dessen Anblick stahl sich sofort Überraschung und Freude auf sein Gesicht.
     „Wulfgar!“


Doch es war nicht er, der gemeint war. Lu schob ihn zur Seite, und es war Wulfgar, als ob er ihn von sich gestoßen hätte. Für einen Moment blieb ihm tatsächlich die Luft weg und er glaubte, zu Boden zu gehen. 
     Lu ließ ihn einfach stehen, als wäre er gar nicht da und ging zu dem jüngeren Wulf hinüber, legte ihm die Arme auf die Schultern, und sein Gesicht war so erleichtert, wie Wulfgar sich wünschte, er ihn angesehen hätte. Aber es galt nicht ihm.


„Du bist ja frei! Wir haben gehört, dass es einen Sklavenaufstand in dem Ort gab, in dem du gelebt haben sollst.“
     Wulf lächelte schief. „Ja, für den bin ich irgendwie verantwortlich.“
     „Was?“, mischte sich erschrocken der andere Mann ein, der mit Lu zusammen angekommen war. Vermutlich handelte es sich hierbei um Tiberius Scipio Lucanus, den Hausherrn. Er sah sich gehetzt um, winkte sie dann zu sich. „Los, rein mit euch! Ich kann mir nicht leisten, dass hier Gerüchte aufkommen. Ihr könnt drinnen reden.“


Es ging also nach drinnen, Syrus wurde losgeschickt, um Bescheid zu geben, dass die beiden Wulfgars noch nicht nachkommen würden, und der ältere der beiden bekam keine Chance mehr, mit seinem Gefährten zu reden. Nicht vor dem Essen, das bald darauf stattfand und auch danach nicht.
     Stattdessen stellte sich der jüngere Wulf sofort zu Lu, um mit ihm zu reden, und sein Schützling Syrus, der ihn scheinbar innig bewunderte und der inzwischen zurückgekehrt war, stand auf der anderen Seite. Artemisia, der wortkarge Scipio und Luna vor ihm, und sie alle lauschten in diesem Moment gespannt seinem Bericht von seiner Reise nach Rom, der damit endete, dass er jetzt sogar einen neuen Namen hatte: Tiberius Scipio Lupinus.


„Ich weiß, dass ich dir gegenüber als Freigelassener eigentlich immer noch verpflichtet bin“, schloss Lu gerade in Scipios Richtung, „aber ich bitte trotzdem um deine Erlaubnis, dass ich nach Hause gehen darf. Ich kann nicht hierbleiben, wenn meine Familie woanders ist.“   
     „Als ich dir sagte, dass du nach deiner Freilassung hingehen darfst, wohin du willst, meinte ich das auch so.“
     „Ich danke dir, Lucanus!“, benutzte Lu Scipios Namen, der Freunden vorbehalten war.
     „Wir sind es, die dir zu Dank verpflichtet sind, Lupinus.“


Wulfgar sah diese ganze Szene, aber er nahm sie nicht wirklich wahr. Nachdem er vorher noch geglaubt hatte, alle seine Sorgen losgeworden zu sein, war er jetzt wieder voll davon. Er konnte nicht aufhören, sich zu fragen, warum Lu ihn wie Luft behandelte. Er hatte sich so darauf gefreut, hatte es gar nicht mehr abwarten können, seinen Liebsten wiederzusehen, aber Lu hatte nur erschrocken ausgesehen. Und jetzt tat er so, als wäre er gar nicht da. Er hatte nicht ein einziges Mal in seine Richtung gesehen. Das tat ihm ziemlich weh und machte ihm Angst, dass etwas nicht stimmte.
     Doch er versuchte, seine Angst beiseite zu schieben und sich nichts anmerken zu lassen. Immerhin waren sie in der Öffentlichkeit, und er hatte mit Lu ja ausgemacht, dass sie außerhalb ihres Zuhauses nur als Freunde auftraten, wenn sie nicht allein waren. Wahrscheinlich benahm sich Lu nur deshalb merkwürdig, und er würde sich wieder normal benehmen, wenn sie dann endlich allein waren. Ja, so war es bestimmt.
     Es war trotzdem schwer. Einfach nur abseits zu stehen und nicht zu demjenigen gehen zu können, den er liebte und den er all die Zeit so schmerzlich herbeigesehnt und vermisst hatte. Es war schwer, ignoriert zu werden.


„Alles in Ordnung, Vater?“, tauchte Lunas besorgtes Gesicht plötzlich vor ihm auf. „Du siehst nicht gut aus.“
     Wulfgar zwang sich, für sie zu lächeln. „Es ist alles gut. Jetzt ist Lu ja wieder da…“ 
     Er konnte trotzdem nicht verhindern, dass sich die Sorge auch im Folgenden immer wieder auf sein Gesicht stahl und Luna das bemerkte.


Als sich die Traube um Lu schließlich gelichtet hatte, wagte Wulfgar es dann endlich, zu seinem Gefährten zu gehen. Inzwischen war Alaric ebenfalls wiedergekommen, um Wulf abzulenken, und praktischerweise lenkte er auch Syrus gleich mit ab, und das war für ihn die Chance, zu Lu zu gehen, der sich gerade erhoben hatte, um zu Artemisia und Scipio zu hinüberzugehen. Nicht zu ihm, den er so lange nicht mehr gesehen hatte.


Er stellte sich Lu in den Weg, nahm ihm jede Möglichkeit zur Flucht, und erneut wirkte dieser wie ein verschrecktes Reh bei seinem Anblick.
     „Könnte ich dich vielleicht mal unter vier Augen sprechen?“
     Lu sah so aus, als ob er das überhaupt nicht wollte. Er warf Blicke hin und her, als suche er nach Hilfe und knetete dabei nervös seine Hände. Dann aber gab er schließlich auf und sah ihn an. Es war das erste Mal, dass er ihn richtig ansah. Dass er überhaupt zu ihm sprach.
     „Ja, natürlich.“


Lu hatte immer gewusst, dass er sich Wulfgar wahrscheinlich irgendwann wieder stellen musste. Aber obwohl er das gewusst hatte, war er jetzt dennoch vollkommen überfordert, als sie den Hinterhof verlassen hatten und allein waren. Die Angst, die er all die Zeit über versucht hatte loszuwerden, überfiel ihn unvermittelt, als er bemerkte, dass Wulfgar hinter ihm stand. Er wollte nur noch weglaufen und es kostete ihn alles, es nicht zu tun.
     Aber er konnte sich nicht dazu bringen, sich umzudrehen und Wulfgar in die Augen zu sehen. Diese Augen, die so kalt gewesen waren, als er getötet hatte, und die vorher so getroffen und traurig ausgesehen hatten. Die immer warm und voller Liebe waren, wenn er ihn ansah.
     Lu wusste ja, dass Wulfgar ihm wahrscheinlich nie etwas tun würde – und er hatte in der letzten Zeit einiges durchgemacht, das ihn mehr hätte ängstigen sollen – aber er konnte diese Angst in sich einfach nicht loswerden.  


Plötzlich schlossen sich zwei Arme von hinten um ihn, und er fühlte sich augenblicklich wie ein Gefangener. Die Wärme, die von Wulfgars Körper ausging, drang überhaupt nicht zu ihm vor. Ihm war mit einem Mal eiskalt.
     „Ich hab dich so schrecklich vermisst“, hörte er Wulfgar flüstern.
     Die Arme drückten noch fester zu.
     „Ich hatte solche Angst, dass dir etwas passiert ist.“
     Er spürte Wulfgars Atem an seinem Nacken und es bereitete ihm eine Gänsehaut. Er fühlte sich so elend. Er wollte sich einfach nur befreien und Wulfgar ins Gesicht sagen, dass er ihn in Ruhe lassen sollte, aber er hatte zu große Angst davor.


Doch als er merkte, wie Wulfgar das Gesicht in seinem Haar vergrub und mit tränenerstickter Stimme sagte: „Sag doch endlich was!“, machte das etwas mit ihm. Plötzlich fühlte er sich so schlecht, dass er Wulfgar tatsächlich zum Weinen gebracht hatte. Er hatte den Anderen bislang nur einmal weinen sehen. Damals, als sein Sohn gestorben war.
     „Bitte, Lu! Sag doch was! Sag mir, dass alles in Ordnung ist!“
     Mit einem Mal war da nur noch Mitleid in ihm.


Also drehte er sich um und legte die Arme um ihn. Er sah ihn nicht an, sagte nichts zu ihm – das konnte er noch nicht – aber er drückte ihn an sich, und Wulfgar erwiderte das innig. Er küsste ihn auf den Scheitel, auf die Wange, und da hob Lu den Kopf, dass er ihn auf die Lippen küssen konnte. Wulfgar küsste ihn erst sachte, vorsichtig, dann wurde sein Kuss bald schneller und fester.


Die Kälte war inzwischen einem wunderbaren Gefühl von Wärme gewichen. Als wäre er in eine Decke gehüllt. Wärme war immer das gewesen, was er mit Wulfgar verbunden hatte. Der Geruch von lebendiger Wärme, wie als ob man die Nase in das Fell einer Katze steckte; die innige Hitze, die er ausstrahlte, wenn sie beisammen waren. Es war immer etwas gewesen, das Lu Geborgenheit gegeben hatte. Ein Gefühl von Vertrautheit und Heimat.
     Und das war es auch, was ihn jetzt glücklicherweise zu erfüllen begann, und da konnte er sich endlich fallen lassen.
     Kurz darauf schon war er in Wulfgars Armen eingeschlafen.


Lu rannte durch den Schnee, wie er es schon einmal vor langer Zeit getan hatte. Diesmal war kein Hund bei ihm, aber das war auch nicht nötig. Er wusste ja, wohin er gehen musste. Er war diesen Weg die letzte Zeit schon so oft gegangen, dass er ihn auswendig konnte. Nur dass er bislang niemals schnell genug gewesen war.
     Auch diesmal kam er nicht rechtzeitig.


Wulfgar kniete bereits im Schnee, eine Hand auf der Wunde, die kein Blut verlor. Das tat sie nie. 
     Lu kam schlitternd vor ihm zum Stehen, wie so viele Male zuvor schon, ließ sich vor ihm auf die Knie fallen. Er hob unschlüssig seine Hände, aber wie immer wusste er nicht, was er tun sollte. Die Angst hatte seinen Hals mit einem dicken Kloß verschlossen und es fiel ihm schwer, überhaupt zu atmen.
     „Was machst du denn hier?“, presste Wulfgar unter Schmerzen hervor. „Ich dachte, du willst mit mir und meinen hinterwäldlerischen Ansichten nichts zu tun haben.“


Er schaffte es tatsächlich, zu grinsen, und Lu musste sich zusammenreißen, ihn nicht anzugehen. Er war so wütend. Wie damals, als er ihm das an den Kopf geworfen hatte, was Wulfgar gerade eben gesagt hatte.
     Stattdessen beruhigte er sich, strich dem Verletzten über den Kopf und kam sich dämlich dabei vor. Er wusste immer noch nicht, was er tun sollte, doch er wusste, dass er Wulfgar nicht verlieren wollte.
     „Bitte geh nicht weg!“, bat er hilflos.
     „Du hast doch gesagt, dass ich weggehen soll“, lachte Wulfgar tatsächlich. „Du hast gesagt, ich nerve dich. Deswegen hab ich doch auch das Boot gebaut und werde weggehen.“
     „Nein, bitte mach das nicht! Ich will nicht, dass du wegfährst! Wenn du es tust…“


Er konnte es nicht aussprechen. Aber es war auch nicht nötig. Wulfgar verdrehte plötzlich die Augen nach oben und fiel mit dem Gesicht voraus in den Schnee. 
     Lu erschrak bis ins Mark. Es war schon so oft passiert, doch er konnte es nicht akzeptieren. Er wollte zu ihm, wollte ihn wieder aufrichten, aber man ließ ihn nicht.


Er wurde harsch auf die Beine gezogen und sah sich plötzlich einem älteren Wulfgar gegenüber. Sein Blick so eiskalt, dass es ihm das Blut in den Adern gefrieren ließ.
     „Es ist zu spät“, hauchte er gnadenlos.


Er schleuderte ihn von sich, dass Lu böse zu Boden ging. Im nächsten Moment erschien Wulfgar wie ein Schatten über ihm, ein Messer in seiner Hand.
     „Gib es auf. Er kommt nicht zurück. Ich habe ihn endlich umgebracht. Es wird Zeit, dass wir ihn unter die Erde bringen.“
     Lu schüttelte den Kopf. Er wollte das nicht. Er wollte das nicht mehr sehen; er wollte nicht einsehen, dass Wulfgar, der wütende und nervige, aber friedliche Kerl, der niemals jemanden getötet hatte, tot war. Getötet von dem Unmenschen, der nun über ihm stand und ihn bedrohte.
     „Na los, sieh zu, dass du die Totenfeier abhältst, Schamane, sonst werde ich dich auch umbringen.“


Die Tränen ließen sein Gesicht eiskalt und taub werden, als er den Kopf drehte und zu dem Jungen sah, der tot im Schnee lag und den er verloren hatte. Er würde nie mehr zu ihm zurückkommen. 
     Hilflos streckte er eine Hand aus, die den Anderen nicht erreichen würde, während sich der Schnee unter dem Toten blutrot färbte.


Im nächsten Moment war er Aug in Aug mit dem Monster über sich und die Klinge des Messers raste auf ihn zu.


Lu hatte lange nicht mehr unter freiem Himmel geschlafen. Damals, nachdem Wulfgar frisch von seiner Reise zurückgekehrt war, hatten sie sich abends oft gemeinsam davongestohlen, waren zu den Klippen gegangen und hatten die ganze Nacht dort verbracht. Er war meist spät eingeschlafen, in den Armen des Menschen, den er liebte, eingehüllt von seiner Wärme und seinem Geruch.
     Auch diesmal hatte er das getan. Aber als er an diesem Tag erwachte, war das kein schönes Erwachen für ihn. Wulfgars Arme lagen wie Fesseln auf ihm, und Lu musste sie erst zur Seite schieben, um von ihm loszukommen.


Seinen Albtraum jetzt plötzlich vor sich zu sehen, war hart. Er hatte diese Träume öfter, seitdem er Wulfgar hatte töten sehen. Manchmal war Wulfgar in ihnen das Monster, das sein früheres Ich getötet hatte und dasselbe mit ihm vorhatte. Manchmal musste er eine Totenfeier abhalten und Wulfgar war der Tote. Es waren nie gute Träume, und er hasste sie. Doch bislang hatte er sich dem echten Wulfgar danach nie stellen müssen.


Jetzt aber war das anders. Wulfgar erwachte, rieb sich den Schlaf aus den Augen, und für einen Moment durchfuhr Lu die Angst, dass sein Blick so kalt und gnadenlos werden würden wie zu dem Augenblick, als er getötet hatte.


Doch als er ihn erblickte, wurde sein Gesicht glücklicherweise von einem Lächeln zerfurcht. Seine Augen leuchteten liebevoll.
     Ja, das war Wulfgar, wie er ihn kannte. Sein Gefährte. Er musste keine Angst vor ihm haben. Das versuchte er sich zumindest einzureden.
     „Morgen, Lu, mein Herz!“
     Lu zwang sich zu einem Lächeln, und da kam Wulfgar an und zog ihn an sich. Er gab ihm einen Kuss auf die Wange, ließ ihn danach aber glücklicherweise wieder gehen, was Lu gleich mal nutzte, um aufzustehen und Abstand zu gewinnen. Dummerweise tat Wulfgar es ihm sofort gleich.


„Ich hab’s so vermisst, neben dir aufzuwachen.“
     Lu wollte „ich auch“ sagen, aber er konnte es nicht. Es wäre gelogen gewesen. Die Tage, an denen er Wulfgar wirklich vermisst hatte, waren rar gewesen.
     Als es still zwischen ihnen blieb, versuchte Lu krampfhaft, ein Gesprächsthema zu finden, während Wulfgar einfach nur strahlte.


„Ähm… also bevor wir nach Hause gehen, würde ich gerne noch einen kleinen Umweg machen, um mit Julius zu sprechen“, sagte er schließlich, nur um irgendetwas zu sagen. Er sah nicht, wie Wulfgar jetzt erstarrte. „Ich weiß ja, dass du dich nicht so gut mit ihm verstehst, deshalb…“
     „Ach, was willst du denn da noch?“, tat Wulfgar ab und lächelte gestellt.
     „Ich habe, ehrlich gesagt, die Vermutung, dass seine Schwester uns hat entführen lassen. Die Sklavenhändler haben davon gesprochen, dass sie beauftragt wurden, mich zu entführen. Julius hat mich auch schon vor ihr gewarnt. Er sagte, dass sie oft Leute quäle, die ihm wichtig seien. Er riet mir deswegen sogar, bei dir zu bleiben, Wulf, und ich weiß ja, dass ihr nicht so Grün miteinander wart. Meine Recherchen in Rom haben meine Vermutung auch nur bestätigt. Die Sklavenhändler haben Kontakte zu Samuela.“


Wulfgar trat zurück und ließ den Kopf hängen. Jetzt war der Moment also gekommen. Er kam nicht mehr darum herum, zu gestehen, was er getan hatte.
     „Lu… es gibt da etwas, das ich dir erzählen muss.“ Er zögerte lange, dann gab er zu: „Samuel… Julius, er… ist tot. Ich habe ihn getötet.“
     „Was? Wa-rum?“
     „Weil ich dich finden wollte. Samuela hat mir Geld und Informationen über dich versprochen, wenn ich es tue. Ich hatte keine andere Wahl. Samuel hätte mir nie geholfen und… Samuela hat mir erzählt, dass er dich an die Sklavenhändler verkauft hat.“   


Lu wollte ihn fragen, ob er ihr das wirklich geglaubt hatte, aber als er den Mund aufmachte, verließ kein Wort seine Kehle. Plötzlich hatte er seinen Albtraum vor sich. Wulfgar mit den eiskalten Augen. Wulfgar mit dem Messer in der Hand über ihm. Wie er getötet hatte. Das Blut an seinen Händen und die Erbarmungslosigkeit in seinem Gesicht.
     Mit einem Mal war es ihm, als würde der Boden unter seinen Füßen wegbrechen. Die Angst zerdrückte sein Herz, ließ ihn nicht atmen und seinen Magen zu Boden sinken. Er kämpfte verzweifelt gegen das Zittern an, aber es ließ sich nicht unterdrücken. Er konnte nicht mehr. Es war alles zu viel.


Als Wulfgar jetzt besorgt einen Schritt auf ihn zumachte, wich er ganz automatisch zurück und hob eine Hand.
     „Wulfgar, ich muss mit dir reden“, begann er ruhig, obwohl alles in ihm tobte. „Es… es geht nicht mehr. Ich wusste, dass du schon einige Menschen auf dem Gewissen hast, aber der Räubervater, Julius…“ Er sah ihn an. „Wie konntest du das tun?“
     „Ich wollte dich doch nur retten, Lu!“


„Das macht es umso schlimmer! Du wusstest doch genau, dass ich das nicht wollte, nicht wahr?“
      „Was hätte ich denn tun sollen?“, gab Wulfgar bitter zurück. „Dich einfach sterben lassen? Dich im Stich lassen?“
     „Ja! Weil es das war, was ich wollte!“ Er schalt sich zur Ruhe, schüttelte den Kopf. „Nein, es tut mir leid. Ich bin schuld daran. Ich habe dich in diese Lage gebracht. Ich bin schuld am Tod dieser beiden Menschen.“ Er hob eine Hand, um Wulfgars Einwand zu ersticken. „Aber es ändert nichts daran, dass ich nicht länger an deiner Seite sein kann.“


„Was? Was… redest du denn da?“
     „Ich möchte nicht länger dein Gefährte sein.“  
     Wulfgar tat eine ganze Weile nichts anderes, als ihn erschrocken anzustarren. Der Schrecken und der Horror machten sich in ihm breit und drohten, ihn innerlich zu zerreißen. Aber dann kam die Wut und versuchte, das Ruder zu übernehmen und ihn vom Erkennen abzuhalten, was eine schlechte Idee war.


Er machte einen bedrohlichen Schritt auf Lu zu, fragte wütend: „Hast du eigentlich eine Ahnung, wie lange ich dich gesucht habe? Was ich alles auf mich genommen habe?“
     Lu hatte die ganze Zeit eine so fürchterliche Angst vor Wulfgar gehabt, doch jetzt, als er vor ihm stand, so wütend wie er ihn noch nie zuvor gesehen hatte, ergriff plötzlich eine unheimliche Ruhe Besitz von ihm. Endlich – endlich! – konnte er Wulfgar so gegenübertreten, wie er auch allen anderen zuvor gegenübergetreten war, die ihn in der Vergangenheit bedroht hatten. Ruhig. Distanziert. Friedlich. Jetzt, wo Wulfgar wie ein Fremder für ihn war.


„Ich weiß, dass du viel für mich getan hast, und dafür danke ich dir“, sagte er ruhig, „aber es ändert nichts an meiner Entscheidung. Wenn du wütend deshalb bist, steht es dir frei, mich zu schlagen.“


„Nur zu. Tu dir keinen Zwang an.“
     Lu streckte die Arme links und rechts von sich aus. Er würde sich sowieso nicht dagegen wehren können. Er hatte das die letzte Zeit über oft getan, aber erstaunlich viele Leute schlugen nicht zu. Und die, die es taten, begnügten sich oft mit nur einem Schlag. Wenn sie sahen, dass es ihm nichts ausmachte, zogen sie sich meistens zurück, um ihre eigene Würde zu bewahren. Natürlich gab es auch die, die ihn weitergeschlagen hatten, um seinen Willen zu brechen, und als sie das nicht erreicht hatten, hatten sie ihn so lange geschlagen, bis er ohnmächtig geworden war.
     Doch Wulfgar erkannte jetzt glücklicherweise, was er tat und zog sich erschrocken zurück.


Beschämt über seinen Ausbruch und erschrocken über sich selber. Sein ganzes Gesicht war gerötet und er sah so hilflos aus, dass er Lu wieder leid tat und er ihm nur noch helfen wollte. 
     Doch Wulfgar wurde schließlich von der Erkenntnis getroffen, dass er Lu verloren hatte. Er drohte, zu zerbrechen. Doch bevor das geschehen konnte, machte er dicht. Er schob alles von sich, verschloss sich seiner Angst und seiner Verzweiflung. Er wusste, dass das eine schlechte Idee war – er hatte das schließlich schon einmal getan und es war nicht gut ausgegangen – aber er konnte nichts anderes tun, wenn er weiterbestehen wollte. Als er einen Schritt zurücktrat, das Gesicht gefasst und ernst, wusste Lu, dass er aufgegeben hatte.


„Wenn du das so willst, dann... Lebe wohl, Lu.“
     Er wollte davongehen, aber Lu ließ ihn nicht. Er hatte keine Angst mehr vor ihm, jetzt da er sich von ihm losgesagt hatte. Jetzt machte er sich nur noch Sorgen um den Anderen.
     „Warte! Wo willst du hin?“
     „Kann dir das nicht egal sein?“, gab Wulfgar kalt zurück.
     „Ich möchte nicht, dass du wegläufst. Du hast ein Zuhause, eine Familie und Freunde, die dich brauchen.“
     „Keine Sorge, ich werde sie schon nochmal besuchen kommen. Später. Wenn ich getan habe, was ich vorhabe.“
     „Und was ist das?“
     Er drehte ihm den Rücken zu. „Den Entflohenen helfen, nach Hause zu kommen.“ Und ließ ihn stehen.


Lu wusste, dass Wulfgar wahrscheinlich etwas brauchte, das ihn ablenkte, also ließ er ihn gehen, obwohl er auch wusste, dass das eine gefährliche Ablenkung war.
     Während er Wulfgar nachsah, fühlte er sich befreit. Und gleichzeitig auch voller Sorge, dass dem Anderen etwas zustoßen könnte. Denn das hätte er nie gewollt.


Luna fiel sofort auf, dass mit ihrem Vater etwas nicht stimmte, als er von draußen wieder hereinkam. Sie hatte bemerkt, wie er gestern mit Lu zusammen hinausgegangen war und hatte mit Freude gesehen, dass beide scheinbar die ganze Nacht zusammen verbracht hatten. Aber als ihr Vater jetzt allein wieder hereinkam, das Gesicht so ausdruckslos wie eine schlecht bemalte Maske, machte sie sich augenblicklich Sorgen.
     Sie ging zu ihm, bekam gerade noch mit, wie er Alaric dazu aufforderte, ihn zu seinen Leuten zu bringen. Sofort mischte sie sich ein, und der Junge nutzte die Chance, sich davonzustehlen. Es bedurfte nicht einmal viel Nachbohrens, damit Wulfgar ihr erzählte, was geschehen war. Dass Lu ihn verlassen hatte.


„Und jetzt willst du wirklich so einfach gehen?“
     „Was soll ich auch anderes machen, Luna?“
     „Nachdem du ihn all die Zeit gesucht hast! Das kann doch nicht dein Ernst sein! Geh zurück und rede mit ihm!“
     „Es hat keinen Sinn!“, erwiderte er geschlagen. „Ich habe mit ihm geredet. Wir haben sogar sehr gesittet darüber geredet – oder besser gesagt, er hat das getan, aber ich habe eher Angst, dass ich mich vergesse, wenn ich da wieder rausgehe.“
     „Und stattdessen willst du weglaufen?“


„Lu war der einzige Grund, warum ich damals sesshaft geworden bin. Obwohl die Ferne mich immer gerufen hat, bin ich bei ihm geblieben. Er war mein Zuhause. Jetzt wo er das nicht mehr sein will, habe ich keinen Ort mehr, den ich Zuhause nennen kann. Also kann ich genauso gut wieder durch die Welt reisen. Und das werde ich tun. Wenn du das weglaufen nennst, dann bitte. Es ist mir egal. Ich werde einmal noch Leif besuchen gehen und ihn fragen, ob er mich begleiten will, aber ich werde weiterreisen. Und anfangen werde ich damit, diese armen Leute da nach Hause zu bringen. Sie brauchen jemanden, der ihnen zeigt, wie man überhaupt eine Waffe hält.“ 


Luna wollte ihren Vater fragen, ob es ihn gar nicht berührte, dass der Mann, den er liebte und den er so lange gesucht hatte, sich von ihm losgesagt hatte. Aber sie traute sich nicht. Wulfgar sah zwar nicht so aus, als ob es ihn berührte, aber sie war lange genug mit ihm gereist, um zu wissen, dass es das doch tat. Sehr sogar.
     Und während ihrer späteren, gemeinsamen Reise sollte sie das auch oft genug sehen. Im Gegensatz zum ersten Mal, als Maris Tod sein Herz gebrochen hatte, ließ Wulfgar es diesmal nämlich nicht einfach erfrieren.


„Aber du musst mit Wulf gehen“, sagte er milder zu ihr. „Was ich vorhabe, ist gefährlich.“
     „Ich habe dich bis jetzt begleitet und das werde ich auch weiterhin tun! Ich kann schon auf mich aufpassen und werde mich nicht unnötig in Gefahr bringen. Aber auch ich habe eine Mission, und sie führt mich in keine bestimmte Richtung. Deshalb kann ich guten Gewissens bei dir bleiben.“
    „Das ist meine Tochter!“ Er versuchte, für sie zu lächeln, aber es zerbrach beinahe wieder. „Danke, Luna…“


Kurz darauf verabschiedete Lu sich von seiner zeitweiligen Familie, um zurück nach Hause zu kehren. Er lächelte zwar und tat so, als ob alles in Ordnung war, doch das war es natürlich nicht. Er hatte gehört, dass Wulfgar das Haus kurz zuvor mit Alaric zusammen verlassen hatte. Wulf und Luna waren auch bei ihm gewesen.


Er hätte sich gewünscht, dass er sich wenigstens noch von ihnen hätte verabschieden können, aber es sollte wohl nicht sein. Letztendlich hatte er nicht einmal Wulf gegenüber sein Versprechen halten können, auf ihn aufzupassen.


Doch als er dann keine zehn Minuten unterwegs war, wurde er ausgerechnet von jenem eingeholt.
     „He! Du kannst doch nicht einfach abhauen! Ich war gerade bei deren Haus und du warst nicht mehr da.“
     „Ich dachte, du wärst mit Luna und ihrem Vater gegangen.“
     „Ich wollte ja, aber dich kann ich ja auch nicht alleinlassen.“
     „Hat Wulf dich darum gebeten, mich zu begleiten?“


„Pff! Als ob ich irgendwas machen würde, um was der mich bittet.“ Kleinlaut fügte er hinzu: „Er hat mich zwar gefragt, aber ich bin hier, weil ich hier sein will.“ 
     „Willst du nicht lieber bei Luna sein?“, fragte Lu irritiert.
     „Ihr Vater hat versprochen, auf sie aufzupassen, und da nehm ich ihn beim Wort. Ansonsten“, er hob die Faust, „kriegt er es mit mir zu tun.“
     „Ich brauche keinen Aufpasser, weißt du.“
     „Aber jetzt bin ich ja sowieso da, also…“


Also ging Wulf mit ihm. Wenn es darum ging, auf ihn aufpassen zu wollen, waren sich beide Wulfgars wirklich erstaunlich ähnlich. 
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Hier weiterlesen -> Kapitel 114

Und so endet der Abstecher in die Außenwelt schon wieder. Ich denke mal, dass es wohl schon seit einer Weile absehbar war, dass die Beziehung der beiden an den Ereignissen zerbrechen würde. Und jetzt muss Wulfgar, der ja erst letztens festgestellt hat, dass er eigentlich gar nicht mehr so gerne reist, genau das wieder tun. Aber ob es diesmal ein Abschied für immer ist? Es ist auf jeden Fall gut für ihn, dass seine Tochter diesmal bei ihm ist.

Nächstes Mal kehrt Lu dann nach Hause zurück, und man erfährt, wer da eigentich vor zwei Kapiteln angekommen ist.

PS: Falls ihr mal ein paar Bilder von Lu während seiner weniger schlimmen Zeit als Sklave sehen wollt, habe ich 13 Aufnahmen für euch in die Outtakes gesteckt. Und die Links vom letzten Kapitel zum Zoo habe ich auch eingefügt, falls ihr Tuniken und Togen auch für die armen vernachlässigten Sims-Altersgruppen sucht. Im letzten Kapitel ganz unten zu finden.

Bis dahin, danke euch fürs Vorbeischauen, passt auf euch auf, und ich verabschiede mich! 

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