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Mittwoch, 12. Dezember 2018

Kapitel 16 - Erinnerungen


Leider war die ganze Sache damit noch nicht ausgestanden. Der Schwert-Junge, wie ich ihn spontan genannt hatte, da ich nicht nach seinem Namen gefragt hatte, dachte gar nicht daran, mich in Ruhe zu lassen. Er verfolgte mich den ganzen Tag über und selbst am Abend, als ich es mir mit meiner Ration Brot und Datteln gerade in einer schönen, einsamen Ecke gemütlich gemacht hatte, belagerte er mich noch immer. Er hatte es sogar irgendwie geschafft, selber an eine Ration zu kommen, die eigentlich nur für die Krieger vorgesehen war. Sogar Fleisch hatte er, im Gegensatz zu mir, ergattern können.
     „Mein Vater wird so wütend sein, dass ich gleich hier bleiben und Krieger werden kann“, lamentierte er gerade wieder mal, als ich plötzlich auf etwas aufmerksam wurde.
     Sie bewegte sich so unauffällig, dass ich sie erst bemerkte, als sie Anstalten machte, sich mir auf den Schoß zu setzen. In letzter Sekunde hatte ich sie am Arm und sah nun in ein hübsches, aber mit Pockennarben übersätes Frauengesicht, das von rötlich-braunen Flechten eingerahmt wurde. Sie wirkte einen Moment erschrocken, dann lächelte sie aber süffisant.
      „Na, mein Süßer? Willst du nicht dein Essen mit mir teilen? Ich wäre dir auch überaus dankbar dafür“, säuselte sie.
     Dort, wo ich herkam, waren Pockennarben ein Zeichen von einem starken, gesunden Körper, denn es bedeutete, dass man eine tödliche Krankheit besiegt hatte. In anderen Regionen aber, hatte ich gesehen, machte es einen zu einem Aussätzigen. Hier war wohl Letzeres der Fall, wie mir ihre abgerissene, schmutzige Kleidung verriet.
     Der Junge neben mir ließ es sich auch nicht nehmen, gleich mal entsetzt zu rufen: „Vorsicht! Sie hatte die Pocken! Das ist gefährlich!“ Er hatte sein angenagtes Gänsebein auf sie gerichtet, und sie warf ihm im Gegenzug dafür einen vernichtenden Blick zu, der ihn in sich zusammensinken ließ.
     Doch ich brauchte seine Warnungen nicht. Ich schob sie unbeeindruckt von mir. „Pack dich, Frau, hier gibt es nichts für dich zu holen!“, sagte ich ihr.
     Sie kräuselte ihre kleine Nase, doch anstatt zu verschwinden, versuchte sie es tatsächlich bei dem Jungen, der sie noch immer erschrocken anstarrte. Wenn jetzt auch, weil sie plötzlich dicht neben ihm saß und ihre Hand in seinem Schoß hatte. „Und was ist mit dir, mein Hübscher? Du wirst mich arme Seele doch nicht hungern lassen, oder?“
      Der Junge war völlig überfordert mit ihr, aber anscheinend nahm er seine eigene Warnung nicht so wichtig, da er nun den Kopf schüttelte und ihr sein Gänsebein hinhielt. Sie ließ sich natürlich nicht zweimal bitten, griff beherzt zu und aß, während der Junge mit seinen Augen förmlich an ihr klebte. Er hatte ganz offensichtlich noch nie eine Frau gehabt. 
     Da entschied ich mich dann dazu, dass es an der Zeit war, schlafen zu gehen. Glücklicherweise war der Junge zu abgelenkt, um mir zu folgen, sodass ich mir allein eine schön einsame und abgelegene Schlafmatte in einem der Quartiere aussuchen konnte. 

Wie immer, wenn ich nicht allein war, schlief ich schlecht. Ich konnte zwar inzwischen überall und unter allen Bedingungen schlafen – ja, ich konnte sogar im Stehen schlafen, wenn es sein musste – aber die Anwesenheit anderer machte mich immer misstrauisch und ließ mich wachsam werden. Deshalb hatte ich mir auch angewöhnt, niemals richtig tief zu schlafen, wenn ich unter anderen Menschen war. Wenn es darauf ankam, konnte ich innerhalb eines Augenblickes hellwach und bereit zum Kampf sein.
     Trotzdem war ich am nächsten Morgen als einer der Ersten wach. Wir bekamen ein Frühstück, das vor allen Dingen der Schwert-Junge, der sofort wieder an meiner Seite war, gierig verschlang, nachdem er gestern netterweise sein Abendessen geteilt hatte. Und dann ging es endlich ans Trainieren.
     Ich hatte mich letztendlich dazu entschieden, Enlils Angebot anzunehmen. Die Bezahlung, die er versprach, war nicht ohne und sie würde mir ermöglichen, mich genügend einzudecken, damit ich doch schon wieder aufs Meer rauszufahren und das nächste Land ansteuern konnte. Da konnte ich mir wenigstens sparen, mir zu überlegen, wie ich mit meinem Boot über das Gebirge kommen sollte, das mir beinahe überall im Landesinneren den Weg versperrte. Nur im Westen ließ es mir einen Weg, aber da befand sich ja blöderweise die Wüste.
     Als wir nach dem Frühstück antraten, war sogar der Schwert-Junge darunter. Ich glaubte ja nicht dran, aber es sah wirklich so aus, als hätte er hier angeheuert. Doch es interessierte mich eigentlich nicht. Viel spannender war Enlils Vorführung mit dem Schwert. Es war nur eine kurze Vorführung, weil die meisten hier mit dem Speer kämpften, aber es war überaus lehrreich für jemanden wie mich, der noch nie ein Schwert geführt hatte. Ich sah es mir einmal an und obwohl ich noch einiges an Übung brauchen würde, stellte mein Übungsgegner überhaupt keine Herausforderung für mich dar. Was vielleicht daran lag, dass er ein blutiger Anfänger war. Ich war mir jedenfalls ziemlich sicher, dass er heute das erste Mal eine Waffe in der Hand gehalten hatte.  
      Dass ich für die Grünschnäbel kein Gegner war, erkannte wohl auch Enlil, der mich kurzerhand zu den richtigen Kriegern schickte. Denen, die schon wussten, an welchem Ende man eine Waffe hielt. Auch sie waren gerade dabei zu trainieren, nur dass Enlil sie nicht überwachen musste wie einen Haufen Kinder.  
     Ein Trainingspartner war schnell gefunden, doch als wir Aufstellung voreinander bezogen hatten, kam plötzlich Leif an und tippte meinem Gegner auf die Schulter. „Lass mich mal! Ich habe mit dem da noch eine alte Rechnung offen“, meinte er.
     Mir war seine Rechnung ja herzlich egal, aber er war als Gegner so gut, wie jeder andere auch, also beschwerte ich mich nicht. Tatsächlich war er auch wesentlich besser als der Anfänger, mit dem ich davor gekämpft hatte. Er stürmte auf mich zu und seine Hiebe waren kräftig, schnell und präzise. Er hatte definitiv schon öfter gekämpft. Ich hatte alle Hände voll zu tun, seine Schläge abzuwehren. Das Schwert war mir noch immer eine zu unbekannte Waffe, sodass ich oft dumme Fehler machte. Ich hackte wie mit einem Beil und stach nach ihm, als hätte ich einen Speer. Obwohl ich schneller war, schaffte er es deshalb trotzdem relativ schnell, mir die Waffe aus der Hand zu hebeln.
     Dann hatte ich die Spitze seines Schwertes an der Kehle und da übernahm mein jahrelang antrainierter Kampfinstinkt. Einem Reflex gleich schlug ich die Klinge an der flachen Seite nach oben, während ich einen Schritt zurück tat, damit sie mir nicht den Hals aufschlitzte. Dann sprang ich nach vorne, unter seinem neuerlichen Schlag hinweg, schlängelte mich um ihn herum und hatte ihn dann von hinten fest in meinem Griff. Die Klinge meines Messers, das ich innerhalb eines Augenblickes gezückt hatte, ritzte nun bedrohlich gegen seinen zuckenden Adamsapfel.
      Ich musste mich wirklich zusammenreißen und mich daran erinnern, dass das hier nur ein Übungskampf war. Mein Misstrauen hatte mich so vorsichtig werden lassen, dass ich lieber zustach, bevor ich fragte oder dachte. Auch Leif erkannte jetzt wohl, dass mit mir nicht zu spaßen war, da er heftig zu zittern begonnen hatte. Wahrscheinlich hätte er sich nass gemacht, wenn nicht im nächsten Moment jemand geklatscht hätte. Es war Enlil, der da auf uns zukam. Als ich ihn sah und realisierte, wo ich war, ließ ich Leif wieder fahren und steckte mein Messer weg.
      „Sehr gut!“, applaudierte Enlil mir. „Das ist es, was wir hier brauchen.“
      Er trat neben mich und ich erwartete schon, dass er freundschaftlich seinen Arm um meine Schultern legen würde, aber er tat es glücklicherweise nicht.
     „Zeigt eurem Gegner keine Schwäche! Seid gnadenlos und zögert nicht! Euer Gegner wird es nämlich auch nicht tun!“ Er sah mich an und ein gewinnendes Lächeln zerfurchte seine Züge. „Du bist ein hervorragender Krieger. Du kannst es hier weit bringen, wenn du dich in der kommenden Schlacht bewährst.“
     Nicht, dass ich vorhatte, es hier weit zu bringen. Aber auch dazu schwieg ich, während Enlil uns wieder uns selbst überließ und Leif mich mit tief beleidigten und bösen Blicken verfolgte.

Ich verbrachte den restlichen Tag damit, meinen Schwertkampf zu üben. Die Anderen zogen sich irgendwann zu kleinen Grüppchen zusammen, um zu trinken und zu schwatzen oder sich in der Stadt zu vergnügen, sodass ich schließlich der Einzige war, der überhaupt noch trainierte. Mir fiel auf, dass Enlil das wohlwollend zur Kenntnis nahm, bevor er in Richtung Zikkurat verschwand, während andere sich das Maul darüber zerrissen, dass ich ein ehrgeiziger Emporkömmling war oder sowas. 
     Der Schwert-Junge war jedenfalls einer der Ersten, der seinen Speer sofort gegen Faulenzen eintauschte, als Enlil weg war, und der es als überaus wichtig empfand, mich netterweise wieder mit seiner Jammerei zu belästigen. Ich überlegte kurz, ihn davonzujagen, entschied mich dann aber doch dafür, ihn einfach zu ignorieren.
     Am Abend, als der Priester ankam, der schon am Abend zuvor die Leute mit seinen Göttergeschichten unterhalten und der bei meiner Ankunft zu Enlil geflüstert hatte, war es dann für mich an der Zeit, mich davonzustehlen. Ich hatte meine Ration verschlungen und war gerade dabei auszunutzen, dass der Schwert-Junge austreten war, doch da stellten sich mir zwei Männer in den Weg, die zu den älteren Kriegern gehörten, wie ich erkannte.
     „Hey, du! Du bist gar nicht schlecht. Komm, setz dich zu uns und trink einen!“, wollten sie.
     Ich bevorzugte es einfach, für mich zu sein, aber das war es nicht, was ich ihnen sagte, sondern: „Warum sollte ich mich mit euch Gesinde abgeben? Lasst mich in Ruhe!“ Sie würden mich für arrogant halten und mich hassen, aber das war exakt das, was ich wollte. Wenn sie einen hassten, dann ließen sie einen wenigstens in Ruhe. Es war die effektivste Methode, wenn man allein bleiben wollte.
     Wie nicht anders zu erwarten, verzerrten sich ihre Gesichter voller Abscheu und Ärger, aber ich wartete nicht darauf, dass sie sich auch noch dazu entschlossen, sich mit mir anzulegen. Ich ließ sie stehen und mir entgingen auch nicht die Blicke aller anderen, die meine Ansprache gehört hatten. Sie sahen mich jetzt alle so an, wie es auch Leif tat, der bei ihnen saß.
      Ich würde mich ja für meine Worte selber hassen, aber ich ließ mir nicht die Zeit dazu. Ich ging eiligen Schrittes durch die dunklen Gassen der Stadt, immer auf der Hut vor eventuellen Dieben, die das abendliche Getümmel dazu nutzen wollten, einen arglosen Mann um seine Wertsachen zu erleichtern, und ich rannte beinahe, als ich endlich den Hafen erreicht hatte. Mein Boot war glücklicherweise noch an der Stelle, wo ich es am gestrigen Tag zurückgelassen hatte. Ohne anzuhalten schob ich es ins Wasser und sprang ins Innere. Einen Moment lang genoss ich das vertraute Schwanken, dann legte ich ab.
     Wie ein Gehetzter fuhr ich auf den See hinaus. Das Wasser war inzwischen so pechschwarz, dass es unmöglich geworden war, etwas in den Fluten zu erkennen. Wenn ich hineinsehen würde, würde mir nur mein eigenes Spiegelbild in die Augen sehen. Das Ungeheuer, vor dem ich schon seit Jahren davonlief und das ich nicht mehr sehen wollte. Die Sterne und der Mond glitzerten auf der dunklen Oberfläche und rasten an mir vorbei, während ich den Fahrtwind auf meinem Gesicht genoss.
     Erst, als ich die Mitte des Sees erreicht hatte und die Lichter der Stadt nur noch kleine Punkte in der Dunkelheit hinter mir waren, hielt ich wieder an. Ich legte den Kopf in den Nacken und sah zum endlosen Sternenhimmel über mir hinauf. Er war so dunkel, wie ich mich fühlte, auch wenn in mir keine unzähligen Lichter schienen wie es die Sterne am Himmel taten. Unwillkürlich glitten meine Augen zum Mond und ich musste daran denken, wie Eris mir erzählt hatte, dass sie ein Stück davon sei. Wie ich gedacht hatte, dass sie tatsächlich vom Mondlicht geküsst worden war. Wie sie mich geküsst hatte. Wie sie auf mir gesessen hatte.
      Ich riss mich von dem Anblick des Mondes los und versuchte, den aufkommenden Schauder zu unterdrücken. Aber er kam, genauso, wie die anderen Erinnerungen, die ich immerzu versuchte, zu vergessen. Sie überfielen mich und versuchten, mich niederzuschlagen, wann immer ich unter anderen Menschen war. Der kalte Schweiß brach mir aus, als ich all die Gesichter sah, die ich zurückgelassen hatte. Vertraute Gesichter. Geliebte Gesichter. Die Gesichter der Toten.
      Als ich plötzlich im Dschungel lag, mit dem Bauch dicht auf dem Boden und meine Hand nach einem dicken Blatt ausstreckte, das mir den Blick auf das Grauen verwehrte, sprang ich auf, dass mein Boot protestierend schwankte und sprang über Bord in die Schwärze, die mich umgab.
     Die Kälte des Wassers brachte mich zur Besinnung. Während ich unterging wie ein Stein, kehrten meine Gedanken zu den vielen Malen zurück, an denen ich beinahe ertrunken war, und ich ließ es zu. Es waren keine guten Erinnerungen, aber es war allemal besser als die Schuld, die ich einfach nicht ertragen konnte. Ich hatte mir geschworen, nicht mehr an die Vergangenheit zu denken, aber es gelang mir nicht immer. Meine Gefühle tief in mir zu verschließen und nie wieder zuzulassen, dass mir jemand wichtig genug werden konnte, dass sein Tod mir etwas ausmachte. Deswegen blieb ich nirgends länger als ein paar Tage und deswegen ließ ich niemanden mehr an mich heran.
     Als die Dunkelheit mich gänzlich verschlungen hatte und auch das Mondlicht in der Tiefe des Sees nicht mehr zu mir vordringen konnte, erreichte ich schließlich den Grund. Ich spürte ihn unter mir, den schlammigen Boden, Wasserpflanzen, die wie Haare meine Arme und mein Gesicht streiften, aber sehen konnte ich nichts davon. Ich konnte gar nichts sehen. Wie ein Blinder war ich in völliger Finsternis gefangen. Jeden Moment erwartete ich, dass mich etwas unsichtbares Packen und verschlingen würde. Das machte mir ein bisschen Angst, aber auch das hieß ich willkommen, nur, um nicht von meinen Erinnerungen heimgesucht zu werden.
     Ich blieb deshalb, bis mir die Luft schließlich knapp wurde. Erst dann stieß ich mich vom Boden ab und strampelte wie ein Fliehender vor dem dunklen Schlund, von dem ich mir plötzlich sicher war, dass er mich mit spitzen Zähnen verfolgte, obwohl ich wusste, dass das natürlich Unsinn war. Da waren höchstens ein paar harmlose Fische in diesem See. Trotzdem mühte ich mich ab und meine Lungen brannten irgendwann, lechzten geradezu nach Luft, dass sie mir in der Brust schmerzten. Als ich endlich durch die Oberfläche brach, war es wie eine Erlösung. Eine Schwere, die von mir abfiel, eine Wiedergeburt, die ich jedes einzelne Mal aufs Neue herbeisehnte.
     Aber anstatt zu verschnaufen und zu genießen, dass ich wieder sehen konnte, begann ich, immer größer werdende Kreise um mein Boot zu drehen. Wie ein Verrückter schwamm ich, um auch ja meinen restlichen Erinnerungen und meiner Schwäche zu entkommen. So lange, bis mir schließlich jeder einzelne Atemzug wie heißes Feuer in der Brust brannte und meine Arme und Beine wahnsinnig stachen. Da kehrte ich schließlich zu meinem Boot zurück, das etwas abgetrieben war, und kletterte ins Innere zurück. Natürlich aber erlaubte ich mir auch da keine Pause, sondern hielt schwer atmend sofort wieder auf die Stadt zu. Ich durfte meinem Kopf gar nicht die Zeit dazu lassen, sich zu erinnern.   
    
Ich bekam nicht gerade wenige Blicke ab, als ich durch die immer leerer werdenden Straßen der Stadt ging, deren Namen ich immer noch nicht kannte. Natürlich hatte ich keine Zeit gehabt, mich meiner Sachen zu erledigen, als meine Erinnerungen mich angefallen hatten, also hatte ich ein Bad in voller Montur genommen. Deshalb war ich jetzt bis auf die Knochen durchnässt und ich hatte sogar zwei kleine Seen in meinen Schuhen mitgebracht. Aber ich ging ungerührt meines Weges, als wäre das ganz normal.
     So erreichte ich schließlich die Mauer, hinter der die Wohnquartiere der Krieger lagen, in denen ich bestimmt ein paar Tage eingepfercht sein würde, da Enlil noch mitten in der Planung der Schlacht steckte, wie ich erfahren hatte. Ich hatte einen Moment darüber nachgedacht, einfach in meinem Boot draußen auf dem See zu schlafen, hatte das aber verworfen. Mein Schlaf war zu tief, wenn ich allein war und ich wollte lieber nicht riskieren, zum Frühstück zu spät zu kommen. Mit leerem Magen kämpfte es sich schlecht.
     Da der Tag eines ordentlichen Kriegers noch vor dem ersten Hahnenschrei begann, war der Innenhof inzwischen verlassen und ich kam unbehelligt voran. Die Wachen am Eingang musterten mich zwar einen Moment argwöhnisch, erkannten mich dann aber und ließen mich rein. Ich überquerte den Innenhof eiligen Schrittes und hielt auf den Raum zu, in dem ich schon gestern geschlafen hatte. Hoffentlich fand ich dort noch eine leere Schlafmatte.
     Ich entschied mich dann aber doch noch dazu, meine Schuhe um das Wasser zu erleichtern, das ich mitgebracht hatte und lehnte mich an die Hauswand, bevor ich eintrat. Aber ich kam nicht einmal dazu, einen Stiefel auszuziehen. Ich hörte eine Stimme hinter mir und ganz instinktiv fuhr ich herum, mein Schwert angriffsbereit in der Hand.
     Es war nur ein Augenblick, aber dennoch sah ich da etwas, das ich im Nachhinein lieber nicht gesehen hätte. Da war der Kerl, den ich als den Priester erkannte, der vorher noch seine Geschichten zum Besten gegeben hatte. Er kam gerade aus einer der angrenzenden Rüstungskammern, als er mich sah. Eine schwarzhaarige Gestalt huschte im nächsten Moment an seine Seite und hatte seine Hand ergriffen. Er sah den Priester flehentlich an, ein unverkennbares Funkeln in seinen Augen. Er hatte den Mund geöffnet, kam aber nicht mehr dazu, etwas zu sagen, da sein Begleiter ihn nun auf mich aufmerksam machte. Und alles, was ich dachte, war: ‚So ein Mist!‘
      Der Kerl neben dem Priester fasste sich schneller wieder, als er, und er war mit solch einer Plötzlichkeit nach vorn geprescht, dass ich alle Mühe hatte, ihn abzuwehren. In seiner Hand blitzte die Klinge eines Messers. Er war verdammt schnell und verdammt geschickt. Ich bekam ihn einfach nicht zu fassen und er platzierte seine Hiebe so gezielt, dass ich nicht nur einmal dachte, es wäre um mich geschehen. Viel zu knapp entging ich seinen Angriffen jedes einzelne Mal. Er drängte mich zurück, machte meine Waffe unbrauchbar, weil ich zu behäbig mit ihr war, um sie zum Einsatz zu bringen.
     Ich war ein bisschen überrumpelt, muss ich zugeben, aber schließlich fing ich mich wieder. Als er erneut auf meine Kehle zielte, ließ ich ihn näher rankommen, als je zuvor, und als ich schon das siegessichere Grinsen in seinem schmalen, länglichen Gesicht sehen konnte, schlug ich ihm mit der Faust den Kopf zur Seite. Er kippte um, aber ich war sofort zur Stelle und hatte ihn dann fest in meinem Griff. Er versuchte zwar, sich zu wehren, aber ich gab ihm zu verstehen, dass er sich ruhig verhalten solle, wenn er nicht wollte, dass ich seinen Kehlkopf zerdrückte. Dazu war ich durchaus in der Lage.
     Trotzdem brach das seine Kampfeslust scheinbar kein bisschen. Als er mich mit seinen dunklen Augen trotzig anfunkelte, erkannte ich mit Schrecken, dass es dieselben waren wie Enlils. Es war nicht so sehr die Farbe, die das verriet, sondern das gnadenlose Feuer, das in ihnen brannte und das mich ein bisschen einschüchterte, wenn ich ehrlich war. Er war nicht so kräftig, wie Enlil; im Gegenteil, er war ziemlich dürr und schlaksig, und er sah dem Oberhaupt der Stadt auch sonst nicht sehr ähnlich, aber ich war mir sicher, hier mindestens einen entfernten Verwandten von ihm vor mir zu haben. Seine kostbare Kleidung, die mehr der des Priesters glich, als der eines Kriegers, sprach auch dafür, dass er ein höheres Tier war. In was hatte ich mich da nur wieder reingeritten?   
     „Nicht!“, fand jetzt auch der Priester seine Stimme wieder.
     Im Gegensatz zu seinem Kumpanen, der wahrscheinlich gar nicht so viel jünger war, wie ich, war er ein bisschen in die Jahre gekommen. Ich schätzte ihn mindestens doppelt so alt wie mich ein. Er war groß und schlank, hatte ein weiches, freundliches Gesicht, das aussah, als wäre es wie für seine Profession gemacht worden. Hellbraunes Haar, das von grauen Strähnen durchzogen war und einen Knoten in seinem Nacken bildete und ein ordentlicher Bart, der ihm bis zum Bauch reichte. Wie es bei scheinbar so ziemlich allen Männern hier Mode war, trug auch er sein Haar in Flechten. Seine dunkle, landestypische Kleidung war schlicht, sah aber trotzdem kostbar aus. Er wirkte gepflegt und sauber.
     „Bitte, lass ihn gehen!“, bat er ruhig.
     „Warum sollte ich das tun? Wenn ich ihn loslasse, wird er nur wieder versuchen, mich anzugreifen.“
     „Das wird er nicht. Ich versichere es dir“, versuchte es der Priester beschwichtigend.
     „Ich werde dich kalt machen!“, rief der Schwarzhaarige in meinem Griff da aufgebracht. Zum Beweis befreite er seine Hand mit dem Messer und versuchte einen erneuten Angriff, aber ich hatte ihn sofort wieder im Griff. Ich drehte seinen Arm schmerzhaft nach oben, sodass er jetzt auch noch sein eigenes Messer vorgehalten bekam.
     Doch der Priester blieb weiterhin ruhig, und er schien wirklich unbeeindruckt. „Nein, das wirst du nicht“, sagte er zu dem Unbelehrbaren. „Wenn er dich loslässt, wirst du ihn in Frieden lassen und wir werden alle unbehelligt unseres Weges gehen.“
     „Er hat es gesehen! Wir können ihn nicht einfach gehen lassen!“, rief mein Gefangener und für einen Moment wirkte er eigentümlich gehetzt. Als würde ihn jemand verfolgen.
      Da sprach der Priester eindringlich an mich: „Nein, das wirst du nicht tun, nicht wahr?“
      Ich hatte ja nicht einmal wirklich eine Ahnung, was ich gesehen hatte, aber nach der Reaktion des Schwarzhaarigen hatte ich so eine Vermutung. Er war ja nicht sonderlich clever, mich auch noch darauf aufmerksam zu machen, aber eigentlich war mir das Ganze sowieso ziemlich schnuppe. Das Problem dabei war einfach, dass ich keine Lust darauf hatte, abgestochen zu werden.
      Ich wollte ihnen das sagen, aber da bot der Priester plötzlich an: „Für dein Stillschweigen will ich dir auch etwas geben. Wie wäre es mit… hm… ich bringe dir das Schreiben bei.“
       „Schreiben? Was soll das sein?“
      Der Priester sah mich einen Moment lang abschätzig an. Das kannte ich schon. Er hielt mich wohl für dumm. Dann lächelte er aber versöhnlich. „Eine Geheimwaffe.“
      Der Kerl in meinen Armen hörte da endlich auf, sich zu wehren, aber ich bekam leider nicht mehr mit, warum, da er sogleich in seinen sinnlosen Bemühungen, sich befreien zu wollen, fortfuhr.
     Ich überlegte nur einen Moment. Wie gesagt, es war mir eigentlich egal, was die beiden da Verbotenes machten. Ich hatte nicht vor, irgendwem irgendwas zu erzählen, aber eine Geheimwaffe war schon verlockend. Also nickte ich schließlich und erklärte mich einverstanden.
      Trotzdem ruckte ich noch einmal am Hals meines Gefangenen, dass ihm die Luft wegblieb und raunte ihm zu: „Komm bloß nicht auf die Idee, mich nochmal angreifen zu wollen!“
      Er knurrte wütend, aber ich nahm mal an, dass er mich verstanden hatte. Also stieß ich ihn von mir und verpasste ihm zur Warnung noch einen Tritt in die Nieren, dass er vor dem Priester zu Boden ging. Er war natürlich sofort wieder auf den Beinen und versuchte, mich mit seinen Blicken zu töten, aber er unterließ einen weiteren Angriff. Sein Glück. Ich hatte mein Schwert natürlich wieder in der Hand und diesmal, das schwöre ich, war ich vorbereitet, um ihn schon beim Angriff zu erwischen und in Stücke zu schneiden, bevor er mich erreichen konnte.
      „Komm morgen nach dem Training hoch zur Zikkurat und frage nach mir. Mein Name ist Utu*.“
     Der Priester legte eine Hand beschwichtigend auf die Schulter des noch immer rasenden Jüngeren und ich sah zu, dass ich wegkam. Natürlich dachte ich nicht im Traum daran, ihnen den Rücken zuzudrehen, also musste ich rückwärts gehen.
      In dieser Nacht schlief ich so gut wie gar nicht. 
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Anmerkung: Utu ist ein sumerischer Sonnengott, der auch für Wahrheit, Gerechtigkeit und Moral steht.    

Hier weiterlesen -> Kapitel 17 

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