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Mittwoch, 5. Dezember 2018

Kapitel 15 - Das Schwert


Ich stellte den Becher auf den breiten Baumstumpf, auf dem ich saß, klopfte mir die Brotkrümel aus dem Mantel, der mir gegen den letzten Kälteeinbruch gute Dienste geleistet hatte, und wollte mich gerade erheben, als sie auf mich zukamen. Drei Kerle, alle ausgewachsen, groß und vierschrötig und wahrscheinlich so dumm wie das Brot, das ich gerade gegessen hatte. Ich ließ den Becher gleich stehen und blieb sitzen. Wie erwartet bauten sie sich vor mir auf.
     Der Mittlere, ein Blonder mit einem gemeinen Gesicht, trat vor. Er war wahrscheinlich ihr Anführer. Er verschränkte die Arme vor der breiten Brust und sah gehässig auf mich herab. „He, du! Das hier ist mein Hof und ich habe gehört, dass du noch nicht bezahlt hast, um hier sein zu dürfen. Es ist ein guter Hof, auf den ich nicht jeden Landstreicher lassen kann, musst du wissen.“
     Er machte eine ausladende Geste, als würde ihm tatsächlich alles hier gehören. Ich wusste aber, dass er nur der Sohn des eigentlichen Besitzers war. Wahrscheinlich war er nicht einmal der Erstgeborene. Es war ein kleines, abgelegenes Gehöft am Ende einer langen, vom Herbstregen schlammigen Straße. Zwei halbwegs große Rundgebäude mit geflochtenen Wänden und strohgedeckten Dächern, vor denen sich ein paar Schweine im Dreck suhlten und nicht einmal eine Handvoll Leute ihrem Tagwerk nachgingen. Im Hintergrund erstreckte sich ein Gebirge, von dem ich immer noch nicht wusste, wie ich es überqueren sollte.
     Ich sah die drei vor mir mit dem ausdruckslosesten Blick an, den ich draufhatte. Sie waren nicht einmal bedrohlich genug, um gefährlich auszusehen. Oder ihnen zu antworten.
      „Hast du nicht gehört, hä?“, kam auch sogleich vom Blonden. Seine beiden Kumpane, beide dunkelhaarig und mit breiten, platten Nasen, wetzten schon die Fäuste.
      „Lass mich in Ruhe, Junge!“, warnte ich ihn einmal.
      Doch er war, wie gesagt, ziemlich dumm. Er grinste und entblößte ein paar bräunliche Zähne. Dann nickte er seinen beiden Kumpanen zu, woraufhin die auf mich zutraten und mich wahrscheinlich am Kragen auf die Beine ziehen wollten, um mich zu verprügeln. Doch ich war schneller. Ich sprang blitzschnell auf, knallte ihre beiden Köpfe gegeneinander, sodass sie taumelnd zu Boden gingen und dann hatte ich dem Blonden die Faust in den Magen gerammt, bevor der überhaupt wusste, wie ihm geschah. Während er sich unter Schmerzen krümmte, ging ich an ihnen vorbei.
      Ich ließ den Becher in der Obhut der Jungen, überzeugt, dass sie ihn nach meiner freundlichen Bitte bestimmt zu der Frau des Hauses zurückbringen würden, von der ich meine Mahlzeit erworben hatte, und machte mich wieder auf den Weg. Sie waren harmlos. Schläger, die auf ihrem Hof vielleicht gefürchtet waren, die in der weiten Welt aber höchstens mit nassen Hosen zu ihren Müttern zurückrennen würden. Sie hatten noch nie jemanden getötet, das konnte ich in ihren Augen sehen. Ich hingegen hatte das schon getan. Und zwar sehr oft, seitdem ich Lao-Pao vor über drei Jahren verlassen hatte. Der Ort, an den ich seitdem nicht mehr dachte. Nicht an den Ort, nicht an die Leute, und vor allen Dingen nicht an sie.
      Ich war gerade links in die Baumreihe eingetaucht, die den Fluss säumte wie eine Allee, als ich es hinter mir rufen hörte. Ein Junge kam mir entgegen, gerade an der Schwelle dazu, erwachsen zu werden, schätzte ich. Er hatte einen Schopf dunkler Locken auf dem Kopf und strahlend blaue Augen. Ich erkannte die Ähnlichkeit mit dem Blonden, aber er ließ das Gemeine in seinem Gesicht vermissen. Vielleicht lag es daran, dass er noch so jung war.
      „Du hast Sven gerade ganz schön fertiggemacht“, stellte er beeindruckt fest. Seine Stimme war zu hoch, um die eines Mannes zu sein, aber zu tief für die eines Kindes. „Bist du ein Krieger oder sowas, den man anheuern kann?“
      Ich verschränkte die Arme und sah ihn abschätzend an. Eigentlich glaubte ich ja nicht, dass er mich überhaupt bezahlen konnte, aber trotzdem nickte ich. Da hellte sich sein Gesicht auf. Zumindest für einen kurzen Moment.
     „Dann will ich, dass du mir hilfst, einen Mann zu töten.“ Ich nickte ihm zu, dass er fortfuhr. „Er hat meine Schwester geschändet und umgebracht.“
      Das war nicht das, was ich wissen wollte, also fragte ich nach: „Was willst du dafür bezahlen?“
      Ich hatte mich die letzten Jahre durchgeschlagen, indem ich meine Hand und meine Waffe verkauft hatte. Ein warmes Bett, eine Mahlzeit, Kleidung, ich hatte dafür so ziemlich alles Mögliche gemacht, um über die Runden zu kommen. Natürlich aber hatte ich auch meine Prinzipien: Keine Frauen, keine Kinder und keine Unschuldigen. Ich half nicht bei Verbrechen und beklaute auch niemanden. Sonst war es mir eigentlich herzlich egal, warum die Leute mich anheuerten oder was ich tun sollte.  
     Jetzt wurde der Junge nervös. Er strich sich unbehaglich über den Nacken. „Ja, das… ich kann dir eigentlich nichts geben…“
     Gespräch beendet. Ich drehte mich um und stieg in mein Boot, das an einem der Bäume vertäut im Fluss lag. Doch er lief mir nach. Wahrscheinlich dachte er, dass ich ihm nicht helfen wollte, aber das sollte er ruhig glauben. Ich hatte zwar vor, bei dem Frauenschänder und –mörder vorbeizuschauen, aber ich konnte darauf verzichten, dass der Junge rumerzählte, dass ich für lau arbeitete. Sonst hatte ich bald unzählige Bittsteller, die mit ihren ach so tragischen Geschichten ankamen. Das kannte ich schon.
     „Warte! Ich kann dir vielleicht nichts geben, aber ich könnte ja für dich arbeiten oder so.“
     „Nein.“ Ich war lieber allein unterwegs. Ich hatte seit drei Jahren keinen Weggefährten mehr gehabt und würde jetzt bestimmt nicht damit anfangen.
     Da hatte er die Hand auf mein Boot gelegt. Ich musste das Zucken in meinen Fingern unterdrücken, mein Messer zu ziehen.
     „Bitte! Er hat meine Schwester umgebracht und ich weiß, dass er auch anderen Frauen wehgetan hat. Aber wir können nichts gegen ihn tun, weil er ein alter Krieger aus der Stadt ist. Hast du denn gar kein Herz?“
     „Nimm die Finger weg oder du wirst sie los“, warnte ich ihn.
     Da zog er sie zurück. Er ließ die Schultern hängen. Aber dann zog er eine Waffe, wie ich sie noch nie zuvor gesehen hatte und hielt sie mir unter die Nase. Er war kein Kämpfer, das sah man, und deshalb konnte ich mich erneut davon abhalten, ihn abstechen zu wollen, als er das tat.
     „Ich werde dir auch helfen.“
     Ich bedachte die Waffe mit einem eingehenden Blick. Sie sah aus wie ein riesiges Messer mit einer langen, großen Klinge.
      „Deine Waffe, was ist das?“
      „Oh, das? Vater hat sie aus der Stadt mitgebracht. Es ist ein Schwert.“   
      Ich streckte die Hand danach aus und er gab es mir. Die gesamte Umgebung, ja sogar das Sonnenlicht spiegelte sich verzerrt in der Klinge. Aber sie war nicht von der bronzenen Farbe wie meine anderen Waffen, sondern sie schimmerte in einem hellen Grau. Beinahe so wie ein Fluss an einem wolkenverhangenen Tag. Das Gewicht war ungewohnt, aber ich sah mit einem Blick, dass man damit Haare spalten konnte, so scharf war sie. Es war eine gute Waffe.
     „Ich gebe es dir, wenn du mir hilfst“, bot er an.
     Wahrscheinlich hatte er es seinem Vater gestohlen. Aber das war nicht mein Problem.
     „Einverstanden.“
     Da streckte er die Hand aus. „Aber erst, nachdem du mir geholfen hast.“
     Ich hätte sie ja gerne jetzt schon ausprobiert, aber das musste wohl warten. Also gab ich es zurück.

Es war eine einfache Aufgabe, wie ich sie schon häufig erledigt hatte. Meistens verrichtete ich Feldarbeit, reparierte Dächer oder schleppte schwere Säcke und Kisten – einmal war ich sogar kurz davor gewesen, bei einem Händler auf einem Schiff anzuheuern – aber bei Streitigkeiten und Rachefeldzügigen half ich auch gelegentlich weiter.
     Der Kerl, den wir suchten, war jedenfalls ein klassisches Beispiel von Drecksack, von denen ich die Welt auch öfter mal befreite, wenn sie mir über den Weg liefen, ohne dass man mich dafür entlohnte. Ein mittelalter, kräftiger Mann mit grau-meliertem Haar und Ziegenbart, der allein vor seiner abgelegenen Hütte saß und trank. Er machte sich nicht einmal die Mühe, aufzustehen, als wir ankamen, überlegte es sich dann aber anders, als ich ihn mit Nachdruck darum bat. Ich brauchte nicht einmal meine Waffen, um ihn zu überwältigen, die Arme auf den Rücken zu drehen und am Boden festzunageln. Warum die solche Schwierigkeiten mit ihm hatten, konnte ich jedenfalls nicht verstehen.
     Und dann sah ich mein früheres Ich in dem Jungen, der mich begleitet hatte, und der jetzt mit schlotternden Knien haderte, den Mann zu töten, der seine Schwester umgebracht hatte.
      Als er schließlich verzagte, das Schwert fallen ließ und sich heulend abwandte, entspannte sich der Kerl unter mir wieder, weil er glaubte, es ausgestanden zu haben. Aber da hatte er mich vergessen. Ich erinnerte ihn freundlicherweise daran und dann zeigte ich ihm, dass ich kein Problem damit hatte, die Welt von Scheusalen wie ihm zu befreien.
      Unbeeindruckt säuberte ich die Klinge meines bronzenen Messers, bevor ich mich dem Jungen zuwandte, der mich inzwischen verängstigt anstarrte. Auch das war ich schon gewohnt. „Du hast ihn getötet!“, erkannte er ganz richtig.
     „Das ist es, was du von mir wolltest“, erinnerte ich und steckte mein Messer weg. „Und jetzt gib mir das Schwert!“
     Er hielt es wieder in der Hand, aber anstatt es mir zu geben, drückte er es unsicher an sich. Ich hatte wirklich keine Lust, mich mit einem halben Kind herumzuschlagen, aber meine Geduld war nicht sonderlich groß. Trotzdem sagte ich zu ihm: „Du solltest lieber zusehen, dass du das nächste Mal nicht zögerst, zuzustechen, wenn du die Chance dazu erhältst. Sonst wird es das letzte Mal gewesen ein, dass du gezögert hast. Die Welt ist nicht so freundlich, wie du vielleicht glauben magst, Junge!“
     Er ließ betroffen den Kopf hängen. Da versuchte ich es nochmal: „Gib mir das Schwert!“
     Und er gab es mir. Ich warf noch einmal einen kurzen Blick darauf, ob es in Ordnung war, und steckte es dann in meinen Gürtel. Die lange Klinge schlug mir gegens Bein, was ziemlich ungewohnt war. Ich war nur froh, dass sie gerade in einer Holzummantelung steckte, sonst hätte sie mir bestimmt noch durch meine gefütterte Hose ins Fleisch geschnitten, wenn ich nicht vorsichtig war.
     „Die Stadt, von der du vorhin gesprochen hast, wo befindet sie sich?“, fragte ich ihn noch.
     Er nickte verhalten und deutete dann in die Richtung des Flusses. Dorthin, wo ich ursprünglich hergekommen war. „Sie liegt den Fluss hinauf“, gab er kleinlaut Auskunft. „Er kreuzt sich an einer Stelle und da musst du rechts lang.“
     Ohne ein weiteres Wort ließ ich den bleichen Jungen zurück.

Der Fluss war nicht sonderlich tief, aber breit genug, damit man ihn gut befahren konnte. Fische tummelten sich in den Fluten und ich sah einige Lachse, die entgegen dem Strom schwammen. Wahrscheinlich waren sie unterwegs zu ihren Laichplätzen.
     Ich weiß nicht, wie lange meine letzte Überfahrt gedauert hatte, aber ich hatte die Küste dieses Landes erst vor kurzem erreicht. Nach der rauen, kalten Seeluft hatte mich ein angenehmes Klima erwartet. Aber ich wusste, dass das täuschte. Westlich des Flusses gab es jedenfalls nichts als Wüste, hatte ich gesehen. Und ich wusste, was für eine gefährliche Todeszone das war. Ich werde nie vergessen, wie ich das erste Mal das Meer aus Sand gesehen hatte. Eine sengende, alles verschlingende Hitze und weit und breit nichts als Sand. Glücklicherweise war ich damals aber umsichtig genug gewesen, nicht allzu weit ins Landesinnere vorzudringen.
      Auch hier konnte ich mit ziemlicher Sicherheit sagen, dass die Temperaturen normalerweise etwas höher waren, als es momentan der Fall war, und dass die Gegend jenseits der fruchtbaren Gebiete des Flusses bestimmt unbewohnt war. Im Osten und Norden wurde die Flusslandschaft von einem Ausläufer eines Gebirges eingeschlossen. Knorrige Bäume mit stachligen Blättern hatten mich schon beim Anlegen begrüßt. Auch dahinter waren sie zu sehen, in der hügeligen Ebene mit dem rötlich-braunen Erdboden, der normalerweise staubtrocken war, durch den heftigen Regenschauer, der an diesem Morgen niedergegangen war, sich jedoch in Schlamm verwandelt hatte. Dennoch würde die spärliche Vegetation das Wasser wahrscheinlich schon bald gierig aufgesogen haben.
     Ich kam bald an die Kreuzung, die ich schon einmal passiert hatte, und ich schlug diesmal den dritten Weg ein. Es ging eine Weile hinauf, und ich war froh, dass ich einen guten Rückenwind hatte, bis die Hügel die Sicht auf einen kleinen See freigaben, der von der allseits bekannten weitläufigen, hügeligen Landschaft eingerahmt war. Im Hintergrund gab es nur vereinzelt Bäume, dafür aber waren die beiden Flüsse, von denen einer in den See mündete, gut zu sehen. 
     Die vormals schweren, grauen Regenwolken waren inzwischen zu kleinen, weißen Lämmern zusammengeschrumpft, die Sonne strahlte, sodass sich vereinzelte Boote auf den See hinausgewagt hatten. Am jenseitigen Ufer entdeckte ich eine ganz beachtliche Ansammlung an Häusern, die sich etwas trotzig in der ansonsten beinahe kahlen Gegend erhoben. Das musste die Stadt sein, von der der Junge gesprochen hatte. Also hielt ich darauf zu.
     Dank des guten Windes dauerte es nicht lange, bis ich mein Boot an dem kleinen Hafen anlegen konnte. Zahlreiche andere Boote lagen hier bereits auf dem lehmigen Boden. Die meisten davon waren noch Ruderboote, geflochten aus Stroh, aber es gab auch schon den ein oder anderen Segler. Ich hoffte nur, dass sie mir mein Boot nicht stehlen würden, da es eines der wenigen war, das aus Holz gefertigt war. Wenn ich mir die baumarme Umgebung so ansah, schien das hier wahrscheinlich Mangelware, und damit überaus kostbar, zu sein. Neben dem Messer, das ich nie wieder benutzt hatte, war mein Segelboot jedenfalls das Einzige, das ich von Lao-Pao noch hatte und deshalb wollte ich es ungern verlieren.
     Ich schüttelte die Erinnerungen ab, die mir hochkommen wollten und verließ den Hafen über eine breite Treppe, die zur Stadt hinaufführte. Die Stadt selber war eine Ansammlung von zahlreichen, hellen Lehmkaten mit flachen Dächern, die sich dicht an dicht drängten, sodass die engen Gassen dazwischen beinahe dauerhaft in Dunkelheit lagen. Der Platz reichte kaum aus, dass zwei Leute sich aneinander vorbeidrängeln konnten. Der Regen hatte die Gassen zu allem Überfluss auch noch in kleine, schlammige Bäche verwandelt, sodass meine Stiefel und Hosen bis zu den Knien hinauf von Schlammspritzern bedeckt waren, als ich endlich einen größeren Platz erreichte. Ich wusste schon, warum die meisten Leute hier keine Hosen, sondern nur Schals und Röcke trugen, die man leicht lüpfen konnte.
    Der weiträumige Platz, auf dem ich mich nun befand, schien wohl eine Art Handelsplatz zu sein. Frauen mit Körben gingen umher und priesen laut ihre Ware an, Gänse und Hühner huschten aufgeregt aus ihrem Weg und Kinder spielten in den Pfützen, während die vielen Stadtbewohner ihrem Tagwerk nachgingen. Hier und da hörte man einen Säugling schreien. Ich sah sogar einen dieser Wägen, die auf runden Rollen fuhren, die man Räder nannte. Er war so riesig und vollbeladen mit dickbäuchigen Tontöpfen, dass ein Esel ihn ziehen musste, und ich fragte mich, wie er es nur durch die engen Straßen hierher geschafft hatte.
     Es herrschte ein reges Treiben, das mir noch immer befremdlich war, obwohl ich bereits ein paar kleinere Städte bereist hatte. Mir war einfach nicht wohl dabei, mit so vielen anderen Menschen eingepfercht zu sein. Ich sah nicht nur einmal, wie hier ein Kind eine Aprikose stahl oder dort ein Mann einen anderen um seinen Beutel erleichterte. In einer dunklen Seitenstraße drückten sich zwei Gestalten herum, die wahrscheinlich gerade zugange waren, und es stank überall nach Essen, Abfall und Exkrementen. Ich rümpfte die Nase und legte eine Hand an mein Schwert, bevor ich mich umsah, wer mir in diesem Dreckloch wohl am ehesten weiterhelfen konnte.
     Es gab einige Handwerker am Platz. Ich erkannte einen Töpfer, der gerade geschickt den Ton mit seinen Fingern auf der wahnsinnig schnell drehenden Töpferscheibe formte, einen Korbmacher und eine Weberin, und dann schließlich hörte ich ein vertrautes helles, läutendes Klingen. Ich kannte das schon. Es war ein Schmied. So jemand hatte mir auch meine anderen Waffen gemacht. Ich hatte dafür beinahe ein Jahr bei ihm arbeiten müssen. Es war eine wahnsinnige Plackerei gewesen und ich konnte immer noch nur leidlich schmieden, aber es hatte mir einiges an Kraft eingebracht.
     Ich ging zu dem Schmied rüber, der unter einem Vordach arbeitete. Er war ein kräftiger Kerl, der so staubig und voller Schlammspritzer war, wie ich auch. Er hatte Gesicht und Kopf geschoren. Manche Schmiede machten das, wie ich wusste. Ich erinnerte mich jedenfalls noch gut daran, als ich mir beim Schmieden einmal beinahe den Bart in Brand gesetzt hatte. War nicht so lustig gewesen.
     „Wenn du Arbeit suchst, solltest du zu unserem Ensi Enlil gehen“, antwortete er auf meine Frage, ohne auch nur einmal seine eigene Arbeit zu unterbrechen. Das glühende Metall hatte gerade die richtige Temperatur, um es leicht in die richtige Form bringen zu können, erkannte ich. „Er sucht immer tüchtige Krieger. Du findest ihn irgendwo bei der Zikkurat. Wenn du rumfragst, wird dir schon jemand sagen, wo er ist.“
     Er wies mit dem Daumen hinter sich auf das mit Abstand größte Gebäude der Stadt. Ich hatte keine Ahnung, was ein Ensi oder ein Enlil war, aber wenn er in so einem beeindruckenden Haus wohnte, dann war er sicherlich eine wichtige Person hier. Wahrscheinlich ihr Anführer oder so. 
     Ich bedankte mich noch und ließ ihn dann wieder arbeiten.

Im Gegensatz zu den anderen Häusern, die ihre Eingänge auf den flachen Dächern hatten, musste man hier erst durch eine große Pforte in einer beeindruckenden Ummauerung gehen, einen weitläufigen Innenhof mit zahlreichen Quartieren durchqueren und eine gigantische Treppe erklimmen, bevor man diese Zikkurat überhaupt erst betreten konnte. Das Gebäude selber bestand aus mehreren, großen Stufen, die auf einer Hochterrasse übereinander errichtet worden waren. Es war jedenfalls überaus riesig und überaus beeindruckend. So etwas hatte ich noch nie zuvor gesehen.
      Doch ich hatte gar nicht vor, da hochzusteigen und mich dumm und dämlich zu suchen. Der Innenhof war übersät mit Leuten. Da alle bewaffnet waren und es nach Übungskampf aussah, handelte es sich bei ihnen mit hoher Wahrscheinlichkeit um die Kämpfer der Stadt. Hier und da machte auch jemand Krafttraining oder übte seine Kampftechniken.  
     Ich wollte gerade jemanden fragen, als ich den beeindruckenden Kerl bemerkte, der gerade ein paar junge Kerle mit seiner donnernden Stimme anschrie. Er war ein Bär von einem Mann. Er hatte ein markantes Gesicht, das in der Mitte von einer Narbe geteilt wurde, mit einer fliehenden Stirn, aber einem ausgeprägten Kinn und einer stattlichen Nase. Das lange Haar und der lange Bart waren von einem dunklen Braun und beide waren in vielerlei Flechten geflochten. Aber das bemerkenswerteste an ihm waren trotzdem seine wachsamen, dunklen Augen, in denen geradezu ein Feuer zu brennen schien. Er trug einen goldenen, prächtigen Reif auf dem Kopf und einen dunkelblauen, feinbestickten, knielangen Rock, der überaus kostbar aussah. Aber vor allen Dingen sein lederner Brustpanzer gefiel mir, der aus zahlreichen kleinen Plättchen zu bestehen schien.
    Da ich annahm, dass er hier die Autoritätsperson, beziehungsweise das gesuchte Oberhaupt war, ging ich zu ihm rüber. Ich hatte bereits einige Anführer, Fürsten und Häuptlinge gesehen, die zu viel auf sich hielten, um mit dem gemeinen Fußvolk zu reden, aber das hielt mich nicht davon ab, mich vor ihn zu stellen und zu fragen: „Bist du Ensi Enlil?“
     Er musterte mich von oben bis unten, zornig darüber, dass ich seine lehrreiche Ansprache unterbrochen hatte, das sah ich, aber dann ließ er ein kalkuliertes Lächeln sehen. Er verschränkte die Arme. „Ensi ist das, zu dem der große Enki mich bestimmt hat, und Enlil ist mein Name. Wer bist du?“
     Ich nannte ihm meinen Namen. Bei manchen Leuten behielt man sowas lieber für sich, weil sie einen damit zu Tode verfluchen konnten, bei anderen besser nicht. Bei ihm war ich mir sicher, dass es ungesund für mich werden würde, wenn ich ihn anlog oder ihn mit zu wenig Respekt behandelte. Doch ich durfte auch keine Angst zeigen. Wenn er nur das geringste Anzeichen von Angst bei mir sah, würde er sich auf mich stürzen wie ein Geier auf ein Stück Aas. Es war ein schwieriger Drahtseilakt, den ich da gehen musste, erkannte ich. Mit solchen Leuten hatte ich ungern zu tun, aber jetzt konnte ich keinen Rückzieher mehr machen.
     „Und was führt dich hierher? Du bist nicht von hier, wie ich sehe.“
     Einige hatten inzwischen ihr Training unterbrochen und starrten zu uns herüber. Wie ich das hasste. Aber ich war es gewohnt, überall ein Fremder zu sein.  
     „Das bin ich in der Tat nicht. Ich komme von weit her und suche Arbeit.“
     Enlil antwortete mir nicht sofort. Stattdessen ruckte er gebieterisch mit seinem Kinn, woraufhin ein mittelalter Mann in dem typischen langen Rock und dem Schal, der nur seine rechte Schulter und seinen rechten Arm freiließ, neben ihn trat und zu ihm zu flüstern begann. Ich hörte leider nicht, was sie sagten, aber ich war ja schon froh, dass ich ihre Sprache überhaupt verstehen konnte. Das lag daran, dass dieser Ort nicht sehr weit von meinem ersten Zuhause entfernt lag. Dem, das damals untergegangen war. Wenn ich hätte schätzen müssen, hätte ich gesagt, dass es sich gleich im Norden, jenseits des Gebirges, befand.
     Eigentlich hatte ich gedacht, dass ich bald das Ende der Welt erreicht hätte, aber stattdessen war ich beinahe wieder am Ausgangspunkt meiner Reise gelandet. Wenn ich anstatt hier anzulegen weitergefahren wäre, wäre ich jedenfalls zurück zum Hof meiner Eltern gekommen. Ich hatte angenommen, dass ich immer geradeaus gefahren war, aber das ich wieder hier war, konnte nur eines bedeuten, nämlich, dass ich irgendwie im Kreis gefahren sein musste.
     Bei der Verständigung jedenfalls war ich meistens auf Hände und Füße oder die Übersetzung von Händlern angewiesen. Ich hatte mir nämlich kein zweites Mal die Mühe gemacht, eine weitere Sprache zu erlernen.
     „Du bist also über den Seeweg gekommen“, fuhr Enlil schließlich fort. Er nickte anerkennend. „Wenn du so weit hegekommen bist, weißt du dich bestimmt deiner Haut zu erwehren.“
     Das tat ich natürlich. Sonst hätte ich da draußen nicht lange überlebt.
     „Ich bin immer auf der Suche nach guten Kriegern. Vor allen Dingen, da ich gerade für eine Schlacht rüste. Du sollst, wie alle anderen, gut dafür entlohnt werden.“
     „Was kriege ich dafür?“
     Er löste einen Beutel von seinem Gürtel und obwohl er mit Leichtigkeit in seine breite Hand passte, klimperte es erwartungsvoll im Inneren.
     „Silber“, eröffnete er.
     Das klang beinahe zu fair, um wahr zu sein. Die meisten Leute bezahlten mich mit Naturalien. Silber war verdammt viel wert und so gerne gesehen, dass ich es überall eintauschen konnte. Und ich würde viel dafür bekommen. Aber ich hatte eigentlich nicht vor, für ihn zu kämpfen. Von größeren Auseinandersetzungen hatte ich mich bislang immer ferngehalten.
     „Natürlich wirst du auch alles andere bekommen, was die anderen Krieger bekommen. Einen ordentlichen Schlafplatz und ordentliche Mahlzeiten“, er wies um sich. Wahrscheinlich waren die kleinen Häuser hier Wohnquartiere für die Kämpfer.
     Ich war trotzdem schon darauf und daran gewesen, abzulehnen, aber bevor ich dazu kam, trat plötzlich jemand an mich heran und Enlil nutzte die Gelegenheit gleich mal dazu, sich aus dem Staub zu machen. Es war ein Kerl in meinem Alter, der da auf mich zukam, wenn ich hätte schätzen müssen. Er sah für einen Krieger ziemlich hager und blass aus, vielleicht lag es auch an den dunkelbraunen Haaren, die beinahe schwarz waren und die ihn noch bleicher wirken ließen. Er war zumindest heller, als alle anderen hier. Sogar als ich, auch wenn ich durch meine Seereise noch immer braungebrannt war. Er sah jedenfalls irgendwie verschlagen aus. Aber das wirklich markanteste an ihm war die leicht schiefe Nase, die zwischen seinen wässrig grauen Augen verlief.
     „He, du, Wulfgar! Hätte ja nicht gedacht, dass ausgerechnet du überlebt hast.“ Er verschränkte die Arme und grinste gehässig, dass es mir irgendwie bekannt vorkam. „Was ist eigentlich mit dir passiert? Hast du doch mal zwischen deinen Beinen nachgeschaut und gesehen, dass du doch kein Mädchen bist?“
      Ja, ich kannte ihn von irgendwoher. Aber da waren so viele Jungen gewesen, die mich immer geärgert hatten. Als Kind, weil ich wie ein Mädchen ausgehen hatte. Als Jugendlicher, weil ich nie gegen jemanden angekommen war. Ich kam einfach nicht drauf, wer er war.
     „Und wer bist du?“, fragte ich also kühl nach.
     Sein Grinsen erstarb. „Leif.“ Hass flammte in seinen Augen auf. „Was ist eigentlich mit deinem Bruder passiert? Ist das Dreckschwein wenigstens abgesoffen?“
      Da wusste ich, wer er war. Er war ein Nachbarsjunge in unserem Dorf gewesen, bevor es von der Flut zerstört worden war. Wulfric hatte ihm die schiefe Nase verpasst, weil er es ganz besonders auf mich abgesehen hatte.
     Ich hatte es längst aufgegeben, irgendwelchen Leuten mit meiner Stärke imponieren zu wollen. Vorzugeben, stark zu sein, weil das einen Mann aus mir machte. Aber das brauchte ich auch gar nicht mehr, weil ich inzwischen einfach stark geworden war.
     Mit einem bedrohlichen Blick wandte ich mich Leif gänzlich zu. „Wenn du meinen Bruder noch einmal beleidigst, wird dir das leidtun!“
     Er grinste wieder und natürlich musste er sagen: „Was? Glaubst du, dass mich deine Drohgebärden beeindrucken? Glaub bloß nicht, dass du gegen mich ankommen würdest. Das hast du nie, und das wirst du auch jetzt nicht.“ Er zuckte mit den Schultern. „Außerdem sage ich nur, wie es ist. Du bist ein weinerliches Weichei und Wulfric ist ein verfluchter Hundesohn.“
      Sein Lachen blieb ihm im Hals stecken, als ich ihm vor die Stirn schlug. Er stolperte zurück und musste eine ganze Weile damit kämpfen, nicht das Bewusstsein zu verlieren, wie ich wusste. Ich hatte so einen Schlag schon selber einstecken müssen. Von dem Kerl, von dem ich die Technik später gelernt hatte. Er hatte Leute, die größer waren als er mit bloßen Händen töten können. Ein gefährlicher und widerlicher Zeitgenosse mit einer Vorliebe für Kinder, der am Ende das spitze Ende meines Speers kennengelernt hatte. Ich wollte ja nicht undankbar sein.
     Leif kippte schließlich doch aus den Latschen und landete auf dem Hosenboden.
     „Wulfric ist tot und über Tote soll man nicht schlecht reden“, erwiderte ich spitz. „Hat dir deine Mutter denn gar nichts beigebracht?“
     Er hatte sich inzwischen wieder so weit gefangen, dass er mich böse anstarren konnte. Scheinbar hatte ich gerade den ganzen Hass auf mich geladen, den er immer für Wulfric gehegt und gepflegt hatte. Er hatte schon früher immer davon gefaselt, meinen Bruder umzubringen dafür, dass er ihm die Nase gebrochen hatte. Doch natürlich hatte ich ihn nie ernstgenommen. Ich hatte nie geglaubt, dass er töten könnte. Als ich ihm jetzt aber in die kalten Augen sah, erkannte ich, dass ich falsch gelegen hatte. Auch er hatte inzwischen getötet, das sah ich.

Ich weiß nicht, was er vorhatte, aber im nächsten Moment wurden wir sowieso unterbrochen. Lauthals „He!“ schreiend stürmte da der Junge den Hof, von dem ich mein Schwert hatte. Es war aus einem Material gefertigt, das sie Eisen nannten, wie ich vom Schmied vorher erfahren hatte.
    Er kam tatsächlich auf mich zu und blieb atemlos vor mir stehen, während Leif zusah, dass er grummelnd das Weite suchte. „Endlich hab ich dich gefunden. Das Schwert“, begann er aufgeregt, „du musste es mir zurückgeben! Bitte!“
     „Warum sollte ich das tun? Es ist die Bezahlung für meine Arbeit.“
     Er nestelte nervös an seinem Gewand. Sein linkes Auge zierte ein beachtlicher blauer Fleck, der da vorher noch nicht gewesen war, wie ich bemerkte.
     „Ich hätte es dir aber nicht geben dürfen“, rückte er schließlich raus. „Es war verdammt teuer und Vater ist sehr wütend, dass ich es weggegeben habe.“
     Er kramte in seinem Beutel, der an einer Schnur um seinen Hals auf die Brust hing und präsentierte mir dann eine Handvoll Muscheln, „Ich soll dir das dafür geben.“
     „Was soll ich damit?“
     Er wirkte kurz irritiert. „Damit kannst du hier bezahlen.“
     Ich hatte schon so einiges gesehen, aber Muscheln als Zahlungsmittel waren mir auch neu.
     „Dafür kriegst du ja nicht mal eine anständige Hacke, geschweige denn ein Schwert“, mischte sich plötzlich jemand ein. Es war ein älterer Kerl mit einer roten Nase und nur noch einem Zahn im Mund.
     Der Junge sandte dem Mann einen vernichtenden Blick, bevor er mit dem Flehen weitermachte: „Mehr haben wir aber nicht! Bitte! Hab doch ein Herz!“
     Das schon wieder. Eiskalt sah ich ihn an. „Ich habe kein Herz mehr. Es ist vor langer Zeit erfroren“, sagte ich nur, bevor ich ihn stehen ließ.   
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Anmerkungen:
Ensi war ein Titel für den Priesterkönig, der in vielen (vor allen Dingen frühen) sumerischen Städten herrschte.
Enki & Enlil waren beides sumerische Götter.

Dieser Abschnitt ist von den Sumerern inspiriert, einem Volk, das im 3. Jahrtausend vor Christus in Mesopotamien (Gegend um das heutige Irak) gelebt hat. Die Sumerer gelten als die Begründer der ersten Hochkultur der Menschheit.  

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