Ich stehe oft hier am Strand und sehe aufs Meer hinaus. Dorthin, wohin dein kleines Boot verschwunden ist, als wir dich zum letzten Mal sahen. Seitdem du fort bist, sind alle meine Tage grau und sinnlos geworden, und ich frage mich oft, was du jetzt wohl tun würdest, wenn du noch da wärst.
Aber du bist es
nicht mehr.
Nichts ist mir
geblieben außer der Reue, dich nicht beschützt zu haben, und einer traurigen
Geschichte. Die Geschichte, wie ich einst meinen Bruder verlor:
Es war ein wolkenverhangener Tag, wie alle es zu sein
schienen, seitdem er fort war. Wotan hatte vor
kurzem seinen Geburtstag gefeiert und während alle anderen gegangen waren, um
Material zum Decken des Daches zu sammeln, hatten sich ein paar der Uruk-Kinder um den inzwischen größeren Nachbarsjungen geschart, um seiner Geschichte zu lauschen. Er hatte letztens wohl einen
ausgehöhlten Baumstamm gefunden, in dem sich eine Bienenkolonie eingerichtet
hatte. Mit unverhohlenem Stolz hatte er davon berichtet, wie er den Bienen etwas
Honig stibitzt hatte und die bewundernden Blicke der Kleineren dabei genossen.
„Wenn ich das
nächste Mal hingehe, bring ich euch vielleicht auch mal was mit“, schloss er
gerade, bevor er mit dem Kopf in die Richtung nickte, in der der Ahn-Stamm lag.
„Aber nicht heute. Heute geh ich zu Alek und Reinard rüber. Ich hab gehört,
Nefera ist auch dort. Die beiden kriegen’s bei ihr ja nicht gebacken,
da muss ich denen mal zeigen, wie das geht.“
Jade trat daraufhin wie selbstverständlich vor. Sie
folgte ihrem Bruder schließlich immer überallhin. Aber diesmal schüttelte Wotan
den Kopf und legte ihr eine Hand aufs Haupt, was sie ärgerte.
„Bleib du mal
lieber bei den anderen Kindern. Das ist diesmal nix für dich, Schwesterchen“, sagte
er.
Jade ließ den
Kopf hängen. Seitdem ihr Bruder herangewachsen war, interessierte er sich
überhaupt nicht mehr für sie und traf sich lieber mit seinen anderen,
erwachsenen Freunden. Auch jetzt ließ er sie einfach stehen und ging ohne sie
davon.
Die anderen Kinder sahen ihm einen Augenblick lang schweigend nach, bevor Nila verkündete: „Okay, ich übernehm natürlich die
Führung. Mir nach!“
„Das ist doch
gefährlich…“, meldete sich Ragna zaghaft zu Wort.
„Was? Hast du
etwa Schiss?“
„Er hat keine
Angst!“, grätschte Leif aufgebracht dazwischen.
„Du und dein
Bruder seid total die Schwächlinge!“, lachte Nila gehässig. „Kein Wunder,
euer Vater ist ja auch total komisch, dass er lieber einen anderen Mann hat als eine Frau.“
Leifs Herz
setzte erschrocken aus, als er das hörte, aber im nächsten
Moment übernahm glücklicherweise die Wut das Ruder wieder. Er wollte Nila am liebsten
gerade nur noch umhauen. Dem würde er es zeigen! Er würde es ihnen allen
zeigen!
„Wenn ich
erstmal den Honig habe und dir nichts abgebe, grinst du nicht mehr so blöd!“, sagte
er wütend. Er sah auffordernd zu seinem Bruder hinüber. „Komm, Ragna, gehen wir und
holen uns den Honig!“
Ragna wollte protestieren – er wollte sich für eine
Süßigkeit schließlich nicht in Lebensgefahr begeben – aber da wurde er auf Gil
aufmerksam, die sich irgendwann unbemerkt zu der Versammlung gesellt hatte.
„So-sollten
wir nicht wenigstens Nero holen gehen?“, versuchte er daraufhin nach dem
letzten Strohhalm zu greifen, der ihm noch blieb. „Der will bestimmt auch mitkommen.“
Und er würde
ihm bestimmt beistehen. Er war der Einzige, der ihm immer beistand.
Wahrscheinlich sah er die ganze Sache wie er und würde den Anderen diesen Unsinn
ausreden.
„Bloß nicht!
Der Blödmann verpetzt uns nur!“
Natürlich.
Manchmal war selbst dem sanftmütigen Ragna danach, Nila einfach mal
umzuschubsen. Also musste er wohl oder übel allein mitgehen. Er konnte vor Gil
ja schlecht kneifen.
„He, wartet! Ich will auch mitkommen“, meldete sich
Alistair zu Wort, als alle anderen bereits zum Aufbruch gerüstet hatten.
„Wenn du
mithalten kannst, Krüppel.“
Alistair warf etwas
nach Nila, verfehlte ihn aber. Leif kam stattdessen und nahm ihn mit Gils
Hilfe Huckepack.
Dann machten sie sich auf den Weg zum Honigbaum. Nur Jade blieb zurück und
beschloss, lieber zum Strand zu den anderen Mädchen runterzugehen, während die
Jungs Richtung Nebelwald aufbrachen.
Als sie einmal kurz anhalten mussten, um sich über den
Weg zu streiten, nahm Ragna allen Mut zusammen und stellte sich
neben Gil.
„Hallo, Gil“,
begann er schüchtern.
Die Angesprochene war zuerst überrumpelt, dass jemand sie tatsächlich bei dem Namen nannte, den
sie sich selber gegeben hatte, dann jedoch freute sie sich darüber. Anscheinend
hielt ihr Gegenüber sie tatsächlich für einen Jungen. Da taute sie ein wenig auf.
„Oh, hallo! Du
warst, ähm…“
„Ragna.“
„Wie geht es
dem Bären? Ist er wieder trocken?“
„Ja.“ Er
schwieg, aber weil sie nichts mehr sagte, war er gezwungen, weiter zu reden. „Danke
nochmal, dass du mir geholfen hast. Das war echt nett von dir.“
„Das habe ich
gern gemacht.“
„Ich war total
beeindruckt“, brach es ungewollt aus ihm heraus, sodass er sich ein bisschen
dafür schämte.
Doch Gil war geschmeichelt. Sie streckte stolz die Brust
raus, versuchte aber bescheiden zu sagen: „Du hättest das bestimmt auch
geschafft. So tief war das gar nicht.“
„Aber ich
hätte mir das nie getraut! Das war echt toll von dir!“
Das entlockte
Giselinde erstmals ein freches Grinsen, das Ragna ebenfalls unsicher lächeln ließ.
„Ähm… also,
wollen wir vielleicht Freunde sein?“, fragte er zaghaft.
Giselinde starrte ihn an, was ihn erschreckte. „Echt?“
Als Ragna
schüchtern nickte, brach bei ihr jeglicher Damm. Sie hatte schon immer mit
den Jungs befreundet sein wollen, aber die hatten sie bislang immer ignoriert oder gemieden, wenn Gisela dabei gewesen war. Sie war so froh, dass sie
ihrer Schwester heute mal entkommen war.
„Das wäre
toll!“, rief sie begeistert.
Auch bei Ragna
machte sich jetzt Begeisterung breit. Nur war Gils Ausbruch leider nicht unbemerkt
geblieben war.
„Ihh, wollt ihr jetzt knutschen, oder was?“, unterbrach
Nila sie, der scheinbar fertig damit war, sich mit Leif über den richtigen Weg
zu zanken. „Voll eklig!“
Auch Leif sah
seinen Bruder irritiert an, während sich Alistair glücklicherweise mit Kichern begnügte. Ragna wurde
da rot, und Gil ging beschämt auf Abstand zu ihm. Auch den restlichen Weg
über war sie wieder so schweigsam wie zuvor, und Ragna wusste nicht, was er zu
ihr sagen sollte.
Schließlich erreichten sie ihr Ziel unter Nilas Führung doch
noch (auch wenn sie alle zwischenzeitlich daran gezweifelt hatten). An einer
lichteren Stelle im Wald fanden sie die Überreste eines Baumes, in dessen
hohlem Stamm sich tatsächlich ein paar Bienen niedergelassen hatten. Die orangenen Bienenwaben leuchteten schon von weitem verheißungsvoll.
„Jetzt willst
du bestimmt nicht mehr mein Freund sein“, meinte Gil leise zu Ragna, als die anderen sich ein bisschen von ihnen entfernt hatten „wo du weißt, dass ich ein Mädchen bin.“
„Wieso?“, fragte er verwirrt.
Und was er dann zu ihr sagte, würde sie nie vergessen:
„Das ist doch egal, ob du ein Mädchen oder Junge bist. Also… mir zumindest. Wenn’s dir nichts ausmacht, meine
ich.“
Er stolperte
beinahe über seine Worte, aber dennoch schien es das Großartigste zu sein, das
Gil jemals gehört hatte. Sie konnte nichts tun, als ihn mit offenem Mund anzustarren.
„Wer will jetzt anfangen?“, fuhr Nilas Stimme dazwischen,
und Gil riss sich wieder zusammen.
Sie hatte
sich ohnehin vor den Jungs beweisen wollen, also trat sie vor. Ragna sah
das gar nicht gern; er hatte Angst um sie, aber er sagte nichts, um sie nicht zu verärgern.
„Ich“,
meldete sich Gil zu Wort, als Nila ihren Vorstoß einfach ignorierte.
Doch der
Junge prustete nur belustigt. „Du? Ein Mädchen?“
Gil ignorierte das und ging zu ihm, um sich das Holzschwert zu holen, das er mitgenommen hatte. Sie kam damit auch Leif zuvor, der
eigentlich hatte anfangen wollen, aber erneut an seinem Mut gescheitert
war. Stattdessen konnte er nur beeindruckt zusehen, wie sie etwas tat, was er nicht gekonnt hatte. Tapfer trat sie den Bienen entgegen.
Sie zögerte nur kurz, dann versenkte sie das Schwert
vorsichtig in der Öffnung des Baumes, was Ragna beinahe zu Tode erschreckte. Die Bienen
schwirrten neugierig um den Eindringling herum, ließen sie aber ansonsten in Ruhe.
An der Schwertspitze
glänzte goldener Honig, als sie es wieder herausholte. Den zu kosten, ließ sie sich natürlich nicht nehmen. Er schmeckte
beinahe noch süßer als der Stolz, es geschafft zu haben.
Als sie zu den Jungs zurückging, konnte sie das erhobenen Hauptes tun. Sie gab das
Schwert an Nila zurück, der ihr nicht mal ein Nicken der Anerkennung zukommen
ließ und sich stattdessen wortlos zu Leif umdrehte.
Das Holzschwert wurde ihm hingehalten.
„Du bist als
nächstes“, forderte er ihn heraus.
Leif wollte
ihm gerne den Vortritt lassen, aber er konnte vor den Anderen nicht zeigen, dass er eigentlich nicht wollte, nachdem er zuvor noch so große Töne gespuckt hatte.
Also nahm er das Schwert und ging unter Ragnas Protest als nächstes.
Doch er konnte trotzdem nichts dagegen tun, dass seine
Angst ihm die Knie schlottern ließ und er erstmal anhalten musste, um sich zu
beruhigen. Mehr als einmal war er kurz davor, seiner Angst einfach nachzugeben
und wegzulaufen, aber er war stärker als das. Er war es so leid, dass alle ihn
einen Schwächling nannten und dachten, er sei ein Feigling. Denn das war er
nicht! Er war Leif, der Sohn des besten und stärksten Kriegers der gesamten
Gegend und er würde, verdammt nochmal, nicht vor ein paar Bienen davonlaufen!
Er konnte das! Er würde es schaffen!
Also ging er zielstrebigen Schrittes vorwärts und rammte
das Schwert mit solcher Wucht in die Öffnung des Baumes, dass die Bienen aufgeschreckt
worden und wütend summten. Da ging er erschrocken wieder auf Abstand.
Er ließ sich seinen Schrecken aber natürlich nicht
anmerken, als er sich zu den Anderen umdrehte und grinste. Auch sein Triumph schmeckte
süß.
Erneut ging das Schwert an Nila zurück. Alistair, der es
auch versuchen wollte, wurde ignoriert und es wurde Ragna hingehalten.
„Jetzt du.“
„Warum… gehst
du nicht zuerst?“
„Ich geh
natürlich zum Schluss und werde den Baum umwerfen, damit sie richtig wütend
werden.“
Jeder von
ihnen dachte, dass das bescheuert sei, aber keiner sagte ein Wort dazu.
Stattdessen sah sich nun Ragna mit seiner Angst konfrontiert. Aber auch er
wollte nicht kneifen. Nicht vor Gil.
Also nahm er das Schwert und ging als
nächstes.
Was ich am meisten bereue in meinem Leben, ist, dich an diesem Tag nicht
aufgehalten zu haben.
Ich hätte dich beschützen sollen, mein Bruder. Ich wusste doch, dass du
eine „sanfte Seele“ warst, wie Mutter immer gesagt hatte. Aber ich war zu
stolz. Was alle anderen über mich dachten, war mir wichtiger. Stark zu sein,
respektiert, mutig. Doch ich war dumm. Diese Dinge sind überhaupt nicht
wichtig.
Wichtig war nur, dass du da warst.
Aber an diesem Tag, als die Bienen dich angriffen, ließ ich dich im Stich.
Ich rannte davon wie der Feigling, der ich immer war, verfolgt von
deinen Schreien.
Sie verfolgen mich noch heute. Sie werden mich wohl mein ganzes Leben
lang verfolgen. Wie die Schuld, die ich einfach nicht tilgen kann.
Es tut mir
so leid.
An diesem Tag starb Ragna Blum vom Uruk-Stamm.
Eine fürchterliche Stille hatte sich über die unwirkliche
Szene gelegt. Nur das nicht enden wollende Heulen und Schreien von Lulu war zu
hören.
Während der Schock sie noch alle gefangen hielt, war es Nero, dem eine
Sicherung durchbrannte. Wütend ging er auf Nila los, ein Finger landete
anklagend auf dem anderen Jungen.
„Du warst das! Du bist schuld, dass er tot ist!“, warf er
Nila vor, der sofort abwehrend die Hände hob.
„Hast du
einen an der Waffel? Ich hab gar nichts gemacht!“
„Du hast ihn
immer geärgert! Er hatte so eine Angst vor dir! Aber dir war das egal! Du bist
eiskalt! Du hast auch die Katze von den Nachbarn umgebracht, und du hast auch
Ragna umgebracht!“
„Was?“,
mischte sich Elrik jetzt ein. „Ist das wahr?“
„Das stimmt
gar nicht! Er lügt!
„Du hast sie
ersäuft, du Monster! Ich hab’s genau gesehen!“
„Sie ist in
den Brunnen gefallen! Das war nicht meine Schuld! Ich schwör’s!“
Wahrscheinlich
wäre Nero die nächste Zeit auf Nila losgegangen, aber da kam plötzlich jemand
anderes hinzu, der bislang gefehlt hatte.
Es war Wulfgar, der von einem seiner Botengänge
zurückkam. Er sah einen Moment lang verwirrt in die Runde, empfing
betroffene Blicke, bis er schließlich auf seinen Jungen aufmerksam wurde, der
zu seinen Füßen auf dem Boden lag. Man hatte ihm die Hände auf dem kleinen
Bauch zusammengelegt und er sah so friedlich aus, als würde er nur schlafen. Warum
nur lag sein Sohn dort auf dem Boden und schlief?
Hastig ging er zu ihm und richtete ihn auf.
Wenn er dort lag, würde er nur kalt werden. Er musste dafür sorgen, dass er
nach drinnen gebracht wurde. Ins Warme. Bevor ihm etwas geschah. Er spürte die
Tränen in seine Augen steigen, das Erkennen, das über ihn hereinbrechen wollte,
doch er klammerte sich mit aller Kraft an seine unsinnigen Gedanken. Er wollte
nicht… Nicht schon wieder…
Im nächsten Moment lag er auf einem immerzu feuchten Boden.
Hohe Bäume um ihn herum, das nie enden wollende Lied des Dschungels, das nur
noch dumpf zu ihm vordrang. Und die Augen, die ihn anstarrten. Die Augen, die
nie wieder von dem Leben erfüllt sein würden, das er so geliebt hatte.
Bevor er es verhindern konnte, war er wieder am Schreien, so wie damals auch.
Sie ließen ihn einen ganzen Tag lang in Ruhe. Nachdem er
sich wieder beruhigt hatte, hatte er seinen Sohn wortlos an sich genommen und
war mit ihm fortgegangen. Sie hatten ihn danach stundenlang gesucht, bis Lu ihn an seinem
Lieblingsort gefunden hatte. Oben an den Klippen bei seinem Elternhaus, wo man
einen guten Ausblick aufs Meer hinaus hatte. Hier saß er, Ragna in den Armen
und erzählte von der Vergangenheit. Den Dingen, die er erlebt hatte und seinen
Reisen. Und während er das tat, hatte er ein Lächeln auf den Lippen.
Lu war
besorgt, als er das gesehen hatte. Er hatte ein paarmal versucht, zu seinem
Gefährten zu gehen, aber der Mut hatte ihn im letzten Augenblick immer verlassen. Er wusste einfach nicht, was er tun oder zu ihm sagen sollte.
„Mach dir
keine Sorgen“, drang Tanns Stimme zu ihm vor. Er und Dana waren vor kurzem
aufgetaucht, um nach ihnen zu sehen. Lu war schon seitdem er Wulfgar gefunden
hatte hier. „Du hast so etwas doch schon öfter gemacht. Du kannst das. Geh zu
ihm. Er braucht dich jetzt.“
Lu war sich da nicht so sicher, aber er nickte dennoch
und ging mit einem unglaublich flauen Gefühl im Magen rüber. Wulfgar nahm
nicht einmal Notiz von ihm. Das starre Lächeln war noch immer in sein Gesicht
gemeißelt.
Er kniete
sich zu ihm, legte ihm eine Hand auf die Schulter, damit der Andere ihn endlich
ansah und sagte so behutsam wie möglich: „Wulf, es wird Zeit, dass wir Ragna
für seine letzte Reise vorbereiten.“ Keine Reaktion. Er starrte ihn nur verständnislos
an. „Ich weiß, dass das schwer für dich ist, dass Ragna tot
ist…“
Weiter kam er nicht. Wulfgar schlug seine Hand rüde zur
Seite.
„Warum sagst du sowas? Ragna ist nicht tot! Er schläft nur!“ Er wandte den Blick ab und fügte bedrohlich hinzu: „Verschwinde, bevor ich mich vergesse!“
„Warum sagst du sowas? Ragna ist nicht tot! Er schläft nur!“ Er wandte den Blick ab und fügte bedrohlich hinzu: „Verschwinde, bevor ich mich vergesse!“
Lu konnte gar
nichts anderes tun, als eingeschüchtert den Rückzug anzutreten. Wulfgar hatte
ihn noch nie bedroht und dass er das jetzt getan hatte, jagte ihm eine ganz
schöne Angst ein. So kannte er ihn überhaupt nicht.
„Er…ist wütend geworden“, berichtete er entgeistert, als er wieder bei Tann und Dana angekommen war.
Tann legte nun
ihm eine Hand auf die Schulter und meinte: „Das hat er nicht so gemeint. Er
kann Ragnas Tod einfach noch nicht akzeptieren. Das kann ich verstehen. Vielleicht
sollte ich mal mit ihm reden.“
„Nein, lass
mich das machen“, bat Dana. „Er ist immerhin wie ein Bruder für mich, und mir
gegenüber wird er bestimmt auch nicht handgreiflich werden.“
Also ging Dana als nächstes hin. Als sie sich neben
Wulfgar niederließ, war das Lächeln aus seinem Gesicht verschwunden. Er
wusste es, dass sein Sohn nicht mehr lebte, aber er wollte es einfach nicht
einsehen.
Eine ganze
Weile lang ließ sie ihn in Ruhe. Saß nur neben ihm und schwieg, während das
Meer sein beruhigendes Lied zu ihren Füßen spielte.
„Du weißt, dass du es nicht ewig verleugnen kannst. Das wird es nämlich nicht ändern“,
sagte sie schließlich zu ihm. Sie sah ihn an. „Das weißt du, nicht wahr? Genauso, wie
du weißt, dass du jetzt nicht einfach aufgeben darfst. Nicht nur du hast einen
Sohn verloren. Lulu braucht dich jetzt mehr denn je. Und auch Leif. Er ist auch
noch da. Vergiss das nicht.“
Sie wusste, wie schwer es war, ein Kind zu verlieren, aber sie wusste auch, dass es weitergehen würde. Das musste es. Nicht nur für sich, sondern auch für die Anderen. Für ihre Familie. Für und dank ihnen hatte sie durchgehalten und die Kraft gefunden, weiterzumachen. Und sie wusste, dass es Wulfgar genauso gehen würde. Denn auch er war nicht allein.
„Er braucht
dich jetzt“, wiederholte sie deshalb zu Lu, als sie wieder zu ihm und Tann
zurückgekehrt war. „Geh zu ihm.“
Lu ließ sich nicht zweimal bitten. Man konnte
schon von weitem sehen, dass Wulfgar die Schwelle des Einsehens endlich
übertreten hatte. Sein Weinen war nicht zu überhören und es brach Lu das Herz,
seinen Liebsten so leiden zu sehen. Ohne auch nur einmal zu zögern, schloss er ihn in die
Arme, und Wulfgar ließ es diesmal zu.
Es dauerte
etwas, bis Wulfgars Heulen wieder leiser wurde, und als Lu zwischen zwei
erstickten Schluchzern seinen Namen hörte, löste er sich von ihm. Er
wollte ihm die Tränen trocknen, aber Wulfgar war schneller und wischte sich mit
seinem Ärmel grob übers Gesicht, sodass es danach noch geröteter war.
„Geht es wieder?“, fragte Lu unsicher.
Wulfgar
nickte. „Ja. Entschuldige.“
„Schon gut. Du
hast gerade deinen Sohn verloren.“
Jetzt schüttelte er den Kopf. „Das ist es
nicht. Nicht nur. Es ist…“ Er zögerte. „Es ist nicht das erste Mal, dass mir
das passiert. Ich habe schon einmal jemanden verloren, den ich wie ein Kind
geliebt habe. Schon einmal“, wiederholte er mit leeren Augen. „Wahrscheinlich
bin ich verflucht, dass alle meine Kinder sterben müssen. Wahrscheinlich ist
Leif der Nächste…“
Lu war
erschüttert, das zu hören, und mehr um Wulfgar von seinem Horror abzulenken,
der sich seiner erneut zu bemächtigen versuchte, fragte er: „Du hast nie davon
gesprochen. Von dem anderen Kind, meine ich…“
„Ihr Name war
Mari.“ Er lächelte bitter. „Sie würde wahrscheinlich sauer sein, dass ich sie
ein Kind nenne und sagen, dass sie schon erwachsen war.“
„Was ist mit
ihr passiert?“
„Sie ist… von Menschenfressern getötet
worden.“ Schmerz auf seinem Gesicht. „Ich konnte sie nicht beschützen. Ich habe
mir geschworen, dass ich das nie wieder zulasse. Aber jetzt…“
Er verstummte und es sah so aus, als ob er gleich wieder
in Tränen ausbrechen würde. Also fragte Lu schnell: „Warum hast du bis jetzt nie von ihr erzählt?“
„Weil ich dir
vieles nicht erzählt habe, Lu“, gab Wulfgar zu. Er wandte den Blick ab. „Ich
habe einiges getan, auf das ich nicht stolz bin und ich hatte Angst, dass du
mich deswegen hassen könntest.“
Er hatte das
schon viel zu lange verheimlicht. Er war das Lügen leid. Er konnte ja nicht
wissen, dass Lu schon längst wusste, dass er ihm nie alles erzählt hatte. Doch
Lu schwieg darüber. Wie er auch darüber schwieg, wie sehr ihn das verletzt
hatte. Stattdessen sagte er nur: „Dann erzähl mir jetzt davon.“
Wulfgar zögerte einen Moment, aber
schließlich wurde sein Blick fest.
„In Ordnung. Ich
werde es dir erzählen.“
„Alles, was ich erlebt habe.“
Kurz darauf wurde Ragna auf seine letzte Reise geschickt.
Wulfgar bat Lulu darum, ihren Sohn zur See bestatten zu dürfen, den Traditionen
seiner Familie gemäß, und Lulu stimmte schweren Herzens zu.
Der Himmel war so
grau wie die ganzen letzten Tage schon, seitdem Ragna gestorben war, als sie an
diesem Tag am Strand standen und das kleine Floß zu Wasser ließen, das Ragnas
Totenschiff werden würde. Das Feuer in der heiligen Schale flackerte
beträchtlich, als der Vater ging, um den umwickelten Pfeil anzuzünden, aber es
hielt dem Wind tapfer stand.
Er hatte gehofft, dass es beim zweiten Mal einfacher
werden würde, aber das wurde es nicht. Es würde wohl nie einfach sein, auf sein
eigenes Kind anzulegen. Vielleicht war das auch der Grund, warum seine Hand
zitterte, während Ragnas Floß in der Ferne immer kleiner wurde. Er brauchte
eine ganze Weile, zu lange, sodass es schließlich zu regnen anfing.
Es goss mit einem Mal wie aus Eimern und das führte dazu,
dass die Flamme an seinem Pfeil zischend erlosch. Jetzt würde es unmöglich
sein, Ragnas Totenschiff zu entzünden.
Er wollte das Wetter gerade verfluchen, als Lu, der
Schamane, verkündete: „Das ist ein Zeichen der Götter! Der Geist, der in den
Wassern wohnt, hat euren Sohn vor dem Zorn des Feuers bewahrt und wird ihn an
seiner statt empfangen.“
Lulu sah ein
bisschen besorgt aus, aber als Wulfgar zu dem kleinen Punkt sah, der sein
jüngster Sohn war, sah er, dass es gut so war. Das war es, wo Ragna hingehörte.
Er hoffte nur, dass er vielleicht noch ein klein wenig von dieser Welt sehen
konnte, die auch er einst bereits hatte, bevor das Wasser ihn zu sich holte.
Ragna war ein stiller und zurückgezogener Junge gewesen, der sehr
schüchtern gewesen war. Aber sein Tod veränderte trotzdem viele.
Lulu zerbrach beinahe am Tod ihres Sohnes, und es war
erneut an Wulfgar, ihr über diese schwere Zeit hinwegzuhelfen.
Was dazu führte, dass sich beide danach noch näher
standen als davor schon.
Aber auch Luis‘ Hilfe war das zu verdanken. Es war das
erste Mal seit langem, dass er wieder auf seine Mutter zuging und für sie da
war, nachdem er sich lange Zeit so sehr von ihr distanziert hatte.
Wulfgar selber gelang es dank Lu, der zwar an den Dingen
zu schlucken hatte, die sein Gefährte ihm erzählt hatte, aber der letztendlich
zu ihm stand, nicht am Tod seines Sohnes zu zerbrechen.
Nila musste sich danach eine lange, laute und
vernichtende Standpredigt anhören, und er bekam einige Strafen aufgebrummt, als feststand, dass er die Katze der
Nachbarn tatsächlich getötet hatte.
Es entzweite Vater und Sohn noch mehr, und wo Nila zuvor
versucht hatte, seinen Vater zu beeindrucken, hatte er von da an nur noch
kalten Hass für ihn übrig. Auch seine Mutter, die immer wieder versuchte, seine
Taten zu erklären, wies er endgültig von sich. Er wollte mit keinem von beiden
mehr etwas zu tun haben, und er brach seiner Mutter damit das Herz.
Seitdem war Nila noch unausstehlicher. Er vertraute
niemandem mehr außer sich selber, und er begann, sein Umfeld noch heftiger und
gewitzter zu terrorisieren. Vor allen Dingen Nara hatte sehr darunter zu
leiden.
Bald schon war es nur noch Nero, der sich ihm
entgegenstellte, und ihre Auseinandersetzungen endeten nicht selten blutig.
Auch Nero traf Ragnas Tod schwer. Von all den Kindern
waren die beiden Jungen am besten miteinander befreundet gewesen, auch wenn
Ragna das nie so realisiert hatte. Es war das erste Mal, dass Nero mit dem Tod
konfrontiert wurde und es war das erste Mal, dass er sich fragte, ob er es
nicht gewesen war, der seine Mutter umgebracht hatte. Weil er geboren worden
war. Er fraß diesen Gedanken in sich hinein und er schaffte es nicht mehr, sich auf
jemand anderen einzulassen.
Gil war über den Verlust ihres ersten, wirklichen
Freundes ebenfalls betroffen, und nachdem sie ihre Tränen getrocknet hatte,
verfiel sie in Wut über die Ungerechtigkeit, die Ragna widerfahren war.
Bald schon war von dem ruhigen Mädchen nicht mehr viel
übrig. Sie wurde laut, wütend und sagte, was ihr nicht passte. Was zu einigen
Spannungen in ihrem Elternhaus führte.
Die Beziehung zu den Nachbarn war ebenfalls kurz davor, zu
kippen, nachdem der Mord an der Nachbarskatze herauskam und Greta und Griswold
erfuhren, in welcher Gefahr Giselinde gesteckt hatte. Doch ironischerweise war
es Greta, die selber erst einen Sohn verloren hatte, die die Situation rettete.
Alistair wurde ebenfalls zum Nachdenken gebracht. Da sein
letztes Gespräch mit Ragna sehr unfreundlicher Natur gewesen war, plagte ihn ein überaus schlechtes Gewissen, dass er sich nie für seine rüden
Worte hatte entschuldigen können. Deshalb nahm er sich zu Herzen, was Ragna ihm
zuletzt geraten hatte. Er nahm sich vor, ruhiger zu werden, um eines Tages auch
eine Verbindung zu seinem Pferd Cesar aufbauen zu können. Aber vor allen Dingen
erkannte Alistair, dass er froh war, am Leben zu sein. Egal, ob er nun laufen
konnte oder nicht.
Und letztlich Leif, der nach Ragnas Tod eine schwere Zeit
voller Selbstvorwürfe und Trauer durchmachte.
Obwohl sein Vater danach lange Gespräche mit ihm darüber
führte, ihm versicherte, dass er keine Schuld am Tod seines Bruders hatte, konnte Leif nicht so einfach
loslassen.
Bald schon war er so ruhig und zurückgezogen, wie es
einst sein Bruder gewesen war. Nur, dass er dabei überhaupt nicht glücklich
war.
Ich werde wohl nie
wieder glücklich sein. Aber das ist das Mindeste, das ich verdient habe. Das
Mindeste, nachdem ich doch dafür verantwortlich bin, dass du tot bist.
Mein Bruder Ragna. Du fehlst hier.
___________________________
Ich wollte hier jetzt eigentlich gar nichts mehr zu schreiben, aber es ist wohl ein kurzes Wort der Erklärung angebracht für alle die, die Wulfgars Geschichte nicht gelesen haben. Und zwar das Mädchen mit den braunen Haaren, das da in Wulfgars Flashback tot am Boden liegt, ist Mari, das Mädchen, von dem er ja auch im Kapitel selber erzählt hat. Wer die Frau mit den hellen Haaren im Boot ist, erfährt man auch noch. Das ist übrigens kein Rückblick gewesen, sondern passiert momentan woanders.
Hier mal ein Bild von Mari und Wulfgar:
Dem Mari-Sim geht es natürlich gut. Sie hat sich gleich nach den Aufnahmen mal eine Wasserbombenschlacht mit ihrem Wulf-Papa geliefert und ihn ziemlich fertig gemacht.
Und natürlich geht es auch dem Ragna-Sim gut, wie man sieht.
Nach den Aufnahmen gab es auch erstmal einen Drücker für Mama und Papa. Ich weiß jetzt schon, dass mir sein Charakter fehlen wird (tut er schon); er war immerhin einer meiner Lieblinge, und ich fühle und fühlte mich tagelang echt schlecht, ihn sterben zu lassen. Ich will mir auch nicht mal vorstellen, wie schlimm das für Eltern sein muss, ihr Kind zu verlieren...
Es war jedenfalls nicht mal eine Seebestattung geplant, aber ich konnte ihn einfach nicht unter die Erde bringen. Ich will irgendwie dran glauben, dass er vielleicht doch nur scheintot war und jetzt irgendwo an eine Küste gespült wurde und er da jetzt glücklich und zufrieden bei Adoptiveltern leben wird.
Ach ja, den Katzen der Hells geht es natürlich auch gut:
Naja, jetzt aber genug. Ist schon mehr geworden, als ich eigentlich schreiben wollte. Es muss weitergehen, und nächstes Mal dann werden die ersten vier Kinder zu Teenagern und Malah geht auf ihre Bewährungsprobe.
Bis dahin, danke euch fürs Lesen, und ich verabschiede mich!
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