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Sonntag, 16. Dezember 2018

Kapitel 20 - Aufwachen


Im Folgenden kam ich erstmals in den Genuss, auf einem Pferd zu reiten, auf was ich im Nachhinein aber lieber verzichtet hätte. Es war holprig, immer mal wieder schmerzhaft, und ich war ein bisschen besorgt, dass ich einfach runterfallen würde, so sehr, wie Enkidu uns antrieb.
     Auch als wir Eridu erreichten, saßen wir nicht ab. Zweimal musste ein Fußgänger uns aus dem Weg springen, aber glücklicherweise war es so spät, dass die Straßen inzwischen weitgehend geleert waren. Deshalb kamen wir gut voran, und nachdem wir uns durch die engeren Gassen gequetscht hatten, die uns ziemlich drosselten, erreichten wir endlich den Tempelbezirk. Doch schon von weitem sah ich, dass etwas vorgefallen sein musste. Da baumelten dunkle Schemen oben an der Pforte, die ich als Körper erkannte. Enlil musste wohl mal wieder ein paar Exempel statuiert haben.
     Als wir durch die Pforte ritten, sah ich die Sorge auch auf den Gesichtern der anderen Reiter, während ich versuchte, tapfer auszusehen. Das gelang mir gut, bis ich in einem der Gehängten ausgerechnet den Priester Utu erkannte. Da entglitt mir das Gesicht doch für einen kurzen Moment, aber da noch immer alle mit Gaffen beschäftigt waren bemerkte es niemand.
     Eine weitere Sache, die heute anders war, war der lautstarke und anhaltende Schrei, der den ganzen Vorhof zu erfüllen schien. 
     Nachdem wir vorm Stall abgestiegen waren, nutzte ich die Chance, nachzufragen: „Was ist das für ein Lärm?“
     Enkidu streifte mich kurz mit einem Blick, als wolle er lieber nichts sagen, und er blieb tatsächlich stumm und suchte lieber das Weite. Der junge Stallbursche, der hinzugekommen war, um die Pferde in Empfang zu nehmen, war aber glücklicherweise redseliger. „Das kommt aus Marduks Quartier“, sagte er, und anscheinend war damit für alle anderen klar, was los war. Nur für mich nicht.
     „Wer ist Marduk?“, fragte ich nach.
     Erschrockene Augenpaare trafen mich unvermittelt.
     Es war Leif, der mit einem ebenso unwilligen Gesichtsausdruck wie Enkidu erklärte: „Er ist Enlils Sohn.“
      „Er hat einen Sohn?“ Als Leif nickte, fragte ich weiter: „Warum sieht man ihn nie?“
      „Weil er ihn eingesperrt hält“, antwortete mir einer der Anderen.
      Scheinbar war das hier kein sehr gern besprochenes Thema. Jedenfalls musste man den Leuten alles darüber aus der Nase ziehen. Als ich nach dem Warum gefragt hatte, sah es auch erst so aus, als würde ich keine Antwort darauf bekommen. Dann sagte Leif aber flüsternd: „Weil er noch grausamer sein soll, als Enlil.“
     „Man sagt sogar, dass Enlil Angst vor ihm haben soll“, fügte ein dritter noch leiser hinzu. „Deshalb hält er ihn eingesperrt, weil er weiß, dass Marduk ihn hinterrücks abstechen würde, wenn er es nicht täte. Enlil hätte ihn auch schon längst getötet, wenn er nicht sein einziger Erbe wäre, das weiß jeder. Aber er kann ja“, er wurde noch leiser, „keine Kinder mehr machen.“
     „Alle sagen, dass er deshalb auch Utu hat hängen lassen“, erzählte der Stallbursche, während er hinter sich auf den toten Priester wies. „Er hat ja schon seit langem Enlils Aufgabe bei der Heiligen Hochzeit übernommen.“
     „Was ist das jetzt schon wieder?“
     Der Stallbursche sah mich an. Er schien auch keine Angst vor mir zu haben, fiel mir auf. „Du kommst echt nicht von hier, was? Unser Ensi muss die Heilige Hochzeit in Stellvertretung der Götter mit der Oberpriesterin vollziehen, damit das Land für das kommende Jahr fruchtbar ist.“
     „Du kannst dir vorstellen, was sie da machen“, half Leif aus. „Und Enlil kann das nicht mehr. Deshalb sind die Leute aufgebracht. Dann noch die Missernte nach dem heißen Sommer letztes Jahr… Viele wollten seitdem, dass Utu Enlils Amt übernimmt. Damit er als rechtmäßiger Ensi die Heilige Hochzeit richtig vollziehen und das Land fruchtbar machen kann.“ Er zuckte mit den Schultern und nuschelte dann ein bisschen: „Ich glaub da ja nicht dran, aber die Leute hier sind ziemlich abergläubisch, musst du wissen.“
     Er bekam ein paar bitterböse Blicke ab, weshalb er sich beeilte, das Thema zu wechseln: „Naja, aber jetzt, wo Utu tot ist, wird es wohl doch erst Marduk sein, der seinem Vater als Ensi folgen wird.“
     Sofort war es still und alle schauten ganz betroffen. Als ich jetzt Zeit hatte, meine Gedanken zu ordnen, kam mir plötzlich die nächtliche Begegnung mit dem Schwarzhaarigen in den Sinn, den ich mit Utu zusammen gesehen hatte, und da war mir alles klar. Die Augen, die auch Enlil hatte und die so voller Wut gewesen waren. Das musste wohl Marduk gewesen sein. Er war nicht sonderlich beeindruckend gewesen, aber verdammt hinterhältig und furchteinflößend, das musste sogar ich zugeben.
      „Da tut einem das arme Schwein ja schon fast leid, das sie da zu ihm geschickt haben“, hörte ich einen der Anderen sagen.
      „Was meinst du damit?“, fragte ich.
      „Wenn jemand was richtig Schweres verbrochen hat oder sie jemanden brechen wollen, schicken sie ihn zu Marduk.“
      Erneut musste ich daran denken, wie ich Utu und Marduk erwischt hatte, und ich bezweifelte ehrlich gesagt, dass es gerade ein armes Schwein war, das unter Marduk zu leiden hatte, das da schrie. Ich glaubte viel eher, dass es Marduk selber war. Ich hatte schließlich gesehen, wie er Utu angesehen hatte und jetzt hing der Priester tot an der Pforte. Eigentlich hatte ich nie mehr wirklich darüber nachgedacht, aber jetzt brach mir plötzlich der kalte Schweiß auf der Stirn aus.
      „Was macht er denn mit ihnen?“, fing ich zögerlich an. „Vergreift er sich an ihnen oder was?“
      Ich wollte lapidar klingen, so wie immer, doch es gelang mir nur unzureichend. Aber scheinbar bekam es niemand mit. Ich bekam zwar ein paar überraschte Blicke ab, aber alles, was sie sagten, war: „Ja. Woher weißt du das?“ Und: „Jeder weiß, dass Marduk die Frauen hasst.“
     Sie erzählten noch weiter, aber ich hörte schon nicht mehr hin. Ich hatte es ja schon befürchtet, nachdem ich ihn und Utu zusammen gesehen hatte. An diesem Tag war es kein Gefangener, der in Marduks Quartier schrie, sondern ein Liebender, dem man seinen Liebsten genommen hatte.
      Jetzt wollte ich nur noch mehr von hier verschwinden. So etwas bedeutete immer nur Ärger.

Die nächste Zeit glich der Tempelbezirk einer Hochsicherheitsfestung und ich bekam keine Gelegenheit dazu, mich aus dem Staub zu machen. Enlil war nach dem Gefangenenaufstand, hinter dem sein Schreiber Utu gesteckt hatte, misstrauischer und mürrischer als jemals zuvor, weshalb jeder froh war, wenn er nicht mit ihm zu tun bekam. Ich hatte, für meinen Geschmack, leider ein paarmal zu viel die Ehre, wenn er mich rufen ließ, um irgendwelche Berichte zu bekommen, Strafen zu vollziehen oder arme Schweine bei den Wachen von Marduk abzuliefern. Ich konnte verhindern, dass irgendwer eine Gliedmaße, sein Augenlicht oder sein Leben verlor, aber bei den armen Schweinen konnte ich leider nichts machen.
     Das Schreien von Marduk hatte beinahe die ganze Nacht lang angedauert und war auch am nächsten Tag immer mal wieder zu hören gewesen, aber seit ein paar Tagen war es beinahe unheimlich still geworden. Und das galt nicht nur für Marduk, sondern auch für seinen Vater. Enlil hatte sich zurückgezogen, in seiner Halle verschanzt, und ließ nur noch ein paar wenige Vertraute zu sich. Glücklicherweise gehörte ich nicht dazu, weshalb ich seit zwei Tagen alle seine Befehle durch einen Boten übermittelt bekam, was es aber trotzdem nicht besser machte. Der Knoten in meinem Bauch, wenn ich einen der Gefangenen holen musste, ging davon jedenfalls nicht weg.  
     Zu allem Überfluss meinte Leif, es schlimmer machen zu müssen, indem er immer wieder ankam und mich auf die elendigen Verhältnisse aufmerksam machte, die bei den Gefangenen herrschten. Ich sagte ihm nicht nur einmal drohend, dass er mich in Ruhe damit lassen sollte, aber er blieb unbeeindruckt. Obwohl er wusste, dass ich vielleicht irgendwann mal Enlils rechte Hand werden könnte, schien er der Einzige zu sein, der weiterhin keine Angst vor mir hatte. Auch mein einer Schlag, der ihn in die Bewusstlosigkeit katapultierte, änderte das nicht.
     Es herrschte eine schreckliche Angst in der ganzen Stadt, als es kurz darauf auch noch anfing zu regnen und nicht mehr aufhören wollte. Die Stimmung, die davor schon nicht gut gewesen war, schien da endgültig zu kippen, als wir drinnen zusammengepfercht waren. 
     Aber schließlich brach die Sonne wieder durch die Wolken und ich bekam endlich meine Chance zu Flucht.

Enlil hatte mich geschickt, um mich in der Stadt unauffällig nach weiteren Verschwörern umzuhören. Da ich als Utus Schüler bekannt war, hoffte er, dass mir vielleicht ein paar der Verschwörer vertrauen würden. Deswegen sollte ich auch allein gehen. Aber ich hatte natürlich alles andere vor, als zu tun, was er mir aufgetragen hatte. Ich machte mich stattdessen schnurstraks auf zum Hafen.  
     Es war gerade Abend, die meisten Leute kamen von den Feldern und ihren anderen Arbeiten heim, sodass es richtig überfüllt in den engen Gassen war. Deshalb kam ich wohl auch unbehelligt bis zu meinem Boot und konnte es sogar fast gänzlich ins Wasser schieben, bevor mich jemand entdeckte. Es war nur Leif, aber ich konnte wirklich nicht sagen, ob das jetzt gut für mich war oder nicht. Vor allen Dingen, als ich sah, dass er zwei ziemlich zwielichtige Gestalten bei sich hatte, die unter Umhängen verborgen waren.
     „Ich hab mir schon gedacht, dass du dich dünne machst“, eröffnete er. „Ich hab’s, ehrlich gesagt, ja gehofft.“ Er nickte zu meinem Boot, das sich niemand getraut hatte, anzufassen. Das einzig Gute an Enlils strenger Regentschaft. „Du hast doch nichts dagegen, uns mitzunehmen, oder? Wo wir doch alte Freunde sind.“
      Ich wollte ihm sagen, dass wir das ganz sicher nicht sind, aber da merkte ich plötzlich einen fiesen Stich im Rücken. Als ich einen Blick über die Schulter riskierte, sah ich, dass es die Frau mit den Pockennarben war, die mir das Messer zwischen die Nieren gerammt hatte. Sie war so leise und unauffällig gewesen, wie ich sie in Erinnerung hatte, sodass ich sie bis jetzt nicht einmal bemerkt hatte. Und sie wusste, was sie tat. Hätte ich nicht gerade ihr Messer in mir, hätte ich sie schon längst davon befreit. So aber war ich gezwungen, stillzuhalten.
     „Ich bin mir sicher, er wird dir gerne sein Boot überlassen, und dann kommt er schön mit mir, um meinen Ragna zu befreien. Wo er sich doch so gut mit Enlil versteht, nicht wahr?“, giftete sie.
     Ich hatte ja schon immer gewusst, dass sie Ärger bedeuten würde.
     Leif ließ sich derweil nicht zweimal bitten. Er ergriff sofort die Chance und ging mit seinen Begleitern, in denen ich die beiden Gefangenen aus der Eisenstadt erkannte, an mir vorbei zu meinem Boot. 
     Doch er kam nicht weit. Ein Pfeil in seinem Rücken beendete seine Flucht vorzeitig und er fiel unter dem Geschrei der Gefangenen ins Wasser. Enlil tauchte auf und die Frau mit den Pockennarben nutzte seinen Auftritt gleich mal dazu, sich unauffällig aus dem Staub zu machen. Ihr Messer ließ sie netterweise bei mir zurück. Ich ließ es aber lieber da, wo es war, da ich gerade keine Zeit hatte, mich darum zu kümmern, ohne mich selber aufzuschlitzen.
     Enlil hatte sechs seiner eigenen Männer dabei, einer davon mit einem Bogen, aber ich wusste schon anhand seines Gesichtsausdrucks, dass er keine Rettung für mich bedeutete.
     „So! So! Mein Instinkt hat mich also nicht getäuscht. Da sind noch mehr Verräter in meinen Reihen. Und wen finde ich unter ihnen? Niemand geringeren als den Mann, den ich zu meinem Stellvertreter machen wollte.“ Er starrte mich böse an. „Ich muss deinen Ehrgeiz ja bewundern, dass du dich nicht mit dem zweiten Platz zufriedengibst, aber ich hatte nicht von dir erwartet, dass du so hinterhältig vorgehen würdest. So kann man sich täuschen.“
      Er nickte seinen Leuten zu und zwei kamen, um mich gefangen zu nehmen. Ich hätte ihm ja gesagt, dass ich nichts mit seinen Verschwörern zu tun hatte und mir das alles hinten herum vorbeiging, aber ich war hier, am Hafen, und nicht in der Stadt, um mich umzuhören, wie er es mir befohlen hatte. Er würde mir nicht glauben und es war eigentlich auch egal, ob ich nun mit den Verschwörern paktierte oder nur desertieren wollte, er würde mich sowieso einen Kopf kürzer machen, da konnte ich Gift drauf nehmen.
      Also riskierte ich alles. Ich erlaubte mir nicht einmal, Angst zu haben, konzentrierte mich nur auf den Schmerz zwischen meinen Nieren und preschte dann blitzschnell nach vorn. Wie schon damals auf Ragnas Hof knallte ich die Köpfe der beiden Männer, die auf mich zukamen, zusammen, bevor die reagieren konnten und schickte sie damit in die Bewusstlosigkeit. Einen ließ ich zu Boden gehen, den Anderen benutzte ich als Schild gegen den einen Bogenschützen, den Enlil mitgebracht hatte. Der war glücklicherweise überfordert, da er nicht auf seinen eigenen Kumpanen schießen wollte, und tat nicht, was Enlil ihm befahl. Auch alle anderen Männer waren erstarrt. 
     Sein Zögern und die allgemeine Verwirrung nutzte ich, um meinen Schild fallen zu lassen und geduckt nach vorn zu springen. Ich erreichte den Bogenschützen, bevor der reagieren konnte und hatte dem überrumpelten Mann seine Waffe aus der Hand gerissen.
     Jetzt, da ich einen Bogen hatte, traute sich erst recht keiner mehr, mich anzugreifen. Ich hatte nur einen Pfeil, aber da niemand riskieren wollte, ihn abzubekommen, wurden Enlils Befehle erneut ignoriert. Was mich wunderte. Ein Pfeil im Kopf schien mir jedenfalls eine angenehmere Vorstellung zu sein, als sich später Enlils Wut aussetzen zu müssen. Ich ließ mich vorsichtig, aber schleunigst zurückfallen, den Pfeil immer wieder auf jemand anderen gerichtet.
     Enlil, dem es jetzt wohl reichte, dass man ihn ignorierte, nahm es schließlich selbst in die Hand. Er zog sein Schwert und kam bedrohlich auf mich zu. Bevor ich mein Boot erreichte, schoss ich meinen einzigen Pfeil auf ihn, aber er wehrte ihn unbeeindruckt mit seiner Klinge ab und sprang nach vorn, um mich zu packen. 
     Doch er kam zu spät. Sobald ich den Pfeil abgeschossen hatte, hatte ich den Bogen weggeworfen, war umgedreht und war mit Anlauf in mein Boot gesprungen, sodass es schon durch den Schwung meines Sprungs ein Stück weit auf den See hinausfuhr. Enlil zögerte da noch, mir nachzuspringen. Anscheinend konnte er nicht schwimmen. Mein Glück.
     Da ich inzwischen ein geübter Segler war, hatte ich im Handumdrehen das Segel gesetzt und war auf und davon, bevor er sich doch noch dazu entschließen konnte zu riskieren, mir nachzusetzen.

Ich hatte nicht mehr auf die beiden Gefangenen geachtet, die Leif mitgebracht hatte, aber als sich mein rasendes Herz nun langsam wieder beruhigte, bemerkte ich, dass sie ebenfalls mit an Bord waren. 
     Doch ich hatte gar keine Zeit, mich um sie zu kümmern oder mich damit zu befassen, was ich mit ihnen tun sollte, da ich sah, dass Enlil Anstalten machte, uns zu folgen. Er sprang in ein anderes Segelboot und auch wenn er länger brauchte, um abzulegen und sein Gefährt scheinbar langsamer war als meines, beschleunigte sich mein Puls augenblicklich. Und das zu Recht.
      Noch bevor ich es sah, hörte ich das Surren, das ich seit der Schlacht überall wiedererkannt hätte. Tatsächlich konnte ich die Pfeile sogar sehen, die sie vom Hafen aus auf uns schossen. Wie es schien, hatten sie inzwischen Verstärkung bekommen und zu allem Überfluss waren die Pfeile als helle Leuchtsignale in der anbrechenden Nacht zu sehen. Sie schossen Brandpfeile auf uns! So ein Mist!
     Obwohl ich mein bestes versuchte, ihnen auszuweichen, wurden wir getroffen. Zuerst bohrten sie sich nur in die Seite des Bootes, sodass ich das ausbrechende Feuer schnell wieder unter Kontrolle bekam, aber dann schließlich wurde das Segel getroffen. Binnen eines Augenblickes stand es lichterloh in Flammen und als ich das sah, war es mir, als würde die Zeit stillstehen.
      Der Schrecken, den ich bislang erfolgreich zurückgehalten hatte, kam mit solcher Heftigkeit über mich, dass ich in die Knie ging. Es war, als würde ich das erste Mal erkennen, in welch brenzliger Situation ich mich befand. Doch obwohl ich um mein Leben hätte fürchten sollen, obwohl ich von Bord in die rettenden Fluten hätte springen können, blieb ich, und alles, was ich dachte, war: ‚Oh nein, mein Boot!‘ Isaacs Boot. Das Boot, an dem wir so lange zusammen gesessen hatten.
     Während die Welt um mich herum in Flammen aufging, kam alles zu mir zurück. Die Tage, die wir zusammen verbracht hatten. Die strahlend heiße Sonne. Blaue Lagunen voll unzähliger Fische, in denen sie geschwommen waren. Ich sah ihre Gesichter vor mir. Sah sie lachen. Und vor allen Dingen sah ich sie. Mari. Mein kleines Mädchen, an das ich mich nicht mehr erlaubt hatte zu denken, seitdem ich sie nicht hatte retten können. Die vielen Tage, die vielen Nächte, die ich seitdem ohne sie verbracht hatte. Sie waren so kalt und leer, so unendlich sinnlos gewesen. Ich hatte keine Ahnung, was ich die letzten Jahre über getan hatte oder warum ich etwas getan hatte. Es schien mir, als hätte ein anderer dieses Leben gelebt. Ein Fremder. Und plötzlich erkannte ich, dass es genauso war. Ich war ein Fremder. Ich wusste nicht mehr, wer ich war. Und ich hatte keine Kraft mehr weiterzumachen. Ich war zerbrochen.
     Also überließ ich mich den Flammen. Während die beiden Gefangenen über Bord gingen, umarmte ich den Tod und hieß ihn willkommen. Endlich. Nach so vielen Jahren.
     Doch plötzlich war da ein Schatten neben mir. Ich wurde am Arm zur Seite gerissen und dann sah ich eine Faust auf mich zufliegen, bevor der Schmerz meine Welt pechschwarz färbte.

Als ich wieder zu mir kam, wollte ich nichts lieber, als weiterzuschlafen. Aber sie ließen mich nicht. Ein brennender Schmerz riss mich unsanft aus meiner seligen Bewusstlosigkeit und ich roch den Geruch von verbranntem Haar und Fleisch. Meine Brust war ein einziger Knoten aus Feuer. Doch sie ließen mir gar keine Zeit, um zu Luft zu kommen.  
     Die nächste Zeit wurde der reinste Alptraum für mich. Irgendwann waren die Schmerzen so schlimm, dass ich wieder ohnmächtig wurde, nur, um gleich darauf wieder von ihnen aufgeweckt zu werden. Ab und an kam jemand, um mir Fragen zu stellen, die ich nicht beantworten konnte. Alles war so weit weg. So dumpf. Bis auf die Schmerzen. Ich sah Enlils kalte Augen, den Feuerschein einer Esse und dann brandete erneut eine brennend heiße Welle über mich hinweg.

Ich wollte nur noch liegen bleiben und sterben. Also tat ich das. Liegenbleiben zumindest. Ich lag da, spürte den Schnee an meiner Wange, der keinerlei Kälte ausstrahlte, und wartete darauf, dass der Tod über mich herfallen würde. Aber er tat mir leider nicht den Gefallen. Mein Herz schlug noch immer in meiner Brust und pumpte Blut durch meine Adern, mein Brustkorb hob und senkte sich, um meine Lungen mit Luft zu füllen, und ich konnte nichts dagegen tun.
     „Willst du etwa für immer da liegenbleiben?“, hörte ich Lu fragen.
     „Ja. Ich will nicht mehr.“
     „Also willst du davonlaufen? So, wie die letzten Jahre?“
     „So sieht es aus.“
     Eine Weile war es so still, dass mir mein Herz in den Ohren dröhnte. Dann sagte Lu: „So kenn ich dich gar nicht. Früher bist du nie weggelaufen.“
     Ich gab auf und richtete mich auf. Ich wünschte, der Wolf wäre dagewesen, um mich zu fressen, aber das war er leider nicht. Da war nur Lu, der neben mir im Schnee saß und der mich mit einem so verdammt ausdruckslosen Blick ansah, dass ich unmöglich sagen konnte, was er dachte. Nicht, dass es wichtig gewesen wäre. Nichts war mehr wichtig.
     „Anscheinend war ich früher stärker“, gab ich sarkastisch zurück.
     „Alle haben dich verprügelt, sogar die Frauen, aber du hast trotzdem nie aufgegeben. Damals fand ich dich besser.“ Leif hatte das auch gesagt. Ich fragte mich, was wohl aus ihm geworden war.
     „Ja, und du hast mich früher trotzdem gehasst“, lenkte ich ab. „Was macht das jetzt also für einen Unterschied, ob ich aufgebe oder nicht?“
     „Keinen. Aber was ich über dich denke ist auch nicht wichtig. Wichtig ist nur, was du gerade selber über dich denkst.“
     „Ich…“ Ich brach ab. Ich hasste mich. Ich hasste, was aus mir geworden war und was ich all die letzten Jahre über gewesen war. Die Erkenntnis traf mich unerwartet. Es war, als würde mir das Herz aus der Brust gerissen. Das Herz und meine Lungen dazu. Plötzlich fühlte ich mich so erstickt.         
     „Was soll ich deiner Meinung nach denn tun?“, rief ich verzweifelt. „Ich habe keine Ahnung, was ich tun soll! Du sagst, es ist falsch aufzugeben, aber ich kann nicht einfach wieder der sein, der ich früher war! Ich will das auch nicht mehr! Ich will nicht mehr lügen!“
     „Dann tu es nicht.“
     Ich wandte mich ab. Ich wollte nicht, dass irgendjemand meine Tränen sah. Die Gefühle, die ich all die Jahre in mir versteckt hatte. „Du sagst das so einfach, aber du hast ja keine Ahnung! Du sitzt noch immer irgendwo sicher in deinem Zuhause und du hast nie gesehen, wie es in der Welt zugeht! Und ich habe mir so verdammt viel zuschulden kommen lassen! Ich habe Dinge getan, die ich nie wieder gutmachen kann! Ich habe kein Recht mehr zu leben!“
       „Tun sie dir denn leid?“
       Ich wirbelte zu ihm herum. „Hörst du mir denn überhaupt zu? Ich kann sie nicht wiedergutmachen!“, brüllte ich ihn an. Ich war so wütend. So verzweifelt. So schuldig.
      „Aber du kannst von nun an dein bestes tun, um es besser zu machen. Um Sühne zu leisten.“
      Ich starrte ihn an. „Wie… könnte ich… Alle werden hassen, wer ich bin…“
      Plötzlich hatte er seine Hand auf meine gelegt und als ich ihn ansah, war es mir, als würde ich jemand anderem in die Augen schauen. „Greta mochte immer, wer du bist.“ Und dann sagte er etwas, das mir vollends den Rest gab. „Und Mari auch.“
     Ich konnte nicht mehr. Alles, was ich so lange zurückgehalten hatte, brach aus. Ich krümmte mich zusammen und flennte wie ein kleines Kind. Er hatte recht. Auch wenn die ganze Welt gegen mich gewesen war, waren sie immer für mich da gewesen. Meine Schwester. Meine Tochter. Mein kleines Mädchen, das man mir einfach so genommen hatte. Das hatte mich zerbrochen. Und die Angst, dass Greta mich auch noch verlassen haben könnte, hatte mir beinahe den Rest gegeben. Seitdem war ich aufgewühlt gewesen. Ich hatte Schuld um Schuld auf mich geladen, aber ich war immer nur davongelaufen. Es war kein Wunder, wenn sie mich wirklich hassen würde, wenn sie erführe, was ich getan hatte. Und vor allen Dingen, was ich im Begriff war zu tun: aufgeben.
      Ich spürte eine Hand auf meinem Rücken und als sie verschwand, blinzelte ich in den lichtlosen Feuerschein. Lu war aufgestanden, um zu gehen. Mich auch allein zu lassen. Ein widerlicher Stich durchfuhr mich und brachte mich auf die Beine, hin zu ihm. Er streckte mir die Hand hin und ich verschränkte meine Finger in seine. Ich hatte so eine Angst, aber solange ich nicht allein war, würde ich es schaffen, sagte ich mir. Wie damals, als Isaac meine Hand gehalten und mich ins Wasser geführt hatte.
    Ich wollte sie sehen, also ging ich voran. Hinein in den Schatten, in dem sie alle warteten. Mein Herz konnte sich nicht entscheiden, ob es jetzt voller Vorfreude, Angst oder Aufregung schlagen sollte. 
     Und dann war ich durch das Zwielicht gebrochen und sie waren alle da. Freunde, die ich zurückgelassen hatte, meine Familie, diejenigen, die nicht mehr waren und die ich wahrscheinlich nie wieder sehen würde. Und auch sie waren da und sahen mir erwartungsvoll entgegen. Greta, Isaac, Kane, Eris und sogar Ayra, der kleine Wulf und Shana. Und Mari. Mein kleines Mädchen. Sie war in Isaacs Schoß eingerollt, aber zu meiner unendlichen Erleichterung waren ihre Augen nicht weit aufgerissen. Sie waren geschlossen und sie atmete leicht und regelmäßig.
     Als ich Lus Hand losließ, wurde sie wach und einen Moment hatte ich Angst, dass sie mich nicht mehr sehen wollte. Aber dann zerfurchte ein Lächeln ihr kleines Gesicht, sie rief „Wulf-Papa“, was ich so vermisst hatte, und dann war sie nach vorn in meine Arme gesprungen.
     „Es tut mir so leid, Mari! Ich konnte dich nicht beschützen!“, weinte ich.
     Ich spürte, wie sie den Kopf schüttelte. „Wein nicht, Wulf-Papa, sonst werde ich auch ganz traurig.“
     Ich hielt sie, zitternd und voller Glück, und ich wollte sie nie wieder gehen lassen. Ich hatte sie so vermisst. 
     Doch plötzlich bohrte sich ein Schmerz in meine Seite und als ich nachsah, sah ich das Messer aus meinem Körper ragen, dessen Klinge noch heute mit getrocknetem Blut besudelt war, und ich erschrak zutiefst. Als ich mich hastig nach Mari umsah, war sie verschwunden und da war nur noch ein dunkler Schemen in meinen Armen. Auch alle anderen waren weg. Ich war allein. Allein mit meiner Angst und meiner Dunkelheit. Dann stach es mich erneut in die Seite und meine Welt wurde ein einziger, gleißender Schmerz.

„Wach auf, du Stück Dreck, sag ich!“   
     Ich wollte wütend sein, dass man mir Mari wieder genommen hatte, aber mein Körper schien ein einziger Schmerz zu sein, als ich wieder zu mir kam, und das lenkte mich ein bisschen ab. Ich hatte alle Mühe, überhaupt das Atmen anzufangen und nicht gleich wieder bewusstlos zu werden. Obwohl ich mir nichts sehnlicher gewünscht hätte. Ich wollte nur noch zurück, zu meinen Freunden und meiner Familie, und allen voran zu Mari. Also wollte ich die Augen wieder schließen und einschlafen, aber was ich dann sah, ließ mich hellwach werden.
     Da war Ragna vor mir. Er saß zusammengekrümmt an einer Wand und wurde nur unzureichend von einem Feuerschein in seinem Rücken beleuchtet. Trotzdem konnte ich den Schrecken auf seinem Gesicht sehen, als er bemerkte, dass ich ihn ansah.
     „Es tut mir so leid…“, wollte ich ihm sagen, aber meiner Kehle entwich mehr ein Krächzen, als eine Stimme. Ich wusste nicht, ob er mich gehört hatte. Erschrocken drehte er sich von mir weg. Immerhin schien er nicht verletzt zu sein. Er trug ein sauberes Gewand und er hatte nirgendwo eine sichtbare Verletzung. Aber das konnte täuschen, wie ich wusste.  
     „He, Marduk, du hast Besuch. Kümmer dich gefälligst drum!“, hörte ich eine tiefe Stimme hinter mir sagen.
     Schritte entfernten sich. Obwohl ich immer noch todmüde war, hob ich träge den Kopf und tatsächlich konnte ich da Marduk in einiger Entfernung vor mir sehen. Er saß auf ein paar Fellen, links und rechts von Feuerschalen flankiert als wäre er ein kostbares Ausstellungsstück. Aber er glich mehr einem Bild des Jammers, als einem prachtvollen Exponat, obwohl er dieselbe, schmuckvolle Kleidung trug, wie beim letzten Mal. Ich sah dunkle Flecken auf seinem Gesicht, seine Schultern hingen mutlos herab und seine Augen wirkten so leer, dass ich einen Moment dachte, er wäre tot. 
     Doch dann trafen seine dunklen Augen mich und das Leben kehrte in ihn zurück. Und die Wut. Diese verdammte Wut, die mich so sehr an seinen Vater erinnerte und die ich die letzte Zeit zur Genüge hatte sehen dürfen.
     Unwillkürlich wurde mir eiskalt.  
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Anmerkung: Marduk war ein babylonischer Gott.

Hier weiterlesen -> Kapitel 21 

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