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Sonntag, 17. Juli 2022

Kapitel 7 - Gabriel​


Hannah wurde nach vorn gerissen. Ein erstickter Schrei entwich ihrer Kehle, bevor eine strenge Stimme sie zum Schweigen brachte.
"Was tun Sie hier?"
Hannah blinzelte in das blendende Licht. Eine knochige Hand ließ die Öllampe endlich sinken und erlaubte ihr nun, die Person zu sehen, die vor ihr stand. Dunkle Schatten tanzten über Harriet Morgens strenges Gesicht und ließen ihre Falten noch tiefer, ihre Wangen noch hohler wirken.​


"Was haben Sie hier zu suchen?", wiederholte sie ihre Frage. "Um diese Zeit hat man im Bett zu liegen und nicht durch anderer Leute Gärten zu streifen! Der Graf persönlich hat es allen verboten, ihr Zimmer nach Mitternacht zu verlassen."
Sie gestikulierte gebieterisch und viel zu hektisch.
Hannah rieb sich schuldbewusst den Nacken und zog den Kopf. Ja, was tat sie denn eigentlich hier?
Doch dann fiel ihr plötzlich etwas anderes auf. Der Graf hatte es also allen verboten? Was tat die Hausverwalterin dann hier draußen? Das Verbot galt schließlich auch für sie!
Die alternde Frau bemerkte Hannahs Blick und hob ihr Kinn abschätzend und ließ damit keinerlei Anschuldigung ihrerseits zu.
"Ich... ich wollte das Grundstück nur ein wenig erkunden", brachte sie schließlich heraus. "Wem gehören diese Gräber?"
Sie deutete über ihre Schulter, versuchte, von ihrem Vergehen abzulenken. Aber eigentlich interessierte es sie ja auch, wer hier begraben lag. Ein weiteres seiner Opfer? Oder vielleicht doch nur ein dahingeschiedenes Familientmitglied? Leider waren die Inschriften durch Verwitterung unlesbar.​


Die Hausverwalterin wich zurück und wirkte plötzlich irritiert.
"Was für ein unziemliches Verhalten! In Dingen herumzuschnüffeln, die Sie gar nichts angehen! Ich bin nicht berechtigt, irgendeine Auskunft darüber zu geben!", wimmelte sie Hannah ab.
Sie bedachte das Mädchen mit einem letzten, abschätzenden Blick.
"Und ziehen sie sich gefälligst etwas anständiges an!"
Und damit verschwand sie wieder im Haus. Hannah blieb verwirrt zurück, beschloss jedoch, besser umgehend zu tun, was die Hausverwalterin von ihr verlangt hatte.​


Erst, als Hannah die Eingangshalle betrat, merkte sie, dass sie bis auf die Knochen durchnässt war. Und erst, als ihr ein Schwall warmer Luft aus dem eigentlich kalten Inneren des Hauses entgegenschlug, fiel ihr auf, wie kalt es draußen gewesen war. Unter den Blicken der mürrischen Harriet Morgen kehrte sie schleunigst in ihr Zimmer zurück.
Ihren nächtlichen Spaziergang und warum sie den überhaupt unternommen hatte, hatte sie durch den Schrecken schon längst wieder vergessen.​


Nach einer viel zu kurzen Nacht weckte der Gesang der Vögel Hannah schon früh am nächsten Morgen wieder auf. Sie erledigte ein bisschen müde ihre Morgentoilette und ging danach hinunter in die Küche. Eigentlich hatte sie ja keinen Hunger, aber sie wollte nach dem alten Hausdiener Jerret suchen.
Sie hatte gestern nämlich noch beschlossen, mit jemandem über Aiden zu reden. Dem Jungen musste irgendwie geholfen werden. Und dazu brauchte wiederum sie Hilfe. Und laut Gabriel war Jerret dazu der beste Ansprechpartner, hörte Aiden doch wenigstens ein wenig auf ihn.
Und da sie nicht wusste, wo sich der alte Mann aufhielt, versuchte sie es zuerst in der Küche, in der sich normalerweise immer die meisten Bediensteten aufhielten.​


In der Küche duftete es nach frisch gebackenem Brot und das erste Mal seit ihrer Ankunft erkannte Hannah das alte Haus wieder und fühlte sich wieder heimisch. Früher hatte es im ganzen Haus immer, morgens bis abend, nach frischen Köstlichkeiten gerochen. Nach Kuchen, Pudding, Keksen und allen erdenklichen anderen Gaumenfreuden. Und erstmals erkannte sie auch, wie sehr sie diesen Geruch doch all die Jahre vermisst hatte.
Nur eine Person, wahrscheinlich die Köchin, arbeitete nun nur noch in der kargen, viel zu großen Küche. Die alte Frau mit den blonden Haaren war jedoch sehr wortkarg.
"Jerret. Wissen sie wo ich Jerret finde?", versuchte es Hannah nun schon zum dritten Mal.
Die Köchin sah nicht einmal von ihren Töpfen auf.
"Nein", antwortete sie bloß.
"Wo könnte er sich denn aufhalten?"
"In seinem Haus. Vielleicht im Stall."
Dieser Frau musste man aber auch jedes Wort einzeln aus der Nase ziehen.​


Nach ein paar weiteren Fragen hatte es Hannah schließlich aufgegeben, noch etwas aus der Köchin herauszubekommen. Sie hatte nur erfahren, wo sich der Stall befand und hatte beschlossen, dort ihre Suche fortzusetzen.
Es dauerte auch nicht lange, bis sie Jerret fand. Er arbeitete hinter dem Haus und harkte das nasse Laub zusammen, das der gestrige Sturm von den nun kahlen Bäumen gerissen hatte. Unsicher ging sie auf den Mann zu.
"Guten Morgen!", begann sie zögernd.
Jerret warf ihr nur einen kurzen Blick aus den Augenwinkeln heraus zu und wandte sich danach wieder dem Laub zu. Hannah wusste nicht so recht, wie sie anfangen sollte. Also sagte sie es einfach geradeheraus.
"Ich wollte mit ihnen über die beiden Kinder des Hauses reden... vor allem über Aiden", erklärte sie.​


Plötzlich hielt der Bedienstete in seiner Arbeit inne und drehte sich schwerfällig zu ihr um. Doch entgegen ihrer Hoffnungen sagte er nichts, sondern sah sie einfach nur an.
"Ich meine... ich weiß überhaupt nichts über die beiden. Besonders über Aiden weiß ich so gut wie gar nichts. Ich möchte nur endlich erfahren, möchte nur verstehen, was mit ihm passiert ist, dass er so", sie suchte nach den richtigen Worten, "dass er so seltsam ist."
Erwartungsvoll blickte sie in das faltenzerfurchte Gesicht, das sie ausdruckslos anzusehen schien.
Und dann fanden seine grauen Augen die ihren. Sie waren leer und trüb und doch so voller Aussagekraft, voller Drang, sich mitzuteilen. Plötzlich hob  er seine Hand und versenkte sie in seiner Jacketttasche.​


Doch im selben Moment verkleinerten sich die grauen Pupillen und der Blickkontakt brach ab. Er zog seine Hand leer wieder aus der Tasche heraus. 
Hannah folgte seinem Blick irritiert. Was konnte ihn nur so erschreckt haben?​


"Jerret, Frau Morgen verlangt nach deiner Hilfe! Vater kommt bald zurück und alles muss rechtzeitig fertig sein!"
Gabriel trat aus ihrem Schatten und baute sich vor Jerret auf. Seine Augen waren plötzlich hart und befehlend. Gebieterisch folgte sein Blick dem Bediensteten, als dieser sich aufmachte, die  ihm aufgetragene Arbeit zu erledigen.
Hannah hob eine Augenbraue. War das wirklich Gabriel, der da vor ihr stand?​


Plötzlich wandte sich der Junge an sie. Hannah zuckte zusammen, als sein kalter Blick sie traf. Doch von einer Sekunde auf die andere änderte sich sein Gemüt schlagartig.
"Fräulein Garner, Sie müssen wissen, dass Jerret nicht mehr redet, seitdem ihn seine Frau verlassen hat." Er grinste ganz unpassend und zeigte ihr dabei zwei Zahnlücken. "Sie wollten ihn etwas über Aiden fragen, habe ich recht?"
Hannah nickte, doch sie wusste nicht, ob sie nervös oder ruhig sein sollte.
"Ja, hauptsächlich. Aber ich wollte auch etwas über eure Familie im Allgemeinen erfahren. Ich weiß schließlich kaum etwas über eure Vergangenheit."
  "Kommen Sie! Ich werde ihnen etwas zeigen."​


Hannah war plötzlich nicht mehr so erpicht darauf, etwas über die Vergangenheit ihrer Schützlinge herauszufinden, als sie in dem dunklen Speisesaal vor der Reihe ungerahmter Portraits stand. Die düsteren Gestalten blickten unheilvoll auf sie hinab. Neben ihr kam Gabriel zum Stehen.
"Meine Vorfahren sind allesamt Edelleute gewesen", berichtete er stolz.
Wenn er wüsste! Hannah verzog das Gesicht, setzte aber ein Lächeln auf, als sie Gabriel ansah. 
Er begann die Reihen der Portraits abzulaufen.​


"Meine Großeltern starben vor einiger Zeit." 
Er wies auf die Portraits ganz links. Zwei alternde Leute waren darauf verewigt worden und obwohl beide die Mundwinkel zu einem leichten Lächeln verzogen hatten, wirkten sie unfreundlich und irgendwie gequält.
"Aiden mochte sie sehr", fuhr er fort. "Wahrscheinlich ist er deswegen so komisch geworden. Meinen Vater, den ehrenwerten Grafen, haben Sie sicher schon kennen gelernt."
Hannah nickte auf die nicht gestellte Frage. Sie vermied es jedoch, diesem Portrait auch nur einen Blick zu schenken. Denn sie musste vor Gabriel die Fassung bewahren.
Der Junge blieb stehen. Er blickte nach oben und in seinen Augen lag plötzlich ein weicher Blick. Keine Spur mehr von dem herrscherischen Ausdruck, mit dem er Jerret angesehen hatte, als er in die blauen Augen einer hübschen jungen Frau blickte, die von oben auf ihn herablächelte.​


Eigentlich lächelte sie nicht, aber ihre Augen schienen dennoch voller Freude zu strahlen, wenn gleich auch so viel Härte und Schmerz in ihnen lagen.
"Meine Mutter", bemerkte Gabriel. "Sie war sehr krank und eines Tages starb sie plötzlich an einer Lungenentzündung."
Er brach ab.
Hannah betrachtete das Portrait nachdenklich. Auf eine seltsame Weise kam es ihr bekannt vor, als hätte sie es schon einmal gesehen, doch sie wusste einfach nicht, wo. Diese wissbegierigen, klugen Augen, die hinter einem trauernden Schleier auf sie herabblickten, zogen sie in ihren Bann und obwohl es überhaupt nicht passte, fühlten sich ihre Glieder auf einmal schwer an, ergriff Schläfrigkeit von ihr Besitz.​


Ein Schluchzen zerbrach die eigentümliche Stille plötzlich und weckte Hannah aus ihren Tagträumen. Verwirrt blickte sie sich um und bemerkte Gabriel, der leise weinend neben ihr stand. Sie musste zugeben, dass sie das jetzt nicht erwartet hätte. Ratlos sah sie ihn an und überlegte angespannt, was sie tun sollte.
Gabriel hatte auf sie immer so einen erwachsenen Eindruck gemacht, als könne ihn nichts aus der Bahn werfen. Sein ganzes Wesen, seine Art hatten Hannah völlig vergessen lassen, dass er nur ein Junge von vielleicht neun Jahren war. Und ein sehr verletzlicher, wie es schien, dazu.​
 

Zögerlich kniete sie sich neben ihn und legte ihre Arme um den schmächtigen, bebenden Körper. Das Schluchzen war inzwischen zu einem bitterlichen Weinkrampf angeschwollen.
Ja, sie hatte wirklich vergessen, dass er noch ein Kind war. Hatte nicht daran gedacht, wie es ihr damals ergangen war und wie es auch ihm widerfahren ist. Auch sie hatte schlimmes in ihrer Kindheit erlebt und auch sie hatte diese Erinnerungen versucht, zu verbannen, hatte alles überspielt und versucht, nach außen hin stark zu sein. Doch die Trauer war dennoch niemals vergangen. All die Jahre war sie ein ständiger Begleiter gewesen. Und hatte sich schließlich aufgestaut, zu Wut, zu Hass, zu Rachegelüsten.​


Doch in diesem einen Augenblick, als der Sohn ihres Peinigers schluchzend in ihren Armen lag, fragte sie sich zum ersten Mal, ob es wirklich richtig war, einem Halbwaisen auch noch seinen Vater zu nehmen.​
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