Leider war die ganze Sache damit noch nicht ausgestanden.
Der Schwert-Junge, wie ich ihn spontan genannt hatte, da ich nicht nach seinem
Namen gefragt hatte, dachte gar nicht daran, mich in Ruhe zu lassen. Er
verfolgte mich den ganzen Tag über und selbst am Abend, als ich es mir mit
meiner Ration Brot und Datteln gerade in einer schönen, einsamen Ecke gemütlich
gemacht hatte, belagerte er mich noch immer. Er hatte es sogar irgendwie
geschafft, selber an eine Ration zu kommen, die eigentlich nur für die Krieger
vorgesehen war. Sogar Fleisch hatte er, im Gegensatz zu mir, ergattern können.
„Mein Vater
wird so wütend sein, dass ich gleich hier bleiben und Krieger werden kann“,
lamentierte er gerade wieder mal, als ich plötzlich auf etwas aufmerksam wurde.
Sie bewegte
sich so unauffällig, dass ich sie erst bemerkte, als sie Anstalten machte, sich
mir auf den Schoß zu setzen. In letzter Sekunde hatte ich sie am Arm und sah
nun in ein hübsches, aber mit Pockennarben übersätes Frauengesicht, das von rötlich-braunen
Flechten eingerahmt wurde. Sie wirkte einen Moment erschrocken, dann lächelte
sie aber süffisant.
„Na, mein
Süßer? Willst du nicht dein Essen mit mir teilen? Ich wäre dir auch überaus
dankbar dafür“, säuselte sie.
Dort, wo ich
herkam, waren Pockennarben ein Zeichen von einem starken, gesunden Körper, denn
es bedeutete, dass man eine tödliche Krankheit besiegt hatte. In anderen
Regionen aber, hatte ich gesehen, machte es einen zu einem Aussätzigen. Hier
war wohl Letzeres der Fall, wie mir ihre abgerissene, schmutzige Kleidung verriet.
Der Junge
neben mir ließ es sich auch nicht nehmen, gleich mal entsetzt zu rufen:
„Vorsicht! Sie hatte die Pocken! Das ist gefährlich!“ Er hatte sein angenagtes Gänsebein auf sie gerichtet, und sie warf ihm im Gegenzug dafür einen vernichtenden
Blick zu, der ihn in sich zusammensinken ließ.
Doch ich
brauchte seine Warnungen nicht. Ich schob sie unbeeindruckt von mir. „Pack
dich, Frau, hier gibt es nichts für dich zu holen!“, sagte ich ihr.
Sie kräuselte
ihre kleine Nase, doch anstatt zu verschwinden, versuchte sie es tatsächlich
bei dem Jungen, der sie noch immer erschrocken anstarrte. Wenn jetzt auch, weil
sie plötzlich dicht neben ihm saß und ihre Hand in seinem Schoß hatte. „Und was
ist mit dir, mein Hübscher? Du wirst mich arme Seele doch nicht hungern lassen,
oder?“
Der Junge war
völlig überfordert mit ihr, aber anscheinend nahm er seine eigene Warnung nicht
so wichtig, da er nun den Kopf schüttelte und ihr sein Gänsebein hinhielt. Sie
ließ sich natürlich nicht zweimal bitten, griff beherzt zu und aß, während der
Junge mit seinen Augen förmlich an ihr klebte. Er hatte ganz offensichtlich
noch nie eine Frau gehabt.
Da entschied ich mich dann dazu, dass es an der Zeit
war, schlafen zu gehen. Glücklicherweise war der Junge zu abgelenkt, um mir zu
folgen, sodass ich mir allein eine schön einsame und abgelegene Schlafmatte in
einem der Quartiere aussuchen konnte.
Wie immer, wenn ich nicht allein war, schlief ich
schlecht. Ich konnte zwar inzwischen überall und unter allen Bedingungen
schlafen – ja, ich konnte sogar im Stehen schlafen, wenn es sein musste – aber
die Anwesenheit anderer machte mich immer misstrauisch und ließ mich wachsam
werden. Deshalb hatte ich mir auch angewöhnt, niemals richtig tief zu schlafen,
wenn ich unter anderen Menschen war. Wenn es darauf ankam, konnte ich innerhalb
eines Augenblickes hellwach und bereit zum Kampf sein.
Trotzdem war
ich am nächsten Morgen als einer der Ersten wach. Wir bekamen ein Frühstück,
das vor allen Dingen der Schwert-Junge, der sofort wieder an meiner Seite war,
gierig verschlang, nachdem er gestern netterweise sein Abendessen geteilt hatte.
Und dann ging es endlich ans Trainieren.
Ich hatte mich letztendlich dazu entschieden, Enlils
Angebot anzunehmen. Die Bezahlung, die er versprach, war nicht ohne und sie
würde mir ermöglichen, mich genügend einzudecken, damit ich doch schon wieder
aufs Meer rauszufahren und das nächste Land ansteuern konnte. Da konnte ich mir
wenigstens sparen, mir zu überlegen, wie ich mit meinem Boot über das Gebirge kommen
sollte, das mir beinahe überall im Landesinneren den Weg versperrte. Nur im
Westen ließ es mir einen Weg, aber da befand sich ja blöderweise die Wüste.
Als wir nach
dem Frühstück antraten, war sogar der Schwert-Junge darunter. Ich glaubte ja
nicht dran, aber es sah wirklich so aus, als hätte er hier angeheuert. Doch es
interessierte mich eigentlich nicht. Viel spannender war Enlils Vorführung mit
dem Schwert. Es war nur eine kurze Vorführung, weil die meisten hier mit dem
Speer kämpften, aber es war überaus lehrreich für jemanden wie mich, der noch
nie ein Schwert geführt hatte. Ich sah es mir einmal an und obwohl ich noch
einiges an Übung brauchen würde, stellte mein Übungsgegner überhaupt keine
Herausforderung für mich dar. Was vielleicht daran lag, dass er ein blutiger
Anfänger war. Ich war mir jedenfalls ziemlich sicher, dass er heute das erste
Mal eine Waffe in der Hand gehalten hatte.
Dass ich für
die Grünschnäbel kein Gegner war, erkannte wohl auch Enlil, der mich kurzerhand
zu den richtigen Kriegern schickte. Denen, die schon wussten, an welchem Ende
man eine Waffe hielt. Auch sie waren gerade dabei zu trainieren, nur dass Enlil
sie nicht überwachen musste wie einen Haufen Kinder.
Ein
Trainingspartner war schnell gefunden, doch als wir Aufstellung voreinander
bezogen hatten, kam plötzlich Leif an und tippte meinem Gegner auf die
Schulter. „Lass mich mal! Ich habe mit dem da noch eine alte Rechnung offen“,
meinte er.
Mir war seine
Rechnung ja herzlich egal, aber er war als Gegner so gut, wie jeder andere auch,
also beschwerte ich mich nicht. Tatsächlich war er auch wesentlich besser als
der Anfänger, mit dem ich davor gekämpft hatte. Er stürmte auf mich zu und
seine Hiebe waren kräftig, schnell und präzise. Er hatte definitiv schon öfter
gekämpft. Ich hatte alle Hände voll zu tun, seine Schläge abzuwehren. Das
Schwert war mir noch immer eine zu unbekannte Waffe, sodass ich oft dumme
Fehler machte. Ich hackte wie mit einem Beil und stach nach ihm, als hätte ich
einen Speer. Obwohl ich schneller war, schaffte er es deshalb trotzdem relativ
schnell, mir die Waffe aus der Hand zu hebeln.
Dann hatte ich
die Spitze seines Schwertes an der Kehle und da übernahm mein jahrelang
antrainierter Kampfinstinkt. Einem Reflex gleich schlug ich die Klinge an der
flachen Seite nach oben, während ich einen Schritt zurück tat, damit sie mir
nicht den Hals aufschlitzte. Dann sprang ich nach vorne, unter seinem
neuerlichen Schlag hinweg, schlängelte mich um ihn herum und hatte ihn dann von
hinten fest in meinem Griff. Die Klinge meines Messers, das ich innerhalb eines
Augenblickes gezückt hatte, ritzte nun bedrohlich gegen seinen zuckenden Adamsapfel.
Ich musste
mich wirklich zusammenreißen und mich daran erinnern, dass das hier nur ein
Übungskampf war. Mein Misstrauen hatte mich so vorsichtig werden lassen, dass
ich lieber zustach, bevor ich fragte oder dachte. Auch Leif erkannte jetzt
wohl, dass mit mir nicht zu spaßen war, da er heftig zu zittern begonnen hatte.
Wahrscheinlich hätte er sich nass gemacht, wenn nicht im nächsten Moment jemand
geklatscht hätte. Es war Enlil, der da auf uns zukam. Als ich ihn sah und
realisierte, wo ich war, ließ ich Leif wieder fahren und steckte mein Messer
weg.
„Sehr gut!“,
applaudierte Enlil mir. „Das ist es,
was wir hier brauchen.“
Er trat neben
mich und ich erwartete schon, dass er freundschaftlich seinen Arm um meine
Schultern legen würde, aber er tat es glücklicherweise nicht.
„Zeigt eurem
Gegner keine Schwäche! Seid gnadenlos und zögert nicht! Euer Gegner wird es
nämlich auch nicht tun!“ Er sah mich an und ein gewinnendes Lächeln zerfurchte seine
Züge. „Du bist ein hervorragender Krieger. Du kannst es hier weit bringen, wenn
du dich in der kommenden Schlacht bewährst.“
Nicht, dass
ich vorhatte, es hier weit zu bringen. Aber auch dazu schwieg ich, während Enlil
uns wieder uns selbst überließ und Leif mich mit tief beleidigten und bösen
Blicken verfolgte.
Ich verbrachte den restlichen Tag damit, meinen
Schwertkampf zu üben. Die Anderen zogen sich irgendwann zu kleinen Grüppchen
zusammen, um zu trinken und zu schwatzen oder sich in der Stadt zu vergnügen,
sodass ich schließlich der Einzige war, der überhaupt noch trainierte. Mir fiel
auf, dass Enlil das wohlwollend zur Kenntnis nahm, bevor er in Richtung
Zikkurat verschwand, während andere sich das Maul darüber zerrissen, dass ich
ein ehrgeiziger Emporkömmling war oder sowas.
Der Schwert-Junge war jedenfalls
einer der Ersten, der seinen Speer sofort gegen Faulenzen eintauschte, als
Enlil weg war, und der es als überaus wichtig empfand, mich netterweise wieder
mit seiner Jammerei zu belästigen. Ich überlegte kurz, ihn davonzujagen,
entschied mich dann aber doch dafür, ihn einfach zu ignorieren.
Am Abend, als
der Priester ankam, der schon am Abend zuvor die Leute mit seinen Göttergeschichten
unterhalten und der bei meiner Ankunft zu Enlil geflüstert hatte, war es dann
für mich an der Zeit, mich davonzustehlen. Ich hatte meine Ration verschlungen
und war gerade dabei auszunutzen, dass der Schwert-Junge austreten war, doch da
stellten sich mir zwei Männer in den Weg, die zu den älteren Kriegern gehörten,
wie ich erkannte.
„Hey, du! Du bist
gar nicht schlecht. Komm, setz dich zu uns und trink einen!“, wollten sie.
Ich bevorzugte
es einfach, für mich zu sein, aber das war es nicht, was ich ihnen sagte,
sondern: „Warum sollte ich mich mit euch Gesinde abgeben? Lasst mich in Ruhe!“
Sie würden mich für arrogant halten und mich hassen, aber das war exakt das,
was ich wollte. Wenn sie einen hassten, dann ließen sie einen wenigstens in
Ruhe. Es war die effektivste Methode, wenn man allein bleiben wollte.
Wie nicht
anders zu erwarten, verzerrten sich ihre Gesichter voller Abscheu und Ärger,
aber ich wartete nicht darauf, dass sie sich auch noch dazu entschlossen, sich
mit mir anzulegen. Ich ließ sie stehen und mir entgingen auch nicht die Blicke
aller anderen, die meine Ansprache gehört hatten. Sie sahen mich jetzt alle so
an, wie es auch Leif tat, der bei ihnen saß.
Ich würde
mich ja für meine Worte selber hassen, aber ich ließ mir nicht die Zeit dazu.
Ich ging eiligen Schrittes durch die dunklen Gassen der Stadt, immer auf der
Hut vor eventuellen Dieben, die das abendliche Getümmel dazu nutzen wollten,
einen arglosen Mann um seine Wertsachen zu erleichtern, und ich rannte beinahe,
als ich endlich den Hafen erreicht hatte. Mein Boot war glücklicherweise noch
an der Stelle, wo ich es am gestrigen Tag zurückgelassen hatte. Ohne anzuhalten
schob ich es ins Wasser und sprang ins Innere. Einen Moment lang genoss ich das
vertraute Schwanken, dann legte ich ab.
Wie ein Gehetzter
fuhr ich auf den See hinaus. Das Wasser war inzwischen so pechschwarz, dass es
unmöglich geworden war, etwas in den Fluten zu erkennen. Wenn ich hineinsehen
würde, würde mir nur mein eigenes Spiegelbild in die Augen sehen. Das Ungeheuer,
vor dem ich schon seit Jahren davonlief und das ich nicht mehr sehen wollte. Die
Sterne und der Mond glitzerten auf der dunklen Oberfläche und rasten an mir
vorbei, während ich den Fahrtwind auf meinem Gesicht genoss.
Erst, als ich
die Mitte des Sees erreicht hatte und die Lichter der Stadt nur noch kleine
Punkte in der Dunkelheit hinter mir waren, hielt ich wieder an. Ich legte den
Kopf in den Nacken und sah zum endlosen Sternenhimmel über mir hinauf. Er war
so dunkel, wie ich mich fühlte, auch wenn in mir keine unzähligen Lichter
schienen wie es die Sterne am Himmel taten. Unwillkürlich glitten meine Augen
zum Mond und ich musste daran denken, wie Eris mir erzählt hatte, dass sie ein
Stück davon sei. Wie ich gedacht hatte, dass sie tatsächlich vom Mondlicht
geküsst worden war. Wie sie mich geküsst hatte. Wie sie auf mir gesessen hatte.
Ich riss mich
von dem Anblick des Mondes los und versuchte, den aufkommenden Schauder zu
unterdrücken. Aber er kam, genauso, wie die anderen Erinnerungen, die ich
immerzu versuchte, zu vergessen. Sie überfielen mich und versuchten, mich
niederzuschlagen, wann immer ich unter anderen Menschen war. Der kalte Schweiß
brach mir aus, als ich all die Gesichter sah, die ich zurückgelassen hatte.
Vertraute Gesichter. Geliebte Gesichter. Die Gesichter der Toten.
Als ich
plötzlich im Dschungel lag, mit dem Bauch dicht auf dem Boden und meine Hand
nach einem dicken Blatt ausstreckte, das mir den Blick auf das Grauen verwehrte,
sprang ich auf, dass mein Boot protestierend schwankte und sprang über Bord in
die Schwärze, die mich umgab.
Die Kälte des
Wassers brachte mich zur Besinnung. Während ich unterging wie ein Stein,
kehrten meine Gedanken zu den vielen Malen zurück, an denen ich beinahe
ertrunken war, und ich ließ es zu. Es waren keine guten Erinnerungen, aber es
war allemal besser als die Schuld, die ich einfach nicht ertragen konnte. Ich hatte
mir geschworen, nicht mehr an die Vergangenheit zu denken, aber es gelang mir
nicht immer. Meine Gefühle tief in mir zu verschließen und nie wieder
zuzulassen, dass mir jemand wichtig genug werden konnte, dass sein Tod mir
etwas ausmachte. Deswegen blieb ich nirgends länger als ein paar Tage und
deswegen ließ ich niemanden mehr an mich heran.
Als die
Dunkelheit mich gänzlich verschlungen hatte und auch das Mondlicht in der Tiefe
des Sees nicht mehr zu mir vordringen konnte, erreichte ich schließlich den Grund.
Ich spürte ihn unter mir, den schlammigen Boden, Wasserpflanzen, die wie Haare
meine Arme und mein Gesicht streiften, aber sehen konnte ich nichts davon. Ich
konnte gar nichts sehen. Wie ein Blinder war ich in völliger Finsternis
gefangen. Jeden Moment erwartete ich, dass mich etwas unsichtbares Packen und
verschlingen würde. Das machte mir ein bisschen Angst, aber auch das hieß ich
willkommen, nur, um nicht von meinen Erinnerungen heimgesucht zu werden.
Ich blieb deshalb,
bis mir die Luft schließlich knapp wurde. Erst dann stieß ich mich vom Boden ab
und strampelte wie ein Fliehender vor dem dunklen Schlund, von dem ich mir
plötzlich sicher war, dass er mich mit spitzen Zähnen verfolgte, obwohl ich
wusste, dass das natürlich Unsinn war. Da waren höchstens ein paar harmlose
Fische in diesem See. Trotzdem mühte ich mich ab und meine Lungen brannten
irgendwann, lechzten geradezu nach Luft, dass sie mir in der Brust schmerzten.
Als ich endlich durch die Oberfläche brach, war es wie eine Erlösung. Eine Schwere,
die von mir abfiel, eine Wiedergeburt, die ich jedes einzelne Mal aufs Neue herbeisehnte.
Aber anstatt
zu verschnaufen und zu genießen, dass ich wieder sehen konnte, begann ich,
immer größer werdende Kreise um mein Boot zu drehen. Wie ein Verrückter schwamm
ich, um auch ja meinen restlichen Erinnerungen und meiner Schwäche zu
entkommen. So lange, bis mir schließlich jeder einzelne Atemzug wie heißes
Feuer in der Brust brannte und meine Arme und Beine wahnsinnig stachen. Da
kehrte ich schließlich zu meinem Boot zurück, das etwas abgetrieben war, und
kletterte ins Innere zurück. Natürlich aber erlaubte ich mir auch da keine
Pause, sondern hielt schwer atmend sofort wieder auf die Stadt zu. Ich durfte
meinem Kopf gar nicht die Zeit dazu lassen, sich zu erinnern.
Ich bekam nicht gerade wenige Blicke ab, als ich durch
die immer leerer werdenden Straßen der Stadt ging, deren Namen ich immer noch nicht
kannte. Natürlich hatte ich keine Zeit gehabt, mich meiner Sachen zu erledigen,
als meine Erinnerungen mich angefallen hatten, also hatte ich ein Bad in voller
Montur genommen. Deshalb war ich jetzt bis auf die Knochen durchnässt und ich
hatte sogar zwei kleine Seen in meinen Schuhen mitgebracht. Aber ich ging
ungerührt meines Weges, als wäre das ganz normal.
So erreichte ich
schließlich die Mauer, hinter der die Wohnquartiere der Krieger lagen, in denen
ich bestimmt ein paar Tage eingepfercht sein würde, da Enlil noch mitten in der
Planung der Schlacht steckte, wie ich erfahren hatte. Ich hatte einen Moment
darüber nachgedacht, einfach in meinem Boot draußen auf dem See zu schlafen,
hatte das aber verworfen. Mein Schlaf war zu tief, wenn ich allein war und ich
wollte lieber nicht riskieren, zum Frühstück zu spät zu kommen. Mit leerem
Magen kämpfte es sich schlecht.
Da der Tag
eines ordentlichen Kriegers noch vor dem ersten Hahnenschrei begann, war der
Innenhof inzwischen verlassen und ich kam unbehelligt voran. Die Wachen am
Eingang musterten mich zwar einen Moment argwöhnisch, erkannten mich dann aber
und ließen mich rein. Ich überquerte den Innenhof eiligen Schrittes und hielt
auf den Raum zu, in dem ich schon gestern geschlafen hatte. Hoffentlich fand
ich dort noch eine leere Schlafmatte.
Ich entschied
mich dann aber doch noch dazu, meine Schuhe um das Wasser zu erleichtern, das
ich mitgebracht hatte und lehnte mich an die Hauswand, bevor ich eintrat. Aber
ich kam nicht einmal dazu, einen Stiefel auszuziehen. Ich hörte eine Stimme
hinter mir und ganz instinktiv fuhr ich herum, mein Schwert angriffsbereit in
der Hand.
Es war nur ein
Augenblick, aber dennoch sah ich da etwas, das ich im Nachhinein lieber nicht
gesehen hätte. Da war der Kerl, den ich als den Priester erkannte, der vorher
noch seine Geschichten zum Besten gegeben hatte. Er kam gerade aus einer der
angrenzenden Rüstungskammern, als er mich sah. Eine schwarzhaarige Gestalt huschte
im nächsten Moment an seine Seite und hatte seine Hand ergriffen. Er sah den
Priester flehentlich an, ein unverkennbares Funkeln in seinen Augen. Er hatte
den Mund geöffnet, kam aber nicht mehr dazu, etwas zu sagen, da sein Begleiter
ihn nun auf mich aufmerksam machte. Und alles, was ich dachte, war: ‚So ein Mist!‘
Der Kerl
neben dem Priester fasste sich schneller wieder, als er, und er war mit solch
einer Plötzlichkeit nach vorn geprescht, dass ich alle Mühe hatte, ihn
abzuwehren. In seiner Hand blitzte die Klinge eines Messers. Er war verdammt
schnell und verdammt geschickt. Ich bekam ihn einfach nicht zu fassen und er
platzierte seine Hiebe so gezielt, dass ich nicht nur einmal dachte, es wäre um
mich geschehen. Viel zu knapp entging ich seinen Angriffen jedes einzelne Mal. Er
drängte mich zurück, machte meine Waffe unbrauchbar, weil ich zu behäbig mit
ihr war, um sie zum Einsatz zu bringen.
Ich war ein
bisschen überrumpelt, muss ich zugeben, aber schließlich fing ich mich wieder. Als
er erneut auf meine Kehle zielte, ließ ich ihn näher rankommen, als je zuvor,
und als ich schon das siegessichere Grinsen in seinem schmalen, länglichen Gesicht
sehen konnte, schlug ich ihm mit der Faust den Kopf zur Seite. Er kippte um,
aber ich war sofort zur Stelle und hatte ihn dann fest in meinem Griff. Er
versuchte zwar, sich zu wehren, aber ich gab ihm zu verstehen, dass er sich
ruhig verhalten solle, wenn er nicht wollte, dass ich seinen Kehlkopf
zerdrückte. Dazu war ich durchaus in der Lage.
Trotzdem brach
das seine Kampfeslust scheinbar kein bisschen. Als er mich mit seinen dunklen
Augen trotzig anfunkelte, erkannte ich mit Schrecken, dass es dieselben waren
wie Enlils. Es war nicht so sehr die Farbe, die das verriet, sondern das
gnadenlose Feuer, das in ihnen brannte und das mich ein bisschen
einschüchterte, wenn ich ehrlich war. Er war nicht so kräftig, wie Enlil; im
Gegenteil, er war ziemlich dürr und schlaksig, und er sah dem Oberhaupt der
Stadt auch sonst nicht sehr ähnlich, aber ich war mir sicher, hier mindestens
einen entfernten Verwandten von ihm vor mir zu haben. Seine kostbare Kleidung,
die mehr der des Priesters glich, als der eines Kriegers, sprach auch dafür,
dass er ein höheres Tier war. In was hatte ich mich da nur wieder reingeritten?
„Nicht!“, fand
jetzt auch der Priester seine Stimme wieder.
Im Gegensatz
zu seinem Kumpanen, der wahrscheinlich gar nicht so viel jünger war, wie ich,
war er ein bisschen in die Jahre gekommen. Ich schätzte ihn mindestens doppelt
so alt wie mich ein. Er war groß und schlank, hatte ein weiches, freundliches
Gesicht, das aussah, als wäre es wie für seine Profession gemacht worden. Hellbraunes
Haar, das von grauen Strähnen durchzogen war und einen Knoten in seinem Nacken
bildete und ein ordentlicher Bart, der ihm bis zum Bauch reichte. Wie es bei
scheinbar so ziemlich allen Männern hier Mode war, trug auch er sein Haar in
Flechten. Seine dunkle, landestypische Kleidung war schlicht, sah aber trotzdem
kostbar aus. Er wirkte gepflegt und sauber.
„Bitte, lass
ihn gehen!“, bat er ruhig.
„Warum sollte
ich das tun? Wenn ich ihn loslasse, wird er nur wieder versuchen, mich
anzugreifen.“
„Das wird er
nicht. Ich versichere es dir“, versuchte es der Priester beschwichtigend.
„Ich werde
dich kalt machen!“, rief der Schwarzhaarige in meinem Griff da aufgebracht. Zum Beweis befreite er
seine Hand mit dem Messer und versuchte einen erneuten Angriff, aber ich hatte
ihn sofort wieder im Griff. Ich drehte seinen Arm schmerzhaft nach oben, sodass
er jetzt auch noch sein eigenes Messer vorgehalten bekam.
Doch der
Priester blieb weiterhin ruhig, und er schien wirklich unbeeindruckt. „Nein, das
wirst du nicht“, sagte er zu dem Unbelehrbaren. „Wenn er dich loslässt, wirst
du ihn in Frieden lassen und wir werden alle unbehelligt unseres Weges gehen.“
„Er hat es
gesehen! Wir können ihn nicht einfach gehen lassen!“, rief mein Gefangener und für
einen Moment wirkte er eigentümlich gehetzt. Als würde ihn jemand verfolgen.
Da sprach der
Priester eindringlich an mich: „Nein, das wirst du nicht tun, nicht wahr?“
Ich hatte ja nicht
einmal wirklich eine Ahnung, was ich
gesehen hatte, aber nach der Reaktion des Schwarzhaarigen hatte ich so eine
Vermutung. Er war ja nicht sonderlich clever, mich auch noch darauf aufmerksam
zu machen, aber eigentlich war mir das Ganze sowieso ziemlich schnuppe. Das
Problem dabei war einfach, dass ich keine Lust darauf hatte, abgestochen zu werden.
Ich wollte
ihnen das sagen, aber da bot der Priester plötzlich an: „Für dein
Stillschweigen will ich dir auch etwas geben. Wie wäre es mit… hm… ich bringe
dir das Schreiben bei.“
„Schreiben?
Was soll das sein?“
Der Priester
sah mich einen Moment lang abschätzig an. Das kannte ich schon. Er hielt mich
wohl für dumm. Dann lächelte er aber versöhnlich. „Eine Geheimwaffe.“
Der Kerl in
meinen Armen hörte da endlich auf, sich zu wehren, aber ich bekam leider nicht
mehr mit, warum, da er sogleich in seinen sinnlosen Bemühungen, sich befreien
zu wollen, fortfuhr.
Ich überlegte
nur einen Moment. Wie gesagt, es war mir eigentlich egal, was die beiden da
Verbotenes machten. Ich hatte nicht vor, irgendwem irgendwas zu erzählen, aber
eine Geheimwaffe war schon verlockend. Also nickte ich schließlich und erklärte
mich einverstanden.
Trotzdem
ruckte ich noch einmal am Hals meines Gefangenen, dass ihm die Luft wegblieb
und raunte ihm zu: „Komm bloß nicht auf die Idee, mich nochmal angreifen zu
wollen!“
Er knurrte
wütend, aber ich nahm mal an, dass er mich verstanden hatte. Also stieß ich ihn
von mir und verpasste ihm zur Warnung noch einen Tritt in die Nieren, dass er
vor dem Priester zu Boden ging. Er war natürlich sofort wieder auf den Beinen
und versuchte, mich mit seinen Blicken zu töten, aber er unterließ einen
weiteren Angriff. Sein Glück. Ich hatte mein Schwert natürlich wieder in der
Hand und diesmal, das schwöre ich, war ich vorbereitet, um ihn schon beim
Angriff zu erwischen und in Stücke zu schneiden, bevor er mich erreichen konnte.
„Komm morgen
nach dem Training hoch zur Zikkurat und frage nach mir. Mein Name ist Utu*.“
Der Priester
legte eine Hand beschwichtigend auf die Schulter des noch immer rasenden
Jüngeren und ich sah zu, dass ich wegkam. Natürlich dachte ich nicht im Traum
daran, ihnen den Rücken zuzudrehen, also musste ich rückwärts gehen.
In dieser
Nacht schlief ich so gut wie gar nicht.
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Anmerkung: Utu ist ein sumerischer Sonnengott, der auch für Wahrheit, Gerechtigkeit und Moral steht.
Hier weiterlesen -> Kapitel 17
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Anmerkung: Utu ist ein sumerischer Sonnengott, der auch für Wahrheit, Gerechtigkeit und Moral steht.
Hier weiterlesen -> Kapitel 17
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