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Sonntag, 16. Dezember 2018

Kapitel 22 - Waffenbrüder


Die nächsten Tage war ich nur damit beschäftigt, Marduk von der Welt zu erzählen und dabei zu heilen. Er war ein guter Zuhörer. Am zweiten Tag schon bekam ich seinen Wein, als ich ihm gerade eine besonders spannende Geschichte erzählt hatte. Fleisch, Brot, Gemüse und Obst hatte er für mich, und inzwischen hatte er sogar saubere Kleidung für mich kommen lassen. Ich vermisste zwar meine Hosen, aber es half meiner Entzündung. 
     Und Marduk war überaus neugierig. Ständig fragte er mich Dinge, sodass er mir nur noch mehr wie ein wissbegieriges Kind vorkam.
     Deswegen waren die Tage auch gut auszuhalten. Nur die Nächte waren etwas merkwürdig. Nach meiner ersten Nacht hier war ich aufgewacht, Marduk selig an mich geschmiegt, und das hatte mir doch einen ganz gehörigen Schrecken eingejagt. Marduk war der Inbegriff von Einsamkeit, das war mir schon aufgefallen, aber ich hatte immer noch nicht vor, ihn an mich ranzulassen, egal, was uns auch verbinden mochte.
     Dieses Thema war übrigens das Einzige, über das Marduk bereit war, mit mir zu sprechen. Ich wusste immer noch nicht, ob die schrecklichen Dinge, die man über ihn sagte, der Wahrheit entsprachen und deshalb hatte ich schon das ein oder andere Mal nachgefragt, wenn er gerade in guter Stimmung gewesen war. Aber er hatte immer nur mit: „Mach mich doch wütend und finde es heraus“, geantwortet. Sein drohender Unterton hatte mich aber jedes Mal davon abgehalten, es auch wirklich auszuprobieren.  
     „Vater lässt immer mal wieder eine Frau herbringen“, hatte Marduk am dritten Tag erzählt, und er war aufgesprungen und aufgebracht auf und ab gewandert. „Er will mich dazu zwingen, ihm einen Erben zu schenken. Er ist ganz besessen davon, dass einer seines Blutes seine Herrschaft übernimmt, aber er will nicht, dass ich es tue. Weil ich krank bin, wie er behauptet. Eine Schande seines Blutes, sagt er immer.“ Er lachte. „Aber dass ich ihm den Gefallen tue und eine dieser Frauen schwängere, darauf kann er lange warten!“
     „Vielleicht würde er dich dann ja freilassen.“ Ich wusste, dass Enlil das nie tun würde, aber ich wollte es aus Marduks Mund bestätigt hören.
     „Töten würde er mich!“, spie er zornig. „Dieser Drecksack! Er verspricht mir natürlich, dass er mich gehen lassen würde, aber ich glaube ihm kein Wort! Es wäre mir ja egal – wenn ich tot bin, bin ich wenigstens endlich frei – aber ich werde ihm nie die Genugtuung geben, mich zu töten! Lebend bin ich ihm viel mehr ein Dorn im Auge.“
     An seiner Stelle hätte ich seinem Vater wohl auch nicht den Gefallen getan. Aber ich wollte auf etwas anderes hinaus. So gern ich auch noch ein wenig länger über das Thema geredet hätte, das ich ansonsten mit niemandem jemals hatte besprechen wollen oder können. Es war merkwürdig, das jetzt zu tun und verstanden zu werden. Die Angst, das Versteckspiel, das Unverständnis der Anderen.
     „Hast du schon mal daran gedacht“, ich tat so, als würde ich zögern, „zu fliehen?“
     Marduk lachte wieder, aber sein Lachen klang freudlos. „Ich denke an nichts anderes! Aber es ist unmöglich…“
     Da hatte er wieder angehalten und sich mutlos auf seine Felle fallen lassen. Die Verzweiflung war dabei, ihn hinterrücks zu überfallen, also wollte ich mich beeilen, ihm behutsam den Vorschlag zu unterbreiten, sich zusammenzutun, als plötzlich die Tür aufgestoßen wurde und helles Licht den Raum flutete. Wenn ich schon wieder vollständig auf den Beinen gewesen wäre, hätte ich jetzt vielleicht einen Fluchtversuch gewagt, egal, wie sinnlos er bei den fünf Leuten, die gerade reinkamen, auch gewesen wäre, aber ich war noch nicht kräftig und noch nicht verzweifelt genug.
     Zwei bullige Kerle kamen, um mir die Hände auf den Rücken zu drehen und mich wieder zu fesseln, und auch Marduk bekam seine zwei üblichen Gorillas, die ihn festhielten. Als ich zu dem gleißenden Viereck der Tür blinzelte, sah ich, dass Enlil uns heute wohl nicht mit seiner Anwesenheit beehren würde, aber dafür jemand anderes. Und als ich den Gefangenen erkannte, den sie da reinbrachten und der jetzt vor mir zum Liegen kam, gefror mir das Blut in den Adern. 
     Es war Leif.

Ich war froh, dass sie bislang niemanden hergebracht hatten, damit Marduk sich seiner „annehmen“ konnte. Wahrscheinlich hätte ich dann mit eigenen Augen erfahren, ob die Gerüchte über seine Grausamkeit stimmten, aber so sehr wollte ich es dann doch nicht wissen.
     Leif sah schrecklich aus. Sein Haar war verfilzt, er war schmutzig, und obwohl er mit dem Gesicht momentan den Boden küsste, konnte ich zahlreiche Verletzungen an ihm sehen. Ich hatte bislang versucht, nicht an ihn zu denken, aber ihn jetzt so plötzlich in solch einer schlimmen Verfassung wiederzusehen erschreckte mich zutiefst.
     „Du hast Besuch, Marduk“, gab die Wache, die Leif reingebracht hatte, seine übliche Floskel von sich. „Dein Vater hofft, dass du dich besser um ihn kümmerst, als um den Anderen. Wenn du diesmal nichts rauskriegst, darf es jedenfalls dein Freund ausbaden.“
     Sein Kinn ruckte in meine Richtung, aber ich ignorierte es. Mein Blick klebte geradezu an der Jammergestalt zu meinen Füßen.
     „Aber du darfst den da töten, wenn er nichts sagt.“
     ‚Oh, nein!‘
     Sie tauschten noch einen angewiderten Blick mit Marduk, dann ließen sie ihn fahren und ich wurde wieder losgemacht, während zwei von ihnen mit gezogenen Waffen vorm Eingang in Stellung gingen. Dann sahen sie zu, dass sie wegkamen. Die Tür schluckte nicht nur sie, sondern auch das Licht, das von draußen hereingefallen war und mir war es, als ob das ganze Licht um mich herum vollkommen erloschen wäre.
     Als Marduk sich neben mir die Arme rieb, da, wo sie ihn festgehalten hatten, zuckte mein Blick zu ihm. Er hatte wieder seine Maske aufgesetzt, erkannte ich. Er hatte sie auch immer wieder getragen, wenn wir allein gewesen waren, aber meistens, vor allen Dingen wenn er meinen Geschichten gelauscht hatte, hatte er das nicht getan. Sie jetzt aber dort zu sehen bedeutete Ärger.
     „Sieh mal einer an, was haben wir denn da?“, begann er, während er seinen Raubtiergang einlegte.
     Wie konnte er das nur machen, wo er das doch nicht wollte? Oder wollte er es vielleicht doch? Ich hatte keine Ahnung, genauso wenig, wie ich wusste, was ich jetzt tun sollte.
     Marduk tat dasselbe, was er auch mit mir getan hatte. Er umrundete Leif ein paarmal, dann blieb er vor ihm stehen und griff seinen Kiefer. Seine Nase kräuselte sich voller Abscheu und er gab einen angewiderten Laut von sich. „Du bist ja genauso potthässlich wie Wulfgar.“
      Er hatte das schon ein paarmal zu mir gesagt, aber momentan war ich viel zu erschrocken darüber, dass Leifs leere Augen plötzlich zu mir gingen und das Leben in sie zurückkehrte, um mich darum zu scheren. Er sah mich, und ich konnte nichts anderes tun, als hilflos dazustehen und ihn anzustarren.
      Marduk grinste gehässig und mir wurde eiskalt. „Aber ich werde trotzdem meinen Spaß mit dir haben.“ Er stand auf und sah von oben auf Leif herab. „Also, hast du noch was zu sagen oder sollen wir anfangen?“
     Leifs Augen hingen an mir. Ich konnte gar nicht sagen, warum, aber schließlich schlug er sie nieder. Doch er tat sich nicht den Gefallen zu reden.
     Marduk schürzte missbilligend die Lippen. „Wenn ich so drüber nachdenke, hab ich heute eigentlich gar keine Lust.“ Und dann holte er plötzlich etwas aus den Falten seines Schals, das ich als Messer erkannte. Als ich es sah, durchfuhr mich der Schrecken gewaltig. „Ich habe heute gar keine Lust zu spielen. Da Vater erlaubt hat, dass ich dich töte, steche ich dich einfach ab.“
     Er hob den Arm und obwohl die Möglichkeit bestand, dass er nur bluffte, setzte mein Denken komplett aus. Bevor ich wusste, was ich tat, hatte ich seinen Arm mit dem Messer fest im Griff. Marduk starrte mich mit weit aufgerissenen Augen an und da wusste ich schon, dass das nicht gut für mich ausgehen würde. Naja, eigentlich hatte ich das schon gewusst, als sie Leif reingebracht hatte.
     Marduk riss sich jetzt von mir los. „Was soll das werden?“, sprühte er vor Zorn, dass ich ihn bloßgestellt hatte. „Wie kannst du es wagen?“
     „Bitte, du musst ihn ja nicht gleich umbringen“, versuchte ich zu beschwichtigen. „Er… ich kenne ihn. Er hat mir einmal das Leben gerettet. Bitte verschone ihn.“
     Marduk war so wütend, wie ich es selten gesehen hatte. Sein Kopf war rot angelaufen und er biss die Zähne so fest aufeinander, dass es wieder knirschte. Er erinnerte mich momentan jedenfalls viel zu sehr an seinen Vater und das konnte nichts Gutes bedeuten. Plötzlich deutete die Spitze der Messerschneide auf mich.
     „Vielleicht sollte ich dich lieber töten, dafür, dass du glaubst, mir etwas sagen zu dürfen.“
     So gut verstanden wir uns anscheinend doch nicht. Aber anstatt zu tun, was er angedroht hatte, sah es ganz danach aus, dass er nun wieder auf Leif losgehen wollte. Und meine Einmischung hatte ihn so wütend gemacht, dass er diesmal bestimmt nicht bluffen würde. Panik stieg in mir auf, als ich das sah.
     Erneut setzte mein Denken aus. Anders kann ich es im Nachhinein auch nicht erklären. Anstatt Marduk niederzuschlagen, tat ich etwas so Dummes, dass ich mich am liebsten selber dafür geohrfeigt hätte. Ich griff erneut nach Marduks Arm, drehte ihn zu mir und küsste ihn. Er zuckte zusammen, als ich das tat, aber dann hörte ich ein dumpfes Geräusch, als er das Messer fallen ließ, und es war die einzige Erleichterung, die ich momentan hatte. Denn nach wie vor war es mir, als hätte ich Angst anstatt Blut in meinen Adern.
     Während ich noch versuchte, mich dazu zu bringen, mich wieder zurückzuziehen, legte Marduk die Arme um mich und begann, meinen Kuss zu erwidern. Auch wenn man eher sagen sollte, dass ich zur Salzsäule erstarrt dastand und er mich so gierig küsste, als würde er verhungern. Und ich konnte nichts dagegen tun. Konnte mich nicht wehren. Konnte ihn nicht wegstoßen oder auch nur einen klaren Gedanken fassen.
     Erst, als er seinen Unterleib an mich drückte, durchfuhr es mich so eiskalt, dass ich sofort auf Abstand ging. Ich wollte das nicht, war alles, was ich dachte. Ich wollte nicht, dass er mich anfasste, dass er mir nahe war und mich küsste. Und vor allen Dingen wollte ich ganz sicher nicht mit ihm schlafen.
     Ich wollte weg von ihm, aber Marduk hielt mich umklammert und sah mich mit großen Augen verständnislos an. Doch das kümmerte mich nicht. Erst, als er ungehalten wirkte, konnte ich mich fangen. Ich schob meine Hände zwischen ihn und mich. „N-nicht jetzt, Marduk!“ Ich versuchte zu lächeln, aber es gelang mir einfach nicht. „Später, wenn wir allein sind.“
      Er sah nicht aus, als ob er das wollte. Sein Blick ging zu Leif, also zwang ich mich noch einmal dazu zu lächeln. Diesmal gelang es mir besser. „Bitte lass ihn in Ruhe, ja? Er hat mich gerettet und ich möchte das wiedergutmachen. Lass mich ihm etwas Wasser geben und dann sagst du, dass er sich geweigert hat zu reden.“
      „Aber Vater wird dich dafür bestrafen lassen“, erinnerte er.
      „Das nehme ich gerne auf mich. Ich habe schon Schlimmeres durchgemacht.“
      Marduk sah mich mit einem Schmollmund an, der mir einen Schauer den Rücken runter jagte. Aber er zeigte sich einsichtig. „In Ordnung.“
     Plötzlich fuhr er mir mit seinem Daumen über die Lippen, dass ich Angst bekam, und dann spürte ich ein brennendes Stechen und schmeckte Blut. Als er seine Hand zurücknahm, bemerkte ich die Klinge des Messers darin. An ihrer Spitze klebte noch immer ein wenig meines eigenen Blutes. Als mein Blick zu Marduk zurückkehrte, war er so drohend, dass es mir wieder kalt wurde. „Aber lass mich nicht zu lange warten!“
     Dann hatte er mich endlich freigegeben und war an mir vorbei zu seinen Fellen gegangen. Ich sah zu, dass ich mir den Wasserkrug und einen Becher schnappte und zu Leif ging, um ihm zu trinken zu geben. Wie ich Enlils Methoden kannte, hatte er bestimmt seit seiner Gefangennahme nichts oder so gut wie gar nichts mehr gegessen und getrunken. Seine Wangen waren eingefallen, seine Augen blutunterlaufen und er hatte dunkle Schatten darunter, als er mich jetzt träge ansah. Er sah so ausgemergelt aus, als wäre er eigentlich schon tot.
     Aber als ich den Krug hob, um einzuschenken, konnte ich plötzlich nicht mehr. Ich zitterte so heftig, dass er mir beinahe aus der Hand fiel. Die Sicht verschwamm mir vor Augen und mir wurde so schlecht, dass ich bereits schmecken konnte, wie es mir hochkam. 
     Mit aller Willenskraft, die ich noch hatte, zwang ich meinen Mageninhalt wieder runter, aber gegen die Tränen, die jetzt mein Gesicht fluteten, kam ich nicht an. Ich fühlte mich so erbärmlich. Ich war ein Heuchler, ein Lügner und Betrüger. Ich sah sie alle vor mir. Samuel, Lu und Isaac, sie alle, die ich jemals hatte haben wollen und plötzlich war ich mir sicher, dass die Sonne für mich nie wieder aufgehen würde.
     „Was tust du da so lange?“, brachte mich Marduks Stimme zurück.
     Ich zwang mich weiterzumachen. Doch ich brauchte mehrere Anläufe, bis das Wasser überhaupt im Becher landete. Und auch, ihn an Leifs zersprungene Lippen zu halten war nicht einfacher. Er sah mich, das wusste ich, aber ich kümmerte mich nicht darum. Ich ließ die Tränen laufen, weil ich viel zu sehr damit beschäftigt war, nicht laut loszuschreien. Ich hasste mich so sehr.

Schließlich dauerte es Marduk doch zu lange und er kam, um mir Feuer unterm Hintern zu machen. Ich wischte mir hastig über die Augen, als ich seine Schritte hörte und versuchte, gleichmäßig zu atmen, um mein rasendes Herz zu beruhigen. Es gelang mir nur unzureichend. 
     Als ich mich erheben wollte, traf mich Leifs Blick noch einmal. Er sah mich so eindringlich an, als würde er mir etwas sagen wollen, aber ich verstand es nicht. Da flüsterte er mit rauer Stimme: „Hilf mir!“
     Er verstummte gerade rechtzeitig, als Marduk hinter mir zum Stehen kam und „Wird’s bald?“ sagte. Ich quälte mich auf die Beine, aber ich fühlte mich wie ein wandelnder Toter, während ich mich ihm zuwandte. Er sah mir nur kurz ins Gesicht; ich konnte nicht sagen, was er dachte, dann wandte er sich wieder ab. Und alles, was ich dachte, war: ‚Ich kann das nicht mehr.‘  
     Mit einem schnellen Schritt war ich bei Marduk und hatte ihm die Faust auf den Hinterkopf geschlagen, bevor er überhaupt wusste, wie ihm geschah. Er ging sofort zu Boden. 
     Ich konnte nicht fassen, was ich gerade getan hatte. Ich hatte herausfinden wollen, ob Marduk nun ein Monster oder ein Opfer war, ob ich ihn retten sollte oder nicht, aber dafür hatte mir letztendlich doch die Zeit gefehlt. Aber egal, ob es nun richtig oder falsch gewesen war, ihn niederzuschlagen, es bedeutete Ärger. Immerhin lebte er noch. Zumindest sah ich, dass er atmete.
     „Wulfgar!“, drang Leifs Stimme endlich zu mir vor. Sie war mehr ein Flüstern, damit die Wachen draußen uns nicht hörten.
     Ich schob meinen Ekel und meinen Selbsthass beiseite und zwang mich, mich zusammenzureißen. Der Schrecken, der mich die ganze Zeit über gefangen gehalten hatte, ebbte daraufhin langsam ab. Dann ging ich zu Marduk, suchte nach seinem Messer, und als ich es gefunden hatte, schnitt ich Leif die Fesseln durch. Er rieb sich die Handgelenke, schlug meine Hilfe aber aus und kam selber auf die Füße.
     „Gib mir das Messer!“, forderte er, und ich händigte es ihm aus. Ich hatte keinen Anlass, ihm zu misstrauen, aber vor allen Dingen schien er mir gerade der Vernünftigere von uns beiden. 
     Doch als er zu Marduk ging, hielt ich ihn trotzdem zurück. „Warte! Was hast du vor?“
    „Ihn aus dem Weg räumen, natürlich.“
    „Wenn du mir einen Gefallen tun willst, dann lass ihn einfach da liegen“, bat ich hastig. Ich wusste nicht, ob das eine weise Entscheidung war, aber nachdem ich Marduk so feige hinterrücks niedergeschlagen hatte, fand ich, war ich ihm wenigstens das schuldig.
    „Wozu?“, fragte Leif verständnislos. „Sag mir bloß nicht, dass du wirklich was für ihn übrig hast. Er wollte mich töten!“
     Ich konnte nicht sagen, was Leif von der Vorstellung überhaupt hielt, aber immerhin schien er mir nicht das Messer zwischen die Augen rammen zu wollen dafür, dass ich vor kurzem einen anderen Mann geküsst hatte.
    „Ich weiß.“ Ich machte eine Pause, um meine Worte genau abzuwägen. „Aber er hätte es nicht getan. Da bin ich mir sicher. Er ist auch nur ein Gefangener von Enlil, so wie du und ich. Eigentlich ist er harmlos.“
     „Und das weißt du so genau?“
     „Ja.“ Das tat ich nicht. Aber das war es, was ich hoffen wollte. „Vertrau mir!“
     Leif warf mir einen abschätzenden Blick zu, aber dann ließ er das Messer wieder sinken. „Na gut! Aber ich werde ihn fesseln. Ich kann gut und gerne darauf verzichten, dass der Mistkerl uns folgt.“
     Das schien mir vernünftig, also nickte ich und Leif ging, um das Seil zu holen, das ihn selber noch vor kurzem gebunden hatte. Es war zerschnitten, aber noch lang genug, um Marduk die dürren Handgelenke aneinanderzubinden.
     „Folgen?“, fragte ich ihn dabei. „Was hast du denn vor?“
     „Ich weiß nicht, was du vorhast, aber ich werde von hier verschwinden.“
     „Wie willst du das denn anstellen?“
     Leif beendete seine Arbeit und sah sich um. Sein Blick blieb an Marduks Essensresten hängen und er ging, um sich daran gütlich zu tun. „Die Wachen“, fragte er zwischen zwei Bissen, „weißt du, wann die wiederkommen?“
     „Nicht vor morgen, denke ich. So war es bei mir zumindest.“ Ich überlegte und korrigierte mich dann: „Nein, das stimmt nicht. Sie kommen nachts noch einmal, um die Lichter zu löschen.“
     „Gut. Dann werden wir warten, bis es dunkel wird und dann locken wir sie hier rein und werden sie überwältigen.“
     „Und dann? Es ist nicht so, dass da draußen alles verlassen ist“, erinnerte ich.
     „Nein, aber wir haben Glück; es wird bald Regen geben. So bei Einbruch der Nacht ungefähr, schätz ich“, behauptete er.
     „Woher willst du das denn wissen?“
     Er klopfte sich gegen sein rechtes Bein. „Ich hab da mal einen Pfeil abbekommen vor Jahren. Seitdem ist es ziemlich taub. Bin froh, dass ich überhaupt noch damit laufen kann. Aber ich merke damit jeden Wetterumschwung. Es zieht immer, wenn es regnen wird. Ist echt zuverlässig. Und du weißt ja, was Regen bedeutet.“
      Regen bedeutete, dass niemand draußen sein wollte. Vor allen Dingen um diese Jahreszeit und vor allen Dingen abends nicht. Normalerweise gingen dann alle rein, um zu würfeln und sich die Kante zu geben. Und das tat auch Enlil. Sie alle wussten, dass er sich jeden Abend immer bis zur Besinnungslosigkeit betrank. Ob es nun regnete oder nicht. Meistens war er längst weggetreten, bevor auch nur irgendjemand anderes schlafen ging. Deshalb ging es nachts auch ein bisschen chaotischer im ansonsten disziplinierten Tempelbezirk zu. Da Enlil nicht aufpasste, machte eigentlich jeder, was er wollte. 
     So auch die Wachen, die eigentlich auch bei Regen draußen stehen mussten. Was nachts bei schlechtem Wetter aber trotzdem niemand tat. Niemand rechnete damit, dass Feinde bis hierher vordrangen. Nur Marduks Wachen blieben selbst bei Schneestürmen lieber draußen, als bei ihrem gefährlichen Schützling in der Wärme zu sitzen, wie ich wusste.
      „Meinst du, dass Enlil sich überhaupt noch betrinkt? So paranoid wie der die letzte Zeit geworden ist“, gab ich zu bedenken.
     „Er tut’s trotzdem. Ich hab’s gehört. Er kann damit nicht so einfach aufhören. Soll sogar schlimmer geworden sein. Deshalb wimmelt es abends nur so von Wachen in seiner Halle.“ Er verstummte und ich merkte schon, dass er etwas wollte, als er mich jetzt ansah. „Du wirst mir doch helfen, oder?“, fragte er.
     „Natürlich.“ Es war nicht so, dass ich hier nicht raus wollte.
     Doch Leifs Blick verfinsterte sich. „Ich werde nicht einfach von hier abhauen können, wenn wir hier raus sind“, eröffnete er. „Ich muss erst die Anderen befreien.“
     „Die Anderen?“
     „Enlil hat nicht nur dich und mich einsperren lassen, sondern inzwischen auch viele andere. Seine Leute, Sklaven.“
     „Sklaven?“
     „Ja.“ Er stockte. „Weißt du nicht, was das ist?“ Als ich den Kopf schüttelte, erklärte er: „Das sind nicht nur Gefangene, Wulf, er wird sie verkaufen.“
     Seine Erklärung war nicht sonderlich gut, aber ich konnte mir denken, was er meinte.
     „Ich muss sie jedenfalls da rausholen, egal, ob sie mit in der Verschwörung drinstecken oder nicht. Und ich muss wissen, ob ich auf deine Hilfe zählen kann. Ich weiß, dass du bislang nicht helfen wolltest, aber nachdem du’s selber gesehen hast vielleicht…“
     Er hatte mich schon öfter danach gefragt, erinnerte ich mich. Dass ich ihm mit dem Sklaven helfen sollte. Aber ich hatte einfach nicht zuhören wollen. Damals, als mir noch alles egal gewesen war. Aber jetzt war das anders. Also nickte ich. „Du kannst auf mich zählen.“
     Leif sah überrascht aus, aber er überspielte es mit einem Grinsen. „Scheinbar ist da ja doch ein Herz in dir.“
     Da war ich mir nicht so sicher, wenn ich Marduk sah.

Wir warteten, bis es dunkel wurde und der Regen begann, rhythmisch auf das Dach zu trommeln. Ein heftiger Regenschauer, so, wie Leif es vorhergesehen hatte. Dann bezogen wir links und rechts vorm Eingang Stellung. Ich hatte so meine Zweifel gehabt, dass Leif in seiner Verfassung überhaupt würde kämpfen können, aber er hatte nur gesagt, dass er „nicht so ein Weichei“ sei, wie ich, und damit war es gut gewesen. 
     Ich selber fühlte mich immer noch nicht wirklich bei Kräften, aber ich würde trotzdem kämpfen. Nicht, weil ich stark erscheinen wollte, sondern, weil ich es sein musste. Für mich, für Leif und auch für die anderen Gefangenen.
     Wir hatten Marduk, der noch immer den Schlaf der Gerechten schlief, direkt vor den Eingang gelegt. Im besten Fall würden sie über ihn stolpern oder aber wenigstens durch ihn abgelenkt werden. Ich fühlte mich schon ein bisschen schlecht, ihn dafür zu missbrauchen und ich hätte mir gewünscht, dass er wach gewesen wäre, um uns zu helfen. Er war schließlich auch an der Freiheit interessiert. Aber es war nicht zu ändern. Leif war mir immerhin ein verlässlicherer Verbündeter, als dass es Enlils Sohn jemals gewesen wäre.
     Auf ein Zeichen von Leif hin begann ich nach Hilfe zu rufen und tatsächlich ging die Tür auf und einer der Wachen erschien. Er sah sich verwirrt im Raum um, der scheinbar leer war, bevor er Marduk entdeckte, aber da war Leif schon nach vorn gesprungen, hatte ihn in den Raum gerissen und war nun dabei, ihn in seinem Schwitzkasten zu halten und mit ihm zu ringen. 
     Ich wusste nicht, ob er diesen Kampf gewinnen konnte, aber ich hatte sowieso eine andere Aufgabe. Hastig schlüpfte ich durch den freigewordenen Ausgang und verpasste der zweiten Wache, die nun kommen wollte, um nach dem Rechten zu sehen, einen Schlag gegen die Schläfe. Er ging so unspektakulär zu Boden, wie zuvor auch Marduk. Dann kehrte ich umgehend wieder zu Leif zurück, der inzwischen alle Hände voll damit zu tun hatte, seinem Gegner den Mund zuzuhalten und ihn gleichzeitig im Griff zu behalten. Man sah ihm an, dass er mehr unter Enlils Behandlung gelitten hatte, als ich.
     Also kam ich ihm flugs zu Hilfe und sandte auch diesen Wächter zu Boden. Leif wollte sie am liebsten gleich wieder töten, aber auch davon hielt ich ihn ab. Wir nahmen uns die Zeit, sie mit ihren eigenen Sachen zu fesseln und schoben einem jedem, auch Marduk, noch einen Knebel in den Mund, bevor wir sie zusammen zurückließen. 
     Ich zögerte einen kurzen Augenblick, entschloss mich dann aber dazu, die Tür hinter uns einen Spalt breit aufzulassen. Es war riskant, aber ich hatte meine Gewissenlosigkeit verloren und auch wenn es wahrscheinlich das Ende meiner Laufbahn als Krieger bedeuten würde, wollte ich das nicht mehr ändern.
     
Der Hof lag tatsächlich verlassen vor uns, weshalb wir unbehelligt bis zur Waffenkammer kamen. Selbstredend war auch sie bewacht, aber wir überraschten den einsamen Wächter noch in seinem gemütlichen Versteck, bevor er uns überhaupt erkennen konnte. Wir hatten uns davor natürlich an den Rüstungen und Waffen von Marduks Wachen bedient, um nicht so sehr aufzufallen. Es war keine hundertprozentige Tarnung, aber es reichte für einen Überraschungseffekt allemal.
     Die Gefangenenunterkünfte waren sehr viel besser bewacht, aber Bögen und Schwerter waren sehr überzeugend, um uns Zugang zu verschaffen. Mir war zwar überhaupt nicht mehr danach, irgendjemanden zu töten, aber ich bemerkte den ein oder anderen Blick in meine Richtung und es half, dass ich noch einmal meine kalte Maske aufsetzte. Nach wie vor hatten die Leute wohl einen ganz schönen Respekt vor mir. Immerhin waren aber nicht alle unserer neuen Waffenbrüder und -schwestern unglücklich darüber zu sein, dass ich da war, wie es schien. Auch wenn Leif wesentlich herzlicher Empfangen wurde.
     Ich war froh, als wir dann aus dem Gefängnis, das mehr einem winzigen, dunklen Schweinestall glich, in dem sich viel zu viele Menschen in Dreck, Unrat und Stroh gedrängt hatten, wieder raus waren. Es ging zurück in die Waffenkammer und als alle bewaffnet und ausgerüstet waren, so gut es ging, schwärmten wir aus.
      „Wir überfallen sie im Schlaf?“, fragte ich Leif leise, der gerade neben mir ging. Seine Haare klebten ihm in nassen Strähnen auf der Stirn, was ihn noch hagerer wirken ließ.
     „Ich weiß. Nicht gerade ehrenhaft. Aber es ist unsere einzige Chance. Wir sind schon so viel zu wenige“, gab er genauso leise zurück. Der Regen ging so heftig nieder, dass ich ihn kaum verstand.
     Er hatte leider recht. Wir waren keine hundert Leute und da drinnen wartete ein Vielfaches an Kriegern auf uns. Ausgebildeten Kriegern, während wir aus ausgehungerten Gefangenen bestanden. Männer, Frauen, ja sogar Kinder und Greise. Aber es war nicht zu ändern. Ich hatte ja gehofft, dass wir uns einfach aus dem Staub machen würden, aber ich war überstimmt worden. Viele waren der Ansicht, dass Enlil sie sonst ohnehin wieder einfangen würde. Dass er gestürzt gehöre für das Wohl aller. Und nicht gerade wenige sannen auf Rache.
     Also gingen wir von Unterkunft zu Unterkunft und überfielen sie im Schlaf. Möglichst leise und möglichst schnell. Aber es änderte nichts daran, dass dennoch bald überall Kämpfe losbrachen. Wir wurden nach und nach wieder nach draußen gedrängt und waren schließlich im Hof zusammengepfercht. Es sah ziemlich schlecht für uns aus, aber ich hatte nicht die Verzweiflung einberechnet, die die Gefangenen umso inbrünstiger kämpfen ließ.
     Auch ich tat mein bestes. Zuerst kämpfte ich Rücken an Rücken mit Leif, aber irgendwann wurden wir getrennt. Dennoch machte ich einen Feind nach dem anderen nieder. Die Schwäche zehrte an mir und meine Brust hatte wieder zu schmerzen begonnen, ja selbst der Einstich bei meinen Nieren tat mir wieder weh, aber ich ignorierte es, so gut es ging, und kämpfte weiter.
     Doch dann kam plötzlich ein riesiger Schatten über mich. Ich schaffte es nur gerade so noch, zur Seite auszuweichen und als ich mich umdrehte, sah ich Enlil vor mir stehen, sein wuchtiges Schwert in der Hand. Seine Augen waren blutunterlaufen, aber dadurch sah es nur noch mehr so aus, als würden sie voller Zorn rot glühen. Wenn er vor kurzem noch seinen Rausch ausgeschlafen hatte, war davon jetzt jedenfalls nichts mehr zu sehen.

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