Dieses Kapitel spielt während Zeitalter-Kapitel 84
Der Andere kam mir nicht nur überaus bekannt vor, ich war mir sogar ziemlich sicher, wen ich hier vor mir hatte. Er war schließlich beinahe das gespukte Ebenbild seines Vaters. Ich wartete nur noch drauf, dass der immerzu grimmige Ausdruck auf sein Gesicht treten würde, den sein Vater immer getragen hatte. Zumindest, seitdem er, mehr oder weniger wegen mir, seine rechte Hand verloren hatte.
Der Andere kam mir nicht nur überaus bekannt vor, ich war mir sogar ziemlich sicher, wen ich hier vor mir hatte. Er war schließlich beinahe das gespukte Ebenbild seines Vaters. Ich wartete nur noch drauf, dass der immerzu grimmige Ausdruck auf sein Gesicht treten würde, den sein Vater immer getragen hatte. Zumindest, seitdem er, mehr oder weniger wegen mir, seine rechte Hand verloren hatte.
„Dein Vater
heißt Ragna, nicht wahr?“
Ein Lächeln
machte sich bei ihm breit. „Ja, das stimmt. Woher kennst du ihn?“ Ich nannte
ihm meinen Namen und da wurde das Lächeln zu einem waschechten Grinsen. „Das
erklärt, warum du so alarmiert warst“, sagte er.
„Dein Vater
hat dir also von mir erzählt“, mutmaßte ich.
„Nicht nur.“
Er wies zur Feuerstelle, die wie immer behaglich brannte, und wir gingen, um
uns hinzusetzen. Es gab keinen Grund, ihm zu misstrauen. Schon allein mein
Instinkt sagte mir, dass er in Ordnung war.
Der wunderbar
malerische Abendhimmel war inzwischen von dunkelgrauen Wolken überzogen, mit
denen ich, wenn ich ehrlich war, diese Gegend hier, die mein Zuhause war, am
meisten verband.
„Du sagtest,
es gab Eridu und Ur mal dort, wo du
aufgewachsen bist“, begann ich überrascht. „Heißt das, dass es sie nicht mehr
gibt?“
Marduk nahm
sich einen Moment Zeit, ein weiteres Holzscheit nachzulegen, bevor er
schwermütig antwortete: „Nein, seit einigen Jahren schon nicht mehr. Eridu ist
unter seinem letzten König ziemlich schnell eingegangen, hat man mir erzählt –
ich erinnere mich gar nicht mehr wirklich daran. Ur wiederum hab ich noch
lebhaft als große, blühende Stadt in Erinnerung.“
Eridu war
schon unter Enlils Herrschaft auf Talfahrt gewesen, wie mir im Nachhinein
schien, aber dennoch kam diese Nachricht überraschend für mich.
„Und was ist
mit Ur passiert?“, fragte ich nach, als Marduk nicht weiter erzählte.
Er zuckte mit
den Schultern. „Diverse Kriege, Barbareneinfälle aus dem Norden. Letztendlich
wurden sie von den Babylonern überrannt und jetzt gibt es die Stadt nicht
mehr.“
„Was ist mit
den Einwohnern?“
Leif vor allen
Dingen. Er hatte ja in Ur gelebt, als ich von da fortgegangen bin.
„Weg. Die
meisten sind in Babylon. Meine Eltern sind auch übergesiedelt und wohnen jetzt
im Umland davon.“ Er winkte ab. „Aber das hatte mehr mit meinem Onkel zu tun.“
„Wie geht es
deinen Eltern eigentlich?“ Ich musste ja nachfragen, also tat ich es: „Und
warum haben sie dich ausgerechnet Marduk genannt? Ich weiß ja nicht, ob sie dir
die Geschichte deines… Namensvetters erzählt haben.“
„Oh, das haben
sie, glaub mir. Genug Leute haben das. Ich war, ehrlich gesagt, ganz froh, als
wir nach Babylon gezogen sind. Marduk hatte ja keinen sehr guten Ruf in Ur und
Eridu.“
Das konnte ich
mir lebhaft vorstellen. Marduk war als Sohn von Enlil, der als Tyrann über
Eridu geherrscht hatte, allgemein verhasst gewesen. Und dabei war er selber
eigentlich eine ziemlich tragische Gestalt gewesen. Er hatte zwar selber viele
Gräueltaten an den Gefangenen seines Vaters begangen, war aber gleichzeitig
selber dessen Gefangener gewesen, der schwer unter der Grausamkeit seines
Vaters gelitten hatte.
„Deswegen
habe ich meinen Vater eines Tages auch mal gefragt, warum er mich ausgerechnet
nach dem Mann benannt hat, der ihm die Hand gekostet hat“, fuhr Marduk fort.
„Nach dem Mann, den er so sehr gehasst hat, dass er ihn getötet hat. Aber er meinte, dass ich das vollkommen falsch
verstanden hätte. Er hätte Marduk nicht aus Hass getötet, sondern, um ihn zu
befreien.“
„Um ihn zu
befreien?“, fragte ich irritiert nach.
„Du weißt ja
sicherlich, dass Enlil gegen Ur in die Schlacht gezogen ist.“
„Ich war
hautnah dabei. Und Schlacht würde ich das ja nicht gerade nennen. Es war eher ein
Gemetzel.“
„Jedenfalls
ist mein Vater ja noch vor Beginn desertiert, aber sie haben ihn erwischt und
gefangen genommen. Du erinnerst dich bestimmt auch noch daran, wie du meinen
Vater mal davor bewahrt hast, zum Eunuchen gemacht zu werden, nicht wahr?“
Ich nickte. Da
Enlil aufgrund einer Kriegsverletzung nicht mehr dazu in der Lage gewesen war,
mit jemandem das Lager zu teilen, hatte er auch all seinen Kriegern
Frauenbesuch verboten gehabt. Es hatte sich natürlich niemand dran gehalten, aber
Ragna war so unvorsichtig gewesen, sich erwischen zu lassen. Als sein Ausbilder
hatte Enlil mir daraufhin aufgetragen, ihn angemessen zu bestrafen. Und weil er
so einen guten Tag gehabt hatte – wahrscheinlich voller Bestrafungen
Unschuldiger oder so – hatte er mir netterweise die freie Wahl gelassen, Ragna um
eine Hand oder seinen Freund zu erleichtern. Ich hatte mich natürlich für die
Hand entschieden, hatte dann aber nur so getan, um Ragna Angst einzujagen und
ihn gewarnt, dass ich ihm nächstes Mal beides abschneide. Es war ein
gefährliches Spiel gewesen, das ich da gespielt hatte. Enlil hatte man sich
nämlich lieber nicht widersetzt, wenn einem das eigene Leben lieb war.
„Mein Vater
war also gefangen“, erzählte Marduk weiter, „und als Deserteur haben sie ihn
natürlich Enlil vorgeführt. Für Desertation stand normalerweise die
Todesstrafe, aber da Enlil meinen Vater wiedererkannt und sich an die Sache mit
dir und der Hand erinnert hat, hat er sich stattdessen dazu entschieden, ihn
erstmal tatsächlich um eine Hand zu erleichtern. Er wollte ihn foltern, bis er
tot war, hat Vater gesagt.
Deswegen hat
er ihn auch zu Marduk gebracht. Du weißt ja, dass Marduk für seinen Vater immer
die Gefangenen gequält hat. Aber Vater erzählte, dass Marduk ihn nicht einmal
angefasst hätte. Stattdessen hat er von seinem Vater verlangt, dass er ihn als
sein „Spielzeug“ behalten dürfe. Vater meint, dass ihm das das Leben gerettet
hat. Er hatte zwar weiterhin Angst vor Marduk, aber der hat ihn in Ruhe
gelassen. Er sagte immer nur, dass er lieber dankbar sein solle, dass er ihn
gerettet habe, aber ansonsten hat er ihn ignoriert.“ Marduks Blick wurde düster,
als er jetzt fortfuhr: „Bis sie diesen einen Priester umgebracht haben, der
sich immer um ihn gekümmert hat, zumindest.“
Gekümmert war
ein bisschen untertrieben, aber ich konnte mir schon vorstellen, dass kaum
jemand davon gewusst hatte. Marduk hatte den Priester, Utu, nämlich geliebt. Er
war auch der Grund gewesen, warum Marduk aufgehört hatte, die Gefangenen zu
quälen. Dummerweise aber hatte Utu sich dazu entschlossen, sich gegen Enlil und
seine Tyrannei zu stellen und das hatte ihm nicht gut getan.
„Vater wollte
mir nicht alles erzählen, aber er sagte, dass Marduk seitdem wie von Sinnen
gewesen war. Er hätte andauernd geschrien und geweint, und wäre jede Nacht immer wieder schreiend erwacht.
Dann hat er immer von den Dingen erzählt, die sein Vater ihm angetan
hatte, hat Vater erzählt.“
Da Enlil
selber keinen Erben mehr hatte zeugen können, hatte er das von Marduk verlangt,
damit seine Blutlinie bestehen konnte. Aber Marduk hatte sich geweigert und das
hatte Enlil nicht sehr gerne gesehen. Auch mir hatte er viele dieser Dinge
erzählt, und sie waren der Grund, warum ich mich einfach nicht entscheiden
konnte, ob ich jetzt Mitleid oder Hass für ihn empfinden sollte.
„Mein Vater
hatte deshalb Mitleid mit ihm bekommen und er sagte, dass er damals erkannt hatte,
dass Marduk niemals wirklich frei sein würde. Weder von seinem Vater, noch von
der Schuld, die er sich anderen gegenüber aufgeladen hatte. Oder von seinem
Wahn. Er sagte, dass Marduk eine Gefahr für sich und andere dargestellt hätte, da er
zu dem Zeitpunkt gar nicht mehr gewusst hätte, was er tat. Deshalb habe er ihn
getötet. Um ihn zu erlösen.“
Da war Marduk
schließlich still. Er löste seinen Blick von mir und begann, die Flammen des
Feuers zu beobachten. Er war selber nicht dabeigewesen, aber scheinbar schien
auch ihn diese alte Geschichte nicht kalt gelassen zu haben. Wie konnte sie
auch, wo er doch nach diesem Mann benannt war?
„Und deshalb
hat dein Vater dich nach ihm benannt“, schloss ich und brachte ihn damit wieder
zu mir zurück.
„Ja. Aus
Dankbarkeit, dass Marduk ihm das Leben gerettet hat.“
Ich musste
schmunzeln. „Genau dasselbe habe ich auch getan.“ Ich sah ihn an. „Ich habe
einen Sohn, Ragna. Du hast ihn schon getroffen. Und mein Erstgeborener heißt
Leif.“ Ich verlagerte mein Gewicht und wechselte das Thema, hoffentlich fort
von den Schatten der Vergangenheit. „Wie geht es Leif eigentlich?“
„Als ich ihn das letzte Mal sah, war er putzmunter.“
„Bildet er
noch immer Krieger aus?“
„Ja. Er war
mal eine Weile als Kommandant tätig, aber das hat ihm nicht gefallen, und er
ist zurück, um seine „Kinder“ wieder auszubilden.“
Ich lachte.
„Ach, hat er echt welche?“
„Wahrscheinlich einen ganzen Keller voll. Ich weiß ja nicht, wie er
früher war, aber wenn er betrunken ist, springt er ja alles an, was nicht bei
drei auf den Bäumen ist. Er ist auch immer Stammgast bei den Tempeldirnen
gewesen. Da wird das ein oder andere Kind schon bei entstanden sein. Könnte
auch schwören, dass ich schon die ein oder andere“, er räusperte sich und ich
konnte sehen, wie er sich ein „bedauernswert“ verkniff, „Person gesehen habe,
die sein Gesicht hatte.“
„Ich seh
schon, mit dem „Frauchen“, von dem er immer gefaselt hat, hat’s also nicht so
ganz geklappt.“
„Zumindest,
als ich ihn das letzte Mal gesehen habe, war er noch allein.“ Er zuckte mit den
Schultern. „Aber das ist schon eine Weile her.“
„Er kam früher oft auf unseren Hof und er hat mich auch
ausgebildet, doch da er dauernd meiner Mutter schöne Augen gemacht hat, hat er
sich ganz schön mit meinem Vater verkracht. Seitdem habe ich ihn nicht mehr
gesehen.“
Ich fand es
ein bisschen schade, dass er mir nicht mehr über Leif erzählen konnte. Der
Blödmann war damals mit mir im selben Dorf aufgewachsen (dem, das heute am Grund
eines Sees lag), und er hatte eine Heidenfreude daran gehabt, mich zu
schikanieren, als wir Kinder gewesen waren, aber dennoch waren wir in meiner Zeit
in Eridu und Ur gute Freunde geworden. Lag vielleicht dran, dass er mich nicht
zum Verrecken zurückgelassen hatte, als ich mit einem Pfeil in der Brust,
mitten unter Toten, auf dem Schlachtfeld gelegen hatte.
„Und deinen
Eltern?“, wiederholte ich. „Wie geht’s denen so?“
„Ganz gut,
würde ich sagen. Ich habe noch vier kleine Brüder. Einer davon verdankt dir
sein Leben. Das Schwert, das du meinen Eltern geschenkt hast, hat genug
eingebracht, dass wir einen Arzt bezahlen konnten, als er krank war.“ Er
grinste. „Und ich habe auch einen Teil bekommen, um mein erstes Boot zu kaufen.
Dafür sollte ich dir wohl danken.“ Er beugte sich vor und flüsterte: „Auch wenn
meine Mutter ein bisschen stinkig deswegen ist. Sie mag es nicht, wenn ihre
Söhne nicht in ihrer Sichtweite sind.“
Das konnte ich
mir bei Puabi lebhaft vorstellen.
Ich wollte Marduk
gerne noch so viel mehr fragen. Er war überhaupt nicht wie sein Vater, und ich
war mir ziemlich sicher, dass wir gut miteinander auskommen würden. Aber als
ich gerade wieder ansetzen wollte, tauchte plötzlich jemand zwischen den Zelten
auf und ich war sofort alarmiert auf den Beinen. Ich beruhigte mich ein
bisschen, als ich sah, dass es nur Lu und keine Raubkatze war, aber sein
Anblick erinnerte mich daran, dass Marduks Auftauchen hier vielleicht doch
etwas schwieriger für mich sein würde, als ich gedacht hatte.
Ich hatte
schließlich nie jemandem hier von meiner Zeit in Eridu und Ur erzählt. Nichts von Lao-Pao. Von Mari. Und eigentlich hatte ich auch nicht vor, das nachzuholen. Die Zeiten und Orte, die mir vorkamen, als wären sie so weit weg gewesen. Als wären all diese Dinge in einer anderen Welt geschehen.
Doch so
einfach wurde ich die Vergangenheit wohl nicht los.
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