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Sonntag, 16. Dezember 2018

Kapitel 24 - Nach Hause


Leif drückte mich kurz, aber herzlich an sich, und als er sich wieder von mir löste, glaubte ich, eine Träne in seinem Augenwinkel zu sehen. Aber er wischte sie sich so hastig und verstohlen weg, dass ich mir nicht sicher war, ob sie wirklich dagewesen war.
     „Ich wünschte, du würdest einfach hierbleiben, Mann!“, sagte er. „Wir könnten hier echt noch jemanden wie dich gebrauchen, der den Grünschnäbeln mal zeigt, wie es richtig geht.“
     „Dafür haben sie ja dich.“
     Ich grinste, aber Leif rollte nur mit den Augen. „Ich hab nicht mal ansatzweise so viel Erfahrung im Kampf, wie du.“
     „Aber sie mögen dich lieber.“
     Das stimmte. Leifs Schützlinge hatten ihn schon immer bewundert. Im Gegensatz zu meinen, die höchstens Angst vor mir gehabt hatten. Deshalb hatte ich die letzten Monate gleich mal dazu benutzt, von Leif zu lernen. Eigentlich wusste ich ja (theoretisch), wie der Umgang mit anderen Menschen funktionierte, ohne, dass sie einen dafür hassten, aber die Jahre, in denen ich ein abweisender Einzelgänger gewesen war, hatten sich nicht so einfach abschütteln lassen. Noch immer war ich allgemein unbeliebt. Was dazu geführt hatte, dass sie inzwischen lieber den unbekannten Ragna als Enlils Schlächter ansahen, als mich oder Marduk, der seinen Vater ja wirklich getötet hatte.
     Trotzdem hatte ich es geschafft, wenigstens ein paar Leute davon zu überzeugen, dass ich doch kein herzloser Bastard mehr war. Deswegen waren neben Leif und seinen Mitbewohnern auch Puabi und sogar Ragna da, um mich zu verabschieden. Puabi trug inzwischen einen sichtbar kugelrunden Bauch vor sich her, während ihr Gatte noch immer versuchte, mich totzuschweigen, wie es schien.
     Als Puabi meinen Blick bemerkte, musste sie Ragna jedenfalls erst anstoßen, bevor er sich dazu überwinden konnte, auf mich zuzukommen. Ich kam ihm auf halbem Wege entgegen und dann standen wir uns ziemlich schweigend gegenüber. Es war merkwürdig.
      „Äh… ich freu mich, dass ihr extra hergekommen seid“, quetschte ich heraus. „Und ich will mich noch einmal bei dir dafür entschuldigen, dass ich dich in diese… unglückselige Sache mit reingezogen habe.“
      Ich hatte keine Ahnung, was ich noch dazu sagen sollte, aber da fasste sich Ragna glücklicherweise ein Herz und streckte mir seine verbliebene Hand hin. Ich ergriff sie dankbar mit meinen beiden und schüttelte sie kräftig. Einen Augenblick lang sahen wir uns in die Augen, ernst und ohne jegliche Herzlichkeit, aber mit Verständnis, bevor wir wieder auseinandertraten.
     Dann wandte ich mich an seine Frau. „Ich wünsche euch und euer Familie alles Gute.“
     Sie lächelte, und da wandte ich mich von ihnen ab, verabschiedete mich noch von meinen zeitweiligen Mitbewohnern und ging dann zu meinen Boot rüber, das im Fluss vor Anker lag. Bevor ich jedoch auch nur einen Fuß hineinsetzen konnte, fiel mein Blick auf einen in Tuch gehüllten, länglichen Gegenstand, der darin lag. 
     Ich nahm ihn mir, schlug das Tuch zurück und holte das Schwert heraus, das ich erst vor ein paar Tagen in Eridu abgeholt hatte. Es war ein schönes Stück Arbeit, mit einer geraden, feingeschliffenen und festen Klinge, und ich hatte mir sogar einen Lapislazuli in den verzierten Griff einsetzen lassen. Der Schmied hatte es stolz „eines Fürsten Schwert“ genannt, und da konnte ich ihm nur recht geben.
     Doch es war nicht für mich bestimmt. Ragna sollte es bekommen, der momentan auch ziemlich große Augen deswegen machte.
     „Hier! Dafür, dass ich dein Schwert genommen habe. Ich habe es leider verloren, aber ich hoffe, dass das hier ausreichen wird.“
     Puabi war sofort zur Stelle und auch sie war sichtlich überrascht. „Das… ist ein Vermögen wert!“, rief sie.
     „Das können wir nicht annehmen“, fand Ragna da erstmals seine Stimme wieder. „Behalte es!“
     „Doch, ich bestehe darauf. Für deine rechte Hand. Auch wenn es sie nicht ersetzen wird.“
     „Gib mir einfach dein anderes Schwert, und gut ist“, meinte Ragna, während er auf das Schwert deutete, das an meiner Seite am Gürtel hing und das vollkommen schmucklos war.
     Doch ich schüttelte den Kopf. „Es ist auch für eure Familie. Wenn es hart auf hart kommt, dann verkauft es und ihr habt genug, um eine Weile davon zu leben.“
     Puabi starrte immer noch mit offenem Mund darauf, aber Ragna nickte schließlich und nahm es an.
     Als ich diesmal abdrehen wollte, erschien Leif an meiner Seite. „Da fällt mir ein, dass ich ja auch noch was für dich habe“, eröffnete er.
     Er hielt mir ein Bündel hin, das sich als Mantel herausstellte, als ich es entrollt hatte. Es war aus dem schwarzen Stoff gefertigt, den er sich hatte aufschwatzen lassen.
     „Du wolltest ja nach Hause. Und im Norden ist es noch immer kalt“, erklärte er. „Ich würde ja echt gerne mit dir kommen, aber du weißt ja, die Grünschnäbel wären ohne mich aufgeschmissen.“
     Ich nickte und streifte mir sein Geschenk gleich mal über den Kopf. Es war für diese Temperaturen viel zu warm, aber es würde mir im Winter gute Dienste leisten.
     „Danke, mein Freund!“
     „Und jetzt hau endlich ab! Du wirst mir schon noch genug fehlen.“
     Er würde mir auch fehlen, wenn ich ehrlich war. Es war komisch, da wir uns früher nicht hatten ausstehen können, aber inzwischen waren wir wirklich gute Freunde geworden. 
     Ich tauschte noch ein Grinsen mit ihm, dann stieg ich endlich ins Boot. Es war ein wunderbares Gefühl, wieder das vertraute, schwankende Holz unter sich zu haben. Auch wenn es ein kleines Vermögen gekostet hatte. Ich war nur froh, dass sie aufgrund des Regierungswechsels in Eridu Schreiber gesucht hatten. Es war nämlich eine lukrative Arbeit. Diese Schrift war wirklich etwas überaus praktisches, da hatte Utu wirklich recht gehabt.
     Ich schüttelte den Gedanken an den armen Priester ab, den ich gerne neben Marduk begraben hätte. Einen Moment noch ließ ich den Blick über die versammelten Leute schweifen, die ich inzwischen meine Freunde nannte, bevor ich das steinerne Gewicht einholte, das mir als Anker diente. Eine tolle Erfindung, die ich mir bei den Bootsbauern von Eridu abgeschaut hatte. Ich würde all die Leute da am Ufer echt vermissen.
     Aber es war an der Zeit, weiterzuziehen. Der Wind ging gut, und das Wetter sah zwar wechselhaft, aber stabil aus. Beste Bedingungen, um loszufahren. Also setzte ich die Segel, wendete das Boot und fuhr dann den Fluss hinab. Ließ den Ort und die Menschen zurück, mit denen ich so viele unglückliche Ereignisse verband und die mir doch geholfen hatten, mein Herz wieder auftauen zu lassen.
     
Da das Gebirge mir den Weg nach Norden versperrte, musste ich den Umweg übers Meer nehmen. Eine große Wüste erstreckte sich im Westen des Landes, wie ich es vermutet hatte, und deshalb dauerte es mich etwas, bis ich die Küste umrundet hatte und auf der anderen Seite des Gebirges wieder an Land gehen konnte. Und tatsächlich war es hier um einiges kälter, wie Leif schon prophezeit hatte. Der Boden war hier genauso rötlich, wie in dem Gebiet um Eridu und Ur, aber ein harscher, starker Wind peitschte übers größtenteils karge Land. Der einzige furchtbare, grüne Streifen befand sich zwischen den beiden Flüssen, die das Gebirge im Süden unterirdisch durchquerten und die auch an Ur und Eridu vorbeiflossen.
     Es sah hier wirklich nicht so viel anders aus, als jenseits des Gebirges. Es war nur kälter und ein bisschen trostloser. So, wie ich es aus meiner Kindheit noch in Erinnerung hatte. 
     Neu war aber der See, der sich unweit des grünen Streifens befand. Er lag wie ein unheilvolles Oval in der Landschaft, dort, wo früher Häuser gestanden und Mensch und Tier gelebt hatten. Da das Gebiet zwischen den beiden Flüssen sumpfig und tückisch war, hatten meine Vorfahren sich einst dort niedergelassen, wo sich jetzt der See befand, den das Meer vor Jahren dort geschaffen hatte. Ich musste gar nicht erst hingehen und davon kosten, ich wusste auch so, dass sein Wasser noch immer salzig schmecken würde.
     Das Meer hatte an diesem einen Tag Tod und Zerstörung gebracht. Es war zwar inzwischen nicht einmal mehr ein Dach oder eine zerstörte Säule zu sehen, keine Menschenseele, aber ich wusste, dass sich all dies dort unter der Oberfläche des Salzsees befand. Die Häuser. Die Toten. Selbst meine Geschwister waren noch irgendwo da unten. Einen Moment überlegte ich tatsächlich, in die einst todbringenden Fluten abzutauchen und nachzusehen, aber dann überwog meine Angst, tatsächlich etwas zu finden. Wahrscheinlich waren die Toten längst skelettiert, aber ich wollte es besser nicht herausfinden.
      Also ging ich die paar Schritte über den steinigen Strand, der Wind im Rücken, wie eine Hand, die mich vorwärtsschob, bis zum Ufer des Sees hinüber. Ich ließ aber nicht einmal zu, dass sein vom Wind unruhiges Wasser mir die Schuhspitzen berühren konnte. Ich hatte schon längst keine Angst mehr vorm Wasser, aber hier, an dem Ort, an dem ich einst beinahe ertrunken war und an dem so viele andere Menschen gestorben waren, überfiel sie mich trotzdem beinahe wieder. 
     Doch ich schüttelte sie ab, versuchte, mich an schönere Dinge zu erinnern. Wie wir hier gelebt hatten. Meine Eltern. Meine Geschwister. Die vielen Dorffeste, die wir zusammen gefeiert hatten. Die Missernten, die wir als Dorfgemeinschaft zusammen überlebt hatten, und die großen Fänge. Ich dachte sogar an Leif. Daran, dass er mich geärgert hatte und wie Wulfric ihm dafür die Nase gebrochen hatte. Ich versuchte sogar, mich an Ragna zu erinnern, aber er wollte mir einfach nicht ins Gedächtnis kommen. 
     Ich wurde ein bisschen schwermütig, als ich an all diese Dinge dachte, aber ich akzeptierte das. Es war, wie es sein sollte. Einen Moment hing ich meiner Trauer nach, dann breitete sich eine wunderbar friedliche, innere Ruhe in mir aus. Ich hatte losgelassen. Hatte mit der Vergangenheit abgeschlossen und konnte nun endlich weiterziehen. Bis auf eine Sache noch, die es zu tun gab.
     Es war mir wichtig gewesen, gerade diesen einen meiner wenigen Habseligkeiten zurückzuerhalten. All die Jahre hatte ich ihn wie meinen größten Schatz gehütet, obwohl er stattdessen wie ein Fluch gewesen war, der mich verfolgt hatte. Ein Mahnmal, dass ich niemals vergessen sollte. Ich hatte ihn all die Jahre nicht einmal angefasst. Auch jetzt, als ich ihn aus meinem Beutel holte, war die Klinge unverändert bräunlich von dem getrockneten Blut, das daran klebte.
      Eine ganze Weile sah ich auf das blutverkrustete Messer hinab, das noch aus Stein gemacht war, und hing all den Dingen nach, die ich in der Vergangenheit getan hatte. Aber am allermeisten dachte ich an Mari und den jungen Mann, den ich getötet hatte, um sie zu rächen. Ich hatte sein Gesicht niemals vergessen, aber ich hatte lange nicht mehr daran gedacht, dass er vor seinem Tod mit mir gesprochen hatte. Kane hatte es mir übersetzen wollen, obwohl ich ihre Sprache ja verstand, aber ich hatte ihn abgewimmelt. Ich hatte nichts hören wollen, also hatte ich nichts gehört. Neben all den Dingen, neben dem, dass ich Mari nicht hatte beschützen können, bereute ich vor allen Dingen das. Ich wünschte, ich hätte ihn angehört. Ich wünschte, ich hätte erfahren, was er mir hatte sagen wollen. Mit Tränen in den Augen und voller Angst.
     Aber ich würde es nie erfahren. Denn ich würde nie nach Lao-Pao zurückkehren. Das hatte ich mir geschworen, als ich damals von dort fortgegangen war und das hatte sich nicht verändert. Doch eines hatte sich verändert: nämlich ich. Ich war ein kalter, herzloser Mistkerl geworden und jetzt, jetzt war ich jemand, der selber noch ergründen musste, wer er war. Aber dafür musste ich endlich loslassen, was gewesen war.
      Ich ging auf die Knie und versenkte die Klinge im Wasser. Mit dem Daumen wischte ich darüber, half mit dem Fingernagel nach, bis alles Blut abgewaschen war. Dann nahm ich das Messer, mit dem ich das erste Mal bewusst getötet hatte, wieder an mich. Eigentlich hatte ich es in den See werfen wollen, aber das schien mir einfach nicht richtig. Ich hatte mit meiner Vergangenheit abgeschlossen und gelobt, es von nun an besser zu machen, aber ich würde dennoch nie vergessen.

Ich steckte den Arm ins Wasser und stellte mir vor, wie ein Hai unter der Oberfläche lauerte und danach schnappte. Blitzschnell zog ich meinen Arm daraufhin wieder zurück, als würden tatsächlich scharfe Zähne aus dem Wasser auftauchen, aber da war natürlich nichts. Nur Wasser. Und noch mehr Wasser. Überfall, wo man hinsah. Weit und breit.
     Seit einer Weile war ich mir jedenfalls immer sicherer, dass die Welt inzwischen nur noch aus Wasser bestand, und bei dem Gedanken daran hatte ich lautstark gelacht, obwohl mir eigentlich zum Heulen zumute gewesen war.
     Ich spielte noch ein paarmal schnapp-den-Arm mit meinem imaginären Haifreund, dann ließ ich mich ins Boot zurückfallen und ging meiner zweitliebsten Beschäftigung nach: In den Himmel starren. Doch heute war die Vorführung langweilig. Nur strahlendes Blau und beinahe keine lustigen Rate-was-das-ist-Wolken. 
     Ich seufzte und schob mich träge in den Schatten, den mein Segel warf. Es war nicht wirklich heiß, aber ich ging lieber auf Nummer sicher. Ein Sonnenstich würde mir vielleicht ein bisschen Abwechslung bringen, aber so verzweifelt war ich noch nicht. Naja, eigentlich schon, aber jetzt hatte ich mich schon bewegt.
     Ursprünglich hatte ich den Rand der Welt erreichen wollen, aber dann hatte ich mich doch dazu entschlossen, einen Abstecher nach Hause zu machen, wo ich doch ganz in der Nähe war. Auch wenn sich Nähe nicht wirklich als nah herausgestellt hatte. Mit meiner Familie war ich damals keine zwei Jahre übers Land gezogen, bevor wir uns wieder niedergelassen hatten, aber ich glaubte inzwischen, dass es über den Seeweg noch weiter war. Zumindest kam es mir so vor, als ob ich schon mein ganzes Leben lang auf See verbracht hatte, ohne auch nur Land oder eine andere Menschenseele zu sehen. Lediglich, weil ich noch Süßwasser in meinen schwindenden Vorräten hatte, wusste ich, dass es nicht so war.
     Eigentlich war das nichts, was ich nicht schon kannte. Ich hatte schon ein paar lange Überfahrten hinter mir, und ich hatte es immer irgendwie überstanden, aber selbst in meinen einzelgängerischen Zeiten war das nicht gerade einfach gewesen. Irgendwann gab es einfach nichts mehr zu tun und nichts mehr zu sehen, und wenn man sich monatelang Tag und Nacht immer nur die einzige Gesellschaft ist, kann einem das schon ziemlich an den Verstand gehen.  
     Deswegen hatte ich mir irgendwann auch einen Kumpanen gebaut. Meistens war das mein Mantel, der auf meinem Fischspeer steckte. Auch jetzt gerade lehnte mein Mantel-Kumpel neben mir an den Mast gestützt. Er schwankte bedrohlich, aber ich hatte bei meinen langen, einsamen Fahrten glücklicherweise genug Zeit gehabt, herauszufinden, wie man so ziemlich alles auf eine kleine Ecke balancieren konnte. Selbst mein Schwert konnte ich inzwischen auf die Spitze stellen. Da es heute auch noch so gut wie keinen Wind gab und die See ruhig und glatt war, hatte ich Mantel-Kumpel wieder aufgebaut.
      Ich dachte einen Moment darüber nach, mit Mantel-Kumpel darüber zu debattieren, ob ich nicht nochmal versuchen sollte, bis zum Meeresgrund zu tauchen (was mir bislang nie gelungen war) oder mit ihm einen Schwertkampf auszutragen (den ich grundsätzlich immer gewann), entschied mich dann aber dazu, heute mal wieder in meine Gedankenwelt abzutauchen. Das tat ich in regelmäßigen Abständen, wenn mir langweilig war. Also so ungefähr zehnmal am Tag.  
     Ich stellte mir vor, wie ich – endlich – zu Hause angekommen war. Die Gesichter der Menschen, die mich dort erwarteten. Ich fragte mich, wie viele Kinder Greta wohl inzwischen hatte. Wie ich sie kannte, würde sie bestimmt die (dämliche) Tradition meiner Eltern fortführen, allen ihren Jungen Namen zu geben, die mit „W“ anfingen und allen Mädchen einen mit „G“ zu geben. Jin würde, wie ich ihn kannte, wahrscheinlich nichts dazu zu sagen haben. Woraufhin ich mir eine Weile Namen ausdachte. Am Ende hatte sie in meiner Vorstellung vier Kinder, alles Zwillinge natürlich. Da waren zum einen der kleine Wotan und die kleine Gunnild, und ihre beiden Ältesten Wulfnoth und Gisela. Sie lebten allesamt zusammen auf dem Hof meiner Eltern und waren in meiner Vorstellung natürlich glücklich und zufrieden. Auch wenn ich mit Jin ehrlich nicht hätte tauschen wollen. Ich meine, ich liebte meine Schwester, aber sie konnte schon manchmal etwas herrisch und schwierig sein.
     Auch meine anderen Geschwister waren da. Wontan, der ein bisschen wie Wulfric war. Ein fauler, eitler Sack, den ich gleichzeitig gehasst und geliebt habe. Ich wette, er war inzwischen genau so ein Frauenabschrecker geworden, wie mein ältester Bruder es einst gewesen war. Aber im Gegensatz zu Wulfric hat er seine Zwillingsschwester.
     Ich glaube, von allen Zwillingsgeschwistern, die meine Mutter geboren hatte, kamen diese beiden jedoch am schlechtesten miteinander aus. Sie waren manchmal wie Feuer und Wasser zueinander, und das gerade, weil sie sich so ähnlich waren. Sie konnten nur nie gut teilen. Trotzdem hoffte ich, dass sie inzwischen besser miteinander auskamen. Jetzt, wo sie doch erwachsen waren. Und ich hoffte auch, dass Gisa ihrem Bruder bei den Frauen geholfen hatte. Und der ihr bei den Männern. In meiner Vorstellung jedenfalls hatten sie das getan, und auch diese beiden hatten ihre eigenen Familien.
     ‚Vielleicht sollte ich ein zweites Häuschen für all die Leute bauen‘, kam mir in den Sinn. Also baute ich in meiner Vorstellung ein zweites Haus auf den Hof meiner Eltern. Und alle lebten da mit ihren Familien drin.
     Nur Gira und Wolf sah ich noch immer ohne eigene Familie. Von all meinen Geschwistern (mit Ausnahme von Greta) waren sie mir am liebsten gewesen. Sie waren so ruhig und immer in ihrer ganz eigenen Welt, dass sie mich manchmal ein bisschen an mich selber in meiner Kindheit erinnert hatten. Wulfric, Wontan und Gisa hatten immer gesagt, dass ich und Greta wie zusammengewachsen seien, aber Gira und Wolf waren sich noch näher. Sie hatten ihre eigene Sprache gehabt, die nur sie verstanden, bevor sie überhaupt richtig hatten reden können. Für mich stand jedenfalls außerfrage, dass sie, egal wo sie heute waren, noch immer zusammen sein würden.
     In meiner Vorstellung jedenfalls waren sie noch Zuhause bei uns auf dem Hof. Wie auch Mama und Papa, und meine kleine Mari natürlich. Isaac und seine Familie waren auch da, selbst Leif hatte sich irgendwie dahin verirrt, obwohl sie nicht mit mir und Mari zusammen auf dem Hof meiner Eltern lebten. Stattdessen besuchten sie uns oft mit ihrem Boot. Einem richtigen, fliegenden Schiff, wie Mari es sich einmal ausgedacht hatte.  
     Auch jetzt standen wir gerade an dem großen Strand, an dem ich einst abgelegt hatte, und das Schiff kam mit einem lauten Tösen aus den Wolken gefallen. Es landete sanft im Wasser, dass es nur kleine Wellen schlug, und bevor wir uns auch nur grüßen konnten, war Klein-Wulfgar, der inzwischen so groß war, wie meine kleine Mari, aus dem Boot gesprungen und mit drei großen Sprüngen zu uns gekommen, um mit Mari Sandburgen zu bauen.
     Ich begrüßte derweil Isaac und Shana, fragte alltägliche Dinge, wie: „Und? Wie geht’s euch und den Kindern, die ich noch nicht kenne?“ Ich fragte nach Kane und Ani und ihrer Familie. Fragte, wie es Abe ging, der inzwischen älter noch war als der älteste Baum auf der Insel, auf der er lebte.
     Alles ganz normal und alltäglich. Das, was ich so lange nicht mehr gehabt hatte. Was ich früher immer als langweilig empfunden hatte, ich mir jetzt aber herbeisehnte.
     Da fragte Isaac plötzlich: „Und? Was ist mir dir?“
     Bevor ich es verhindern konnte, beschlich mich die Einsamkeit, die hier auf See so allgegenwärtig war, dass sie mich eigentlich nicht so hinterrücks hätte überfallen können. Also dachte ich mir schnell Lu an meine Seite, bevor mir mein Gedankenkonstrukt völlig entglitt und ich gezwungen war, in die einsame Realität zurückzukehren. Das Problem an der ganzen Sache war nur dass, immer wenn Lu in meinen Gedanken auftauchte, ich ziemlich schnell in eine Richtung abglitt, in der andere eigentlich nichts verloren hatten. Vor allen Dingen kleine Kinder nicht. Deshalb waren Lu und ich in meinen einsamsten Momenten auch immer allein in meinen Gedanken.
     Doch dieses eine Mal gelang es mir, mir vorzustellen, wie wir alle am Strand saßen. Lu, Mari und ich als Familie, genauso wie Isaac, Shana und Klein-Wulf. Und ich muss sagen, dass das ein wirklich herzerwärmendes Gefühl war. Es war etwas, das ich zuletzt empfunden hatte, als Mari wirklich bei mir gewesen war. Das Gefühl von Familie. Von Heimat. Etwas, das ich glaubte, verloren zu haben.

Als ich gerade in diesem wunderbaren Gefühl badete, erhaschte ich plötzlich eine Bewegung aus den Augenwinkeln heraus. Zuerst dachte ich, dass es sich um einen Wal oder Delfin handeln würde, die ab und an mal durch die Wellen brachen. Das war immer wieder eine gerngesehene Abwechslung. Vielleicht bildete ich mir auch mal wieder etwas ein. Zumindest sah ich da ein Boot. Nein, sogar zwei, und es sah ganz danach aus, dass es nicht gerade friedlich zwischen den Leuten in beiden Booten zuging.
      Auch wenn ich glaubte, dass es nur wieder meiner Fantasie entsprang, was ich da sah (was schon häufiger passiert war), warf ich mich flach auf den Boden. Aus meiner Deckung heraus wagte ich einen vorsichtigen Blick, und entweder war meine Fantasie heute überaus gut oder da waren tatsächlich zwei Boote unweit von mir entfernt. Da waren drei Männer in einem Ruderboot und ein anderer im zweiten Boot, der sich gerade heftig dagegen wehrte, ins andere Boot gezogen zu werden.
     Ich holte Mantel-Kumpel ein, um bewaffnet zu sein, und kroch dann geduckt zum Ruder hinüber, um auf die Streithähne zuzuhalten. Zwar hatte ich keine Ahnung, was da vor sich ging, aber das würde ich schon noch herausfinden. Ich überlegte, wie ich es am besten anstellen sollte, entschied dann aber, dass es zu gefährlich war, mein eigenes Boot zu verlassen. Also wählte ich den Bogen und brachte mein Gefährt dann an der Kopfseite der anderen beiden Boote in Stellung. Niemand bemerkte mich, und ich sah glücklicherweise auch keine anderen Waffen außer Messer und Speere.
      „He, ihr da!“, rief ich laut. „Auseinander!“
     Sofort hatte ich die ungeteilte Aufmerksamkeit aller Anwesenden. Sie erstarrten noch in ihrer Bewegung und sahen mich nun mit großen Augen an. Einer von den dreien, der Hinterste, fand als erstes seine Stimme wieder und sagte barsch: „Halt dich da raus! Das geht dich nichts an!“
      „Vielleicht nicht, aber drei gegen einen scheint mir nicht sonderlich fair.“ Ich ruckte mit dem Bogen. „Lasst ihn los und dann könnt ihr euch erklären!“
      „Pff! Verzieh dich!“ Es war der Vorderste des Dreiergespanns.
      Da zeigte ich ihm mal, dass ich mittlerweile ziemlich gut im Bogenschießen war, indem ich einen Pfeil vor seiner Nase in sein Boot einschlagen ließ. Er zuckte zurück, als mein Geschoss schon längst vor ihm im Holz steckte, aber immerhin wischte es die Wut und die Arroganz aus seinem Gesicht. Und nicht nur aus seinem.
     Der Typ in der Mitte, der mich schon die ganze Zeit über mit offenem Mund anstarrte, entschied sich nun dazu, den in der Unterzahl befindlichen Mann loszulassen. „Wulfgar?“, fragte er anschließend, und da musste ich doch mal genauer hinsehen.
     Ich brauchte einen ganzen Moment, da er inzwischen doch um einiges älter aussah, aber dann kam ich schließlich drauf. „Dan?“

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