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Sonntag, 16. Dezember 2018

Kapitel 18 - Leif


Als ich wieder aufwachte, sah ich einen Schatten über mir, der sich nur langsam in das Gesicht von Leif verwandelte. Er war über den Toten gebeugt, der auf mir lag, und erleichterte ihn gerade um seine Habe. Ich wollte ihn rufen, aber kein Laut kam mir über die Lippen. Alles was ich tun konnte, war dazuliegen, mein ganzer Körper heiß und schwer vom Fieber, und dumpfe Schmerzen zu atmen, so schien es mir.
     Schließlich kam er zu mir. Er rollte den Toten von mir und seine Hand wanderte zu dem Amulett, das ich seit ein paar Jahren als Glücksbringer immer um den Hals trug. Es hatte mir diesmal jedoch keinen sonderlich guten Dienst erwiesen. Er entriss es mir, und er wollte schon wieder gehen, aber dann glitt sein Blick doch nochmal kurz über mein Gesicht und ich sah eine Mischung aus Wut und Überraschung darin aufziehen. Schließlich aber gewann die Genugtuung die Oberhand.
     „Und ich hatte schon gehofft, dass es dich erwischt hat“, sagte er, dann stieß er seinen Finger in meine linke Brust, was einen schrecklichen Schmerz durch meinen Körper sandte, der mich für einen Augenblick gewaltsam vom Rand der Bewusstlosigkeit zurückholte. Er grinste. „Aber wie du aussiehst, wirst du es eh nicht mehr lange machen.“
     Meine Augen flatterten und die Welt drohte, mir erneut zu entgleiten, aber ich hielt mich stur bei Bewusstsein.
     „Schade nur, dass ich nicht die Chance hatte, dich abzustechen.“
     Er wollte noch etwas sagen, aber da hörte ich undeutlich, wie jemand nach ihm rief und fragte: „Hast du noch wen Lebendiges dort gefunden?“
     Er verzog das Gesicht ob der Unterbrechung. Ich hatte bereits mit mir abgeschlossen, doch während meine Welt immer unschärfer und dunkler vor meinen Augen wurde, sah ich noch den Zweifel in seinem Gesicht. Er rang mit sich.
     „Ja, hier!“, hörte ich noch, und da ließ ich wieder los.

Der Berg, den ich hochkletterte, war ein hoher Bastard mit einer steilen Felswand. Ich bekam kaum irgendwo einen richtigen Halt und rutschte immer wieder ab. Die Felsen stachen mir die Finger blutig, was das Ganze noch schwieriger machte, aber ich kletterte trotzdem immer weiter. Mir war nicht heiß, obwohl ich mich hier verausgabte und auch nicht kalt, obwohl überall um mich herum Schnee lag. Ich spürte nicht einmal den reißenden Schmerz in den erlahmenden Gliedern, der mich bei meinem ersten Aufstieg heimgesucht hatte. Seitdem schien der Berg noch steiler und noch tückischer geworden zu sein.
     Endlich erreichte ich den Absatz, wo mich eine miesgelaunte Bergziege heimsuchen und mir das Essen klauen würde, wie ich wusste. Der Kerl, mit dem ich damals hier hochgestiegen war, hatte nicht die Freundlichkeit besessen, mich vor der Dreistigkeit ihrer Ziegen zu warnen, aber im Nachhinein war ich sowieso zu der Überzeugung gelangt, dass er einfach eine Vorliebe dafür gehabt hatte, mich zu schikanieren. Er war einer meiner ersten Lehrmeister gewesen und damals hatte ich noch oft unter meiner fehlenden Kraft und schwachen Ausdauer zu leiden gehabt.
     Diesmal jedoch kam ich gut voran und ich wuchtete mich ohne weitere Probleme über die Kante. Ich wollte mich am liebsten an den Rand setzen, die Beine baumeln lassen und mich in der schier endlosen Weite verlieren, die sich vor mir erstreckte. Obwohl hier oben überall Schnee lag, war das hügelige Tal unter mir von einem satten, frühlingshaften Grün. Hier und da waren Schafe als weiße Punkte in das Grün gemalt, am Horizont sah ich den Rauch einer Siedlung aufsteigen. Aber ich konnte leider nicht hierbleiben und die Aussicht genießen. Die Ziege würde ja da sein.
     Als ich mich auf die Beine kämpfte und meine Kleidung vom Schnee befreite, war es aber nicht die Ziege, die ich plötzlich vor mir hatte, sondern ein waschechter weißer Wolf. Ich korrigiere: ein Ungetüm von einem waschechten weißen Wolf. Ich brauchte ihn gar nicht in die trüben, dunklen Augen sehen, ich erkannte ihn auch so sofort. Schließlich hatte ich schon einmal mit ihm gekämpft, und ich hatte gewonnen und ihn erlegt.
     Im Gegensatz zu damals hatte ich jetzt glücklicherweise mehr, als nur ein Messer. Aber das verdammte Biest war trotz seines hohen Alters so schnell und wendig, dass ich mich im nächsten Moment in einem richtigen Ringkampf mit dem Vieh wiederfand. Es begrub mich zunächst unter sich, aber ich schaffte es glücklicherweise, meine Arme zwischen ihn und mich zu bekommen, um die spitzen Zähne von meinem Gesicht fernzuhalten. Nur mit Mühe gelang es mir, ihm einen kräftigen Schlag auf die Nase zu verpassen, sodass er heulend zurückfuhr. Dann hatte ich mein Schwert wieder in der Hand und wir standen uns erneut gegenüber.
     Der Kampf schien kein Ende zu nehmen und wir hatten beide ganz schön eingesteckt, als plötzlich ein Pfeil von hinten seinem Leben ein jähes Ende setzte. Ich dachte nur: ‚Warte! Das war so aber nicht richtig! Ich habe ihn doch getötet!‘, aber als ich sah, was für ein Pfeil das war, der ihn getötet hatte, stieg Panik in mir auf. Es war kein Pfeil; es war nur eine Pfeilspitze.
     Ich suchte verzweifelt nach einem Versteck, fand aber keins. Letztendlich versuchte ich, mich unter dem toten Wolf zu verstecken, aber er war zu schwer für mich. Zu allem Überfluss hatte er angefangen, wieder nach mir zu schnappen. Ich wollte mein Messer ziehen, aber da fiel mir auf, dass es fehlte.
      „Suchst du etwas?“, hörte ich plötzlich Isaacs Stimme fragen, und da gefror mir das Blut in den Adern.
     Ich wusste, dass er da aus dem Schatten kam, bevor er überhaupt auftauchte. Und ich wusste, dass er sie dabeihatte. Er kam nie ohne sie zu mir. Er hatte sie in seinen Armen, aber sie bewegte sich nicht. Wie immer. Ich konnte sie noch immer nicht ansehen, also fixierte ich den Boden. Der Schnee war trotz meines Kampfes mit dem Wolf noch immer makellos.
     „Mein Messer. Wo ist es?“, fragte ich kleinlaut, ohne die beiden anzusehen.
     „Ich weiß nicht. Wo hast du es denn gelassen?“
     Der Schnee wurde besudelt. Ein kleiner, roter Tropfen. Dann noch einer. Genau zwischen Isaacs nackte Füße. Ich hatte eine Todesangst.
     „Wenn du es nicht hast, dann geh weg!“, rief ich schließlich. Ich hielt es nicht mehr aus. Ich wandte mich ab und vergrub das Gesicht in den Händen.
     „Bist du sicher?“, fragte Isaac mich. „Es ist kalt.“
     „Ja“, hauchte ich erstickt. „Ich will allein sein.“
     Er sagte nichts mehr und ich wartete darauf, bis ich das Knirschen des Schnees hörte, das mir verriet, dass er fortging. Ich wollte nicht allein sein. Aber ich konnte sie nicht ertragen. Ich wusste, dass sie alle da waren im Schatten. Kane, Eris, Ayra, ja sogar der kleine Wulf, und alle anderen, die ich im Stich gelassen hatte. Sie waren da und sahen zu mir herüber, aber ich konnte sie nicht ansehen. Erbärmlich wie ich war, verbarg ich mich vor ihnen und schließlich wurde mir doch noch kalt.
     Die Kälte traf mich so unvermittelt, dass es mir in Händen und Füßen wehtat. Ich spürte, dass mein rechtes Bein gebrochen war. Wenn ich keine Hilfe bekommen würde, würde ich hier elendig erfrieren. Denn ich schaffte es nicht mehr aus eigener Kraft zurück. Ich war allein.
     Als ich gerade mit Zittern beschäftigt war, hörte ich plötzlich wieder Schritte. Ich hatte keine Kraft mehr, nachzuschauen. Die Schritte verstummten und ein Arm legte sich um mich, der so warm war, dass er mich beinahe verbrannte. Ich roch den erdigen Geruch, den ich nur einmal hatte riechen dürfen, als er mir schon mal geholfen hatte, als ich mir das Bein gebrochen hatte. Es war die Erde, aus der sie die Farben machten. Die, die es hier auch gab.  
     „Da bist du“, sagte Lu. Er kam manchmal hierher. Er und Greta waren die Einzigen, die ich noch hierherkommen ließ. Sie waren die Einzigen, mit denen ich noch glückliche Erinnerungen verband, obwohl das natürlich nicht stimmte. Doch ich erlaubte mir nicht, etwas anderes zu denken.
     „Wir haben schon alle auf dich gewartet.“
     Ich hob den Kopf und sah ihn an. Er hatte sich überhaupt nicht verändert.
     „Du auch?“
     Ein Lächeln. „Sicher. Ich wollte wieder deinen Geschichten lauschen. Hast du wieder welche zu erzählen?“
     „Oh ja, viele.“ Ich sah mich vorsichtig um. „Aber wo ist Greta?“ Sie kam normalerweise immer mit ihm, aber heute war sie nicht da.
     „Sie wird nicht mehr kommen. Sie will nicht“, antwortete Lu bloß, und ich wusste warum. Sie war enttäuscht von mir.
     Ich nickte betroffen. „Mir ist so kalt“, sagte ich, da ich es nicht ändern konnte, dass Greta nie wieder herkommen würde.
     Da ließ Lu mich los und ging, um ein Lagerfeuer in den Schnee zu malen. Ich glaubte ja nicht daran, dass es mir Wärme spenden würde, aber als er fertig war, wurde mir tatsächlich wärmer.
     „So, jetzt kannst du mir alles erzählen“, beschloss er.
     „Nein, nicht alles.“
     „Warum nicht?“
     Ich zog die Knie an und legte den Kopf darauf. Ich konnte ihn nicht ansehen. „Ich habe viele schlimme Dinge getan, Lu, deshalb. Wahrscheinlich kommt Greta deshalb auch nicht mehr her.“
     Eine ganze Weile lang war es ruhig und ich dachte schon, dass er mich auch alleingelassen hatte, aber dann fragte er: „Und bereust du sie?“
     Ich starrte ihn an. „Natürlich tu ich das! Ich wollte nie jemanden töten! Ich wollte nie jemanden verletzen!“
     „Warum tust du es dann? Hör doch einfach auf damit.“
     Ich wandte mich ab. „Selbst wenn ich das tue; manche Dinge kann ich nie wieder gutmachen.“
     Plötzlich hatte er mir etwas unter die Nase gehalten und als ich es erkannte, erstarrte ich. Es war das blutige Messer mit dem ich den Jungen getötet hatte, der mir Mari genommen hatte.
     „Vielleicht nicht, aber du kannst es von nun an besser machen.“ Er legte das Messer, das ich nicht sehen wollte, in den Schnee und erhob sich. „So einfach aufzugeben passt gar nicht zu dir, Wulfgar!“
     Dann ging er.
     „Warte! Lass mich nicht allein!“, rief ich ihm nach und Lu hielt noch einmal inne. „Wirst du wieder herkommen?“
     Er antwortete nicht. Lächelte nur und kehrte zu den Anderen in den Schatten zurück. Ließ mich allein mit meiner Schuld, der Kälte und der Panik in mir.    

Der Geruch nach frischer, trockener Erde war das Einzige, das von Lu übrig blieb. Selbst als ich die Augen aufschlug und die Welt zu mir zurückkehrte, war er noch immer da. Ich blinzelte verschlafen in das diffuse Zwielicht, das mich umgab. Als ich den Kopf drehte, wurde jemand auf mich aufmerksam und versuchte erst einmal, mich mit einem grellen Licht zu blenden. Ich hielt schützend die Arme vors Gesicht, dass es mir einen unschönen Schmerz durch den Körper jagte, und da verschwand das Licht wieder.
     „Entschuldige!“, hörte ich eine Stimme, die mir bekannt vorkam.
     Als sich meine Augen endlich auf die Lichtumstände eingestellt hatten, erschien langsam Utu vor mir. Er hockte neben mir auf dem Boden, während ich auf einer Schlafmatte unter einer Decke lag. Ich wollte mich aufrichten, aber der Priester hielt mich zurück.
     „Du solltest es nicht gleich übertreiben. Ein Pfeil hat dich getroffen, musst du wissen“, erklärte er.
     Er wies auf meine linke Brust und da erinnerte ich mich vage. Die Schlacht. Der Kampf gegen Goldzahn und dann natürlich der Pfeil. Ich fragte mich, ob auch die Sache mit Leif geschehen war oder ob ich das auch nur geträumt hatte.
     Doch ich fragte nicht nach. Ich schob Utus Hand resolut zur Seite und richtete mich auf, obwohl mir das erst richtige Schmerzen bereitete. Einen Moment lang hatte ich damit zu kämpfen, überhaupt bei Bewusstsein zu bleiben, dann aber ging es wieder. Ich atmete tief durch und lehnte mich an die Wand in meinem Rücken. Scheinbar befand ich mich im Tempel, wie ich bei der Dunkelheit und dem weitläufigen Raum mit den Wandmalereien annahm, in dem sich gerade zahlreiche Verletzte unruhige und unter Schmerzen im Schlaf und Fiebertraum drehten. Immer mal wieder hatte sich ein helfender Priester unter sie verirrt.
     „Lass mich wenigstens noch deine Wunde fertig versorgen.“
     Als ich Utu ansah, bemerkte ich ein Tuch in seiner Hand, das aussah, als hätte es auch schon bessere Tage gesehen. Es war übersät mit bräunlichen Flecken. Nichtsdestotrotz versenkte er das schmutzige Tuch in einem kleinen Tontopf und schmierte dann meine Brust damit ein, was die Schmerzen in mir erneut aufweckte. Als das Brennen etwas abgeebbt war, stieg mir wieder der erdige Geruch in die Nase.
     „Ist das etwa Farbe?“, fragte ich argwöhnisch.
     Utu hielt überrascht inne. „Nun, wir benutzen es auch als Farbe, ja, aber in erster Linie ist das Heilerde.“
     Ich hatte keine Ahnung, ob das wirklich funktionierte oder es nur eine böse Entzündung hervorrufen würde, aber ich wusste, dass dieser Geruch für mich eines bedeutete, an das ich lange nicht mehr gedacht hatte: Heimat.
     Der Traum hatte mich ganz schön aufgewühlt, obwohl ich öfter solche Träume hatte. In meinen Träumen waren sie immer für mich da, Greta und Lu, die Einzigen, die ich noch zu mir ließ, und ich konnte mich ihnen anvertrauen. Meine Wünsche, meine Sorgen und meine Ängste. Ich konnte wieder fühlen und der sein, der ich seit dem Tag nicht mehr war, als sie gestorben war. Kurzum: Ich konnte alles raus lassen, was ich seit ihrem Tod tief in mir verschlossen hielt.
     Deswegen waren mir diese Träume wichtig und teuer. Manchmal war es mir, als wären sie das Einzige, das mich davon abhielt, dass mein Herz vollends erfror oder dass ich wahnsinnig wurde. Doch diesmal war Greta nicht darin vorgekommen. Sie hatte sich geweigert, mich zu sehen, und das hatte mich zutiefst erschüttert. Sicher, es war nur ein Traum, aber dennoch musste ich mich fragen, wie wohl die echte Greta über mich denken würde, wenn sie mich nun sehen könnte. Ob sie wohl ebenso enttäuscht sein würde, wie ihr Traum-Alter-Ego?
      Dabei wusste ich nicht einmal, was genau es gewesen war, dass sie so enttäuscht hatte. Es war schließlich nicht so, dass ich mich erst seit heute nicht um meine Mitmenschen scherte. Aber ich hatte in meinem Traum leider nicht daran gedacht, nachzufragen, warum sie so enttäuscht war und ob sie noch einmal wiederkommen würde. Lu war noch da, aber er war eben nicht Greta. Meine Zwillingsschwester, die mir so viel bedeutete, als wäre sie ein Teil von mir.
     Ich vermisste sie so schrecklich. Es verging eigentlich kein Tag, an dem ich mich nicht fragte, was sie gerade machte oder wie es ihr ging. Manchmal war da ein plötzlicher Schmerz oder ein Gefühl in mir, das ich nicht zuordnen konnte. Ich kannte das schon. Ich hatte das früher auch ab und an gehabt, wenn Greta und ich getrennt voneinander gewesen waren. Sie hatte das auch, hatte sie mal erzählt. Es war dieses spezielle Band, das wir zueinander hatten. Ich habe mich oft gefragt, ob es meinen anderen Geschwistern mit ihrem Zwilling ebenso erging. Wenn mich so etwas überfiel, dann wusste ich jedenfalls, dass etwas mit Greta war und dann konnte ich nicht verhindern, dass ich mir Sorgen um sie machte.
     Und jetzt hatte Greta meine Träume verlassen und ich wusste nicht, ob sie jemals wieder zu mir zurückkehren würde. Momentan konnte ich es ja nicht einmal über mich bringen, der realen Greta unter die Augen zu treten. Ich hoffte nur, dass nicht auch noch Lu aus meinen Träumen verschwinden würde. Ich wusste, dass der echte Lu mich bestimmt ausgelacht hätte, aber der Traum-Lu war anders. Und wenn er mich auch noch allein lassen würde, wusste ich nicht, ob ich es überstehen würde.

Während meiner Genesung versuchte ich, nicht mehr an meinen Traum zu denken und ich träumte ihn auch kein zweites Mal. Ich musste im Tempel bleiben, was überaus langweilig war. Der Schmerz und die Schwäche waren noch immer da, aber ich würde es überstehen, hatte man mir gesagt. Wenn ich mich nur etwas ausruhte. Ich hätte es aber bevorzugt, die dunklen Hallen des Tempels zu verlassen und raus ins Tageslicht zu kommen. Ein bisschen frische Luft schien mir jedenfalls heilsamer zu sein als das Stöhnen derjenigen, die die nächste Nacht wahrscheinlich nicht überleben würden und dem Gestank derer, die es schlimmer erwischt hatte, als mich. 
     Der Pfeil in meiner Brust hatte auch einen ganz schönen Schaden hinterlassen, weshalb ich länger im Tempel gefangen blieb, als mir lieb war. Da war ich schon ganz froh, wenn Utu mal bei mir auftauchte und sich dazu erbarmte, mich an einer seiner Lehrstunden teilhaben zu lassen.
     Von den gelegentlichen Besuchern der anderen Verletzten erfuhr ich dann auch, dass die Schlacht gewonnen worden war und die gegnerische Stadt nun unter Enlils Kontrolle stand. Ab und an bemerkte ich auch, wie die Blicke zu mir gingen, und dann wurde getuschelt, aber ich verstand leider nie, über was sie sprachen und ich hatte auch nicht den Nerv rüberzugehen und nachzufragen. Ich selber bekam natürlich keinerlei Besuch, aber damit hatte ich auch nicht gerechnet. 
     Als ich mich nach zwei Tagen über die Anweisung des diensthabenden Heilers hinwegsetzte und das erste Mal aufstand, suchte ich unter den Verwundeten verstohlen nach dem Schwert-Jungen, aber ich fand ihn nicht. Da ich nicht einmal seinen Namen kannte, konnte ich auch niemandem nach ihm fragen. Ich wurde dann wieder zum Hinlegen verbannt und verpasste damit meine Chance, mich davonzustehlen.
     Ich hatte keine Ahnung, wie lange ich verletzt darniederlag, aber ich war mehr als heilfroh, als sie mich endlich entließen. Die seichte Herbstsonne, die mich an diesem Tag an einem malerischen, wechselhaften Himmel begrüßte, schien mir so schön, wie noch nie zuvor. Ein angenehm kühler Wind ging und ich war schon versucht, auf die Anweisung des Heilers zu pfeifen und doch eine Runde im See zu drehen, um den Muff nach Krankheit und Tod loszuwerden. Da ich aber nicht riskieren wollte, dass sich meine Wunde doch wieder entzündete, ließ ich das lieber bleiben, und ich sah mich stattdessen nach Enlil um. Es war Zeit, dass ich mir meine Bezahlung und ein neues Schwert holte und dann wieder von hier verschwand. Und ich nahm mir vor, nie wieder als Krieger in irgendeiner Schlacht anzuheuern.

Im Vorhof der Zikkurat, dort, wo sich das Trainingsgelände für die Kämpfer der Stadt befand, war es, als wäre nie etwas geschehen. Hier und da übten sich einige Krieger in ihrer Kunst, einzelne Gruppen saßen oder standen zusammen und plauderten und tranken. Wenn ich mich ein bisschen mehr für die Anderen interessiert hätte, wäre mir wahrscheinlich aufgefallen, dass das ein oder andere Gesicht inzwischen fehlte, aber ansonsten wirkte alles so wie immer. Verrückt, wenn man daran dachte, dass wir vor ein paar Tagen noch in einem Gemetzel um unser Leben gefochten und hemmungslos getötet hatten.
     Während ich über diesen Wahnsinn nachdachte, fiel mir Leif ins Auge, der mit einigen anderen Männern faul in der Gegend rumstand und es sich gutgehen ließ. Sein Anblick erinnerte mich daran, dass da ja noch etwas war. 
     Einen Moment nur zögerte ich, dann ging ich unwillig zu ihm rüber. Mein Anblick rief bei seinen Kumpanen wohl Schrecken aus, da sie sofort das Weite suchten. Wie mir schien, hatten die anderen Krieger noch mehr Angst vor mir, als vor der Schlacht. Vielleicht kam es mir auch nur so vor. Nur Leif hatte genug Mut, zu bleiben und mir die Stirn zu bieten. Er hatte ein paar Kratzer im Gesicht, schien ansonsten aber unversehrt. Trotzig sah er mir entgegen. So, wie immer.
     „Ich will mich bei dir revanchieren, dass du mich da nicht zum Verrecken zurückgelassen hast“, erklärte ich ohne Umschweife. Ich hätte eigentlich „Danke“ sagen sollen, aber ich brachte es einfach nicht über mich. Also wandte ich mich ab und winkte ihm, mir zu folgen.
     Leif ließ eine Weile auf sich warten, aber ich hielt trotzdem nicht an. Als ich schon wieder durch die Pforte zurück in die Stadt geschritten war, holte er schließlich auf.
     „Ich hoffe, dass du wenigstens was hast, dass es sich für mich gelohnt hat, deinen Arsch zu retten“, sagte er bissig.
     Ich ging nicht darauf ein und auch er schwieg eine ganze Weile. 
     „Wo bringst du mich überhaupt hin?“, fragte er schließlich. „Enlil hat nach dir geschickt, solltest du wissen. Wenn du wieder auf den Beinen bist, sollst du zu ihm kommen. Du weißt ja, dass man ihn lieber nicht warten lassen sollte.“
     Mir war schon klar, dass er mir das nicht aus Nächstenliebe erzählte. Enlil war bekannt dafür, nicht nur zu den Übeltätern, sondern auch zu Umstehenden gnadenlos zu sein. Hieß, wenn er erfuhr, dass ich nicht sofort zu ihm ging, weil ich mit Leif meine Zeit vertrödelte, würde es nicht nur mir, sondern auch ihm schlecht gehen.
     „Wieso? Was will er von mir?“, wollte ich wissen. Mit Enlil zu tun zu haben war nie gut. Ich wollte lieber vorbereitet sein.
     Da blieb Leif plötzlich stehen und sah mich mit großen Augen an. Wir hatten inzwischen die breiteste der Straßen erreicht. Die, die vom Markplatz direkt zur Stadt hinaus führte. Wenn man nicht gerade einem Eselkarren begegnete, war sie breit genug, um sogar nebeneinander herzugehen.
     „Du warst es, der Goldzahn getötet hat“, sagte er, als wäre damit alles klar für mich. Was es nicht war.
     „Und?“
     „Und, sagst du! Weißt du, wenn ich dich da zurückgelassen hätte, hätte Enlil mich kaltgemacht. Er wollte dich wiederhaben, egal ob jetzt tot oder lebendig“, erklärte er. „Goldzahn war ein Monster im Kampf. Schlimmer noch als Enlil, sagt man. Er hat schon ein paarmal gegen ihn gekämpft, aber nie gewonnen. Man sagt sogar, dass er es war, der“, er kam näher und flüsterte, „Enlil seine Verletzung zugefügt hat.“ Die, weshalb er nicht mehr mit den Frauen zusammenliegen konnte.
     Als Leif jetzt wieder einen Schritt zurücktrat, sah er ein bisschen blass aus. Er musste sich erst räuspern, bevor er fortfahren konnte: „Nachdem du ihn gefällt hast, war die Schlacht jedenfalls praktisch gewonnen. Als seine Leute sahen, dass er tot ist, sind sie auf und davon wie Hasenfüße.“ Er ging an mir vorbei und fügte lapidar hinzu: „Nicht, dass wir nicht sowieso gewonnen hätten. Wir waren bei weitem in der Überzahl.“
     ‚Und viele von unseren Gegnern waren keine Kämpfer‘, dachte ich bitter, behielt es aber für mich.
     Ich sah lieber zu, dass ich wieder aufholte und mich an die Spitze setzte. Wir ließen die letzten Häuser hinter uns und dann ging es nach rechts am Stadtrand entlang. Und je weiter wir gingen, desto ungehaltener wurde Leif, wie ich seinem andauernden Genörgel entnehmen konnte. Ich musste noch immer verdauen, was ich vorher gehört hatte, also ignorierte ich ihn.
      Schließlich ließen wir die Stadt vollends hinter uns und gelangten an den See, an dem Eridu lag. Ich hielt darauf zu und blieb dann kurz vorm Wasser wieder stehen.
     Als ich mir den Mantel über den Kopf zog, sah Leif mich irritiert an. „Was nun? Hast du hier jetzt einen Schatz verbuddelt oder willst du mir nur zeigen, wie du dich ausziehst?“
     Ich zog mir erst in Ruhe mein Hemd aus, löste den Beutel von meinem Gürtel und schlüpfte aus den Schuhen, bevor ich ihm antwortete: „Nein, ich werde dir beibringen, wie man schwimmt, dafür, dass du mich gerettet hast.“
     Ich wusste, dass er mich nur wegen seiner Angst vor Enlil gerettet hatte, aber trotzdem hätte er mich liegenlassen können, bis ich an meiner Verletzung gestorben wäre, bevor er Bescheid gegeben hätte. Lange hätte das nicht mehr gedauert, wusste ich.
     Ich stockte. „Ich nehme an, dass du das zwischenzeitlich nicht gelernt hast, oder?“
     Leif sah mich an, als hätte ich den Verstand verloren, dann brach er in schallendes Gelächter aus. „Schwimmen! Sicher! Bist du bekloppt?“, lachte er. „Bist du eine Ente oder was? Menschen können nicht schwimmen! Als ob ich so einen Schwachsinn glauben würde!“
     Ich ignorierte seinen Einwand und sagte stattdessen: „Denk übrigens nicht daran, mich zu beklauen. Wenn du meine Sachen anfasst, werde ich dich finden und niedermachen. So wie Goldzahn“, fügte ich warnend hinzu, während ich ins doch recht frische Wasser watete.
     Als ich einen Blick über meine Schulter riskierte, sah ich, dass meine Worte ihre Wirkung nicht verfehlt hatten. Das war es also gewesen, warum plötzlich alle so eine Heidenangst vor mir zu haben schienen und warum man immer wieder im Tempel über mich geflüstert hatte. Ich hatte einen gefürchteten Krieger besiegt und galt jetzt wohl als Legende oder so. Nicht, dass ich scharf darauf war. Ich wollte nur noch weg und da konnte ich gut und gerne darauf verzichten, dass ich jetzt berühmt hier wurde.
     Ich ging, bis ich hüfthoch im Wasser stand, dann sprang ich mit dem Kopf voran ins kühle Nass. Früher hätte mir das eine Todesangst bereitet, aber heute bedeutete das Gefühl, das mir das bereitete, Freiheit für mich. Einen Moment lang blieb ich unter Wasser und genoss es, dann brach ich wieder durch die Oberfläche, um ihm zu zeigen, dass ich sehr wohl schwimmen konnte. Leif stand, zu seinem Glück, noch immer am Ufer, anstatt mit meinen Sachen abgehauen zu sein, und gaffte mit offenem Mund. Es war immer wieder erheiternd zu sehen, wie die Leute darauf reagierten, wenn ich tatsächlich wieder auftauchte und nicht einfach absoff, so wie sie es getan hätten.
     Da ich ihn jetzt mit ziemlicher Sicherheit von meinem Können überzeugt hatte, schwamm ich zurück ans Ufer. Leif sah aus, als würde er gleich in Begeisterungsstürme ausbrechen, aber dann besann er sich doch darauf, das nicht vor mir zu tun.
     „Hm, kann ja nicht schaden, sowas zu lernen“, tat er unbeeindruckt.
     „Sag mal, was ist eigentlich aus deinem Anhängsel geworden?“, fragte ich möglichst desinteressiert. Obwohl mir die Frage, ob er überlebt hatte oder er doch wegen mir gestorben war untern den Nägeln brannte.
      „Ragna? Keine Ahnung. Als es losging, hat er Schiss gekriegt und ist abgehauen.“ Leif zuckte mit den Schultern. „Weiß aber nicht, was aus ihm geworden ist. Er war jedenfalls nicht unter den Toten.“ Plötzlich grinste er gehässig. „Wieso? Ist er dir etwa doch so sehr ans Herz gewachsen, dass du ihn vermisst?“
     „Er war einer meiner Männer, falls du das vergessen hast“ Auch wenn ich nicht daran dachte, jetzt überhaupt noch für irgendwelche Krieger verantwortlich zu sein. „Komm lieber, bevor die Sonne noch tiefer sinkt und es zu kalt für deine zarten Füßchen wird.“
     Ich hatte lange niemanden mehr aufgezogen, aber das hatte gerade einfach sein müssen. Schon allein, um ihn von Ragna abzulenken. Immerhin wusste ich jetzt den Namen des Schwert-Jungen.
     Während Leif sich zu mir gesellte, fragte ich noch: „Weißt du eigentlich, was Enlil nun genau von mir will?“
     „Er will dich zum stellvertretenden Kommandanten machen.“
      Da erstarrte ich. ‚Was?‘

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