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Sonntag, 17. Juli 2022

Kapitel 6 - Ein Spaziergang um Mitternacht​


Hannah war lange Zeit ruhelos in ihrem Zimmer auf und ab gelaufen, immer ein Ohr auf irgendwelche Geräusche von draußen oder von nebenan. Wie konnte er davon wissen? Wie konnte er sie kennen? Und noch wichtiger - wieso wusste er, dass sie diese Menschen kannte?
Diese Gesichter! Sie verfolgten Hannah bei jedem ihrer Schritte, jedem ihrer Gedanken. Das Blut im Gesicht und darüber ein scheinheiliges Lächeln! War es ihnen also allen so ergangen?
Da sie keine Antworten auf diese Fragen gefunden hatte, war sie irgendwann einfach schlafen gegangen. Sie wollte nicht mehr daran denken, wollte nicht mehr an all diese schrecklichen Dinge erinnert werden. Alles was sie noch wollte, war, zu vergessen. Also hatte sie sich hingelegt und der Schlaf war ihr überraschenderweise sogar recht schnell gekommen.​


Sie drückte sich fester in das muffige Polster. Kleine Staubkörner tanzten vor ihren Augen im Schein der Kerzen auf dem unebenen Holztisch.
Sie fühlte sich unbehaglich, das Atmen fiel ihr mit einem Mal so schwer. Aber trotzdem war sie immer noch innerlich seltsam ruhig.​


"Sie müssen beide nur noch hier unterschreiben", endete der alternde Mann hinterm Schreibtisch gerade.
Eine ganze Rede hatte er gehalten und nun, dieser eine Satz, brannte sich in ihr Gehör, ließ sie aufhören und plötzlich wieder erkennen, in welcher Zwickmühle sie sich befand.​
 

 Was sollte sie nur tun? Sie konnte doch nicht einfach hier sitzen und mit ansehen, wie er alles zerstörte, das ihr einst lieb und teuer gewesen war. Ihr alles nahm, obwohl er dies längst getan hatte. Beinahe zumindest. Denn eines war ihr noch geblieben und er war nun dabei, dies auch noch zu zerstören. Ihr Herz verkrampfte sich, ihre Kehle brannte und fühlte sich trocken an
  "Ich glaube mir ist schwindelig..."
Sie fasste sich an den Kopf und versuchte, die Gesichter vor sich zu fixieren, am Verschwimmen zu hindern. Ja, ihr war schwindelig, aber das nur wegen den Beruhigungsmitteln, die er ihr zuvor gegeben hatte.​


Er versetzte ihr einen scharfen Blick, der sie bei ihrem ersten Zusammentreffen Angst und Bange hätte werden lassen. Doch sie war nicht mehr das unbescholtene Mädchen von damals. Nein, sie hatte viel durchgemacht, hatte gekämpft und sich nicht von ihm unterkriegen lassen. Dieser Blick jagte ihr keine Angst mehr ein, ließ sie nicht mehr schweigen.
"Es geht mir aber nicht gut!", zischte sie.
"Du tust gefälligst, was ich dir sage!"​


Sie öffnete den Mund mehrmals und schloss ihn auch genauso oft wieder. Ihr fehlten die Worte, es war plötzlich heiß im Raum. Alles um sie herum begann wieder zu verschwimmen.
Das Gefühl der Trance kehrte zurück. Dieses süße, trügerische Gefühl, dass sie schon zu gut kannte. Doch diesmal würde sie sich nicht übermannen lassen. Sie biss sich auf die Unterlippe und starrte ihn an, legte alle Gefühle, allen Hass in diesen einen Blick. Und wusste doch gleichzeitig, dass es ihm egal war, genauso, wie es allen in diesem Raum egal war, was aus ihr wurde.​


Eine seichte Brise streifte durch das geöffnete Fenter, wie ein Kater auf leisen Sohlen, schlich es durch den Raum und verlor sich im Läuten einer Uhr. Mit lauten, metallischen Schlägen verabschiedete sie den alten Tag und verkündete, dass ein neuer angebrochen war, obwohl niemand mehr auf war, um ihn zu begrüßen. Eine Kirche von irgendwoher begleitete den Gesang melodisch.
Hannah drehte sich von einer Seite auf die andere. Ihre Kehle war trocken und sie fühlte sich plötzlich unbehaglich. Gedanken kreisten in ihrem Kopf. Erinnerungen, an die sie sich nicht erinnern konnte. Und doch waren sie plötzlich so deutlich, so erschreckend, dass ihr Traum sie schließlich sachte aus dem Schlaf riss.​


"Hannah!"
Der Wind streifte ihre nackten Arme, als sie sich schwerfällig aufrichtete. Ihr Kopf brummte, aber sie hatte keine Schmerzen. Vielmehr war alles wie vernebelt, vielmehr fühlte sie sich wie in Trance.
"Hannah!"
Wer rief sie? Wer war da? Träumte sie etwa noch?​
 

Mit schweren, tauben Gliedern setzte sie einen Fuß auf die blanken Holzbohlen, schlüpfte in ihre Schuhe.
"Hannah!"
Der Raum bewegte sich plötzlich, ihre Beine fühlten sich wie beträubt. Die Klinke in ihrer Hand war kalt, kalt wie die Dunkelheit, die sie draußen empfing.​


Der Gang gähnte ihr leer und trüb entgegen. Nur die übliche Kerze brannte langsam und ruhig in ihrem Halter herunter.
"Hannah!"
Das Flüstern! Es war so nahe und doch so fern. Sie spürte dem Atem der Stimme und spürte die Berührung, aber egal, wie oft sie sich umdrehte, der Platz vor ihren Augen blieb immer leer.​


Sie starrte in die Dunkelheit, fixierte einen Punkt jenseits des schützenden Lichtkegels, bis alles vor ihren Augen zu verschwimmen begann und die Betäubtheit von Neuem Besitz von ihr ergriff.
Etwas helles, leuchtendes lauerte auf der anderen Seite des Lichtes. Stand da, ruhig, und wartete hungrig auf sein nächstes Opfer.​


Sie spürte plötzlich, wie sie einen Fuß vor den anderen setzte und den Ruf des Scheines folgte. Weiter! Weiter! Immer schneller und schneller!​


Kalte Augen blickten sie gierig an, lockten, vergifteten sie. Und sie konnte nichts anderes tun, als dem Ruf zu folgen.
"Hannah!"
"Ich komme!", wollte sie schreien, doch kein Laut verließ ihre Kehle.
"Hannah!"
Die Stimme verlangte sie, wurde fordernder. Der Gang schien immer länger zu werden. Ging sie auf die Augen zu oder flüchtete sie vor ihnen? Alle Gedanken entwichen ihr, verloren sich auf ihrem Pfad, verhallten ungedacht in der Stille.​


Der weiße Schein begann sich zu bewegen. Ein Kinderlachen erfüllte die Räume, hallte hundertmal ungehört von den kahlen Wänden wieder.
"Warte!", rief sie, doch sie war immer noch stumm.
Sie streckte die Hand aus, wollte den Schein greifen. Ihre Füße rannten, beschleunigten noch einmal den Schritt. Sie sah durch die Augen einer anderen wie sich die Treppe näherte, die große Flügeltür am Eingang.​


Und dann hatte sie das Haus verlassen. Ein eisiger Wind peitschte ihr erbarmungslos ins Gesicht, der schlagende Regen hatte ihre Kleider im Nu durchnässt.
Stille kehrte ein. Nur das Geräusch der Regentropfen auf den vertrockneten Herbstblättern und ihr schneller Atem. Die Grillen schwiegen. Und der Schein war nirgends zu sehen.
Das hohe Gras wich ihr aus. Der Boden unter ihren Füßen schmatzte. Sie musste ihn finden! Wo war er? Wo versteckte er sich?
Ein Geruch erfüllte plötzlich die kalte Abendluft. Ein süßlicher Geruch, der ihr übel werden ließ. Versteckte sich der Schein dort? Hinter dem Geruch? Ja, dort musste er sein! Wie eine Gehetzte rannte sie ihrer Nase hinterher.​


Der Geruch verschwand so plötzlich, wie er gekommen war. Und mit ihm war auch die Trance gegangen. Denn mit einem Mal war Hannah wieder her über ihren Körper und wusste nicht einmal, wo sie war. Was tat sie hier? War sie etwa geschlafwandelt? Hatte sie geträumt?
Doch jede Frage verlor an Bedeutung, geriet in Vergessenheit, als sie das Ende des Grundstückes erreichte.
Die Holzbohlen des Zaunes, der sich mühsam vor ihr aus dem hohen Gras streckte, waren morsch und mit Pilzen überzogen. An einigen Stellen klafften Löcher im Gräserwald. Und dann kamen sie in ihr Blickfeld.
Wie faule Zähne ragten die schiefen Steinplatten aus dem Boden.​


Und dieser Anblick ließ sie alles um sie herum vergessen.
Gräber! Hier auf diesem Grundstück! Hier an diesem Platz, an dem einst die wunderschönen duftenden Rosenbüsche gestanden hatten! Wut staute sich in ihr auf, als sie das sah, sah, wie man ihr geliebtes Heim ein weiteres Mal entweiht hatte.​


Hannah wischte sich über die Augen, denen unwillkürlich Tränen entwicken waren. Und zurück blieb nur diese unbändige Wut.
Hier hatten keine Gräber zu stehen! Nirgends auf diesem Grundstück hatten Gräber zu stehen! Niemand hatte das Recht dazu!
Sie trat näher und hob ihren Fuß.
Diese Gräber waren unrechtmäßig hier, also mussten sie verschwinden.​


Ein Rascheln zerschnitt die Stille und hielt Hannah von ihrem Vorhaben ab. Sie wich unwillkürlich zurück, ihr Herz verkrampfte sich. Wieder ein Rascheln. Ein Rascheln, inmitten des Waldes vor ihr.
Wer war da? Neugierig trat sie näher und dachte nicht daran, dass es gefährlich sein könnte. Und noch einen Schritt näher. Eine düstere Gestalt hockte dort. Das Gras ächzte unter ihren Schritten.


Mite inem Mal erhellte sich die Grabstelle taghell. Hannah drehte sich ertappt um, doch das Licht blendete sie, nahm ihr jegliche Sicht.
Sie hob schützend die Arme, während ein fester Griff sie unsanft am Handgelenk packte.​
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