Die nächsten Tage war ich nur damit beschäftigt, Marduk
von der Welt zu erzählen und dabei zu heilen. Er war ein guter Zuhörer. Am
zweiten Tag schon bekam ich seinen Wein, als ich ihm gerade eine
besonders spannende Geschichte erzählt hatte. Fleisch, Brot, Gemüse und Obst
hatte er für mich, und inzwischen hatte er sogar saubere Kleidung für mich
kommen lassen. Ich vermisste zwar meine Hosen, aber es half meiner Entzündung.
Und Marduk war überaus neugierig. Ständig fragte er mich Dinge, sodass er mir nur noch mehr wie ein wissbegieriges Kind vorkam.
Und Marduk war überaus neugierig. Ständig fragte er mich Dinge, sodass er mir nur noch mehr wie ein wissbegieriges Kind vorkam.
Deswegen waren
die Tage auch gut auszuhalten. Nur die Nächte waren etwas merkwürdig. Nach meiner
ersten Nacht hier war ich aufgewacht, Marduk selig an mich geschmiegt, und das
hatte mir doch einen ganz gehörigen Schrecken eingejagt. Marduk war der
Inbegriff von Einsamkeit, das war mir schon aufgefallen, aber ich hatte immer
noch nicht vor, ihn an mich ranzulassen, egal, was uns auch verbinden mochte.
Dieses Thema
war übrigens das Einzige, über das Marduk bereit war, mit mir zu sprechen. Ich
wusste immer noch nicht, ob die schrecklichen Dinge, die man über ihn sagte,
der Wahrheit entsprachen und deshalb hatte ich schon das ein oder andere Mal
nachgefragt, wenn er gerade in guter Stimmung gewesen war. Aber er hatte immer
nur mit: „Mach mich doch wütend und finde es heraus“, geantwortet. Sein
drohender Unterton hatte mich aber jedes Mal davon abgehalten, es
auch wirklich auszuprobieren.
„Vater lässt
immer mal wieder eine Frau herbringen“, hatte Marduk am dritten Tag erzählt,
und er war aufgesprungen und aufgebracht auf und ab gewandert. „Er will mich
dazu zwingen, ihm einen Erben zu schenken. Er ist ganz besessen davon, dass
einer seines Blutes seine Herrschaft übernimmt, aber er will nicht, dass ich es
tue. Weil ich krank bin, wie er behauptet. Eine Schande seines Blutes, sagt er
immer.“ Er lachte. „Aber dass ich ihm den Gefallen tue und eine dieser Frauen
schwängere, darauf kann er lange warten!“
„Vielleicht
würde er dich dann ja freilassen.“ Ich wusste, dass Enlil das nie tun würde,
aber ich wollte es aus Marduks Mund bestätigt hören.
„Töten würde
er mich!“, spie er zornig. „Dieser Drecksack! Er verspricht mir natürlich, dass
er mich gehen lassen würde, aber ich glaube ihm kein Wort! Es wäre mir ja egal
– wenn ich tot bin, bin ich wenigstens endlich frei – aber ich werde ihm nie
die Genugtuung geben, mich zu töten! Lebend bin ich ihm viel mehr ein Dorn im
Auge.“
An seiner
Stelle hätte ich seinem Vater wohl auch nicht den Gefallen getan. Aber ich
wollte auf etwas anderes hinaus. So gern ich auch noch ein wenig länger über
das Thema geredet hätte, das ich ansonsten mit niemandem jemals hatte
besprechen wollen oder können. Es war merkwürdig, das jetzt zu tun und
verstanden zu werden. Die Angst, das Versteckspiel, das Unverständnis der
Anderen.
„Hast du schon
mal daran gedacht“, ich tat so, als würde ich zögern, „zu fliehen?“
Marduk lachte
wieder, aber sein Lachen klang freudlos. „Ich denke an nichts anderes! Aber es
ist unmöglich…“
Da hatte er
wieder angehalten und sich mutlos auf seine Felle fallen lassen. Die
Verzweiflung war dabei, ihn hinterrücks zu überfallen, also wollte ich mich
beeilen, ihm behutsam den Vorschlag zu unterbreiten, sich zusammenzutun, als
plötzlich die Tür aufgestoßen wurde und helles Licht den Raum flutete. Wenn ich
schon wieder vollständig auf den Beinen gewesen wäre, hätte ich jetzt
vielleicht einen Fluchtversuch gewagt, egal, wie sinnlos er bei den fünf
Leuten, die gerade reinkamen, auch gewesen wäre, aber ich war noch nicht
kräftig und noch nicht verzweifelt genug.
Zwei bullige
Kerle kamen, um mir die Hände auf den Rücken zu drehen und mich wieder zu
fesseln, und auch Marduk bekam seine zwei üblichen Gorillas, die ihn
festhielten. Als ich zu dem gleißenden Viereck der Tür blinzelte, sah ich, dass
Enlil uns heute wohl nicht mit seiner Anwesenheit beehren würde, aber dafür
jemand anderes. Und als ich den Gefangenen erkannte, den sie da reinbrachten
und der jetzt vor mir zum Liegen kam, gefror mir das Blut in den Adern.
Es war Leif.
Es war Leif.
Ich war froh, dass sie bislang niemanden hergebracht
hatten, damit Marduk sich seiner „annehmen“ konnte. Wahrscheinlich hätte ich
dann mit eigenen Augen erfahren, ob die Gerüchte über seine Grausamkeit
stimmten, aber so sehr wollte ich es dann doch nicht wissen.
Leif sah
schrecklich aus. Sein Haar war verfilzt, er war schmutzig, und obwohl er mit
dem Gesicht momentan den Boden küsste, konnte ich zahlreiche Verletzungen an
ihm sehen. Ich hatte bislang versucht, nicht an ihn zu denken, aber ihn jetzt
so plötzlich in solch einer schlimmen Verfassung wiederzusehen erschreckte mich
zutiefst.
„Du hast
Besuch, Marduk“, gab die Wache, die Leif reingebracht hatte, seine übliche
Floskel von sich. „Dein Vater hofft, dass du dich besser um ihn kümmerst, als
um den Anderen. Wenn du diesmal nichts rauskriegst, darf es jedenfalls dein
Freund ausbaden.“
Sein Kinn
ruckte in meine Richtung, aber ich ignorierte es. Mein Blick klebte geradezu
an der Jammergestalt zu meinen Füßen.
„Aber du
darfst den da töten, wenn er nichts sagt.“
‚Oh, nein!‘
Sie tauschten noch einen angewiderten
Blick mit Marduk, dann ließen sie ihn fahren und ich wurde wieder losgemacht,
während zwei von ihnen mit gezogenen Waffen vorm Eingang in Stellung gingen. Dann
sahen sie zu, dass sie wegkamen. Die Tür schluckte nicht nur sie, sondern auch
das Licht, das von draußen hereingefallen war und mir war es, als ob das ganze
Licht um mich herum vollkommen erloschen wäre.
Als Marduk
sich neben mir die Arme rieb, da, wo sie ihn festgehalten hatten, zuckte mein
Blick zu ihm. Er hatte wieder seine Maske aufgesetzt, erkannte ich. Er hatte
sie auch immer wieder getragen, wenn wir allein gewesen waren, aber meistens,
vor allen Dingen wenn er meinen Geschichten gelauscht hatte, hatte er das nicht
getan. Sie jetzt aber dort zu sehen bedeutete Ärger.
„Sieh mal
einer an, was haben wir denn da?“, begann er, während er seinen Raubtiergang
einlegte.
Wie konnte er
das nur machen, wo er das doch nicht wollte? Oder wollte er es vielleicht doch?
Ich hatte keine Ahnung, genauso wenig, wie ich wusste, was ich jetzt tun
sollte.
Marduk tat
dasselbe, was er auch mit mir getan hatte. Er umrundete Leif ein paarmal, dann
blieb er vor ihm stehen und griff seinen Kiefer. Seine Nase kräuselte sich
voller Abscheu und er gab einen angewiderten Laut von sich. „Du bist ja genauso
potthässlich wie Wulfgar.“
Er hatte das
schon ein paarmal zu mir gesagt, aber momentan war ich viel zu erschrocken
darüber, dass Leifs leere Augen plötzlich zu mir gingen und das Leben in sie
zurückkehrte, um mich darum zu scheren. Er sah mich, und ich konnte nichts
anderes tun, als hilflos dazustehen und ihn anzustarren.
Marduk
grinste gehässig und mir wurde eiskalt. „Aber ich werde trotzdem meinen Spaß
mit dir haben.“ Er stand auf und sah von oben auf Leif herab. „Also, hast du
noch was zu sagen oder sollen wir anfangen?“
Leifs Augen
hingen an mir. Ich konnte gar nicht sagen, warum, aber schließlich schlug er
sie nieder. Doch er tat sich nicht den Gefallen zu reden.
Marduk
schürzte missbilligend die Lippen. „Wenn ich so drüber nachdenke, hab ich heute
eigentlich gar keine Lust.“ Und dann holte er plötzlich etwas aus den Falten
seines Schals, das ich als Messer erkannte. Als ich es sah, durchfuhr mich der
Schrecken gewaltig. „Ich habe heute gar keine Lust zu spielen. Da Vater
erlaubt hat, dass ich dich töte, steche ich dich einfach ab.“
Er hob den Arm
und obwohl die Möglichkeit bestand, dass er nur bluffte, setzte mein Denken
komplett aus. Bevor ich wusste, was ich tat, hatte ich seinen Arm mit dem
Messer fest im Griff. Marduk starrte mich mit weit aufgerissenen Augen an und
da wusste ich schon, dass das nicht gut für mich ausgehen würde. Naja,
eigentlich hatte ich das schon gewusst, als sie Leif reingebracht hatte.
Marduk riss
sich jetzt von mir los. „Was soll das
werden?“, sprühte er vor Zorn, dass ich ihn bloßgestellt hatte. „Wie kannst du
es wagen?“
„Bitte, du
musst ihn ja nicht gleich umbringen“, versuchte ich zu beschwichtigen. „Er…
ich kenne ihn. Er hat mir einmal das Leben gerettet. Bitte verschone ihn.“
Marduk war so
wütend, wie ich es selten gesehen hatte. Sein Kopf war rot angelaufen und er
biss die Zähne so fest aufeinander, dass es wieder knirschte. Er erinnerte mich
momentan jedenfalls viel zu sehr an seinen Vater und das konnte nichts Gutes
bedeuten. Plötzlich deutete die Spitze der Messerschneide auf mich.
„Vielleicht
sollte ich dich lieber töten, dafür,
dass du glaubst, mir etwas sagen zu dürfen.“
So gut
verstanden wir uns anscheinend doch nicht. Aber anstatt zu tun, was er
angedroht hatte, sah es ganz danach aus, dass er nun wieder auf Leif losgehen
wollte. Und meine Einmischung hatte ihn so wütend gemacht, dass er diesmal
bestimmt nicht bluffen würde. Panik stieg in mir auf, als ich das sah.
Erneut setzte
mein Denken aus. Anders kann ich es im Nachhinein auch nicht erklären. Anstatt
Marduk niederzuschlagen, tat ich etwas so Dummes, dass ich mich am liebsten
selber dafür geohrfeigt hätte. Ich griff erneut nach Marduks Arm, drehte ihn zu
mir und küsste ihn. Er zuckte zusammen, als ich das tat, aber dann hörte ich
ein dumpfes Geräusch, als er das Messer fallen ließ, und es war die einzige
Erleichterung, die ich momentan hatte. Denn nach wie vor war es mir, als hätte
ich Angst anstatt Blut in meinen Adern.
Während ich
noch versuchte, mich dazu zu bringen, mich wieder zurückzuziehen, legte Marduk
die Arme um mich und begann, meinen Kuss zu erwidern. Auch wenn man eher sagen
sollte, dass ich zur Salzsäule erstarrt dastand und er mich so gierig küsste,
als würde er verhungern. Und ich konnte nichts dagegen tun. Konnte mich nicht
wehren. Konnte ihn nicht wegstoßen oder auch nur einen klaren Gedanken fassen.
Erst, als er seinen
Unterleib an mich drückte, durchfuhr es mich so eiskalt, dass ich sofort auf
Abstand ging. Ich wollte das nicht, war alles, was ich dachte. Ich wollte
nicht, dass er mich anfasste, dass er mir nahe war und mich küsste. Und vor
allen Dingen wollte ich ganz sicher nicht mit ihm schlafen.
Ich wollte weg
von ihm, aber Marduk hielt mich umklammert und sah mich mit großen Augen
verständnislos an. Doch das kümmerte mich nicht. Erst, als er ungehalten
wirkte, konnte ich mich fangen. Ich schob meine Hände zwischen ihn und mich.
„N-nicht jetzt, Marduk!“ Ich versuchte zu lächeln, aber es gelang mir einfach
nicht. „Später, wenn wir allein sind.“
Er sah nicht
aus, als ob er das wollte. Sein Blick ging zu Leif, also zwang ich mich noch
einmal dazu zu lächeln. Diesmal gelang es mir besser. „Bitte lass ihn in Ruhe,
ja? Er hat mich gerettet und ich möchte das wiedergutmachen. Lass mich ihm
etwas Wasser geben und dann sagst du, dass er sich geweigert hat zu reden.“
„Aber Vater
wird dich dafür bestrafen lassen“,
erinnerte er.
„Das nehme
ich gerne auf mich. Ich habe schon Schlimmeres durchgemacht.“
Marduk sah
mich mit einem Schmollmund an, der mir einen Schauer den Rücken runter jagte.
Aber er zeigte sich einsichtig. „In Ordnung.“
Plötzlich fuhr
er mir mit seinem Daumen über die Lippen, dass ich Angst bekam, und dann spürte
ich ein brennendes Stechen und schmeckte Blut. Als er seine Hand zurücknahm,
bemerkte ich die Klinge des Messers darin. An ihrer Spitze klebte noch immer
ein wenig meines eigenen Blutes. Als mein Blick zu Marduk zurückkehrte, war er
so drohend, dass es mir wieder kalt wurde. „Aber lass mich nicht zu lange
warten!“
Dann hatte er
mich endlich freigegeben und war an mir vorbei zu seinen Fellen gegangen. Ich
sah zu, dass ich mir den Wasserkrug und einen Becher schnappte und zu Leif ging, um
ihm zu trinken zu geben. Wie ich Enlils Methoden kannte, hatte er bestimmt seit seiner Gefangennahme nichts oder so gut wie gar nichts mehr
gegessen und getrunken. Seine Wangen waren eingefallen, seine Augen
blutunterlaufen und er hatte dunkle Schatten darunter, als er mich jetzt träge
ansah. Er sah so ausgemergelt aus, als wäre er eigentlich schon tot.
Aber als ich
den Krug hob, um einzuschenken, konnte ich plötzlich nicht mehr. Ich zitterte
so heftig, dass er mir beinahe aus der Hand fiel. Die Sicht verschwamm mir vor
Augen und mir wurde so schlecht, dass ich bereits schmecken konnte, wie es mir
hochkam.
Mit aller Willenskraft, die ich noch hatte, zwang ich meinen Mageninhalt wieder runter, aber gegen die Tränen, die jetzt mein Gesicht fluteten, kam ich nicht an. Ich fühlte mich so erbärmlich. Ich war ein Heuchler, ein Lügner und Betrüger. Ich sah sie alle vor mir. Samuel, Lu und Isaac, sie alle, die ich jemals hatte haben wollen und plötzlich war ich mir sicher, dass die Sonne für mich nie wieder aufgehen würde.
Mit aller Willenskraft, die ich noch hatte, zwang ich meinen Mageninhalt wieder runter, aber gegen die Tränen, die jetzt mein Gesicht fluteten, kam ich nicht an. Ich fühlte mich so erbärmlich. Ich war ein Heuchler, ein Lügner und Betrüger. Ich sah sie alle vor mir. Samuel, Lu und Isaac, sie alle, die ich jemals hatte haben wollen und plötzlich war ich mir sicher, dass die Sonne für mich nie wieder aufgehen würde.
„Was tust du
da so lange?“, brachte mich Marduks Stimme zurück.
Ich zwang
mich weiterzumachen. Doch ich brauchte mehrere Anläufe, bis das Wasser
überhaupt im Becher landete. Und auch, ihn an Leifs zersprungene Lippen zu
halten war nicht einfacher. Er sah mich, das wusste ich, aber ich kümmerte mich
nicht darum. Ich ließ die Tränen laufen, weil ich viel zu sehr damit
beschäftigt war, nicht laut loszuschreien. Ich hasste mich so sehr.
Schließlich dauerte es Marduk doch zu lange und er kam,
um mir Feuer unterm Hintern zu machen. Ich wischte mir hastig über die Augen,
als ich seine Schritte hörte und versuchte, gleichmäßig zu atmen, um mein
rasendes Herz zu beruhigen. Es gelang mir nur unzureichend.
Als ich mich erheben wollte, traf mich Leifs Blick noch einmal. Er sah mich so eindringlich an, als würde er mir etwas sagen wollen, aber ich verstand es nicht. Da flüsterte er mit rauer Stimme: „Hilf mir!“
Als ich mich erheben wollte, traf mich Leifs Blick noch einmal. Er sah mich so eindringlich an, als würde er mir etwas sagen wollen, aber ich verstand es nicht. Da flüsterte er mit rauer Stimme: „Hilf mir!“
Er verstummte
gerade rechtzeitig, als Marduk hinter mir zum Stehen kam und „Wird’s bald?“
sagte. Ich quälte mich auf die Beine, aber ich fühlte mich wie ein wandelnder
Toter, während ich mich ihm zuwandte. Er sah mir nur kurz ins Gesicht; ich konnte
nicht sagen, was er dachte, dann wandte er sich wieder ab. Und alles, was ich
dachte, war: ‚Ich kann das nicht mehr.‘
Mit einem
schnellen Schritt war ich bei Marduk und hatte ihm die Faust auf den Hinterkopf
geschlagen, bevor er überhaupt wusste, wie ihm geschah. Er ging sofort zu Boden.
Ich konnte nicht fassen, was ich gerade getan hatte. Ich hatte herausfinden wollen, ob Marduk nun ein Monster oder ein Opfer war, ob ich ihn retten sollte oder nicht, aber dafür hatte mir letztendlich doch die Zeit gefehlt. Aber egal, ob es nun richtig oder falsch gewesen war, ihn niederzuschlagen, es bedeutete Ärger. Immerhin lebte er noch. Zumindest sah ich, dass er atmete.
Ich konnte nicht fassen, was ich gerade getan hatte. Ich hatte herausfinden wollen, ob Marduk nun ein Monster oder ein Opfer war, ob ich ihn retten sollte oder nicht, aber dafür hatte mir letztendlich doch die Zeit gefehlt. Aber egal, ob es nun richtig oder falsch gewesen war, ihn niederzuschlagen, es bedeutete Ärger. Immerhin lebte er noch. Zumindest sah ich, dass er atmete.
„Wulfgar!“,
drang Leifs Stimme endlich zu mir vor. Sie war mehr ein Flüstern, damit die
Wachen draußen uns nicht hörten.
Ich schob
meinen Ekel und meinen Selbsthass beiseite und zwang mich, mich zusammenzureißen.
Der Schrecken, der mich die ganze Zeit über gefangen gehalten hatte, ebbte
daraufhin langsam ab. Dann ging ich zu Marduk, suchte nach seinem Messer, und
als ich es gefunden hatte, schnitt ich Leif die Fesseln durch. Er rieb sich die
Handgelenke, schlug meine Hilfe aber aus und kam selber auf die Füße.
„Gib mir das
Messer!“, forderte er, und ich händigte es ihm aus. Ich hatte keinen Anlass, ihm
zu misstrauen, aber vor allen Dingen schien er mir gerade der Vernünftigere von
uns beiden.
Doch als er zu Marduk ging, hielt ich ihn trotzdem zurück. „Warte! Was hast du vor?“
Doch als er zu Marduk ging, hielt ich ihn trotzdem zurück. „Warte! Was hast du vor?“
„Ihn aus dem
Weg räumen, natürlich.“
„Wenn du mir
einen Gefallen tun willst, dann lass ihn einfach da liegen“, bat ich hastig.
Ich wusste nicht, ob das eine weise Entscheidung war, aber nachdem ich Marduk
so feige hinterrücks niedergeschlagen hatte, fand ich, war ich ihm wenigstens
das schuldig.
„Wozu?“, fragte
Leif verständnislos. „Sag mir bloß nicht, dass du wirklich was für ihn übrig
hast. Er wollte mich töten!“
Ich konnte
nicht sagen, was Leif von der Vorstellung überhaupt hielt, aber immerhin schien
er mir nicht das Messer zwischen die Augen rammen zu wollen dafür, dass ich vor
kurzem einen anderen Mann geküsst hatte.
„Ich weiß.“ Ich
machte eine Pause, um meine Worte genau abzuwägen. „Aber er hätte es nicht
getan. Da bin ich mir sicher. Er ist auch nur ein Gefangener von Enlil, so wie
du und ich. Eigentlich ist er harmlos.“
„Und das weißt
du so genau?“
„Ja.“ Das tat
ich nicht. Aber das war es, was ich hoffen wollte.
„Vertrau mir!“
Leif warf mir
einen abschätzenden Blick zu, aber dann ließ er das Messer wieder sinken. „Na gut!
Aber ich werde ihn fesseln. Ich kann gut und gerne darauf verzichten, dass der
Mistkerl uns folgt.“
Das schien mir
vernünftig, also nickte ich und Leif ging, um das Seil zu holen, das ihn selber
noch vor kurzem gebunden hatte. Es war zerschnitten, aber noch lang genug, um
Marduk die dürren Handgelenke aneinanderzubinden.
„Folgen?“,
fragte ich ihn dabei. „Was hast du denn vor?“
„Ich weiß
nicht, was du vorhast, aber ich werde
von hier verschwinden.“
„Wie willst du
das denn anstellen?“
Leif beendete
seine Arbeit und sah sich um. Sein Blick blieb an Marduks Essensresten hängen
und er ging, um sich daran gütlich zu tun. „Die Wachen“, fragte er zwischen
zwei Bissen, „weißt du, wann die wiederkommen?“
„Nicht vor
morgen, denke ich. So war es bei mir zumindest.“ Ich überlegte und korrigierte
mich dann: „Nein, das stimmt nicht. Sie kommen nachts noch einmal, um die
Lichter zu löschen.“
„Gut. Dann
werden wir warten, bis es dunkel wird und dann locken wir sie hier rein und
werden sie überwältigen.“
„Und dann? Es
ist nicht so, dass da draußen alles verlassen ist“, erinnerte ich.
„Nein, aber wir
haben Glück; es wird bald Regen geben. So bei Einbruch der Nacht ungefähr,
schätz ich“, behauptete er.
„Woher willst
du das denn wissen?“
Er klopfte
sich gegen sein rechtes Bein. „Ich hab da mal einen Pfeil abbekommen vor
Jahren. Seitdem ist es ziemlich taub. Bin froh, dass ich überhaupt noch damit laufen kann. Aber ich merke damit jeden Wetterumschwung. Es zieht immer,
wenn es regnen wird. Ist echt zuverlässig. Und du weißt ja, was Regen bedeutet.“
Regen bedeutete, dass niemand draußen sein
wollte. Vor allen Dingen um diese Jahreszeit und vor allen Dingen abends nicht.
Normalerweise gingen dann alle rein, um zu würfeln und sich die Kante zu geben.
Und das tat auch Enlil. Sie alle wussten, dass er sich jeden Abend immer bis
zur Besinnungslosigkeit betrank. Ob es nun regnete oder nicht. Meistens war er längst weggetreten, bevor auch
nur irgendjemand anderes schlafen ging. Deshalb ging es nachts auch ein
bisschen chaotischer im ansonsten disziplinierten Tempelbezirk zu. Da Enlil
nicht aufpasste, machte eigentlich jeder, was er wollte.
So auch die Wachen, die eigentlich auch bei Regen draußen stehen mussten. Was nachts bei schlechtem Wetter aber trotzdem niemand tat. Niemand rechnete damit, dass Feinde bis hierher vordrangen. Nur Marduks Wachen blieben selbst bei Schneestürmen lieber draußen, als bei ihrem gefährlichen Schützling in der Wärme zu sitzen, wie ich wusste.
So auch die Wachen, die eigentlich auch bei Regen draußen stehen mussten. Was nachts bei schlechtem Wetter aber trotzdem niemand tat. Niemand rechnete damit, dass Feinde bis hierher vordrangen. Nur Marduks Wachen blieben selbst bei Schneestürmen lieber draußen, als bei ihrem gefährlichen Schützling in der Wärme zu sitzen, wie ich wusste.
„Meinst du,
dass Enlil sich überhaupt noch betrinkt? So paranoid wie der die letzte Zeit
geworden ist“, gab ich zu bedenken.
„Er tut’s
trotzdem. Ich hab’s gehört. Er kann damit nicht so einfach aufhören. Soll sogar
schlimmer geworden sein. Deshalb wimmelt es abends nur so von Wachen in seiner
Halle.“ Er verstummte und ich merkte schon, dass er etwas wollte, als er mich
jetzt ansah. „Du wirst mir doch helfen, oder?“, fragte er.
„Natürlich.“
Es war nicht so, dass ich hier nicht raus wollte.
Doch Leifs
Blick verfinsterte sich. „Ich werde nicht einfach von hier abhauen können, wenn
wir hier raus sind“, eröffnete er. „Ich muss erst die Anderen befreien.“
„Die Anderen?“
„Enlil hat
nicht nur dich und mich einsperren lassen, sondern inzwischen auch viele andere.
Seine Leute, Sklaven.“
„Sklaven?“
„Ja.“ Er
stockte. „Weißt du nicht, was das ist?“ Als ich den Kopf schüttelte, erklärte
er: „Das sind nicht nur Gefangene, Wulf, er wird sie verkaufen.“
Seine
Erklärung war nicht sonderlich gut, aber ich konnte mir denken, was er meinte.
„Ich muss sie
jedenfalls da rausholen, egal, ob sie mit in der Verschwörung drinstecken oder
nicht. Und ich muss wissen, ob ich auf deine Hilfe zählen kann. Ich weiß, dass
du bislang nicht helfen wolltest, aber nachdem du’s selber gesehen hast
vielleicht…“
Er hatte mich
schon öfter danach gefragt, erinnerte ich mich. Dass ich ihm mit dem Sklaven helfen
sollte. Aber ich hatte einfach nicht zuhören wollen. Damals, als mir noch alles
egal gewesen war. Aber jetzt war das anders. Also nickte ich. „Du kannst auf
mich zählen.“
Leif sah
überrascht aus, aber er überspielte es mit einem Grinsen. „Scheinbar ist da ja
doch ein Herz in dir.“
Da war ich mir
nicht so sicher, wenn ich Marduk sah.
Wir warteten, bis es dunkel wurde und der Regen begann,
rhythmisch auf das Dach zu trommeln. Ein heftiger Regenschauer, so, wie Leif es
vorhergesehen hatte. Dann bezogen wir links und rechts vorm Eingang Stellung.
Ich hatte so meine Zweifel gehabt, dass Leif in seiner Verfassung überhaupt
würde kämpfen können, aber er hatte nur gesagt, dass er „nicht so ein Weichei“
sei, wie ich, und damit war es gut gewesen.
Ich selber fühlte mich immer noch nicht wirklich bei Kräften, aber ich würde trotzdem kämpfen. Nicht, weil ich stark erscheinen wollte, sondern, weil ich es sein musste. Für mich, für Leif und auch für die anderen Gefangenen.
Ich selber fühlte mich immer noch nicht wirklich bei Kräften, aber ich würde trotzdem kämpfen. Nicht, weil ich stark erscheinen wollte, sondern, weil ich es sein musste. Für mich, für Leif und auch für die anderen Gefangenen.
Wir hatten
Marduk, der noch immer den Schlaf der Gerechten schlief, direkt vor den Eingang
gelegt. Im besten Fall würden sie über ihn stolpern oder aber wenigstens durch
ihn abgelenkt werden. Ich fühlte mich schon ein bisschen schlecht, ihn dafür zu
missbrauchen und ich hätte mir gewünscht, dass er wach gewesen wäre, um uns zu
helfen. Er war schließlich auch an der Freiheit interessiert. Aber es war nicht
zu ändern. Leif war mir immerhin ein verlässlicherer Verbündeter, als dass es Enlils
Sohn jemals gewesen wäre.
Auf ein
Zeichen von Leif hin begann ich nach Hilfe zu rufen und tatsächlich ging die
Tür auf und einer der Wachen erschien. Er sah sich verwirrt im Raum um, der
scheinbar leer war, bevor er Marduk entdeckte, aber da war Leif schon nach vorn
gesprungen, hatte ihn in den Raum gerissen und war nun dabei, ihn in seinem
Schwitzkasten zu halten und mit ihm zu ringen.
Ich wusste nicht, ob er diesen Kampf gewinnen konnte, aber ich hatte sowieso eine andere Aufgabe. Hastig schlüpfte ich durch den freigewordenen Ausgang und verpasste der zweiten Wache, die nun kommen wollte, um nach dem Rechten zu sehen, einen Schlag gegen die Schläfe. Er ging so unspektakulär zu Boden, wie zuvor auch Marduk. Dann kehrte ich umgehend wieder zu Leif zurück, der inzwischen alle Hände voll damit zu tun hatte, seinem Gegner den Mund zuzuhalten und ihn gleichzeitig im Griff zu behalten. Man sah ihm an, dass er mehr unter Enlils Behandlung gelitten hatte, als ich.
Ich wusste nicht, ob er diesen Kampf gewinnen konnte, aber ich hatte sowieso eine andere Aufgabe. Hastig schlüpfte ich durch den freigewordenen Ausgang und verpasste der zweiten Wache, die nun kommen wollte, um nach dem Rechten zu sehen, einen Schlag gegen die Schläfe. Er ging so unspektakulär zu Boden, wie zuvor auch Marduk. Dann kehrte ich umgehend wieder zu Leif zurück, der inzwischen alle Hände voll damit zu tun hatte, seinem Gegner den Mund zuzuhalten und ihn gleichzeitig im Griff zu behalten. Man sah ihm an, dass er mehr unter Enlils Behandlung gelitten hatte, als ich.
Also kam ich
ihm flugs zu Hilfe und sandte auch diesen Wächter zu Boden. Leif wollte sie am
liebsten gleich wieder töten, aber auch davon hielt ich ihn ab. Wir nahmen uns
die Zeit, sie mit ihren eigenen Sachen zu fesseln und schoben einem jedem, auch
Marduk, noch einen Knebel in den Mund, bevor wir sie zusammen zurückließen.
Ich zögerte einen kurzen Augenblick, entschloss mich dann aber dazu, die Tür hinter uns einen Spalt breit aufzulassen. Es war riskant, aber ich hatte meine Gewissenlosigkeit verloren und auch wenn es wahrscheinlich das Ende meiner Laufbahn als Krieger bedeuten würde, wollte ich das nicht mehr ändern.
Ich zögerte einen kurzen Augenblick, entschloss mich dann aber dazu, die Tür hinter uns einen Spalt breit aufzulassen. Es war riskant, aber ich hatte meine Gewissenlosigkeit verloren und auch wenn es wahrscheinlich das Ende meiner Laufbahn als Krieger bedeuten würde, wollte ich das nicht mehr ändern.
Der Hof lag tatsächlich verlassen vor uns, weshalb wir
unbehelligt bis zur Waffenkammer kamen. Selbstredend war auch sie bewacht, aber
wir überraschten den einsamen Wächter noch in seinem gemütlichen Versteck,
bevor er uns überhaupt erkennen konnte. Wir hatten uns davor natürlich an den
Rüstungen und Waffen von Marduks Wachen bedient, um nicht so sehr
aufzufallen. Es war keine hundertprozentige Tarnung, aber es reichte für einen
Überraschungseffekt allemal.
Die Gefangenenunterkünfte waren sehr viel besser bewacht, aber Bögen und Schwerter waren sehr überzeugend, um uns Zugang zu verschaffen. Mir war zwar überhaupt nicht mehr danach, irgendjemanden zu töten, aber ich bemerkte den ein oder anderen Blick in meine Richtung und es half, dass ich noch einmal meine kalte Maske aufsetzte. Nach wie vor hatten die Leute wohl einen ganz schönen Respekt vor mir. Immerhin waren aber nicht alle unserer neuen Waffenbrüder und -schwestern unglücklich darüber zu sein, dass ich da war, wie es schien. Auch wenn Leif wesentlich herzlicher Empfangen wurde.
Die Gefangenenunterkünfte waren sehr viel besser bewacht, aber Bögen und Schwerter waren sehr überzeugend, um uns Zugang zu verschaffen. Mir war zwar überhaupt nicht mehr danach, irgendjemanden zu töten, aber ich bemerkte den ein oder anderen Blick in meine Richtung und es half, dass ich noch einmal meine kalte Maske aufsetzte. Nach wie vor hatten die Leute wohl einen ganz schönen Respekt vor mir. Immerhin waren aber nicht alle unserer neuen Waffenbrüder und -schwestern unglücklich darüber zu sein, dass ich da war, wie es schien. Auch wenn Leif wesentlich herzlicher Empfangen wurde.
Ich war froh,
als wir dann aus dem Gefängnis, das mehr einem winzigen, dunklen Schweinestall
glich, in dem sich viel zu viele Menschen in Dreck, Unrat und Stroh gedrängt
hatten, wieder raus waren. Es ging zurück in die Waffenkammer und als alle
bewaffnet und ausgerüstet waren, so gut es ging, schwärmten wir aus.
„Wir
überfallen sie im Schlaf?“, fragte ich Leif leise, der gerade neben mir ging.
Seine Haare klebten ihm in nassen Strähnen auf der Stirn, was ihn noch hagerer
wirken ließ.
„Ich weiß.
Nicht gerade ehrenhaft. Aber es ist unsere einzige Chance. Wir sind schon so viel zu
wenige“, gab er genauso leise zurück. Der Regen ging so heftig nieder, dass ich
ihn kaum verstand.
Er hatte leider recht. Wir waren keine hundert
Leute und da drinnen wartete ein Vielfaches an Kriegern auf uns. Ausgebildeten Kriegern, während wir aus
ausgehungerten Gefangenen bestanden. Männer, Frauen, ja sogar Kinder und
Greise. Aber es war nicht zu ändern. Ich hatte ja gehofft, dass wir uns einfach
aus dem Staub machen würden, aber ich war überstimmt worden. Viele waren der
Ansicht, dass Enlil sie sonst ohnehin wieder einfangen würde. Dass er gestürzt
gehöre für das Wohl aller. Und nicht gerade wenige sannen auf Rache.
Also gingen
wir von Unterkunft zu Unterkunft und überfielen sie im Schlaf. Möglichst leise
und möglichst schnell. Aber es änderte nichts daran, dass dennoch bald überall
Kämpfe losbrachen. Wir wurden nach und nach wieder nach draußen gedrängt und
waren schließlich im Hof zusammengepfercht. Es sah ziemlich schlecht für uns
aus, aber ich hatte nicht die Verzweiflung einberechnet, die die Gefangenen
umso inbrünstiger kämpfen ließ.
Auch ich tat
mein bestes. Zuerst kämpfte ich Rücken an Rücken mit Leif, aber irgendwann
wurden wir getrennt. Dennoch machte ich einen Feind nach dem anderen nieder.
Die Schwäche zehrte an mir und meine Brust hatte wieder zu schmerzen begonnen,
ja selbst der Einstich bei meinen Nieren tat mir wieder weh, aber ich
ignorierte es, so gut es ging, und kämpfte weiter.
Doch dann kam
plötzlich ein riesiger Schatten über mich. Ich schaffte es nur gerade so noch,
zur Seite auszuweichen und als ich mich umdrehte, sah ich Enlil vor mir stehen,
sein wuchtiges Schwert in der Hand. Seine Augen waren blutunterlaufen, aber
dadurch sah es nur noch mehr so aus, als würden sie voller Zorn rot glühen. Wenn
er vor kurzem noch seinen Rausch ausgeschlafen hatte, war davon jetzt
jedenfalls nichts mehr zu sehen.
Hier weiterlesen -> Kapitel 23
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