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Mittwoch, 27. März 2019

Kapitel 84 - Marduk


Allgemeine Spoilerwarnung für Wulfgars Geschichte: Ab jetzt kann es immer mal wieder vorkommen, dass Zeitalter Passagen aus Wulfgars Geschichte spoilert. Wer sie also vorher noch lesen will, kann dies hier tun.



Nächster Tag, gleicher Ort, gleiche Gesichter. Es war erneut ein sonnig-milder Frühlingstag mit einem Himmel, der den Sturm von vor ein paar Tagen noch immer kräftig zu verleugnen versuchte. Ganz so, als hätte er nie stattgefunden.
     Statt Aan war es nun jedoch Wulfgar, der vor den Kindern stand und statt Nyota war es Wotan, der ein Lächeln im Gesicht trug. Der Junge konnte es gar nicht abwarten, das Training zu beginnen, dem die meisten der anderen Kinder eher ernüchtert entgegensahen. Vor allen Dingen Gisela konnte man ihren Unwillen, schon wieder hier zu sein, vom Gesicht ablesen. Mit Alis und Nero, der noch immer erkältet war und dem sein Vater verboten hatte, mitzumachen, saß sie am Rand, um zuzusehen. Schon allein sie dazu zu bekommen, hatte Wulfgar lange gebraucht.
      „Heute geht es nur darum, dass ihr an der Deckung eures Gegners vorbeikommt und einen Treffer erzielt“, begann der Lehrer seine Einführung. „Wir trainieren heute nicht eure Kraft, sondern wie ihr euch in einem waffenlosen Kampf verteidigt. Aber schlagt nicht richtig zu. Ich will nicht, dass jemand verletzt wird. Berührungen reichen vollkommen aus. Eine Berührung an Kopf, Hals oder Torso gibt einen Punkt. Und am Ende sehen wir, wer wie viele Punkte hat.“


Sie wurden in Paare eingeteilt. Leif wollte vor seinem Vater natürlich sein Bestes zeigen, aber er war ja schon froh, dass er nicht Wotan als Gegner abbekam. Den bekam Ragna, und Leif fragte sich wirklich, warum sein Vater ausgerechnet diese beiden als Trainingspartner einteilte. 
     Er hingegen bekam Gil zugeteilt. Ausgerechnet ein Mädchen! Auch Nila hatte es mit Nyota nicht besser getroffen. Und die Mädchen kämpften tatsächlich in ihren Alltagskleidern. Sein Vater hatte darauf bestanden, weil man sich im Ernstfall ja auch nicht einfach umziehen konnte.
      „Papa, ich will nicht kämpfen“, meldete sich Ragna, der bislang tapfer geschwiegen hatte, nun plötzlich doch zu Wort. „Wotan ist viel zu stark für mich.“


„Wotan ist vielleicht stark, aber du bist schnell. Wenn du nicht angreifen willst, ist das in Ordnung. Dann trainiere deine Schnelligkeit und versuche auszuweichen. Und erinnere dich an die Techniken, die ich euch gezeigt habe, um gegen stärkere Gegner anzukommen. Wichtig ist nur, dass du dich verteidigen kannst, wenn es darauf ankommt. Du musst ihn gar nicht besiegen. Also versuche es.“ Wulfgar lächelte ermutigend. „Du schaffst das schon.“
     Ragna nickte, aber er sah nicht sehr überzeugt aus. Trotzdem ging er vor Wotan in Aufstellung. Leif war es ja ein bisschen peinlich, dass sein Bruder so ein ängstlicher Jammerlappen war, und deshalb musste er erst recht sein Bestes geben.


Doch als er sah, dass Ragna tatsächlich nur auswich und Wotan langsam aber sicher genervt davon war, war er so abgelenkt, dass Gil, gegen die er bislang ganz gut abgeschnitten hatte, nun doch einen Treffer erzielte.


Der Blick seines Vaters, der jeden Treffer zählte, ging kurz zu ihm, und Leif erstarrte. Auch das noch! Sein Vater hatte sein Versagen gesehen!


„Oh, Mann!“, war derweil von Wotan genervt zu hören. „Bleib doch mal stehen, damit ich dich treffen kann! So kann ich ja überhaupt nicht trainieren!“
      Ragna sah jetzt aus, als ob er jeden Moment in Tränen ausbrechen würde und das war der Moment, in dem Nero einschritt. Sein Vater hatte ihm zwar verboten, mitzumachen, aber er konnte einfach nicht zusehen, wie Ragna zu etwas gezwungen wurde, was er gar nicht tun wollte.


Er stellte sich neben den schüchternen Jungen, Wotan gegenüber, und hob die Fäuste. 
     „Komm, ich trainiere mit dir“, bot er an.
     „Nee, ich will nicht gegen einen Kranken kämpfen. Da krieg ich nur Ärger, wenn ich dir wehtue.“
     Nero sandten einen Blick zu Wulfgar hinüber, der ihn kurz ansah, dann aber nickte, und da zog sich Ragna dankbar zurück und Nero nahm seinen Platz ein.


Die beiden neuen Trainingspartner bezogen voreinander Aufstellung und als die Anderen merkten, dass ein spannender Kampf vonstattengehen würde, ließen sie alles links liegen, um zuzuschauen. Wulfgar, der wusste, dass Wotan als stärkster Junge der Gegend galt, ließ sie machen. Es würde eine wertvolle Lektion für alle sein, wusste er.


Und tatsächlich – obwohl Wotan siegessicher war, wich Nero seinem Schlag mit Leichtigkeit aus, und im nächsten Moment hatte er blitzschnell die nun offene Deckung seines Gegners durchdrungen. Wotan erstarrte noch in seinem Schlag, während Neros Faust knapp vor seinem entblößten Hals innegehalten hatte. Wie Wulfgar die wenigen Male, die Nero hatte mitmachen dürfen, schon gesehen hatte, war der Junge ein Naturtalent im Kampf. Wenn seine Gesundheit nicht so angeschlagen wäre, wäre er der geborene Krieger.


„Ich habe dir ja gesagt, dass Stärke nicht alles ist, worauf es ankommt, Wotan“, begann Wulfgar seine Lektion, nachdem sich die beiden Jungen wieder voneinander gelöst und sich vor ihn gestellt hatten. „Deswegen habe ich auch Ragna vorhin als deinen Partner eingeteilt. Er ist viel schneller als du, und du konntest ihn nicht ein einziges Mal treffen. Zudem hat er seine Deckung, im Gegensatz zu dir, nie fallen lassen. Und Nero ist nicht nur schneller als du, sondern er behält auch einen kühlen Kopf und er hat die Techniken verinnerlicht, die ich euch allen beizubringen versuche . 
     Hast du bemerkt, was für einen essentiellen Fehler du im Moment des Eifers gemacht hast? Du hast dein Kinn angehoben, um deinen Kopf aus dem Gefahrenbereich zu schaffen und deinem Gegner dadurch deine Kehle preisgegeben. Hätte Nero eine Waffe gehabt, wäre das gefährlich für dich geworden. In einem richtigen Kampf wärst du jetzt wahrscheinlich tot.
     Es ist natürlich wichtig, dass du deine Stärken erkennst und sie richtig einsetzt, und deine Stärke ist vor allen Dingen deine große Kraft, aber du solltest auch an deiner Schnelligkeit und Kampftechnik arbeiten. Das gilt natürlich für euch alle hier.“

  
Er legte eine Hand auf Ragnas Schulter, der daraufhin zu ihm aufsah und scheu lächelte. „Nur weil ihr klein und schmächtig wirkt, heißt das noch lange nicht, dass ihr auch hilflos seid. Ihr müsst nur wissen, wie ihr eure Stärken richtig ausspielt und die Schwächen eurer Gegner für euch benutzt.“
      Obwohl Wotan bislang nicht so überzeugt davon gewesen war, dass Stärke nicht alles war, worauf es ankam, sah er jetzt ein, dass sein Onkel recht gehabt hatte. Im Gegensatz zu Leif führte er sich durch seine Niederlage gegen Nero auch nicht etwa vorgeführt. Er war vielmehr bestrebt, von denen zu lernen, die besser waren als er.


Deshalb ging er nach dem Training zu Wulfgar hinüber, als der gerade fertig damit war, seiner Schwester zur Hand zu gehen, und bat: „Onkel Wulf, würdest du mich trainieren? Also neben den normalen Trainingsstunden? Ich möchte ein Krieger werden, so wie du!“
     „Ich glaube nicht, dass das so eine gute Idee ist“, erwiderte Wulfgar jedoch. „Ich trainiere dich gerne, aber um ein richtiger Krieger zu werden, brauchst du echte Kampferfahrung. Du müsstest also in die Welt ziehen und eine Weile als Söldner oder Soldat dienen. Und ein solches Leben ist hart und gefährlich. Du musst dazu bereit sein, deinen Gegner zu töten, wenn du nicht getötet werden willst. Und selbst wenn du bereit dazu bist, könnte trotzdem jeder Kampf dein Letzter sein.“
     „Aber wenn ich alles bei dir lerne und so gut werde wie du, werde ich jeden Kampf gewinnen und kann wieder hierherkommen.“


Da musste Wulfgar lachen. „Oh, ich habe bei weitem nicht jeden Kampf gewonnen. Im Gegenteil. Als ich von hier fort bin, hatte ich weder die Fähigkeiten, noch die Erfahrungen, um einen Kampf zu bestehen und ich war auch bei weitem nicht bereit dazu, jemanden zu töten. Ich hatte nur Glück, dass ich in keine größeren Kämpfe verwickelt wurde und entkommen konnte, bis ich… bereit dazu war.“
     Seine Augen schweiften ab, hinfort an einen anderen Ort, wo er einen Moment verweilte, bevor er zu ihm zurückkehrte. „Und selbst danach… ein Kampf endet nicht unbedingt mit dem Tod deines Gegners. Manche Leute verfolgen ihre Taten und die Grausamkeiten eines Kampfes ihr ganzes Leben lang. Und es gibt immer jemanden, der besser ist oder einfach mehr Glück hat als du. Ich würde dir das Ganze jedenfalls lieber ersparen, Wotan. Bleib lieber hier, such dir jemanden, den du gern hast, gründe eine Familie und werde glücklich und zufrieden alt. Das ist viel lohnender, als der kurze und gefährliche Nervenkitzel eines Kriegerlebens.“


Wotan schien nach seiner Ansprache wirklich nachdenklich geworden zu sein, aber schließlich sagte er, fest entschlossen: „Ich möchte trotzdem alles lernen, um ein Krieger zu sein. Ich will wenigstens meine Mama beschützen können.“
     Wulfgar sah ihn lange Zeit an. Er war fürchterlich zwiegespalten über diese Anfrage. Er konnte sich auch nicht vorstellen, dass Greta das so gerne sehen würde, und er wollte seinen Neffen ja auch nicht in Gefahr bringen. Andererseits konnte diese Gegend aber einen weiteren Beschützer gut gebrauchen. Er wurde auch nicht jünger und es war eigentlich an der Zeit, dass er anfing, eine neue Generation an Ausbildern heranzuziehen.
     Er hatte eigentlich Jana dazu ausgebildet, dass sie das übernehmen würde, wenn er es nicht mehr tun konnte, aber Jana hatte, neben dem, dass sie nie von hier fortgehen würde, um Erfahrungen zu sammeln, ein weiteres Problem, das er befürchtete, sie ungeeignet als Ausbilder und Beschützer machte. Sie war zu hitzköpfig. Wut konnte in einem Kampf hilfreich sein, um Kraft zu erlangen und stärkere Gegner zu bezwingen, um Schmerzen auszuhalten und durchzuhalten, aber es brachte nichts, wenn man darüber seinen Kopf verlor. Und das tat Jana leider. Er war über die Jahre, die er nun schon sesshaft war, nicht besser im Kampf geworden, aber Jana hatte deshalb trotzdem nie den Hauch einer Chance gegen ihn gesehen. Sie war inzwischen sehr viel ruhiger geworden, aber wirklich ruhig und geduldig war sie nur, wenn sie mit Lu zu tun hatte, den sie als Schamanen innig bewunderte.  


„Nun gut“, erklärte er sich deshalb einverstanden. „Aber ich muss dich warnen. Wenn ich dich wirklich zu einem Krieger ausbilden soll, dann werde ich keine Rücksicht kennen, Wotan. Das Leben eines Kriegers ist nicht einfach. Kampf und Krieg sind hart und blutig, und genauso werde ich dich auch ausbilden. Wenn du das nicht aushältst, dann brauchst du nicht einmal darüber nachzudenken, ein Krieger zu sein.“
     „Ich werde alles aushalten, was du auf mich loslässt“, versicherte der Junge ernst.
     Wulfgar nickte. Er hatte auf seiner Reise schon einmal ein paar Krieger ausgebildet, damals in Eridu, und wenn jemand das Durchhaltevermögen dazu hatte, einer zu werden, war es Wotan, da war er sich ziemlich sicher. Er erinnerte ihn manchmal ein bisschen an Leif. Den sturen Kerl, der ihn einst auf dem Schlachtfeld gefunden hatte, als er mit einem Pfeil in der Brust dem Tod nahegewesen war und der ihn gerettet hatte, und nach dem er deshalb seinen Erstgeborenen benannt hatte.


Der nächste Tag war grau und wolkenverhangen, als Leif zum Strand hinunterging. Er hielt auf den Steg zu, an dem Ort, den Alin Hafen nannte. Oder „das, was einst ein Hafen sein würde“, wie er gesagt hatte.
     Leif hatte es schon seitdem Wotan ihn einst besiegt hatte zu schaffen gemacht, dass er als Sohn des besten Kämpfers der Gegend so schwach war. Aber er kam einfach gegen niemanden an. Schlimmer noch, er traute sich inzwischen ja nicht mal mehr, gegen irgendjemanden anzutreten. Er war genau so ein Feigling wie Ragna. Und dagegen musste er etwas machen. Er musste sich beweisen. 
     Also hatte er sich ein Floß gezimmert, das er ein Schiff nannte, um damit aufs Meer rauszufahren. So, wie es auch sein Vater einst getan hatte. Da die Schwimmstunden, die sein Vater ihnen noch geben wollte, noch nicht stattgefunden hatten, konnte er auch noch nicht schwimmen, und das machte das Ganze noch besser. So konnte er seinen Wagemut gleich doppelt beweisen.


Doch als er noch damit zu kämpfen hatte, sein wahnsinnig schweres Schiff ins Wasser zu schieben, kam Ragna, der Feigling, an.
     „Leif, was machst du da? Du willst damit doch nicht etwa ins Wasser?“
     „Doch, natürlich! Und wenn du nicht hier bist, um mir zu helfen, kannst du gleich wieder abhauen!“ Er unterbrach seine Anstrengungen, um seinem Bruder einen drohenden Blick zuzuwerfen. „Und wehe, du verpetzt mich!“


Ragna konnte nichts anderes tun, als dabei zuzusehen, wie sein Bruder die letzten Meter bis zum Wasser mühselig überwand und sein behelfsmäßiges Gefährt erklomm. Sofort wurde er von den Wellen mitgenommen. Es kam Ragna so vor, als würde man ihm seinen Bruder entreißen, und plötzlich war er sich sicher, dass etwas Schlimmes passieren würde. Dass er ihn nie wiedersehen würde. Und das machte ihm eine wahnsinnige Angst.


Während Leif das erste Mal etwas empfand, dass er mit seinem Vater gemeinsam hatte – ein Gefühl von Freiheit. Das weite Meer, das sich wie eine silbern-schimmernde, endlose Pfütze vor ihm ausbreitete. Da war nur noch Wasser rings um ihn herum, und für einen Moment war er sich sicher, dass auch das Land hinter ihm verschwunden sein würde und er mitten auf dem Meer war. Doch als er einen ängstlichen Blick über seine Schulter zurückwarf, war der Strand, an dem sein Bruder stand, natürlich immer noch da.


Er atmete ein bisschen erleichterter und wagte dann den zweiten Schritt. Es war nicht nur damit getan, aufs Meer hinauszufahren. Sein Vater hatte ihm einmal eine Geschichte von einem Mann erzählt, der die Wellen geritten hatte, und das wollte Leif auch tun. Momentan waren die Wellen zwar nur klein, aber es war ein guter Anfang, um zu üben. 
     Also kämpfte er sich langsam auf die Beine und obwohl sein Untergrund gefährlich unstet war, schaffte er es tatsächlich, zu stehen.


Zumindest so lange, bis eine etwas ausgewachsenere Welle ihn erfasste, seine Welt zu schwanken begann und er den Halt verlor. Er fiel nach vorn, und sein Floß, von der Wucht seines Falls nach hinten gedrückt, verschwand unter ihm, und plötzlich war da nur noch Wasser vor ihm. Dunkelgraues, eiskaltes Wasser, das ihn im nächsten Augenblick verschlungen hatte.
      Ragna brach in Panik aus, als er sah, dass sein Bruder unterging. In einem ersten Reflex ging er zum Wasser hinunter, aber als ihm aufging, dass er auch nicht schwimmen konnte, ging er wieder zurück. Unbeholfenen lief er hin und her, konnte sich nicht entscheiden, ob er nun doch nachspringen oder Hilfe holen sollte. Also tat er alles, zu dem er momentan in der Lage war – er schrie.


Und das war auch gut so, denn sein Schrei lockte jemanden an, der scheinbar schwimmen konnte. Ragna bemerkte etwas leuchtend Rotes in die Fluten springen und darin versinken. Einen bangen Moment lang glaubte er, dass der Andere ebenfalls untergegangen war und nie wieder auftauchen würde, aber dann erschien er doch wieder. Und er hatte Leif bei sich!


Ragna beachtete den Retter gar nicht, sondern eilte sofort zu seinem Bruder, der gerade auf allen Vieren keuchend im Sand landete und hustend versuchte, das Wasser in seinen Lungen loszuwerden.
      „Leif! Bist du okay?“


Doch Leif schlug seine Hand weg und rappelte sich mühsam auf, und in diesem Moment mischte sich erstmals sein Retter ein. Es war ein Fremder, den Ragna hier noch nie zuvor gesehen hatte. Mit schwarzem Haar, das er zu vielen Zöpfen geflochten trug, aufwändiger Kleidung und goldenen Ringen um Handgelenk, Hals und an den Ohren. Alin trug Ähnliche, nur kleiner, erinnerte Ragna sich. 
     „Was hast du denn dort überhaupt gemacht, Junge?“, wollte der Fremde wissen. „Das sah ziemlich gefährlich aus.“
     „Na und?“, war Leifs gereizte Antwort. „Ich bin halt mutig und kein Feigling!“
     „Sowas hat nichts mit Mut oder Feigheit zu tun, das war einfach nur dumm. Du solltest dein Leben nicht so leichtsinngi in Gefahr bringen, um deinen Mut zu beweisen.“


Doch Leif antwortete nicht einmal mehr. Er rannte einfach davon. Ließ seinen Retter und Ragna allein zurück.


 „War das dein Bruder?“, fragte der Fremde, als Leif schon den Hügel hinauf verschwunden war. „Er scheint ganz schön wagemutig zu sein. Du solltest gut auf ihn Acht geben.“
     Ragna ließ die Schultern hängen. „Er hört aber nicht auf mich…“
     „Ich würde ja gerne sagen, dass meine Brüder genauso waren, aber ich war es eher, den sie immer aus dem Wasser gefischt haben. Deshalb, keine Sorge, er wird bestimmt auch noch vernünftiger werden. Bis dahin müsst ihr nur aufpassen, dass sein Wagemut ihn nicht umbringt.“


Ragna sah seinem Bruder nachdenklich nach, bevor er sich dem Fremden zuwandte und sagte: „Danke, dass du ihn gerettet hast.“
     „Nicht der Rede wert.“
     „Bist du ein Reisender?“
     „Nein, ich bin ein ehemaliger Lehrling von Alin. Er hat mich gebeten, ihm hier im Handelsposten auszuhelfen, bis er jemand anderen gefunden hat.“
     Ragna hatte eigentlich immer Probleme, mit anderen Menschen zu reden. Vor allen Dingen vor Fremden hatte er Angst. Aber dieser hier war irgendwie anders. Er erinnerte ihn wirklich ein bisschen an seinen Bruder. Wenn er nicht gerade versuchte, seinen Mut zu beweisen.


Deshalb hatte er auch keine Angst vor ihm und deshalb nahm er ihn auch mit, als er später nach Hause zurückkehrte, wo der neue Händler seine Aufwartungen machen wollte. Er wurde von Aan, Elrik und Lu in Empfang genommen, Begrüßungen und Namen wurden ausgetauscht und die Formalitäten geklärt.


Malah beobachtete dies alles aus der Ferne. Sie stand an den Beeten und sie sah mit einem immer nagenderen Zweifel im Bauch zu. Sie musste es endlich wissen.


Also wandte sie sich an Tann, der gerade neben ihr stand und ebenfalls beobachtete. „Darf ich dich was fragen, Opa?“
     „Natürlich. Was denn?“
     „Ich glaube, dass“, sagte sie leise, „Papa gar kein Stammesführer sein will.“
     „Wie kommst du denn darauf?“
     „Weil er nie was macht! Auch auf den Versammlungen nicht!“, rief sie. „Und guck, er überlässt auch jetzt alles Lu und Aan!“


Da verstummte Tann, um mal genauer hinzusehen und er musste feststellen, dass Malah recht hatte. Es war das erste Mal, dass ihm auffiel, dass Elrik eigentlich überhaupt nichts tat und Lu und Aan seine Aufgabe übernahmen. Und das erschreckte ihn, zu sehen. Wie hatte ihm das nur nicht auffallen können? Er war so beschäftigt mit sich selber gewesen, dass er es einfach nicht gesehen hatte.
     Trotzdem konnte er sich das vor Malah natürlich nicht anmerken lassen.


„Nun, manchmal muss man Dinge tun, die man eigentlich nicht tun möchte. Das heißt es, Verantwortung zu übernehmen“, erklärte er seiner Enkelin. „Und niemand kann alles allein tun. Es ist gut, dass dein Vater sich helfen lässt, wenn er Hilfe braucht.“
      Doch statt damit zufrieden zu sein, ließ das Kind die Schultern hängen. „Das hat Papa auch schon gesagt. Er hat das also von dir…“
     Tann schmunzelte. „Nein. Eigentlich habe ich es sogar von deinem Vater. Er hat mir gezeigt, wie wichtig Zusammenhalt ist.“ Er sah zu Elrik hinüber. „Es gab mal eine Zeit, in der ich allein dastand und nur noch Konfrontation sehen konnte, während dein Vater das Vertrauen der Anderen gewonnen hat, um jetzt dort zu stehen, wo er ist.“ Er sah seiner Enkelin fest in die Augen. „Das ist die große Stärke deines Vaters: Zusammenhalt.“
      Malah schwieg nachdenklich. Tann sah, dass sie nicht ganz zufrieden mit dieser Antwort war, und er war es ja auch nicht. Egal, wie schön er es auch redete, es war offensichtlich, dass eigentlich Aan und Lu momentan den Stamm anführten. An sich war dagegen ja auch nichts einzuwenden – die beiden leisteten gute Arbeit und wenn sie ihn nur fragen würden, würde er ihnen mit Freuden beistehen – aber für Malah war das trotzdem kein sehr gutes Vorbild. Er musste unbedingt mal Aan und Lu zur Seite nehmen, um mit ihnen zu reden.


„Opa“, fing Malah jetzt wieder zögerlich an und sie schreckte ihn damit aus seinen Gedanken, „du warst doch auch mal Stammesführer. Kannst du mir nicht beibringen, wie man ein guter Anführer wird? Ich hab von allen immer nur gehört, dass du ein guter Anführer warst. Papa hat das auch gesagt.“
     Tann war nicht nur erstaunt, das zu hören, sondern auch zutiefst gerührt. Dass Malah ihn wirklich darum bat, sie auszubilden und dass Elrik so etwas über ihn gesagt hatte. Er hatte ihn und seine Methoden doch immer verurteilt.
     „Es würde mich freuen, wenn ich dir etwas beibringen dürfte, Malah.“
     „Aber so, dass Papa das nicht mitkriegt“, flüsterte sie wieder. „Ich will nicht, dass er traurig wird.“
     Er lächelte verständnisvoll. „Natürlich.“


Nachdem der neue Händler fort war, ging Lu zur Feuerstelle bei ihrer provisorischen Zeltunterkunft hinüber, wo Lulu und Wulfgar gerade zusammenstanden und miteinander redeten. Schon allein der Anblick der beiden stieß ihm sauer auf.


„Du bist ja doch da“, sagte er deshalb mit einer Spur Bitterkeit und Vorwurf zu seinem Gefährten. „Warum bist du denn nicht gekommen und hast dir den neuen Händler angesehen? Du bist doch sonst immer ganz begierig darauf, einen Blick auf alle Fremden zu werfen, die in die Gegend kommen.“
     Doch Wulfgar überhörte die Bitterkeit in seiner Stimme wie gewöhnlich und fragte arglos: „Welcher Händler?“
     „Der neue Händler, der den Posten übernimmt, wenn Alin auf Reisen ist. Ich habe dir letztens doch davon erzählt. Hast du nicht zugehört?“
     „Dann sollte ich später mal zum Handelsposten runtergehen. Wie ist er denn so?“
     „Ich halte ihn für vertrauenswürdig, aber Aan ist ein bisschen skeptisch. Er meint, dass er viel zu jung ist und zwielichtig aussieht.“


„Marduk ist nett“, mischte sich da plötzlich Ragna ein, der bislang am Feuer gesessen und einen Fisch darüber geröstet hatte. „Er hat Leif geholfen.“ Weil er sich verplappert hatte, fügte er hastig hinzu: „Und er sagt, dass er Leute kennt, die so heißen wie ich und Leif.“
     Doch Wulfgar hörte ihm schon gar nicht mehr zu. Seine Augen waren vor Schreck weit aufgerissen.
     „Wie sagtest du, heißt er?“, fragte er seinen Sohn bang.
     „Marduk.“


Ohne ein weiteres Wort zu verlieren, war er abgedreht und hatte die Anderen stehen lassen. Das konnte nicht sein! Marduk war tot! Er hatte gesehen, wie Ragna, der, nach dem er seinen Zweitgeborenen benannt hatte, ihn getötet hatte! Er hatte ihn selber beerdigt! Doch was, wenn…?
     Er musste es herausfinden. Also rannte er zum Handelsposten hinunter. Er hatte letztendlich nie mit sich ausmachen können, ob er froh über Marduks Tod gewesen war oder er traurig für ihn hatte sein sollen, dass er nie die Freiheit hatte kosten dürfen, nach der er sich so sehr gesehnt hatte. Doch eines wusste er: Er wollte Marduk nicht in der Nähe seiner Familie haben!


Und wenn er ihn dafür töten musste!
     Er zog sein Schwert noch bevor er den scheinbar verlassenen Handelsposten erreichte. Das Feuer in seiner Mitte brannte, aber weit und breit war niemand zu sehen. Das konnte jedoch täuschen, wie er wusste. Wenn es wirklich der Marduk war – Marduk aus Eridu – musste er auf der Hut sein. Er war höchst gefährlich und unberechenbar, und noch bevor er gestorben war, hatte er ihn töten wollen. Dass Wulfgar das letztendlich überlebt hatte, war nur Marduks Schlächter Ragna zu verdanken gewesen.


Er ging mit gezücktem Schwert auf eines der Zelte zu, in das ihm der Einblick verwehrt war. Seine Sinne waren bis aufs Äußerste geschärft und deshalb zuckte er nicht einmal zusammen, als sich plötzlich und unerwartet eine Gestalt aus den Schatten des Zeltinneren schälte und vor ihn trat. Es war ein Fremder, was ihn ein bisschen hoffen ließ.


„Willkommen!“ begann der Fremde unbeeindruckt. „Weißt du, das hier ist ein friedlicher Handelsposten und ich würde es begrüßen, wenn du dein Schwert wegsteckst.“
     „Ich suche jemanden namens Marduk.“
     Da seufzte sein Gegenüber und offenbarte: „Ich bin Marduk.“


Wulfgar steckte sein Schwert weg. „Dann muss ich mich entschuldigen. Ich habe dich mit jemandem verwechselt.“ Er furchte die Stirn. „Aber du kommst mir trotzdem bekannt vor. Deine Kleidung – kommst du zufällig aus Eridu? Ur?“
     Diese Städte gab es mal, dort, wo ich aufgewachsen bin.


Als Lu wenig später gehetzt zum Handelsposten kam, war die Sonne längst untergegangen. Er platzte mitten in eine heitere Unterhaltung von zweien, die redeten, als würden sie sich schon ewig kennen.      
     Doch obwohl Lu Lachen gehört hatte, sah er alarmiert aus. „Wulf! Den Göttern sei Dank! Ich dachte, es ist etwas passiert, weil du nicht wiedergekommen bist. Du sahst so erschrocken aus, als du vorhin weg bist.“   
     „Entschuldige, aber ich habe ein bisschen die Zeit vergessen.“ Wulfgar wies auf Marduk, der sich gerade erhob und Lu freundlich zunickte. „Marduk hier ist der Sohn eines alten Freundes von mir.“
     Von Ragna, aber das sagte er nicht.


Auch sonst sagte er nichts mehr. Lu versicherte sich noch, dass wirklich alles in Ordnung war und Wulfgar versprach, bald heimzukommen, bevor der Schamane wieder ging.
     Marduk trug noch immer ein Lächeln im Gesicht, aber Wulfgar seines war längst erstorben. Als er sich dem Anderen jetzt wieder zuwandte, sah er todernst aus.


„Marduk, ich muss dich um einen Gefallen bitten“, begann er. „Dein Vater hat dir ja alles erzählt, was in Eridu passiert ist, aber ich möchte dich bitten, das für dich zu behalten.“ Er zögerte. „Vor allen Dingen dem Mann gegenüber, der gerade hier war. Er ist ein Priester und er ist überaus friedliebend. Er würde viele Dinge, die ich damals getan habe, nicht verstehen und ich möchte den Frieden in meinem Zuhause nicht zerstören, verstehst du?“
      Auch Marduk war nun ernst, als er versicherte: „Natürlich. Diese Dinge gehen mich schließlich nichts an.“
      Wulfgar hatte Lu all diese Dinge nie erzählt. Nichts davon, dass er getötet hatte. Immer und immer wieder. Das Leben, das er geführt hatte. Voller Kälte und Herzlosigkeit. Er wusste nichts von der Schlacht, in der er gekämpft hatte und auch nichts von Marduk und Leif und Ragna aus Eridu. Und er wusste auch nichts von ihr und von dem, was er getan hatte, um sie zu rächen.


Und Lu, der hinter einem der Zelte versteckt stand und lauschte, fragte sich in diesem Moment, getroffen und enttäuscht, warum sein Gefährte ihm Dinge verheimlichte. Und was das für Dinge waren, von denen er nicht wollte, dass er sie wusste. 
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Für alle Wulfgar-Leser, habe ich noch ein kleines Kapitel geschrieben, in dem Marduk Wulfgar erzählt, was so aus den Leuten in seiner Heimat geworden ist (und in dem geklärt wird, warum nur Ragna seinen Sohn ausgerechnet Marduk genannt hat). Da der Wunsch bestand, die Leute mal bildlich zu sehen, hat sich auch mal ein Bild zwischen die Zeilen verirrt. Hier also: Kapitel 26 - Geschichten aus Babylon

Marduk ist also der neueste Zugang in der Uruk-Gegend. Ich hoffe, ich habe keine zu großen Hoffnungen geschürt, dass der andere Marduk jetzt rumkommt. 
Es war vielleicht ein bisschen verwirrend für diejenigen, die Wulfgars Geschichte nicht gelesen haben, was es jetzt so mit ihm auf sich hat, aber eigentlich muss man gar nicht so viel über seinen Hintergrund wissen. Er wurde nach einem Kerl benannt, der Wulfgar mal töten wollte, und er selber ist der Sohn von einem Mann namens Ragna, der Wulfgar mal das Leben gerettet hat. Dann gab es da noch einen Mann namens Leif, dem Wulfgar ebenfalls sein Leben verdankt. Nach letzteren beiden hat Wulfgar dann auch seine Söhne benannt. Und das war eigentlich schon alles, was man vielleicht wissen sollte. 
Ich glaube, dass das noch verwirrender war, als es ohnehin schon war XD. Was ich eigentlich nur damit ausdrücken wollte, ist, dass das eigentlich alles gar nicht wichtig ist und Marduk einfach nur ein harmloser neuer Händler in der Gegend ist, während Alin auf Reisen ist.   

Ich weiß noch nicht so genau, wie ich das nächste Kapitel aufziehe. Es ist eine größere, in sich abgeschlossene Geschichte, die eigentlich über zwei oder drei Kapitel gehen sollte, aber ich will sie nicht wirklich auseinanderreißen. Vielleicht mach ich einfach zwei größere Kapitel draus, die ich nächstes Mal dann gleichzeitig hier reinstelle. Mal gucken. Ich hab mich jedenfalls mal an was anderes gewagt und man wird die Uruk-Leute mal in ganz anderen Rollen sehen.

Bis dahin, danke fürs Vorbeischauen, und ich verabschiede mich!

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