Neuigkeiten

Hallo und herzlich willkommen in meiner (Sims-)Wortschmiede!
Ich wünsche euch viel Spaß beim Lesen!
Neu hier? Dann hier anfangen.
Wulfgars Geschichte jetzt komplett online!

Sonntag, 16. Dezember 2018

Kapitel 23 - Vater und Sohn


Der Regen hatte den gesamten Innenhof inzwischen in ein einziges, schlammiges Loch verwandelt. Um mich herum war der Kampf noch immer im vollem Gange, aber es war mir, als ob alles, was ich hörte, das Rauschen des Regens war, und alles, was ich sah, mein Gegner. Und es war ein gefährlicher Gegner. Gefährlicher noch als Goldzahn oder irgendwer anders sonst, gegen den ich in meinem Leben bislang gekämpft hatte. Ich hatte auf jeden Fall meine Zweifel, ob ich den Ensi von Eridu überhaupt würde besiegen können. Vor allen Dingen in meinem angeschlagenen Zustand.
     Aber dennoch schien auch Enlil mich nicht auf die leichte Schulter zu nehmen. Wir umkreisten uns eine ganze Weile, in der ich nicht daran dachte, den ersten Angriff zu unternehmen. Es wäre mein Tod gewesen, da war ich mir sicher. 
     Deshalb war es Enlil, der schließlich nach vorn preschte und einen kräftigen Schwertstreich auf mich niederfahren ließ. Ich hatte die Schilde anderen überlassen, die sie besser gebrauchen konnten, und deshalb musste ich mit meiner eigenen Klinge parieren. Ich dachte, dass es mir das Gelenk aus dem Arm reißen würde, als Enlils Hieb mein Schwert traf, aber ich behielt es fest in der Hand und tänzelte dafür ein paar Schritte zurück, um die Wucht abzufangen. Ich musste wahnsinnig aufpassen, nicht auszurutschen, aber ich schaffte es, auf den Beinen zu bleiben. Doch es brachte nichts; ich musste in den Angriff gehen, wenn ich auch nur den Hauch einer Chance haben wollte, diesen Kampf zu überleben.
     Also duckte ich mich unter seinem zweiten, hohen Streich hinweg und begann, ihn mit schnellen Attacken einzudecken. Enlil parierte aber jeden einzelnen meiner Angriffe mit Bravour, bis sich unsere Klingen schließlich ineinander verkeilten. Da nutzte er die Chance, mich mit seiner Schulter zurückzustoßen. Ich konnte mich gerade so noch abfangen und mich zur Seite drehen, bevor eine weitere Attacke mich entzwei teilte. 
     Doch Enlil war für seine Größe erstaunlich schnell. Er hatte sofort wieder ausgeholt und griff nun von der Seite an. Ich brachte meinen Arm im letzten Augenblick dazwischen, um mit dem Ellenbogen die stumpfe Seite zu erwischen, um sie abzulenken, aber er streifte trotzdem meinen Arm, und obendrein fuhr ein widerlicher Schmerz durch meinen Ellenbogen.
     Enlil jedoch ließ mir keine Sekunde Ruhe. Er trat mir die Füße weg, dass ich hart hinfiel. Ich rollte mich zur Seite, und der nächste Hieb traf den Boden, sodass massig Schlamm in die Höhe spritzte. Das gab mir genug Zeit, um auf die Beine zu kommen, aber da wusste ich schon längst, dass ich diesen Kampf nicht gewonnen konnte. Enlil war der beste und furchterregendste Kämpfer, den ich je erlebt hatte.
      „Komm endlich her, du miese kleine Ratte!“, knurrte er mit zusammengebissenen Zähnen, bevor er erneut auf mich zustürmte.
     Ich musste mir etwas einfallen lassen. Unberechenbarkeit war immer meine größte Stärke gewesen, und sie war momentan auch mein einziger Ausweg. Doch egal, wie fieberhaft ich auch nachdachte, mir wollte einfach nichts einfallen. Und Enlil hatte mich bald erreicht. 
     Ich wappnete mich schon für seinen nächsten Angriff, als plötzlich eine unglaubliche Schwäche von mir Besitz ergriff. Ein brennendes Kribbeln, das durch meinen ganzen Körper stürmte und ihn taub werden ließ. Meine Arme fielen schlaff hinab, das Schwert glitt mir aus der Hand, und als würde mich eine riesige Hand niederdrücken, ging ich zu Boden. Ich spürte den Windstoß, als Enlils Schwert über mir ins Leere ging, aber im nächsten Moment schon hatte ich die Klinge trotzdem auf mich gerichtet. Enlil stand über mir und er sah nicht so aus, als würde er zögern, mich zu töten. Und ich konnte keinen einzigen Muskel bewegen. Das war es also. Das erste Mal kämpfte ich nicht nur für mich und ausgerechnet jetzt musste ich verlieren!
     Als ich schon mit mir abgeschlossen hatte, schlossen sich plötzlich zwei Arme von hinten um Enlils Hals und er taumelte unbeholfen zurück, raus aus meinem Sichtfeld. Und alles, was ich hören konnte, war der Kampfeslärm um mich herum. Klinge, die auf Klinge traf, Geschrei und das Geräusch von reißendem Fleisch und brechenden Knochen. Ganz nahe hörte ich vage ein ersticktes Gurgeln, und es hörte sich so an, als würden da zwei miteinander ringen. Das ging eine ganze Weile so, in der ich nichts tun konnte, als dazuliegen und mir den Regen ins Gesicht fallen zu lassen, während ich mich fragte, was verdammt nochmal nur mit mir los war. Ich war schon zuvor geschwächt gewesen, ja, aber das erklärte nicht meine komplette Lähmung.
     Der Ringkampf endete abrupt mit einem dumpfen Geräusch, das sich anhörte, als würde etwas Schweres fallen. Dann war wieder nur der Kampfeslärm zu hören. Bis plötzlich und zu meinem Schrecken Marduk über mir erschien. Sein langes, schwarzes Haar hing in nassen Strähnen von seinem Kopf, und auch wenn der Regen bereits viel davon fortgewaschen hatte, war noch immer reichlich Blut auf seiner Kleidung zu sehen. In seiner Hand bemerkte ich ein Messer.
     Er hatte den Kopf zum Himmel erhoben, aber als er mich ansah, war sein Gesicht eine Fratze des Wahnsinns. „Ich habe ihn getötet!“, verkündete er. Dann brach er in schallendes Gelächter aus, die Arme links und rechts von sich ausgebreitet. „Er ist tot! Ich habe es geschafft! Ich bin frei!“
      Ich konnte seine Freude leider nicht so sehr teilen. Er hatte mich vielleicht vor Enlil gerettet, aber er bedeutete bestimmt trotzdem keine Rettung für mich. Als er neben mir in die Knie ging, durchzuckte mich sofort der Reflex, vor ihm zurückzuweichen, aber ich war ja noch immer gelähmt.
     „Armer Wulfgar!“, säuselte er. „Du fragst dich sicher, was mit dir los ist, nicht wahr?“
     Das tat ich in der Tat, aber ich konnte nicht einmal den Mund aufmachen, um nachzufragen. Ich war ein Gefangener in meinem eigenen Körper, und das war ein fürchterlich beängstigendes Gefühl.
     „Nun, ich werde es dir verraten.“ Er zeigte mir sein Messer, das nicht das war, das Leif jetzt hatte, wie ich wusste. „Das letzte Geschenk, das Utu mir machte, bevor er mich verließ, war ein Messer und ein bisschen Gift. Nichts tödliches, versteht sich. Dafür war er immer viel zu weichherzig. Aber es lähmt ganz gut, wie ich sehe. Auch wenn ich gehofft hatte, dass es schneller geht.“
     Der Schnitt an meiner Lippe. Da hatte er mich wohl vergiftet.
     „Eigentlich war das für Vater vorgesehen, aber ich mag es nicht, verraten zu werden, musst du wissen.“ Sein Grinsen verschwand und er wurde bitterböse. „Du solltest dein Gesicht besser unter Kontrolle bekommen. Aber dafür ist es jetzt sowieso zu spät. Du wirst jetzt hier sterben.“ Er schüttelte den Kopf, und ich konnte nicht sagen, ob er wirklich bedauernd aussah. „Du hättest mit mir zusammen die Welt bereisen können, aber du musstest mich ja verraten. Das hast du jetzt davon.“
      Er sah auf die Klinge in seiner Hand hinab und drehte sie eine Weile unschlüssig in den Händen, als würde er sich überlegen, mich nicht doch zu verschonen. Ich hoffte es zumindest. Dann aber kehrte sein kalter Blick zu mir zurück, und da wusste ich, dass er es tun würde.
     Er öffnete den Mund, um noch etwas zu sagen, aber ich würde nie erfahren, was er mir sagen wollte, denn im nächsten Moment bohrte sich eine Schwertspitze von hinten durch seine Brust. Seine Augen wurden riesengroß und er starrte darauf hinab, als würde er nicht verstehen. Ein bisschen so wie ich damals, als ein Pfeil in meiner Brust gesteckt hatte. 
     Dann wurde er mit einem Tritt nach vorn befördert und er verschwand aus meinem Sichtfeld. Dafür erschien jetzt ausgerechnet Ragna darin, ein Schwert in der Hand, und ein grimmiger, kalter Ausdruck in seinem Gesicht, den ich da zuvor noch nie gesehen hatte. Es war der Blick von jemandem, der getötet hatte. Der nichts mehr zu verlieren hatte. Er stach mehrmals zu, ich hörte es sogar, aber ich war froh, dass ich es nicht sehen konnte.
       Schließlich ließ er von Marduk ab, und da sah ich, dass seine rechte Hand fehlte. Ich hatte keine Ahnung, wann das passiert war, aber es sah nicht aus, als ob es eine allzu frische Verletzung war. Wahrscheinlich hatte Enlil ihm das angetan.
     Ich verscheuchte die unnützen Gedanken und sah Ragna abwartend an. Er war schon der Dritte, der jetzt mit der Waffe in der Hand über mir stand, und ich hätte es verstanden, wenn auch er mir ans Leder gewollt hätte. Ihm hätte ich es, ehrlich gesagt, sogar gegönnt. Ich hatte inzwischen nicht einmal mehr Angst davor zu sterben. Stattdessen hatte mich eine merkwürdige, innere Ruhe ergriffen.
      Doch anstatt mich zu töten, riss Ragna die Linke mit dem Schwert in die Höhe und rief laut: „Enlil ist tot!“
      Nach und nach verstummte der Kampfeslärm da und Stimmen wurden laut. Es war das Ende. Der Kampf war gewonnen.

„Und du hast Enlil echt nicht getötet?“, fragte mich Leif, als ich am späten Nachmittag zum Trainingshof zurückkehrte.
     Es hatte die ganze Nacht hindurch geregnet, aber inzwischen überspannte ein wunderbares Farbenspiel aus untergehender Sonne und Wolken den Himmel über uns. Aber dort, wo der riesige Scheiterhaufen brannte, schien er schon pechschwarz zu sein.
     Ich riss meinen Blick von dem Spektakel und antwortete: „Nein, das war Marduks Verdienst.“
     „Schade, alle denken, dass du es warst. Es würde dich zur Legende machen.“ Er zuckte mit den Schultern. „Vielleicht solltest du es einfach behaupten. War eh keiner da, und Marduk vermisst auch keiner.“
     Ich wusste nicht, ob mich diese Aussage wütend machen sollte. Ich hatte nach dem Kampf einige Dinge über Marduk erfahren. Er war tatsächlich ein schrecklicher Mensch gewesen, der viele Dinge getan hatte, die man ihm nachgesagt hatte. Aber seitdem Utu in sein Leben getreten war, hatte sich das geändert. Seitdem hatte er niemanden mehr angefasst, wie die Wachen mir berichtet hatten. Aber sein Ruf hatte sowieso immer gereicht, um jeden sofort zum Reden zu bringen, wenn man ihm auch nur angedroht hatte, ihn zu Marduk zu schicken. 
     Marduk war also tatsächlich ein Monster gewesen, aber ich sah da vor allen Dingen seinen Vater in der Schuld. Denn Marduk hatte bewiesen, dass er durchaus auch anders sein konnte. Dass er sich ändern konnte. Dass Utu letztendlich gestorben war, war eine unglückliche Sache gewesen.
     Ich sah die Sache mit Marduk jedenfalls gespalten und ich wusste nicht, was ich letztendlich über ihn denken sollte. Ob ich traurig sein sollte, dass er nie die Welt sehen konnte oder froh sein, dass die Welt von ihm befreit worden war. Deshalb mahnte ich auch nur: „Du solltest nicht schlecht über Tote reden.“
      Leif rollte mit den Augen, unterließ aber weitere Kommentare. Stattdessen fragte er: „Und? Wo hast du ihn nun begraben?“
      Es war die einzige Sache gewesen, um die ich gebeten hatte. Marduk begraben zu dürfen. Ich fand es einfach nicht richtig, dass er mit seinem verhassten Vater zusammen auf dem Scheiterhaufen brannte. Deshalb hatte ich ihn in der Nähe des Meeres zu Grabe getragen. Gerade dort, wo die Bäume aufhörten, damit er noch einen Blick aufs Meer hatte. Er hatte sich immer gewünscht, es einmal zu sehen.
     Ich hatte einige böse Blicke dafür geerntet, aber wenn sie gedacht hatten, dass ich Enlil getötet hatte, war mir jetzt auch klar, warum sie meiner Bitte überhaupt stattgegeben hatten. 
     „Ich würde das lieber für mich behalten“, erwiderte ich zerknirscht.
     „Nicht mal mir kannst du es sagen?“
     „Tut mir leid. Aber ich will nicht, dass sein Grab geplündert wird.“ Ich schüttelte den Kopf. „Letztendlich hat er mir schließlich das Leben gerettet, und du weißt doch, wie das ist.“
     Leif bedachte mich lange mit einem Blick, den ich überhaupt nicht deuten konnte, bevor er sagte: „Du hast dich ganz schön verändert.“ Dann ging sein Blick zum Scheiterhaufen, der mitten im Hof brannte. „Aber das haben wir wohl alle. Nach all den… Dingen, die wir durchgemacht haben.“
      Ich sah ganz automatisch zu Ragna hinüber, der mit seiner Liebsten in einer Ecke stand und sie gerade äußerst leidenschaftlich küsste. Leif legte mir die Hand auf die Schulter, als er das sah.
     „Der wird schon wieder“, versicherte er. „Wenigstens haben sie nicht gewusst, dass er Linkshänder ist.“
     Es war mir damals bei den Trainingsstunden aufgefallen, als er seine Waffe immer in der linken Hand gehalten hatte.
     Als Leif meinen unglücklichen Blick sah, lachte er. „Mach nicht so ein Gesicht! Lass uns lieber feiern! Wir haben schließlich Enlil den Tyrannen gestürzt.“
      Das stimmte. Nach Enlils Tod hatten seine Leute beinahe augenblicklich die Waffen gestreckt. Nur ein paar wenige waren ihm so treu ergeben gewesen, dass sie bis zum Tod gekämpft hatten, aber der Großteil seiner Männer hatte mehr in Furcht und Abscheu vor ihrem Herrn gelebt und sie waren doch froh, ihn endlich los zu sein. Deswegen waren unter die Feierenden auch viele von Enlils ehemaligen Leuten gemischt. Wäre Enlil nicht vorzeitig gefallen, hätten wir aber verloren, da war ich mir ziemlich sicher.
     „Mir ist nicht so nach Feiern zumute.“ Ich seufzte. „Ich weiß ja nicht mal, wie es jetzt weitergehen soll.“
     „Ach komm schon, du trüber Topf! Vergiss doch einmal nur die Zukunft und lass es dir gutgehen!“
     Damit ging Leif von Dannen, und obwohl es so vieles gab, über das ich mir Gedanken machen musste, schob ich meine Sorgen das eine Mal noch zur Seite und folgte ihm.
     Es wurde ein ausgelassenes Fest. Ich bediente mich großzügig an den herzhaften Speisen, die sie aufgetischt hatten, aber vom Wein ließ ich größtenteils die Finger. Ich hätte ja auch gerne mit den Anderen getrunken, aber wie gesagt, ich wollte lieber nicht riskieren, im betrunkenen Zustand zu viele Dinge von mir preiszugeben, die vielleicht im Nachhinein ziemlich ungesund für mich waren.
     Leif hingegen langte kräftig zu und bald schon hatte er eine rote Nase und lallte bedenklich. Da steckten wir die Köpfe zusammen und sangen Lieder aus unserer Heimat, bis unsere Stimmen versagten. Es war seit Jahren das erste Mal, dass ich es genießen konnte, nicht allein zu sein, und das war ein verdammt gutes Gefühl.  

Die nächste Zeit wurde sehr geschäftig, und das nicht nur für mich. Da sie ihre Toten begruben, waren wir die folgenden Tage damit beschäftigt, zahlreiche Gräber auszuheben. 
     Währenddessen ernannte sich einer von Enlils ehemaligen hohen Tieren, Gilgamesh sein Name, selber zum neuen Oberhaupt der Stadt. Er bestand darauf, dass sie ihn lugal, König, nannten, was doch schon wieder sehr nach Despoten roch, wenn man mich fragte, aber das tat ja niemand. Er hatte jedenfalls die volle Unterstützung ihres neuen Oberpriesters Enkidu, der meisten Krieger und ihres Gottes, wie er sagte, und deshalb konnte niemand etwas dagegen tun. Immerhin versicherte er den ehemaligen Gefangenen der Eisenstadt Ur (deren Namen ich inzwischen auch erfahren hatte) freien Abzug aus der Stadt.
      Auf Reparationen konnten sie aber lange warten, und deshalb lag es an den Bewohnern von Ur selber, die Stadt wieder aufzubauen. Leif, der nichts mehr davon wissen wollte, einem weiteren (möglicherweise tyrannischen) Herrscher zu dienen, ging mit ihnen, und auch ich schloss mich ihnen an, um zu helfen. Da er aber viel mit der Planung des Wiederaufbaus zu tun hatte, sah ich ihn die nächsten Monate höchstens mal an den Abenden. 
     Dafür kam ich in den Genuss, öfter mit Ragna arbeiten zu dürfen. Seine messerstechende Freundin Puabi war auch andauernd zugegegen, und da sie nicht nur schwanger, sondern auch frischverliebt waren, durfte ich mir die ganze Zeit ihr Geturtel antun.
      Ich versuchte mehr als einmal, mit Ragna zu reden und mich zu entschuldigen, aber er redete nach wie vor kein Wort mit mir. An einem der letzten sonnigen Tage aber, war ich Puabi wohl endlich lang genug auf den Knien rumgerutscht, und sie erbarmte sich, mit mir zu sprechen, als Ragna gerade gegangen war, um Lehmziegel zu schichten.
     „Nimm es dir nicht zu sehr zu Herzen, dass er nicht mit dir spricht“, hatte sie zögerlich begonnen.   
     Ich war überrascht, dass sie überhaupt mit mir sprach, da sie mich all die Zeit ebenfalls ignoriert hatte.
     „Er muss ja nicht mit mir reden, aber ich will einfach wiedergutmachen, was ich angerichtet habe.“ Ich fuhr mir mit dem Daumen über die Stirn und seufzte. „Wenn ich ihm einfach wegen seiner Schwester geholfen hätte, ohne auf eine Bezahlung zu bestehen, wäre er mir nicht nach Eridu gefolgt.“
     „Und hätte mich nie getroffen“, unterbrach sie mich. 
     Plötzlich breitete sich ein warmes Lächeln auf ihrem Gesicht aus und sie strich über ihren noch immer flachen Bauch. Da sie Ragna erst ein seit kurzem kannte, musste sie noch ganz am Anfang ihrer Schwangerschaft sein. 
     „Er ist sauer auf dich, ja, aber er weiß auch, dass wir uns nie getroffen hätten, wenn du nicht gewesen wärst.“ Sie sah mich an. „Und dafür bin auch ich dir dankbar. Ragna auch. Irgendwie. Er weiß nur nicht, wie er sich dir gegenüber verhalten soll. Ob er sauer sein soll oder nicht. Ich glaube, es wäre das Beste, wenn ihr das Ganze einfach ruhen lasst.“
     Wir schwiegen einen Moment, bevor ich fragte: „Und? Plant ihr hierzubleiben?“
     Sie schüttelte den Kopf. „Wenn das Kind da ist, wollen wir zum Hof seiner Eltern gehen. Sie kommen von jenseits des Gebirges, aus dem Norden, und da gelten meine Narben als Stärke, hat er mir erzählt.“
     Ich hatte keine Ahnung gehabt, dass Ragna ebenfalls aus dem Ort kam, der inzwischen überflutet war und an dem auch ich und Leif einst gelebt hatten. Aber ich sagte nur: „Dann pass gut auf deinen Ragna auf. Sein älterer Bruder hält ein paar zu große Stücke auf sich.“
     „Ich werde ihm Feuer unterm Hintern machen, wenn er meinen Ragna ärgert!“, lachte sie.
     Wir tauschten noch einen Blick, dann ging auch sie von Dannen. Aber sie hielt noch einmal inne. „Tut mir übrigens leid wegen der Sache mit dem Abstecher“, meinte sie beschämt.
     Ich winkte ab, sie lächelte mir dankbar zu und dann war sie weg. Zeit, dass ich wieder an die Arbeit ging. Es warteten noch einige Häuser darauf, wiederaufgebaut zu werden.

Neben dem Wiederaufbau der Stadt, half ich auch dabei, Kanäle anzulegen, um das umliegende Schwemmland der beiden Flüsse trockenzulegen. Sie leiteten das überflüssige Wasser auf diese Weise tatsächlich auf die Felder, wo es gebraucht wurde. Ich konnte den Erfindungsreichtum, den manche Leute so hatten, wirklich nur bewundern, als ich das sah. Isaac wäre auch hellauf begeistert davon gewesen.
     Als dann die meisten Häuser wieder standen, besser und fester noch, als davor, und die Kanäle angelegt waren, begann ich, mir ein neues Boot zu bauen. Da man mir leider meinen Beutel voll Gold und Silber und meine Sachen genommen hatte, musste ich jede Arbeit mitnehmen, die ich kriegen konnte, um genug zu haben, wenigstens einen Schiffbauer zu bezahlen, dass er ab und an mal einen Blick auf mein abenteuerliches Bauwerk warf. Isaac hätte die Hände überm Kopf zusammengeschlagen, wenn er das gesehen hätte. 
     Ich war jedenfalls schon froh, dass ich meine Kleidung und mein Messer wiederbekam. Proviant und ein neues Schwert brauchte ich auch noch, deshalb zog sich alles ein bisschen hin.
     Ich verbrachte also den Herbst und den Winter in Ur, wo Leif mich in seinem neugebauten Haus aufnahm. Wie er mir erzählt hatte, wollte er wohl nach den Aufbauarbeiten hierbleiben und die örtliche Miliz ausbilden. Ich hatte ihm, als Dank für seine Gastfreundschaft, auch gleich mal ein paar meiner Geheimgriffe und Tricks beigebracht.

An einem meiner letzten Abende drängte ich mich gerade durch die inzwischen ziemlich enggewordenen Gassen von Ur, um zu Leifs Haus zu kommen. Die Stadt hatte die letzte Zeit einige Neuzugänge aus Eridu und der Umgebung bekommen, und man hatte wesentlich mehr Häuser gebaut, als dass es vor dem Angriff hier gegeben hatte. Es waren auch keine strohgedeckten Gebäude mehr, sondern die hellen Lehmkaten, die es auch in Eridu gab. Sogar einen kleinen Tempel hatten sie errichtet, den sie ihrem Schutzgott Nanna gewidmet hatten.
     Es strömten mir jedenfalls so viele Menschen entgegen, dass ich es doch ein bisschen mit der alten Angst zu tun bekam, mit zu vielen Leuten eingepfercht zu sein. Ich war die letzten Jahre über so sehr auf Abstand zu allen anderen gegangen, dass es mir immer noch manchmal schwer fiel, nicht mehr allein zu sein. Vor allen Dingen die Vorsicht und das Misstrauen waren schwer abzulegen. 
     Deswegen war ich erleichtert, als ich endlich mein Ziel erreichte, die Leiter aufs Dach stieg und wieder frei atmen konnte. Ich ging übers Dach rüber zum Nachbarhaus, wo Leif wohnte, und stieg die quadratische Öffnung hinab. Es war definitiv platzsparend für die Stadt, aber immer noch ungewohnt für mich, auf diese Weise ein Haus zu betreten.  
     Im Inneren empfing mich eine angenehme Kühle, was eine willkommene Abwechslung zur Hitze war, die momentan draußen herrschte. Ich konnte einfach nicht glauben, dass es erst Frühling sein sollte. Deswegen beeilte ich mich auch, den kleinen Innenhof zu überqueren, vorbei an der Vorratskammer, in dem ich die kostbaren schwarzen Stoffballen liegen sehen konnte, die sich Leif letztens hatte aufschwatzen lassen. Für seine Zukünftige oder so, wenn er denn mal eine hatte. 
     Über den Innenhof gelangte ich schließlich in die Küche. Irgendetwas buk gerade im runden Ofen in der Ecke und verströmte seinen wunderbaren Duft, aber es war nur Leif, der an dem niedrigen Tisch am anderen Ende des Raumes saß. Normalerweise teilte er sich das Haus mit einem netten Pärchen. Die, die er einst hatte retten wollen. Ich hatte gedacht, dass sie im See ertrunken waren, aber Enlil hatte auch sie rausgefischt. Als Sklaven waren sie viel zu wertvoll gewesen, um sie einfach untergehen zu lassen.  
     „Na? So allein heute?“, begrüßte ich ihn und ließ mich ihm gegenüber am Tisch nieder.
     Er hatte einen Becher vor sich, schob ihn jetzt aber lustlos hin und her, während er mit den Schultern zuckte. Er hatte seit neuestem einen Abklatsch von einem Bart im Gesicht, der seine Wangen erstaunlicherweise noch eingefallener aussehen ließ, auch wenn er inzwischen wieder vollends auf den Beinen war. Es stand ihm überhaupt nicht. 
     Ich schnappte mir seinen Becher, als er mir nicht antwortete und trank den Schluck Bier, der sich noch darin befand. Er sagte kein Wort dazu.
     „Du siehst fertig aus. Was ist los?“
     Seine grauen Augen zuckten kurz zu mir, dann starrte er zur Decke. „Die Bälger hier wissen nicht mal, wie man eine Waffe hält.“
     „Das wirst du ihnen schon beibringen, da bin ich mir sicher.“
     „Hm.“
     „Die feiern draußen die Einweihung der Stadt“, wechselte ich das Thema. „Beweg deinen Hintern da hin; schlafen kannst du auch noch später, alter Mann!“
     Ich klopfte ihm über den Tisch hinweg auf die Schulter und stand dann wieder auf. Aber Leif machte keine Anstalten, es mir gleichzutun. Er war seit ein paar Tagen schon merkwürdig, fiel mir auf. Ich konnte nicht genau sagen, seit wann, aber mindestens seitdem ich ihn auf die Jungfernfahrt meines neuen Bootes mitgenommen hatte. Es war nicht mal ansatzweise so gut, wie Isaacs Meisterwerk, aber es war immerhin nicht untergegangen.
     „Komm schon! Oder muss ich dir echt auf die Beine helfen?“, neckte ich ihn.
     Es klappte, da Leif sich jetzt murrend erhob, aber trotzdem trottete er mir lustlos hinterher. Ich hoffte nur, dass die Feier und ein paar Becher Wein ihn auf andere Gedanken bringen konnten. Was auch immer ihn bedrückte.

Der Alkohol tat seine Wirkung tatsächlich. Wir waren kaum durch die Stadttore auf den großen Platz getreten, auf dem sie ein Freudenfeuer in sicherer Entfernung zur Stadt entzündet hatten und um das gerade junge Mädchen in einem Reigen zu Musik tanzten, da war er auch schon beim nächsten Krug. Wie immer, wenn er trank, dauerte es da auch nicht lange, bis er wieder seine rote Nase und sein Lallen hatte und wieder neben mir saß. Ich hatte es mir gerade mit einem schönen Stück Schweinebraten gemütlich gemacht, als er ankam und seinen Arm so heftig um meine Schulter legte, dass ich beinahe umfiel.
     „He, sag mal, Wulf, wo willst du überhaupt hingehen? Also mit deinem Boot und so, meine ich.“
     Ich hatte noch nicht im Detail darüber nachgedacht. Ich wusste nur, dass es Zeit war, weiterzuziehen. Ich hatte hier geholfen, wo ich nur konnte, und da draußen waren noch genug andere, denen ich vielleicht auch helfen konnte. 
     „Keine Ahnung. Vielleicht gehe ich ja zurück nach Hause“, sagte ich schließlich. 
     Es war mehr im Scherz gesagt, aber vielleicht würde ich es ja trotzdem einfach machen. Einfach mal Zuhause vorbeischauen. Leif jedoch sah mit einem Mal bedrückt aus. Es war nur ein Moment, aber ich sah es trotzdem.
     „Du könntest auch einfach hier bleiben.“ Er machte eine Pause. „Bei mir.“ Er grinste anzüglich. „Du könntest mein Frauchen werden.“
     „Ich bin aber kein „Frauchen““, erinnerte ich.
     „Na und?“
     Ich roch seinen weinschweren Atem, so nah war er mir gekommen, und ich musste einen langen Hals machen, um ihm zu entkommen. „Du bist total besoffen, Mann!“
     Da drehte er sich endlich weg. Nicht, dass er mir den Gefallen tat, mich loszulassen. 
     „Vielleicht“, sagte er.
     Dann drückte er seinen Arm einen Moment fester um mich, bevor er mich endlich fahren ließ. Ich war, ehrlich gesagt, ein bisschen irritiert. Ich hatte keine Ahnung, was das zu bedeuten hatte. Und als ich ihn jetzt ansah, war sein Gesicht ausdruckslos. Meinte er das tatsächlich ernst oder erlaubte er sich nur einen Spaß mit mir, weil er betrunken war? Ich hatte inzwischen erfahren, dass die Leute hier kein Problem mit Leuten wie mir hatten. Im Gegenteil. Sie waren hier überaus offen mit ihrer Sexualität. So sehr, dass es mir selber schon manchmal ein bisschen unangenehm war.
     Doch ich schob die Frage beiseite. Ich wollte eigentlich nicht darüber nachdenken, weil es nicht wichtig für mich war. Ich wusste, dass ich niemals hierbleiben könnte, dafür war zu viel passiert, und ich wusste, dass Leif hier gebraucht wurde.
     Deswegen riss ich meinem Blick von ihm los und sagte: „Du bist eh nicht mein Typ.“
     Damit war alles gesagt. Leif war danach wieder am Lachen und Scherzen.
     „Vielleicht komm ich ja einfach mit dir“, meinte er noch, aber ich ging nicht weiter darauf ein.
     Als er kurz darauf zu einer der Frauen torkelte, beschloss ich, die Sache einfach zu vergessen. 
____________________________

Anmerkungen

Gilgamesch ist der Held des gleichnamigen Gilgamesch-Epos und (mutmaßlich) ein König der Stadt Uruk gewesen.

Ur war eine bedeutende Stadt der Sumerer in ihrer Endzeit.

Puabi war mutmaßlich eine Königin oder Priesterin aus der Stadt Ur.

Nanna war der Mondgott der Sumerer und der Schutzgott von Ur 

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen