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Sonntag, 16. Dezember 2018

Kapitel 21 - Marduk


Flink wie ich ihn in Erinnerung hatte, sprang Marduk auf die Beine und war im nächsten Moment bei mir. Da sie blöderweise meine Hände hinterm Rücken gefesselt hatten und ich noch immer total fertig von Enlils Behandlung war, verlor ich die Balance und kippte wieder nach vorn, als ich versuchte, aufzustehen und von ihm wegzukommen. Eigentlich hatte ich ja vor kurzem erst noch mit mir abgeschlossen gehabt, aber sein hasserfüllter Blick jagte mir trotzdem einen wahnsinnigen Schrecken ein, und das ließ mich ganz automatisch auf Abstand gehen.
    Bevor ich mich wieder aufrappeln konnte, hatte er meinen Kiefer gepackt und meinen Kopf nach oben gerissen. Es knackte schrecklich in meinem Nacken, aber meine Angst lenkte mich glücklicherweise davon ab. Sein längliches, schmales Gesicht war voller blauer Flecken und er hatte einen blutigen Schnitt quer über die rechte Wange.
     „Du! Ich wusste, dass ich dich damals hätte töten sollen!“, zischte er wütend zwischen zusammengebissenen Zähnen hindurch und versprühte dabei einen feinen Regen aus Spucke auf meinem Gesicht. „Du hast versprochen zu schweigen, aber du hast es nicht getan! Und deswegen haben sie Utu getötet!“
     Er biss die Zähne so fest aufeinander, dass ich es knirschen hören konnte. Eigentlich war er nur ein schmächtiger Kerl, aber dennoch glaubte ich wirklich, dass er mir den Kiefer brechen würde. Aber außer, dass sich seine Fingernägel in meine Haut fraßen und ich einen unschönen Druck auf meiner Kauleiste verspürte, passierte nichts. Ich versuchte, seinem Blick tapfer standzuhalten, als würde mich das alles nicht interessieren. Nur ein letztes Mal noch. Aber es schien ihn nur noch wütender zu machen.
     Nachdem er dann fertig damit war, mich totstarren zu wollen, schlug er meinen Kopf zur Seite und ich wäre beinahe mit umgekippt. Stattdessen richtete ich mich auf, so gut es ging, und sah auf den Knien dabei zu, wie seine in teuren, edelsteinbesetzten Sandalen steckenden Füße mich umrundeten. Wie eine Raubtier seine Beute, schoss es mir durch den Kopf.
     „Oh, ich werde meinen Spaß mit dir haben“, hörte ich ihn sagen. Seine Stimme troff beinahe vor Genugtuung. „Wenn ich mit dir fertig bin, wirst du darum betteln, dass du tot wärst.“   
     Es war der Moment, in dem ich mich entscheiden musste. Was sollte ich tun? Sollte ich aufgeben oder sollte ich kämpfen? Mein Blick huschte zu Ragna, der noch immer verängstigt an seiner Wand kauerte, dann unauffällig zu Marduk, der mich noch immer umrundete, und da wusste ich, dass ich etwas tun musste. Ich konnte nicht untätig bleiben. Schon allein wegen dem Jungen nicht. Immerhin war es meine Schuld, dass er überhaupt hier war. Und ich hatte mir doch geschworen, es von nun an besser zu machen.
      Aber was sollte ich tun? Marduk war gefährlich und wenn ich nicht aufpasste, würde er mich schneller aufschlitzen, als dass ich würde gucken können. Und dann war ich niemandem mehr eine Hilfe. Doch so sehr ich auch nachdachte, mir wollte keine Idee kommen. 
     Als Marduk schließlich wieder vor mir zum Stehen kam, jagte sein irrer Blick erneut einen Schrecken durch mich und mir entglitt jeglicher vernünftiger Gedanke. Ich musste etwas tun, bevor es zu spät war! Bevor ich wusste, was ich tat, hatte ich dasselbe wahnsinnige Grinsen aufgesetzt, das auch Marduk trug und hatte gesagt: „Tu dir keinen Zwang an! Ich stehe auf zarte Jünglinge wie dich. Und wenn du fertig bist, dann zeige ich dir mal, wie es richtig geht.“ Ich fühlte mich so widerlich.
     Marduks Gesicht entglitt. Es war nur ein winziger Augenblick, aber ich sah es genau. Er hatte überhaupt nicht mit meiner Reaktion gerechnet, das konnte ich sehen. Ich konnte ja selber nicht glauben, was ich da gerade von mir gegeben hatte. Ich meinte ja nicht einmal, was ich gesagt hatte. Aber das konnte ich jetzt schlecht zugeben, also bluffte ich weiter.
     Der Moment ging schnell vorbei und Marduk hatte sich sofort wieder unter Kontrolle, und er starrte nun kalt von oben auf mich hinab. Ich hielt seinem Blick stand, versuchte, aus seinem Gesicht zu lesen was er dachte. Was in ihm vorging. Doch er ließ mich nur ein kurzes Flattern seiner Augen sehen, dann setzte er seine Maske aus Wut wieder auf, holte aus und gab mir eine Ohrfeige, dass mein Kopf zur Seite kippte.
     „Wage es nie wieder, so respektlos mit mir zu sprechen!“, knurrte er. Aber ich hatte es gesehen. Er trug eine Maske, genauso, wie ich auch. Nur wie es darunter aussah, konnte ich überhaupt nicht sagen.
     Bevor ich es auch nur ergründen konnte, drehte er mir den Rücken zu und wedelte mit der Hand. „Mal schauen, wie frech du noch bist, wenn du ein paar Tage hungerst“, sagte er im Weggehen.
     Und alles, was ich dachte, war: ‚Was habe ich gerade nur getan?‘

Glücklicherweise waren meine Schmerzen und meine Erschöpfung größer als mein Hunger, weshalb ich schnell wieder einschlief. Natürlich bekam ich keine Decke und man machte sich auch nicht die Mühe, meine Fesseln zu lösen, aber ich schlief trotzdem tief und fest.
     Zumindest so lange, bis ein undeutliches Geräusch mich wieder aus dem Schlaf riss. Ich blinzelte in die Dunkelheit, als ich die Augen aufschlug, weshalb ich annahm, dass es Nacht war. 
     Meine Glieder waren fürchterlich steif und alles tat mir weh, als ich mich vorsichtig auf die Knie kämpfte. Ich brauchte eine ganze Weile, um zu realisieren, was das für ein Geräusch war, das den langgezogenen, aber engen Raum durchdrang. Es war ein ersticktes Schluchzen.
     Die Nackenhaare stellten sich mir auf, als ich mich daran erinnerte, wo ich war und dass das wahrscheinlich Marduk war, der da gerade weinte. Es kam zumindest aus seiner Richtung. Ich sah mich verstohlen um, so gut es in der Dunkelheit eben ging, und bemerkte einen dunklen Schatten, der sich unweit von mir bewegte, als mein Blick auf ihn fiel. Ragna. Wahrscheinlich hörte auch er Marduks Schluchzen, aber er tat, als würde er schlafen.
     Hinter mir war alles leer. Es gab nur eine Tür, die den einzigen Ausgang versperrte. Die Wachen, die mich vorher noch so nett geweckt hatten, waren auch nicht mehr zu sehen. 
     Mondlicht war alles, was den Raum durch ein kleines, quadratisches Loch von oben beleuchtete. Da sich ein Gestell über der Öffnung befand, damit es nicht rein regnete, war es aber nur ein schmaler Streifen Licht, der hereinfiel und er fiel geradewegs vor die schluchzende Gestalt vor mir. Vor ein paar Stunden noch hatte Marduk genau unter der Öffnung gesessen, aber jetzt war er in den Schatten geflohen.
      Ich überlegte einen Moment, ob ich wohl nachsehen sollte, ob die Tür abgeschlossen war – was sie sicherlich war – oder ob ich durch die Öffnung passen würde – was nicht der Fall sein würde. Nach wie vor waren Ragna und ich hier gefangen. ‚Genauso wie Marduk‘, kam es mir ungefragt in den Sinn.
     Mein Blick zuckte erneut zu der erbärmlich schluchzenden Gestalt. Ich fragte mich, ob ich es wohl schaffen würde, ihn aus dem Weg zu räumen. Meine Kehle war ausgetrocknet, ich hatte Hunger und überall Schmerzen, aber wenn er nicht damit rechnete, hätte ich vielleicht eine Chance gegen ihn. Trotz meines erbärmlichen Zustandes war ich wahrscheinlich noch immer stärker als er. Doch während ich noch darüber nachdachte, ging mir auch auf, dass das ohnehin nichts bringen würde. Marduk war, wie gesagt, ebenfalls hier gefangen, also hatte er wahrscheinlich keinen Schlüssel zur Freiheit bei sich.
     Während ich auf meinen Fersen saß und Marduks Schluchzen lauschte, konnte ich nicht verhindern, dass sich ein merkwürdiger Knoten in meinem Bauch bildete. Ich wünschte wirklich, er wäre einfach still gewesen, aber den Gefallen tat er mir nicht. Plötzlich fühlte ich mich schlecht, dass ich überhaupt daran gedacht hatte, ihn hinterrücks umzubringen. Die Leute sagten über ihn, er sei ein Monster, aber ich war die letzten Jahre nicht besser gewesen. Und die Leute erzählten viel, wenn der Tag lang war, das wusste ich besser, als sonst irgendwer. Momentan war Marduk jedenfalls nur ein bemitleidenswertes Opfer seines Vaters. Und – meine Güte, bekam ich gerade wirklich Mitleid mit ihm? Die gefühllosen Jahre, die hinter mir lagen, mussten mich sentimental gemacht haben.
     Ich wollte jedenfalls, dass er endlich ruhig war, also schleppte ich mich zu dem schmalen Streifen Mondlicht und fragte: „Warum weinst du?“, als ob ich das nicht genau wüsste.
     Marduk zuckte zusammen und obwohl ich dachte, er würde mir bestimmt die Nase blutig schlagen, blieb er liegen und antwortete nicht. Er rollte sich vielleicht ein bisschen mehr ein, verstummte aber nur.
     „Ist es, weil Utu tot ist?“
     Ich hatte wirklich eine Auszeichnung für Feinfühligkeit verdient. Marduk fing wieder an zu schluchzen, aber diesmal schaffte er es, herauszuwürgen: „Sei still! Du bist daran schuld! Du hast uns verraten!“
     „So etwas würde ich niemals tun“, entgegnete ich ehrlich.
     Er sprang auf alle Viere und als mich seine tränennassen Augen trafen, die mich so an Enlil erinnerten, erkannte ich erst, wie jung er eigentlich noch war. Er musste kaum älter sein, als Ragna.
     „Du lügst!“, rief er aufgebracht.
     „Nein, das tue ich nicht. Ich… weiß doch selber ganz genau, was ihr durchgemacht haben müsst“, entwich es mir, bevor ich mich stoppen konnte.
     Im nächsten Moment starrte ich ihn so erschrocken an, wie er mich anstarrte. Was war nur mit mir los, dass ich plötzlich so redselig war? Ich hatte diesen Teil von mir immer totgeschwiegen, so gut es eben ging, und ich hätte mir eher die Zunge abgebissen, bevor ich mit jemandem darüber geredet hätte, wie es in mir aussah. Ich hatte so lange Zeit nicht einmal mehr daran gedacht. Seitdem Mari gestorben war und ich mich dazu entschlossen hatte, nie wieder jemanden an mich heranzulassen hatte ich das nicht.  
     „Ich hasse ihn! Ich hasse ihn!“, brach Marduk plötzlich aus. „Warum musste er mir Utu wegnehmen? Dazu hatte er gar kein Recht! Utu hat nichts getan! Er hat ihn nur getötet, weil er… weil er….“ Er brach ab und hatte eine Weile mit seinen Weinkrämpfen zu kämpfen. „Was soll ich denn jetzt tun? Ohne Utu bin ich ganz allein…“
     Er gab sich wieder seinen Tränen hin und ich war nur froh, dass meine Hände gefesselt waren, sonst hätte ich ihm wahrscheinlich auch noch den Kopf getätschelt, weil er mir so leid tat.

Marduk sagte danach kein Wort mehr und weinte sich stattdessen in den Schlaf. Den Gedanken, ihn nach etwas Wasser für meine ausgedörrte Kehle zu fragen, verwarf ich deshalb auch schnell wieder. Stattdessen blieb ich, wo ich war, und als er dann endlich eingeschlafen war, fand auch ich in einen unruhigen Schlaf, der jedoch immer wieder von meinem knurrenden Magen unterbrochen wurde.
     Auch am nächsten Tag wurde das nicht besser. Mein Hunger war inzwischen geradezu schmerzhaft geworden und das Allerschlimmste war, dass ich mich immer schwächer und kraftloser fühlte. Vielleicht hätte ich gestern doch versuchen sollen, irgendwie zu fliehen, aber nach wie vor stellte sich einfach die Frage, wie, verdammt nochmal, ich das anstellen sollte.
     Marduk hatte seine kalte Maske am nächsten Morgen wieder auf, als hätte er sich gestern Nacht nicht erst die Augen aus dem Leib vor mir geheult, aber immerhin schien er mir jetzt keinen qualvollen Tod mehr bereiten zu wollen.
     „Nun? Willst du mir endlich sagen, was mein Vater wissen will, damit ich mir die Mühe sparen kann, dir wehzutun?“
     „Ich kann dir nichts sagen. Ich weiß nichts“, krächzte ich. „Ich hab so Durst! Bitte!“
     Marduk schürzte missbilligend die Lippen, sah aber davon ab, mir wie angedroht wehzutun. Stattdessen ging nun die Tür auf, Licht flutete herein, und Marduk wich geradezu davor zurück. Sein Gesicht eine Maske des Entsetzens. Da kamen auch schon zwei Männer an, die, die ihn immer bewachten, wie ich erkannte, und packten ihn links und rechts bei den Armen. Wenn es mir nicht so elend gewesen wäre, hätte ich die Chance zur Flucht nutzen können, aber ich war mir nicht mal sicher, ob ich auf den Beinen bleiben konnte.
     Wie zu erwarten folgte Enlil kurz darauf, auch wenn er nicht das Risiko einging, seinem Sohn so nahe zu kommen, wie die beiden Wachen. Marduk hatte seine Fassung da schon wiedererlangt und starrte seinen Vater mit aller Wut und allem Hass an, den er nur aufzubringen vermochte, wie mir schien. Es lief jedenfalls selbst mir eiskalt den Rücken dabei runter, obwohl mein Kopf inzwischen so sehr schwirrte, dass ich nicht mal mehr richtig denken konnte.
     „Ich hoffe, dass mir jetzt einer von euch beiden endlich einen Namen nennen kann“, kam Enlil sofort zum Punkt. Sein Blick wanderte abwartend von mir zu seinem Sohn.
     „Er weigert sich zu sprechen“, war es Marduk, der ihm knurrend antwortete. „Du wirst ihn mir noch eine Weile lassen müssen.“
     „Ich habe diese Weile aber nicht mehr!“, herrschte Enlil ihn aufgebracht an. 
     Dann wandte er sich an mich, aber er machte sich nicht einmal die Mühe, zu mir runterzukommen. „Nun gut! Dann müssen wir das eben anders machen.“ Er nickte irgendjemanden zu, der hinter mir stand und den ich nicht sehen konnte. „Schneidet ihn in Stücke, solange, bis er redet!“
     Obwohl ich halb ohnmächtig war, verirrte sich dennoch ein kleiner Schreckensstich in meinen Bauch und wanderte von dort hinab. Ich hatte mich ja schon gewundert, dass ich nach Enlils erster Behandlung noch alle meine Gliedmaßen bei mir gehabt hatte. Normalerweise war er großzügiger, was Amputationen anging.  
     Ich spürte, wie sich zwei Hände um meine Arme schlossen und an mir zogen, aber als Marduk Anstalten machte, seinen Bewachern zu entkommen, hielten sie inne. „Nein!“, rief er erschrocken. „Lass ihn mir!“
     Enlil hob eine Augenbraue, als er sich seinem Sohn zuwandte und dann stahl sich ein diebisches Grinsen auf sein Gesicht, das mir da überhaupt nicht gefiel. „Ich soll ihn dir lassen?“ Als Marduk grimmig nickte, wies er belustigt auf Ragna, der noch immer verängstigt an seiner Wand hockte und der jetzt erschrocken zusammenzuckte, als Enlils Aufmerksamkeit zu ihm wanderte. „Ich habe dir erst letztens ein neues Spielzeug gegeben, damit du ruhig bist.“
     „Ich will ihn aber nicht. Er ist langweilig.“
     Enlil tat so, als würde er überlegen, während er gemächlich umherging. Er spielte mit Marduk und es schien ihm einen Riesenspaß zu machen, diesem Mistkerl. „Nun, was ist dir das denn wert?“
    „Meinen Gehorsam“, erwiderte Marduk knapp. „Das ist es doch, was du willst.“
    Mit einem Mal war Enlil an seinen Sohn herangetreten und starrte ihm so wütend ins Gesicht, dass mir ganz kalt wurde. Nicht, dass es diesen interessierte. „Einen Erben! Das will ich von dir! Mehr nicht!“, fauchte er.
     Ich bin dein Erbe, alter Mann! Finde dich damit ab!“
     Enlil öffnete und schloss seine Fäuste und mahlte mit den Zähnen. Ich hatte ihn noch nie so wütend gesehen und ich war mir sicher, dass er Marduk jeden Moment ins Gesicht springen würde, aber das tat er nicht. Stattdessen zog er sich zurück und gab seinen Leuten die Anweisung: „Bringt ihn weg!“
     Damit war wohl ich gemeint, was mein Herz dazu brachte, abwärts zu wandern. Ich konnte nicht verhindern, dass sich mein Blick hilfesuchend zu Marduk verirrte, der tatsächlich nun selber erschrocken aussah. Dann aber verschwand jegliche Regung aus seinem Gesicht.
     „Wenn du ihn mir wegnimmst, werde ich aufhören zu essen“, erklärte er kalt.
     Enlil lachte laut auf, aber als er Marduks ausdrucksloses Gesicht sah, würde auch seines eiskalt. „Das wirst du nicht tun!“, knurrte er bedrohlich.
     „Oh doch! Du weißt, dass ich es tun kann und dass ich es tun werde!“, drohte Marduk. „Du kannst mich zwingen zu essen, aber wenn ich nicht leben will, werde ich nicht leben. Du weißt, dass ich das letzte Mal beinahe gestorben wäre. Und dann hast du gar keinen Erben mehr.“ Er grinste überlegen. „Dann stirbt deine Blutlinie mit mir.“
     Enlil mahlte noch einen Moment länger mit den Zähnen und sein Kopf war inzwischen so rot angelaufen, dass er aussah, als würde er bald explodieren. Dann aber wirbelte er herum und auch ohne, dass er einen Befehl geben musste, folgten seine Männer ihm kurz darauf. Man ließ mich in Ruhe und als die Tür wieder ins Schloss fiel, fiel auch ich endlich wieder in die Bewusstlosigkeit. Hunger und Durst waren inzwischen alles, aus was meine Welt zu bestehen schien.

Ich war es so leid aufgeweckt zu werden. Keine Ahnung, was es diesmal war – ein unsanfter Stoß und ich war wieder wach. Auch wenn wach meinen Zustand nicht wirklich beschrieb. Mein Blick war verschwommen und nur langsam entstand wieder eine Welt um mich herum. Etwas Bräunliches erfüllte mein gesamtes Sichtfeld und lange Zeit war ich nur damit beschäftigt, meine Gedanken müde hin und her zu drehen und zu verstehen, was ich da sah.
     Wahrscheinlich hätte ich noch den ganzen Tag darüber gerätselt, aber da half mir jemand netterweise dabei, mich aufzurichten, indem er mich rüde mit dem Fuß zurückstieß. Ein böser Schmerz stach von meinem Kopf durch meinen gesamten Körper und ich kippte sofort wieder nach vorn und obwohl meine Hände nicht mehr gefesselt waren, wäre ich bestimmt auf dem Gesicht gelandet. Aber als ich plötzlich verschwommen mir selber ins Gesicht sah, kehrte ich endlich in die Wirklichkeit zurück. Da war Wasser!
     Ohne lange zu zögern versenkte ich meinen Kopf darin. Ich sog das kühle Nass gierig in mich auf, als wäre es die Luft, die ich zum Atmen brauchte und mit jedem Schluck war es mir, als würde ich ins Leben zurückkehren. Meine Gedanken klärten sich.
     Doch leider ließ man mich meinen Durst nur kurz stillen. Ich wurde an meinen Haaren zurückgerissen, schnappte erstickt nach Luft und sah Marduk ins Gesicht.
     „Du sollst das nicht trinken, du sollst dich damit waschen!“, zürnte er.
     Sein Finger schnellte zu einem sauberen Tuch, das neben mir lag, aber ich verstand trotzdem immer noch nicht. Ich wollte nur wieder zurück ins Wasser.
     „Ich hab Hunger…“, würgte ich hervor.
     „Bevor du dich nicht gewaschen hast, bekommst du gar nichts.“ Er ließ mich wieder fahren. „Du stinkst bestialisch und ich habe keine Lust, dass du mir an Wundbrand krepierst, nachdem ich mich so für dich bei meinem Vater gedemütigt habe.“ Er war inzwischen wieder zu seinen Fellen zurückgegangen, um unter der kleinen Öffnung im Sonnenlicht zu sitzen. „Du solltest lieber ein bisschen mehr Dankbarkeit zeigen!“, sagte er drohend.
      Ich riskierte einen Blick und tatsächlich sah es so aus, als ob sich einige der Wunden auf meiner Brust entzündet hatten. Oder gerade dabei waren. Ich wollte gar nicht wissenm wie die Messerwunde zwischen meinen Nieren aussah. Es erklärte zumindest meine Schwäche und meine zehrende Müdigkeit. 
     Also zog ich mir das Hemd, das man mir gelassen hatte, über den Kopf, und bereute es sofort. Als der Stoff über die Wunde schabte, hätte ich am liebsten geschrien. Doch ich biss die Zähne zusammen und begann dann vorsichtig, die Wunden mit dem nassen Tuch zu säubern. Ich muss nicht sagen, dass das noch viel mehr wehtat. Es brannte so schrecklich, dass ich am Ende Tränen in den Augen hatte. Doch nach getaner Arbeit musste ich feststellen, dass es mir tatsächlich gutgetan hatte. Der Schmerz pochte zwar noch immer widerlich in meiner Brust, aber die Kälte des Wassers war überaus belebend gewesen.
     Nachdem ich das Tuch weggelegt hatte, sah ich erwartungsvoll zu Marduk hinüber. Wenn er mir jetzt nicht endlich was zum Essen geben würde, würde ich ihn überfallen und um seines erleichtern, das neben ihm stand und das er scheinbar nicht einmal angerührt hatte. 
     Doch er ließ sich schließlich dazu herab, mir ein kleines Brot zuzuwerfen, als würde er ein Schwein füttern. Ich stürzte mich auch genauso hungrig wie eines darauf und kümmerte mich überhaupt nicht darum, dass es davor noch auf dem erdigen Boden gelegen hatte. Ich vergrub meine Zähne in das Brot und es schien mir, als hätte ich noch nie etwas Köstlicheres gegessen.
     „Ich hoffe, du weißt, dass du das nicht umsonst bekommst“, hörte ich Marduk gönnerisch sagen. „Sag mir, hast du schon viel von der Welt gesehen oder bist du von hier?“
      Ich hatte keine Ahnung, was diese Frage sollte und ich überlegte auch, ihn einfach zu ignorieren, aber da ich es auf sein zweites Brot abgesehen hatte, antwortete ich kauend: „Ich komm nicht von hier.“
      Plötzlich war da ein aufgeregtes Glänzen in seinen Augen, das überhaupt nicht zu ihm passte. „Dann erzähl mir von der Welt!“, forderte er. „Ich will alles wissen, was du gesehen hast!“
      Ich nahm mir die Zeit, meinen letzten Bissen zu verschlingen. Dann streckte ich die Hand aus. Marduk sah zuerst aus, als würde er sie mir höchstens abbeißen, aber dann bekam ich doch noch sein zweites Brot zugeworfen. Ich hatte echt keine Lust, jetzt zu erzählen. Ich wollte essen und danach wollte ich mich wieder ausruhen. Die Strapazen des letzten Tages, meine Verletzungen und das Essen in meinem Bauch hatten mich schläfrig gemacht. Aber mir blieb keine andere Wahl.
     Also erzählte ich ihm von der Welt. Und obwohl er versuchte, desinteressiert auszusehen, lauschte er mir bald schon gebannt und mit offenem Mund, und das Leuchten war in seine Augen zurückgekehrt. Er war wirklich wie ein Kind. Ich fragte mich, wie lange Enlil ihn hier wohl schon gefangen hielt. Irgendwie konnte ich mich des Eindrucks nicht erwehren, dass Marduk sich nur wie ein großes Kind benahm, weil er seit seiner Kindheit hier eingesperrt war, und ich konnte nicht verhindern, dass diese Vorstellung mich doch betroffen machte.

Ich bekam auch noch die Fleischkeule, die Marduk übriggelassen hatte und zur nächsten Mahlzeit durfte ich dann sogar eine kurze Pause machen und ein Nickerchen einlegen. Auch wenn es nur ein kurzes war. Marduk war unerbittlich und er war überaus neugierig darauf, was ich noch zu erzählen hatte. Er saß den ganzen Tag nur da und hörte sich meine Geschichten an. Das Einzige, was er tat, war, mit der Sonne zu wandern, bis sie schließlich zu niedrig stand, um in sein Gefängnis zu scheinen.
     Nachdem die Wachen die zweite Mahlzeit reingebracht hatten, bekam ich sogar weiteres Publikum in Form von ihnen, aber ich hätte gut darauf verzichten können. Ich war am Abend jedenfalls nicht nur heiser, sondern auch völlig erschöpft. Die Wunden auf meiner Brust hatten wieder zu brennen begonnen und ich war todmüde.
     Deswegen war ich mehr als erleichtert, als sie kamen, um die Feuer zu löschen. Mit letzter Kraft schleppte ich mich zu der Stelle, an der Ragna bislang gewesen war. Enlil hatte ihn wohl wieder mitgenommen, aber ich wusste nicht, ob das jetzt gut für ihn sein würde oder nicht. Ich konnte jedenfalls gerade nichts für ihn tun. Ich war noch immer verletzt und zu erschöpft. Aber sobald ich wieder bei Kräften war, das schwor ich mir, würde ich einen Weg hier rausfinden und ihm helfen. Bis dahin musste ich nur einen guten Unterhalter spielen.
     Gerade, als ich mich hingelegt hatte, hallte aber wieder Marduks Stimme durch die Dunkelheit. „Da schläfst du aber nicht“, eröffnete er. „Du schläfst hier bei mir.“
     „Muss das sein?“, dachte ich und irgendwie sagte ich es wohl auch.
     „Widersetzt du dich mir etwa?“, fragte Marduk sofort bedrohlich. Ich rechnete damit, dass er jeden Moment aufspringen, zu mir kommen und mir irgendetwas antun würde, das den Schmerz, der gerade am Abflauen war, wieder aufwecken würde. Doch stattdessen hörte ich ihn wütend fauchen: „Nachts ist es kalt hier! Mir Wärme zu spenden ist deine Aufgabe, also legst du dich mit dem Rücken zu mir und behältst gefälligst deine Hände bei dir!“   
     Das musste er mir nicht zweimal sagen. Ich hatte mehr Sorge, dass er seine Hände nicht bei sich behielt. Ich hatte jedenfalls überhaupt keine Lust, auf diese Weise Bekanntschaft mit ihm zu machen. Schlimm genug, dass ich scheinbar Mitleid mit ihm hatte. Auch wenn mir das wohl das Leben gerettet hatte.
     Ich konnte jedenfalls nichts dagegen tun. Also sagte ich mir, dass es nur ein paar Tage waren, bis ich wieder auf den Beinen war, und dann rappelte ich mich noch einmal auf, um zu ihm rüberzugehen. Er lag schon mit dem Rücken zu mir und ich ließ mich so neben ihm nieder, dass wir uns gerade so nicht berührten. Ich hoffte, dass das ausreichen würde. Scheinbar tat es das auch, da Marduk ruhig blieb. Zumindest so lange, bis er wieder zu heulen anfing. Aber diesmal tröstete ich ihn nicht und sein Schluchzen begleitete mich, bis ich schließlich in einen tiefen Schlaf geglitten war.  

Hier weiterlesen -> Kapitel 22 

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