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Mittwoch, 8. Mai 2019

Kapitel 87 - Die Dinge, die wir tun, und deren Auswirkungen V



Ich stehe oft hier am Strand und sehe aufs Meer hinaus. Dorthin, wohin dein kleines Boot verschwunden ist, als wir dich zum letzten Mal sahen. Seitdem du fort bist, sind alle meine Tage grau und sinnlos geworden, und ich frage mich oft, was du jetzt wohl tun würdest, wenn du noch da wärst.
Aber du bist es nicht mehr.
Nichts ist mir geblieben außer der Reue, dich nicht beschützt zu haben, und einer traurigen Geschichte. Die Geschichte, wie ich einst meinen Bruder verlor:


Es war ein wolkenverhangener Tag, wie alle es zu sein schienen, seitdem er fort war. Wotan hatte vor kurzem seinen Geburtstag gefeiert und während alle anderen gegangen waren, um Material zum Decken des Daches zu sammeln, hatten sich ein paar der Uruk-Kinder um den inzwischen größeren Nachbarsjungen geschart, um seiner Geschichte zu lauschen. Er hatte letztens wohl einen ausgehöhlten Baumstamm gefunden, in dem sich eine Bienenkolonie eingerichtet hatte. Mit unverhohlenem Stolz hatte er davon berichtet, wie er den Bienen etwas Honig stibitzt hatte und die bewundernden Blicke der Kleineren dabei genossen.


„Wenn ich das nächste Mal hingehe, bring ich euch vielleicht auch mal was mit“, schloss er gerade, bevor er mit dem Kopf in die Richtung nickte, in der der Ahn-Stamm lag. „Aber nicht heute. Heute geh ich zu Alek und Reinard rüber. Ich hab gehört, Nefera ist auch dort. Die beiden kriegen’s bei ihr ja nicht gebacken, da muss ich denen mal zeigen, wie das geht.“


Jade trat daraufhin wie selbstverständlich vor. Sie folgte ihrem Bruder schließlich immer überallhin. Aber diesmal schüttelte Wotan den Kopf und legte ihr eine Hand aufs Haupt, was sie ärgerte.
     „Bleib du mal lieber bei den anderen Kindern. Das ist diesmal nix für dich, Schwesterchen“, sagte er.
     Jade ließ den Kopf hängen. Seitdem ihr Bruder herangewachsen war, interessierte er sich überhaupt nicht mehr für sie und traf sich lieber mit seinen anderen, erwachsenen Freunden. Auch jetzt ließ er sie einfach stehen und ging ohne sie davon.


Die anderen Kinder sahen ihm einen Augenblick lang schweigend nach, bevor Nila verkündete: „Okay, ich übernehm natürlich die Führung. Mir nach!“
     „Das ist doch gefährlich…“, meldete sich Ragna zaghaft zu Wort.
     „Was? Hast du etwa Schiss?“
     „Er hat keine Angst!“, grätschte Leif aufgebracht dazwischen.
     „Du und dein Bruder seid total die Schwächlinge!“, lachte Nila gehässig. „Kein Wunder, euer Vater ist ja auch total komisch, dass er lieber einen anderen Mann hat als eine Frau.“
     Leifs Herz setzte erschrocken aus, als er das hörte, aber im nächsten Moment übernahm glücklicherweise die Wut das Ruder wieder. Er wollte Nila am liebsten gerade nur noch umhauen. Dem würde er es zeigen! Er würde es ihnen allen zeigen!
     „Wenn ich erstmal den Honig habe und dir nichts abgebe, grinst du nicht mehr so blöd!“, sagte er wütend. Er sah auffordernd zu seinem Bruder hinüber. „Komm, Ragna, gehen wir und holen uns den Honig!“


Ragna wollte protestieren – er wollte sich für eine Süßigkeit schließlich nicht in Lebensgefahr begeben – aber da wurde er auf Gil aufmerksam, die sich irgendwann unbemerkt zu der Versammlung gesellt hatte.
      „So-sollten wir nicht wenigstens Nero holen gehen?“, versuchte er daraufhin nach dem letzten Strohhalm zu greifen, der ihm noch blieb. „Der will bestimmt auch mitkommen.“
      Und er würde ihm bestimmt beistehen. Er war der Einzige, der ihm immer beistand. Wahrscheinlich sah er die ganze Sache wie er und würde den Anderen diesen Unsinn ausreden.
     „Bloß nicht! Der Blödmann verpetzt uns nur!“
     Natürlich. Manchmal war selbst dem sanftmütigen Ragna danach, Nila einfach mal umzuschubsen. Also musste er wohl oder übel allein mitgehen. Er konnte vor Gil ja schlecht kneifen.


„He, wartet! Ich will auch mitkommen“, meldete sich Alistair zu Wort, als alle anderen bereits zum Aufbruch gerüstet hatten.
     „Wenn du mithalten kannst, Krüppel.“
     Alistair warf etwas nach Nila, verfehlte ihn aber. Leif kam stattdessen und nahm ihn mit Gils Hilfe Huckepack.


Dann machten sie sich auf den Weg zum Honigbaum. Nur Jade blieb zurück und beschloss, lieber zum Strand zu den anderen Mädchen runterzugehen, während die Jungs Richtung Nebelwald aufbrachen. 


Als sie einmal kurz anhalten mussten, um sich über den Weg zu streiten, nahm Ragna allen Mut zusammen und stellte sich neben Gil.
     „Hallo, Gil“, begann er schüchtern.
     Die Angesprochene war zuerst überrumpelt, dass jemand sie tatsächlich bei dem Namen nannte, den sie sich selber gegeben hatte, dann jedoch freute sie sich darüber. Anscheinend hielt ihr Gegenüber sie tatsächlich für einen Jungen. Da taute sie ein wenig auf.
     „Oh, hallo! Du warst, ähm…“
     „Ragna.“
     „Wie geht es dem Bären? Ist er wieder trocken?“
     „Ja.“ Er schwieg, aber weil sie nichts mehr sagte, war er gezwungen, weiter zu reden. „Danke nochmal, dass du mir geholfen hast. Das war echt nett von dir.“
     „Das habe ich gern gemacht.“
     „Ich war total beeindruckt“, brach es ungewollt aus ihm heraus, sodass er sich ein bisschen dafür schämte.


Doch Gil war geschmeichelt. Sie streckte stolz die Brust raus, versuchte aber bescheiden zu sagen: „Du hättest das bestimmt auch geschafft. So tief war das gar nicht.“
      „Aber ich hätte mir das nie getraut! Das war echt toll von dir!“
      Das entlockte Giselinde erstmals ein freches Grinsen, das Ragna ebenfalls unsicher lächeln ließ.
      „Ähm… also, wollen wir vielleicht Freunde sein?“, fragte er zaghaft.
      Giselinde starrte ihn an, was ihn erschreckte. „Echt?“
      Als Ragna schüchtern nickte, brach bei ihr jeglicher Damm. Sie hatte schon immer mit den Jungs befreundet sein wollen, aber die hatten sie bislang immer ignoriert oder gemieden, wenn Gisela dabei gewesen war. Sie war so froh, dass sie ihrer Schwester heute mal entkommen war.
     „Das wäre toll!“, rief sie begeistert.
     Auch bei Ragna machte sich jetzt Begeisterung breit. Nur war Gils Ausbruch leider nicht unbemerkt geblieben war.


„Ihh, wollt ihr jetzt knutschen, oder was?“, unterbrach Nila sie, der scheinbar fertig damit war, sich mit Leif über den richtigen Weg zu zanken. „Voll eklig!“
     Auch Leif sah seinen Bruder irritiert an, während sich Alistair glücklicherweise mit Kichern begnügte. Ragna wurde da rot, und Gil ging beschämt auf Abstand zu ihm. Auch den restlichen Weg über war sie wieder so schweigsam wie zuvor, und Ragna wusste nicht, was er zu ihr sagen sollte.


Schließlich erreichten sie ihr Ziel unter Nilas Führung doch noch (auch wenn sie alle zwischenzeitlich daran gezweifelt hatten). An einer lichteren Stelle im Wald fanden sie die Überreste eines Baumes, in dessen hohlem Stamm sich tatsächlich ein paar Bienen niedergelassen hatten. Die orangenen Bienenwaben leuchteten schon von weitem verheißungsvoll.
      „Jetzt willst du bestimmt nicht mehr mein Freund sein“, meinte Gil leise zu Ragna, als die anderen sich ein bisschen von ihnen entfernt hatten „wo du weißt, dass ich ein Mädchen bin.“
      „Wieso?“, fragte er verwirrt.


Und was er dann zu ihr sagte, würde sie nie vergessen: „Das ist doch egal, ob du ein Mädchen oder Junge bist. Also… mir zumindest. Wenn’s dir nichts ausmacht, meine ich.“
      Er stolperte beinahe über seine Worte, aber dennoch schien es das Großartigste zu sein, das Gil jemals gehört hatte. Sie konnte nichts tun, als ihn mit offenem Mund anzustarren.


„Wer will jetzt anfangen?“, fuhr Nilas Stimme dazwischen, und Gil riss sich wieder zusammen.
      Sie hatte sich ohnehin vor den Jungs beweisen wollen, also trat sie vor. Ragna sah das gar nicht gern; er hatte Angst um sie, aber er sagte nichts, um sie nicht zu verärgern.
      „Ich“, meldete sich Gil zu Wort, als Nila ihren Vorstoß einfach ignorierte.
      Doch der Junge prustete nur belustigt. „Du? Ein Mädchen?“


Gil ignorierte das und ging zu ihm, um sich das Holzschwert zu holen, das er mitgenommen hatte. Sie kam damit auch Leif zuvor, der eigentlich hatte anfangen wollen, aber erneut an seinem Mut gescheitert war. Stattdessen konnte er nur beeindruckt zusehen, wie sie etwas tat, was er nicht gekonnt hatte. Tapfer trat sie den Bienen entgegen.


Sie zögerte nur kurz, dann versenkte sie das Schwert vorsichtig in der Öffnung des Baumes, was Ragna beinahe zu Tode erschreckte. Die Bienen schwirrten neugierig um den Eindringling herum, ließen sie aber ansonsten in Ruhe. 
     An der Schwertspitze glänzte goldener Honig, als sie es wieder herausholte. Den zu kosten, ließ sie sich natürlich nicht nehmen. Er schmeckte beinahe noch süßer als der Stolz, es geschafft zu haben.
      Als sie zu den Jungs zurückging, konnte sie das erhobenen Hauptes tun. Sie gab das Schwert an Nila zurück, der ihr nicht mal ein Nicken der Anerkennung zukommen ließ und sich stattdessen wortlos zu Leif umdrehte.


Das Holzschwert wurde ihm hingehalten.
     „Du bist als nächstes“, forderte er ihn heraus.
     Leif wollte ihm gerne den Vortritt lassen, aber er konnte vor den Anderen nicht zeigen, dass er eigentlich nicht wollte, nachdem er zuvor noch so große Töne gespuckt hatte. Also nahm er das Schwert und ging unter Ragnas Protest als nächstes.


Doch er konnte trotzdem nichts dagegen tun, dass seine Angst ihm die Knie schlottern ließ und er erstmal anhalten musste, um sich zu beruhigen. Mehr als einmal war er kurz davor, seiner Angst einfach nachzugeben und wegzulaufen, aber er war stärker als das. Er war es so leid, dass alle ihn einen Schwächling nannten und dachten, er sei ein Feigling. Denn das war er nicht! Er war Leif, der Sohn des besten und stärksten Kriegers der gesamten Gegend und er würde, verdammt nochmal, nicht vor ein paar Bienen davonlaufen! Er konnte das! Er würde es schaffen!


Also ging er zielstrebigen Schrittes vorwärts und rammte das Schwert mit solcher Wucht in die Öffnung des Baumes, dass die Bienen aufgeschreckt worden und wütend summten. Da ging er erschrocken wieder auf Abstand.


Er ließ sich seinen Schrecken aber natürlich nicht anmerken, als er sich zu den Anderen umdrehte und grinste. Auch sein Triumph schmeckte süß.


Erneut ging das Schwert an Nila zurück. Alistair, der es auch versuchen wollte, wurde ignoriert und es wurde Ragna hingehalten.
     „Jetzt du.“
     „Warum… gehst du nicht zuerst?“
     „Ich geh natürlich zum Schluss und werde den Baum umwerfen, damit sie richtig wütend werden.“
     Jeder von ihnen dachte, dass das bescheuert sei, aber keiner sagte ein Wort dazu. Stattdessen sah sich nun Ragna mit seiner Angst konfrontiert. Aber auch er wollte nicht kneifen. Nicht vor Gil.
     Also nahm er das Schwert und ging als nächstes.


Was ich am meisten bereue in meinem Leben, ist, dich an diesem Tag nicht aufgehalten zu haben. 


Ich hätte dich beschützen sollen, mein Bruder. Ich wusste doch, dass du eine „sanfte Seele“ warst, wie Mutter immer gesagt hatte. Aber ich war zu stolz. Was alle anderen über mich dachten, war mir wichtiger. Stark zu sein, respektiert, mutig. Doch ich war dumm. Diese Dinge sind überhaupt nicht wichtig.


Wichtig war nur, dass du da warst.


Aber an diesem Tag, als die Bienen dich angriffen, ließ ich dich im Stich.


Ich rannte davon wie der Feigling, der ich immer war, verfolgt von deinen Schreien.


Sie verfolgen mich noch heute. Sie werden mich wohl mein ganzes Leben lang verfolgen. Wie die Schuld, die ich einfach nicht tilgen kann. 
Es tut mir so leid.


An diesem Tag starb Ragna Blum vom Uruk-Stamm.


Eine fürchterliche Stille hatte sich über die unwirkliche Szene gelegt. Nur das nicht enden wollende Heulen und Schreien von Lulu war zu hören. 
     Während der Schock sie noch alle gefangen hielt, war es Nero, dem eine Sicherung durchbrannte. Wütend ging er auf Nila los, ein Finger landete anklagend auf dem anderen Jungen.


„Du warst das! Du bist schuld, dass er tot ist!“, warf er Nila vor, der sofort abwehrend die Hände hob.
     „Hast du einen an der Waffel? Ich hab gar nichts gemacht!“
     „Du hast ihn immer geärgert! Er hatte so eine Angst vor dir! Aber dir war das egal! Du bist eiskalt! Du hast auch die Katze von den Nachbarn umgebracht, und du hast auch Ragna umgebracht!“
     „Was?“, mischte sich Elrik jetzt ein. „Ist das wahr?“
     „Das stimmt gar nicht! Er lügt!
     „Du hast sie ersäuft, du Monster! Ich hab’s genau gesehen!“
     „Sie ist in den Brunnen gefallen! Das war nicht meine Schuld! Ich schwör’s!“
     Wahrscheinlich wäre Nero die nächste Zeit auf Nila losgegangen, aber da kam plötzlich jemand anderes hinzu, der bislang gefehlt hatte.


Es war Wulfgar, der von einem seiner Botengänge zurückkam. Er sah einen Moment lang verwirrt in die Runde, empfing betroffene Blicke, bis er schließlich auf seinen Jungen aufmerksam wurde, der zu seinen Füßen auf dem Boden lag. Man hatte ihm die Hände auf dem kleinen Bauch zusammengelegt und er sah so friedlich aus, als würde er nur schlafen. Warum nur lag sein Sohn dort auf dem Boden und schlief?


Hastig ging er zu ihm und richtete ihn auf. Wenn er dort lag, würde er nur kalt werden. Er musste dafür sorgen, dass er nach drinnen gebracht wurde. Ins Warme. Bevor ihm etwas geschah. Er spürte die Tränen in seine Augen steigen, das Erkennen, das über ihn hereinbrechen wollte, doch er klammerte sich mit aller Kraft an seine unsinnigen Gedanken. Er wollte nicht… Nicht schon wieder…


Im nächsten Moment lag er auf einem immerzu feuchten Boden. Hohe Bäume um ihn herum, das nie enden wollende Lied des Dschungels, das nur noch dumpf zu ihm vordrang. Und die Augen, die ihn anstarrten. Die Augen, die nie wieder von dem Leben erfüllt sein würden, das er so geliebt hatte.
     Bevor er es verhindern konnte, war er wieder am Schreien, so wie damals auch.


Sie ließen ihn einen ganzen Tag lang in Ruhe. Nachdem er sich wieder beruhigt hatte, hatte er seinen Sohn wortlos an sich genommen und war mit ihm fortgegangen. Sie hatten ihn danach stundenlang gesucht, bis Lu ihn an seinem Lieblingsort gefunden hatte. Oben an den Klippen bei seinem Elternhaus, wo man einen guten Ausblick aufs Meer hinaus hatte. Hier saß er, Ragna in den Armen und erzählte von der Vergangenheit. Den Dingen, die er erlebt hatte und seinen Reisen. Und während er das tat, hatte er ein Lächeln auf den Lippen.
       Lu war besorgt, als er das gesehen hatte. Er hatte ein paarmal versucht, zu seinem Gefährten zu gehen, aber der Mut hatte ihn im letzten Augenblick immer verlassen. Er wusste einfach nicht, was er tun oder zu ihm sagen sollte.
     „Mach dir keine Sorgen“, drang Tanns Stimme zu ihm vor. Er und Dana waren vor kurzem aufgetaucht, um nach ihnen zu sehen. Lu war schon seitdem er Wulfgar gefunden hatte hier. „Du hast so etwas doch schon öfter gemacht. Du kannst das. Geh zu ihm. Er braucht dich jetzt.“


Lu war sich da nicht so sicher, aber er nickte dennoch und ging mit einem unglaublich flauen Gefühl im Magen rüber. Wulfgar nahm nicht einmal Notiz von ihm. Das starre Lächeln war noch immer in sein Gesicht gemeißelt.
      Er kniete sich zu ihm, legte ihm eine Hand auf die Schulter, damit der Andere ihn endlich ansah und sagte so behutsam wie möglich: „Wulf, es wird Zeit, dass wir Ragna für seine letzte Reise vorbereiten.“ Keine Reaktion. Er starrte ihn nur verständnislos an. „Ich weiß, dass das schwer für dich ist, dass Ragna tot ist…“


Weiter kam er nicht. Wulfgar schlug seine Hand rüde zur Seite. 
     „Warum sagst du sowas? Ragna ist nicht tot! Er schläft nur!“ Er wandte den Blick ab und fügte bedrohlich hinzu: „Verschwinde, bevor ich mich vergesse!“
     Lu konnte gar nichts anderes tun, als eingeschüchtert den Rückzug anzutreten. Wulfgar hatte ihn noch nie bedroht und dass er das jetzt getan hatte, jagte ihm eine ganz schöne Angst ein. So kannte er ihn überhaupt nicht.


 „Er…ist wütend geworden“, berichtete er entgeistert, als er wieder bei Tann und Dana angekommen war.
     Tann legte nun ihm eine Hand auf die Schulter und meinte: „Das hat er nicht so gemeint. Er kann Ragnas Tod einfach noch nicht akzeptieren. Das kann ich verstehen. Vielleicht sollte ich mal mit ihm reden.“
     „Nein, lass mich das machen“, bat Dana. „Er ist immerhin wie ein Bruder für mich, und mir gegenüber wird er bestimmt auch nicht handgreiflich werden.“


Also ging Dana als nächstes hin. Als sie sich neben Wulfgar niederließ, war das Lächeln aus seinem Gesicht verschwunden. Er wusste es, dass sein Sohn nicht mehr lebte, aber er wollte es einfach nicht einsehen.
     Eine ganze Weile lang ließ sie ihn in Ruhe. Saß nur neben ihm und schwieg, während das Meer sein beruhigendes Lied zu ihren Füßen spielte.


„Du weißt, dass du es nicht ewig verleugnen kannst. Das wird es nämlich nicht ändern“, sagte sie schließlich zu ihm. Sie sah ihn an. „Das weißt du, nicht wahr? Genauso, wie du weißt, dass du jetzt nicht einfach aufgeben darfst. Nicht nur du hast einen Sohn verloren. Lulu braucht dich jetzt mehr denn je. Und auch Leif. Er ist auch noch da. Vergiss das nicht.“


Sie wusste, wie schwer es war, ein Kind zu verlieren, aber sie wusste auch, dass es weitergehen würde. Das musste es. Nicht nur für sich, sondern auch für die Anderen. Für ihre Familie. Für und dank ihnen hatte sie durchgehalten und die Kraft gefunden, weiterzumachen. Und sie wusste, dass es Wulfgar genauso gehen würde. Denn auch er war nicht allein.
     „Er braucht dich jetzt“, wiederholte sie deshalb zu Lu, als sie wieder zu ihm und Tann zurückgekehrt war. „Geh zu ihm.“


Lu ließ sich nicht zweimal bitten. Man konnte schon von weitem sehen, dass Wulfgar die Schwelle des Einsehens endlich übertreten hatte. Sein Weinen war nicht zu überhören und es brach Lu das Herz, seinen Liebsten so leiden zu sehen. Ohne auch nur einmal zu zögern, schloss er ihn in die Arme, und Wulfgar ließ es diesmal zu.
     Es dauerte etwas, bis Wulfgars Heulen wieder leiser wurde, und als Lu zwischen zwei erstickten Schluchzern seinen Namen hörte, löste er sich von ihm. Er wollte ihm die Tränen trocknen, aber Wulfgar war schneller und wischte sich mit seinem Ärmel grob übers Gesicht, sodass es danach noch geröteter war.


„Geht es wieder?“, fragte Lu unsicher.
     Wulfgar nickte. „Ja. Entschuldige.“
     „Schon gut. Du hast gerade deinen Sohn verloren.“
     Jetzt schüttelte er den Kopf. „Das ist es nicht. Nicht nur. Es ist…“ Er zögerte. „Es ist nicht das erste Mal, dass mir das passiert. Ich habe schon einmal jemanden verloren, den ich wie ein Kind geliebt habe. Schon einmal“, wiederholte er mit leeren Augen. „Wahrscheinlich bin ich verflucht, dass alle meine Kinder sterben müssen. Wahrscheinlich ist Leif der Nächste…“
      Lu war erschüttert, das zu hören, und mehr um Wulfgar von seinem Horror abzulenken, der sich seiner erneut zu bemächtigen versuchte, fragte er: „Du hast nie davon gesprochen. Von dem anderen Kind, meine ich…“
      „Ihr Name war Mari.“ Er lächelte bitter. „Sie würde wahrscheinlich sauer sein, dass ich sie ein Kind nenne und sagen, dass sie schon erwachsen war.“
     „Was ist mit ihr passiert?“
     „Sie ist… von Menschenfressern getötet worden.“ Schmerz auf seinem Gesicht. „Ich konnte sie nicht beschützen. Ich habe mir geschworen, dass ich das nie wieder zulasse. Aber jetzt…“


Er verstummte und es sah so aus, als ob er gleich wieder in Tränen ausbrechen würde. Also fragte Lu schnell: „Warum hast du bis jetzt nie von ihr erzählt?“
      „Weil ich dir vieles nicht erzählt habe, Lu“, gab Wulfgar zu. Er wandte den Blick ab. „Ich habe einiges getan, auf das ich nicht stolz bin und ich hatte Angst, dass du mich deswegen hassen könntest.“
      Er hatte das schon viel zu lange verheimlicht. Er war das Lügen leid. Er konnte ja nicht wissen, dass Lu schon längst wusste, dass er ihm nie alles erzählt hatte. Doch Lu schwieg darüber. Wie er auch darüber schwieg, wie sehr ihn das verletzt hatte. Stattdessen sagte er nur: „Dann erzähl mir jetzt davon.“


Wulfgar zögerte einen Moment, aber schließlich wurde sein Blick fest.
     „In Ordnung. Ich werde es dir erzählen.“


„Alles, was ich erlebt habe.“


Kurz darauf wurde Ragna auf seine letzte Reise geschickt. Wulfgar bat Lulu darum, ihren Sohn zur See bestatten zu dürfen, den Traditionen seiner Familie gemäß, und Lulu stimmte schweren Herzens zu. 
     Der Himmel war so grau wie die ganzen letzten Tage schon, seitdem Ragna gestorben war, als sie an diesem Tag am Strand standen und das kleine Floß zu Wasser ließen, das Ragnas Totenschiff werden würde. Das Feuer in der heiligen Schale flackerte beträchtlich, als der Vater ging, um den umwickelten Pfeil anzuzünden, aber es hielt dem Wind tapfer stand.


Er hatte gehofft, dass es beim zweiten Mal einfacher werden würde, aber das wurde es nicht. Es würde wohl nie einfach sein, auf sein eigenes Kind anzulegen. Vielleicht war das auch der Grund, warum seine Hand zitterte, während Ragnas Floß in der Ferne immer kleiner wurde. Er brauchte eine ganze Weile, zu lange, sodass es schließlich zu regnen anfing.


Es goss mit einem Mal wie aus Eimern und das führte dazu, dass die Flamme an seinem Pfeil zischend erlosch. Jetzt würde es unmöglich sein, Ragnas Totenschiff zu entzünden.


Er wollte das Wetter gerade verfluchen, als Lu, der Schamane, verkündete: „Das ist ein Zeichen der Götter! Der Geist, der in den Wassern wohnt, hat euren Sohn vor dem Zorn des Feuers bewahrt und wird ihn an seiner statt empfangen.“
     Lulu sah ein bisschen besorgt aus, aber als Wulfgar zu dem kleinen Punkt sah, der sein jüngster Sohn war, sah er, dass es gut so war. Das war es, wo Ragna hingehörte. Er hoffte nur, dass er vielleicht noch ein klein wenig von dieser Welt sehen konnte, die auch er einst bereits hatte, bevor das Wasser ihn zu sich holte.


Ragna war ein stiller und zurückgezogener Junge gewesen, der sehr schüchtern gewesen war. Aber sein Tod veränderte trotzdem viele.


Lulu zerbrach beinahe am Tod ihres Sohnes, und es war erneut an Wulfgar, ihr über diese schwere Zeit hinwegzuhelfen.


Was dazu führte, dass sich beide danach noch näher standen als davor schon.


Aber auch Luis‘ Hilfe war das zu verdanken. Es war das erste Mal seit langem, dass er wieder auf seine Mutter zuging und für sie da war, nachdem er sich lange Zeit so sehr von ihr distanziert hatte.


Wulfgar selber gelang es dank Lu, der zwar an den Dingen zu schlucken hatte, die sein Gefährte ihm erzählt hatte, aber der letztendlich zu ihm stand, nicht am Tod seines Sohnes zu zerbrechen.


Nila musste sich danach eine lange, laute und vernichtende Standpredigt anhören, und er bekam einige Strafen aufgebrummt, als feststand, dass er die Katze der Nachbarn tatsächlich getötet hatte.


Es entzweite Vater und Sohn noch mehr, und wo Nila zuvor versucht hatte, seinen Vater zu beeindrucken, hatte er von da an nur noch kalten Hass für ihn übrig. Auch seine Mutter, die immer wieder versuchte, seine Taten zu erklären, wies er endgültig von sich. Er wollte mit keinem von beiden mehr etwas zu tun haben, und er brach seiner Mutter damit das Herz.  


Seitdem war Nila noch unausstehlicher. Er vertraute niemandem mehr außer sich selber, und er begann, sein Umfeld noch heftiger und gewitzter zu terrorisieren. Vor allen Dingen Nara hatte sehr darunter zu leiden.


Bald schon war es nur noch Nero, der sich ihm entgegenstellte, und ihre Auseinandersetzungen endeten nicht selten blutig.

     
Auch Nero traf Ragnas Tod schwer. Von all den Kindern waren die beiden Jungen am besten miteinander befreundet gewesen, auch wenn Ragna das nie so realisiert hatte. Es war das erste Mal, dass Nero mit dem Tod konfrontiert wurde und es war das erste Mal, dass er sich fragte, ob er es nicht gewesen war, der seine Mutter umgebracht hatte. Weil er geboren worden war. Er fraß diesen Gedanken in sich hinein und er schaffte es nicht mehr, sich auf jemand anderen einzulassen.


Gil war über den Verlust ihres ersten, wirklichen Freundes ebenfalls betroffen, und nachdem sie ihre Tränen getrocknet hatte, verfiel sie in Wut über die Ungerechtigkeit, die Ragna widerfahren war.


Bald schon war von dem ruhigen Mädchen nicht mehr viel übrig. Sie wurde laut, wütend und sagte, was ihr nicht passte. Was zu einigen Spannungen in ihrem Elternhaus führte.


Die Beziehung zu den Nachbarn war ebenfalls kurz davor, zu kippen, nachdem der Mord an der Nachbarskatze herauskam und Greta und Griswold erfuhren, in welcher Gefahr Giselinde gesteckt hatte. Doch ironischerweise war es Greta, die selber erst einen Sohn verloren hatte, die die Situation rettete.


Alistair wurde ebenfalls zum Nachdenken gebracht. Da sein letztes Gespräch mit Ragna sehr unfreundlicher Natur gewesen war, plagte ihn ein überaus schlechtes Gewissen, dass er sich nie für seine rüden Worte hatte entschuldigen können. Deshalb nahm er sich zu Herzen, was Ragna ihm zuletzt geraten hatte. Er nahm sich vor, ruhiger zu werden, um eines Tages auch eine Verbindung zu seinem Pferd Cesar aufbauen zu können. Aber vor allen Dingen erkannte Alistair, dass er froh war, am Leben zu sein. Egal, ob er nun laufen konnte oder nicht.


Und letztlich Leif, der nach Ragnas Tod eine schwere Zeit voller Selbstvorwürfe und Trauer durchmachte.


Obwohl sein Vater danach lange Gespräche mit ihm darüber führte, ihm versicherte, dass er keine Schuld am Tod seines Bruders hatte, konnte Leif nicht so einfach loslassen.


Bald schon war er so ruhig und zurückgezogen, wie es einst sein Bruder gewesen war. Nur, dass er dabei überhaupt nicht glücklich war.


Ich werde wohl nie wieder glücklich sein. Aber das ist das Mindeste, das ich verdient habe. Das Mindeste, nachdem ich doch dafür verantwortlich bin, dass du tot bist.
      Mein Bruder Ragna. Du fehlst hier.
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Ich wollte hier jetzt eigentlich gar nichts mehr zu schreiben, aber es ist wohl ein kurzes Wort der Erklärung angebracht für alle die, die Wulfgars Geschichte nicht gelesen haben. Und zwar das Mädchen mit den braunen Haaren, das da in Wulfgars Flashback tot am Boden liegt, ist Mari, das Mädchen, von dem er ja auch im Kapitel selber erzählt hat. Wer die Frau mit den hellen Haaren im Boot ist, erfährt man auch noch. Das ist übrigens kein Rückblick gewesen, sondern passiert momentan woanders.

Hier mal ein Bild von Mari und Wulfgar:


Dem Mari-Sim geht es natürlich gut. Sie hat sich gleich nach den Aufnahmen mal eine Wasserbombenschlacht mit ihrem Wulf-Papa geliefert und ihn ziemlich fertig gemacht.


Und natürlich geht es auch dem Ragna-Sim gut, wie man sieht.


Nach den Aufnahmen gab es auch erstmal einen Drücker für Mama und Papa. Ich weiß jetzt schon, dass mir sein Charakter fehlen wird (tut er schon); er war immerhin einer meiner Lieblinge, und ich fühle und fühlte mich tagelang echt schlecht, ihn sterben zu lassen. Ich will mir auch nicht mal vorstellen, wie schlimm das für Eltern sein muss, ihr Kind zu verlieren... 
Es war jedenfalls nicht mal eine Seebestattung geplant, aber ich konnte ihn einfach nicht unter die Erde bringen. Ich will irgendwie dran glauben, dass er vielleicht doch nur scheintot war und jetzt irgendwo an eine Küste gespült wurde und er da jetzt glücklich und zufrieden bei Adoptiveltern leben wird.


Ach ja, den Katzen der Hells geht es natürlich auch gut:


Naja, jetzt aber genug. Ist schon mehr geworden, als ich eigentlich schreiben wollte. Es muss weitergehen, und nächstes Mal dann werden die ersten vier Kinder zu Teenagern und Malah geht auf ihre Bewährungsprobe.

Bis dahin, danke euch fürs Lesen, und ich verabschiede mich!

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