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Sonntag, 16. Dezember 2018

Kapitel 17 - Geheimwaffe


Ich kannte die Zikkurat ja schon, aber sie brachte mich nach wie vor zum Staunen. Sie war so riesig, dass es aussah, als hätte man drei immer kleiner werdende Häuser einfach übereinandergesetzt. 
     Zwei lange Treppen führten hinauf zum Eingang, der sich auf der obersten Stufe der Zikkurat befand. Auf halbem Weg die Treppe hinauf schritt ich durch eine bogenförmige Pforte, deren Inneres mit zahlreichen Bildern versehen war. Kleine Figuren, die Menschen oder auch Götter darstellen mochten, die Sonne und den Mond. Immer wieder Stiere und vor allen Dingen Wasser. Es war so überwältigend, dass ich mich für einen Moment richtig klein im Antlitz ihrer Götter fühlte, aber als ich zurück unter die herbstwarme Sonne trat, verschwand die Ehrfurcht wieder ein bisschen.
     Zumindest, bis ich ins düstere Innere trat. Unheimliche Schatten zuckten dort im Feuerschein über die Wände und sie ließen die Wandmalereien und übermannsgroßen Götterstatuen beinahe lebendig wirken. Ihre großen Augen sahen überaus verstörend aus. Vor jeder sah ich ein Feuer in einem Becken brennen und eine Schale mit Essen auf dem Boden stehen. 
     Ich passierte ein paar Priester, die gerade dabei waren, eine der Statuen zu säubern. Als ich sie nach Utu fragte, wiesen sie mir den Weg nach unten. Er befand sich wohl dort, wo sie ihre Schriftstücke aufbewahrten, was auch immer das sein sollte.
     Also ging ich weiter, vorbei an Räumen voller Tontöpfe und anderer Vorräte, und zwei Treppen später fand ich mich in einem großen Raum mit einer so niedrigen Decke wieder, dass ich grade so aufrecht stehen konnte. Zu meiner Überraschung reihten sich an den Wänden hölzerne Regale, in denen sich ich-weiß-auch-nicht-was stapelte, das so aussah, wie kleine Platten. 
     An einem der niedrigen Tische, die über und über mit eifrig beschäftigten Leuten besetzt waren, fand ich den Priester, den ich suchte. Als er mich bemerkte, kam er auf die Beine und begrüßte mich höflich. Im Gegensatz zu gestern klimperte heute ein Gürtel aus blauen Steinen an seiner Hüfte, er trug kostbare, silberne Ketten um den Hals und sogar ein zierliches, goldenes Armband.
     „Setz dich… ähm… wie war dein Name?“, begrüßte er mich freundlich.
     „Das ist nicht wichtig. Gib mir einfach die Geheimwaffe, von der du gestern sprachst“, gab ich mit gedämpfter Stimme unfreundlich zurück.
     „Ich werde sie dir gleich beibringen.“ Er wies auf den Tisch. „Setz dich nur.“
     Ich wusste nicht, warum ich das tun sollte, aber ich ging trotzdem an ihm vorbei und setzte mich auf den kühlen Lehmboden, während er zu einem der Regale ging. Als er wieder zurückkam, hatte er eine dieser Platten bei sich. Er legte sie auf den Tisch, schob sie mir zu und gleich danach auch die kleine Feuerschale, in der eine Flamme auf einer merkwürdigen Flüssigkeit brannte. Da konnte ich auch endlich einen Blick auf die Platte werfen, die aus Ton war, aber was ich darauf sah, sagte mir trotzdem überhaupt nichts. Es waren irgendwelche merkwürdigen Vertiefungen eingeritzt.
     „Was ist das?“, fragte ich irritiert.
     „Das sind Schriftzeichen. Sie haben alle eine Bedeutung, die ich dir heute beibringen werde.“ Er stockte. „Nun, vielleicht nicht alle heute, aber über die Jahre hinweg wirst du sie schon alle lernen.“
     Ich überging mal, dass er scheinbar erwartete, dass ich jahrelang hierbleiben würde. „Und was soll mir das in einem Kampf bringen? Das ist doch keine Geheimwaffe!“, merkte ich an.
     Der Priester schnalzte missbilligend mit der Zunge. „Das hier ist eine Geheimwaffe!“, behauptete er, und da war der Zeitpunkt für mich gekommen, aufzustehen und zu gehen. Doch er hielt mich mit einer Handbewegung zurück. „Siehst du, Wissen kann eine gefährliche Waffe sein. Wenn du etwas über deinen Gegner weißt, beispielsweise, bist du im Vorteil. Ich sage dir, heutzutage werden bereits viele Dinge aufgeschrieben, nicht nur bei den Händlern oder bei uns im Tempel, sondern auch bei euch Kriegern, und das wird in Zukunft noch viel häufiger der Fall sein. Schreiben zu können wird dann ein entscheidender Vorteil sein. Vor allen Dingen, wenn dein Gegenüber nicht weißt, dass du es kannst.“
      Ich konnte gar nicht anders, als zu denken, dass diese ganze Schreiberei Isaac bestimmt mächtig begeistern würde. Schnell schüttelte ich den Kopf, um die Erinnerung loszuwerden, obwohl ich eigentlich einsah, dass der Priester recht hatte. Es konnte nie schaden, einen Vorteil zu haben. Egal, wie winzig er auch war. 
     Also sagte ich ihm: „Na schön, dann bring es mir bei.“

Das Schreibenlernen war eine langwierige und eintönige Aufgabe. Ich verbrachte die nächsten Tage viel Zeit bei flackerndem Licht und über Tontafeln gebeugt in den schattigen Gewölben der Zikkurat. Doch eigentlich war mir das ja ganz recht. Die Zikkurat war ein ruhiger Ort, an dem mich wenigstens niemand störte, wenn Utu mich denn mal in Ruhe ließ. 
     Er war ein guter und vor allen Dingen eifriger Lehrer. Obwohl er mir das Schreiben nur beibrachte, weil er eine Abmachung einhalten musste, damit ich Stillschweigen bewahrte, schien er eine Heidenfreude daran zu haben, mich zu unterrichten. Oder überhaupt zu unterrichten. Nicht selten durfte ich dabei zusehen, wie er auch die wohlbetuchten jungen Knaben der Stadt lehrte, und wenn er das tat, war es mir, als ob in seinen Augen ein Feuer brannte, dass ich sonst nur von Kämpfern kannte.
     Wie sich herausstellte, stellte ich mich überaus gut beim Lernen an. Nach einem Monat konnte ich so rudimentär lesen, dass ich sogar einen guten Teil davon hätte lesen können, was Enlil seinem Schreiberling immer mal wieder diktierte. Wie sich herausstellte, übernahm bevorzugt Utu die Schreibarbeiten für den Ensi der Stadt Eridu. Natürlich hatte ich bei den unfreiwilligen Lektionen, an denen Utu mich immer wieder hatte teilhaben lassen, auch inzwischen den Namen der Stadt erfahren, die ich bereits seit einem Monat bewohnte. Was für meinen Geschmack viel zu lange war. Es wurde wirklich langsam Zeit, dass Enlil endlich seine Planungen abschloss und wir losmarschieren konnten.    

Als ich an einem bewölkteren Tag, der schon eher nach Herbst aussah, als der vergangene Monat, gerade im Vorhof der Zikkurat an einer Mauer saß und über einer handgroßen Tafel mit Schriftzeichen brütete, die Utu für mich zum Üben angefertigt hatte, fand Leif mich. Er hatte, wie immer wenn er mich sah, einen Ausdruck im Gesicht, als hätte er einen üblen Geruch in der Nase.
     „Übst du wieder deine faulen Zauber?“, meinte er verächtlich.
     Es muss nicht gesagt werden, dass wir noch immer überhaupt nicht miteinander auskamen. Oder besser gesagt er noch immer ein Problem mit mir hatte. Er hatte mich bislang schon Dutzende Male herausgefordert und auch wenn ich ihn meistens ignoriert hatte, waren seine gelegentlichen Versuche, mir an den Haaren zu ziehen oder mich abzustechen doch manchmal ein bisschen zu viel des Guten, sodass ich mich das ein oder andere Mal um ihn hatte kümmern müssen. Er war jedoch kein einziges Mal gegen mich angekommen, egal in welchem Wettkampf. Selbst mit seinen schmutzigen Tricks nicht. Deshalb war er der Meinung, dass ich faule Zauber benutzte, um zu gewinnen, seitdem er mich das erste Mal mit einer Schrifttafel gesehen hatte. Und nicht nur er dachte das. Nicht, dass ich daran dachte, es richtigzustellen. Sollten sie es ruhig glauben.
     „Enlil schickt nach dir.“ Leif wartete nicht auf eine Antwort und ging einfach vor.
      Ich steckte die kleine Tafel in meinen Beutel, den ich sorgsam unter meinem Mantel verborgen hatte, und folgte ihm. Da er heute besonders angewidert aussah, schwante mir nichts Gutes. Meistens bedeutete es, dass jemand meiner Männer etwas ausgefressen hatte. Nachdem ich Enlil scheinbar von meinem Eifer, meinem Talent und meiner Loyalität überzeugt hatte (ohne dass ich es gewollt hatte), hatte er mir eine kleine Gruppe Grünschnäbel zugeteilt, die ich ausbilden sollte. Ich war ja nicht so erpicht darauf, aber je besser meine Kameraden ausgebildet waren, desto höher waren auch meine Chancen, diese Schlacht zu überleben.
     Von meinen Männern wurde ich jedenfalls inbrünstig gehasst und gefürchtet. Ich ließ sie härter trainieren, als die Anderen und ich war streng und gnadenlos in meinen Strafen. Bislang waren meine Leute aber glücklicherweise schlau genug gewesen, sich nichts Größeres zuschulden kommen zu lassen. Kleinere Dinge, wie zu spät kommen oder faulenzen, die ich mit Prügel und Extratraining bestrafte, aber sonst nichts. Mir fiel jedenfalls auf, dass der Schwert-Junge, der sonst immer in Leifs Nähe war, heute fehlte.
     Wie befürchtet war es auch er, der mich mit hängenden Schultern und bangem Blick erwartete. Sein Rock hing in den Kniekehlen. Ich wusste, dass er gerne unter Leif gelernt hätte, den er emsig bewunderte, aber Enlil hatte ihn trotzdem mir zugeteilt, weil er „das schwächste Glied in der Kette“ war, wie er gesagt hatte. Der Junge sah schon erbärmlich genug aus, aber als er mich erblickte, verließ ihn jeglicher Mut und ich sah, dass er anfing zu heulen.
     Enlil stand mit verschränkten Armen neben ihm und wirkte wie ein Löwe vor einem verängstigten Kalb. Er nickte mir zu. „Dein Junge hatte Frauenbesuch, Wulfgar. Ich dachte, du hättest ihm besser eingebläut, dass das verboten ist.“
     Das Mädchen mit den Pockennarben. Ich hatte sie schon ein paarmal zusammen gesehen, aber es nie für nötig befunden, einzugreifen. Fast jeder Krieger hatte ab und an mal Frauenbesuche. Wenn die Anderen auch so schlau waren, ihre Treffen in der Stadt abzuhalten. Normalerweise war das alles ja auch kein Problem, aber Enlil hatte es seinen Kriegern trotzdem verboten, Frauen zu empfangen.
      Als Enlil mich mit seinen gefährlich brodelnden Augen traf, lief es mir eiskalt den Rücken runter. Es war ein offenes Geheimnis, dass er Frauen in der Kaserne verboten hatte, weil er selber nicht mehr dazu in der Lage war, mit ihnen das Lager zu teilen, seitdem er in einer Schlacht verwundet worden war. Deshalb war das ein überaus heikles Thema für ihn und er ahndete Verstöße gegen dieses Vergehen doppelt so brutal, wie gewöhnlich. Und wenn ich brutal sage, dann meine ich brutal. Wenn die Leute schon Angst vor mir hatten, lebten sie in ständiger Furcht vor Enlil. Er schien mir wie ein Ungeheuer in Menschengestalt, wenn man ihn verärgerte. Vor allen Dingen, da er unberechenbar war. Manchmal konnte man sich einige Scherze auf seine Kosten erlauben, ein anderes Mal ließ er einen für einen schiefen Blick die Zunge abschneiden.
     Ich hatte jedenfalls auch Angst vor ihm. Obwohl ich es nicht zeigte, war mir gerade nicht minder danach, selber zu heulen. Er war bekannt dafür, auch die zu bestrafen, die seine Erwartungen nicht erfüllten. Und das hatte ich anscheinend nicht getan.
     „Dann wird es Zeit, dass ich das nachhole“, versuchte ich, die Wogen zu glätten.
     Enlil durchbohrte mich noch einen Moment länger mit seinem Blick, dann ging er selber zu dem Jungen rüber. „Als Eunuch wird er sicherlich keine Zeit mehr damit verschwenden, den Frauen hinterherzulaufen.“ Der Junge erstarrte und auch ich schluckte schwer. Da zeigte Enlil sein raubtierhaftes Grinsen. „Aber weil morgen ein großer Tag ist, überlasse ich dir die Wahl, ob du ihn nicht lieber um eine Hand erleichterst“, sagte er zu mir. „Die, mit der er nicht die Waffe führt, versteht sich. Wenn er ohne Schild kämpfen muss, wird ihn das vielleicht ein bisschen Gehorsam lehren.“
     Ich war mir ziemlich sicher, dass der Junge versuchte, ohnmächtig zu werden, aber es gelang ihm einfach nicht. Mir leider auch nicht. Ich hatte schon einige harte Strafen verhängt, aber so etwas hatte selbst ich noch nicht getan. Mit aller Kraft versuchte ich, die Farbe in meinem Gesicht zu behalten, die dem Jungen vor mir schon längst abhanden gekommen war. Er war totenblass, schweißnass und zitterte wie Espenlaub.  
     Äußerlich unbeeindruckt nickte ich ergeben, während ich innerlich unentwegt nach einem Ausweg suchte. Eine lange nicht mehr gefühlte Panik versuchte, sich meiner zu ermächtigen, aber ich drückte sie nieder, bis sie nur noch ein widerliches Brennen in meinem Magen war. Ich zog das Schwert, das der Junge mir selber gegeben hatte. Als ich vor ihn trat, gab er einen erstickten Laut von sich, der wahrscheinlich ein Schreien werden sollte.
     „Bringt ihm zum Schleifstein rüber! Und zieht ihm den Rock hoch, verflucht nochmal!“, befahl ich barsch, und die beiden Männer, die ihn hielten, taten, was ich sagte.
     Der Junge wurde hilflos von ihnen mitgezogen und er hatte nicht einmal den Mut, sich dagegen zu wehren. Einer der Männer wollte den Schleifstein flach auf den Boden legen, während der Andere den Jungen in die Kniekehlen trat, aber ich scheuchte beide zur Seite. Die Knie knickten dem Jungen trotzdem weg, als sie ihn losließen und er ging hilflos zu Boden. Und dann hatte ich wieder mein altes Ich vor mir. Wie damals, als er versucht hatte, den Mord an seiner Schwester zu rächen und es nicht gekonnt hatte. So viel Angst in seinen Augen. Er war einfach kein Krieger. Sein Herz war viel zu weich. Er hätte auf seinem Hof bleiben sollen.    
     Ich zerrte ihn unwirsch an seinem rechten Arm auf die Beine, legte seine Hand auf den Schleifstein und bevor jemand reagieren konnte, hatte ich zugeschlagen, sodass ein helles, metallisches Klirren zu hören war. Erneut gab es diesen erstickten Schrei von ihm, er entriss mir seine Hand und verbarg sie in seiner anderen. Er hatte sogar den Mut gefunden, vor mir zurückzuweichen und mich mit einer Mischung aus Entsetzen und Wut anzustarren. Doch dann bemerkte er, dass ihm überhaupt nichts fehlte, und da schlich sich Verwirrung in sein Gesicht.  
     Ich steckte mein Schwert wieder weg und sagte mit aller mir verbliebenen Selbstkontrolle kalt: „Ich hoffe, das wird dich lehren, keine Regeln mehr zu brechen. Nächstes Mal wirst du nämlich beide Hände einbüßen.“ Ich konnte ihm nicht in die Augen sehen, ohne meine weichen Knie zu verraten. Aber trotzdem raunte ich ihm im Vorbeigehen so leise zu, dass Enlil es nicht hörte: „Und sieh zu, dass du vor der Schlacht hier wegkommst!“

Mit Menschen wie Enlil richtig umzugehen war eine äußerst heikle Angelegenheit. Ich wusste nicht, ob er mich nun selber kastrieren oder es bei einem wütenden Blick belassen würde. Ich hatte seinen Befehl missachtet, das stand fest, und es gefiel ihm nicht, das stand auch fest, als ich in sein gewitterumwölktes Gesicht sah. Doch bislang war meine unbeeindruckte, emotionslose und direkte Art immer gut bei ihm angekommen. Also ging ich ohne Umschweife zu ihm. Ob er mich nun dafür umbringen würde oder nicht, ich musste mich ihm sowieso stellen. Doch ich hatte auch nicht vor, so einfach kampflos unterzugehen.
     „Du hast meinen Befehl missachtet“, zischte er durch zusammengebissene Zähne, sodass ihn niemand außer mir vernahm.
     Mein Instinkt sagte mir: „Zieh dein Schwert!“, aber ich tat es nicht.
     „Wir ziehen morgen in die Schlacht und wir werden jeden Mann brauchen“, gab ich möglichst objektiv zurück, obwohl ich gehörig Muffensausen hatte. „Selbst solche Grünschnäbel wie er können noch als Schild dienen.“
      Das meinte ich natürlich nicht wirklich, aber ich ließ es so aussehen. Enlil schien sich das einen Moment lang durch den Kopf gehen zu lassen, während er mich mit zusammengekniffenen Augen fesselte und meine Selbstkontrolle damit auf eine harte Probe stellte. Dann nickte er aber schließlich und mir fiel ein riesengroßer Felsen vom Herzen. „Dann hoffen wir, dass er einen guten Schild für einen ordentlicheren Krieger abgeben wird. Sonst muss ich diesen Taugenichts auch noch bezahlen.“
      Ich hasste diesen Mann so abgrundtief, dass ich ihn am liebsten hinterrücks abgestochen hätte. Und ich hätte es mal lieber getan.

Der Junge, der schon davor eine Heidenangst vor mir gehabt hatte, sodass er sogar inzwischen aufgehört hatte, mich mit seiner Jammerei zu behelligen, entwickelte nun auch noch eine tiefe Abscheu gegen mich und mied mich von da an wie die Pest. Ich hätte gerne geglaubt, dass ich ihm einen Gefallen getan hatte, aber ich wusste es leider besser. Nur wegen mir war er schließlich hier. Ich konnte nur hoffen, dass er sich meinen Ratschlag zu Herzen nahm und abhauen würde.
     Doch das tat er leider nicht. Als wir am nächsten Tag losmarschierten, sah ich ihn noch immer unter den anderen Kriegern. Er wirkte beinahe ein bisschen verloren in dem Brustpanzer, der ihm sichtlich zu groß war. Selbst der Helm passte ihm nicht richtig. Ich hatte auch das erste Mal so ein komisches Teil auf dem Kopf. Es war ein schweres Ding aus Bronze, das mit einem Lederband unterm Kinn befestigt war, und das meinen Kopf vor Angriffen schützen sollte. Alle anderen Krieger trugen auch solche Helme. Mal aus Bronze, mal aus Leder. Nur der von Enlils war auffallend anders. Prunkvoller und aus einem gelblichen Metall, das Gold war, wie ich wusste.
     Ich hatte inzwischen auch so einen Lederplattenpanzer, ganz ähnlich dem, den Enlil auch hatte, und darüber war ich ganz froh, da ich bislang überhaupt nicht wirklich gegen Waffeneinwirkungen gerüstet gewesen war. Das zusätzliche Gewicht war zwar ungewohnt, aber das sichere Gefühl, das er mir gab, machte das allemal wett.
     Die meisten von uns waren mit dem Speer und kleinen Schilden bewaffnet, nur die wenigsten hatten Beile oder Schwerter, so wie ich eines hatte. Wie ich erfahren hatte, war nicht nur Holz in diesem Land Mangelware, sondern gab es hier auch so gut wie keine Metallvorkommen. Es war mir sowieso ein Rätsel, wie sie es geschafft hatten, in dieser kargen Gegend eine so reiche und hochentwickelte Stadt aus dem Boden zu stampfen. Scheinbar lebten sie davon, dass sie Holz, Metalle und Edelsteine von weither ins Land holten, weiterverarbeiteten und es wieder gewinnbringend ausfuhren. Verrückt, dass sowas klappte. 
      Der Mangel an Metall jedenfalls war wohl der Hauptgrund, warum wir gerade gegen eine andere Stadt ins Feld zogen. Wie ich gehört hatte, saß sie auf einer kleinen Eisenader, und darauf hatte Enlil es abgesehen.
     Im hinteren Teil der Armee liefen die Bogenschützen. Enlil hatte Speer, Schwert und Bogen dabei, aber das konnte er sich auch leisten, da er in einem dieser Wägen auf vier Rädern stand, die sie Streitwägen nannten, und die von großen, stattlichen Pferden gezogen worden. Er war nicht der Einzige. Einige Höhergestellte und Reiche hatten ebenfalls solche Wägen, aber seiner war mit Abstand der Beeindruckendste.  
     Ich hätte auch liebend gern in so einem Ding gestanden. Der Boden um uns herum war nämlich so von den beiden Flüssen, die in einiger Entfernung links und rechts von uns dahinflossen, durchnässt, dass ich Sorge hatte, einen falschen Schritt zu tun. Ich kannte die Gefahr von Mooren und Sümpfen und wie schnell man darin untergehen konnte. Da sich aber scheinbar niemand sonst darum sorgte, nahm ich mal an, dass einen der Boden hier nicht ganz so schnell verschlingen konnte, wie in anderen Gegenden. Trotzdem war mir ein bisschen mulmig zumute, und ich sah lieber zu, dass ich mich nicht allzu weit von den Anderen entfernte.
      Unterwegs kamen wir durch zahlreiche kleine Gehöfte und Weiler, die Eridu umgaben und die die Stadt mit Nahrung versorgten. Ansonsten gab es nur die vereinzelten Bäume, sumpfiges Schwemmland und grau-blauen Himmel zu sehen. Wir marschierten einen guten halben Tag, bevor wir für die Nacht ein provisorisches Lager auf einem breiten Hügel aufschlugen, wo das Wasser der Flüsse uns nicht erreichen konnte, und am nächsten Morgen ging es frisch und munter weiter.
     Den Frischlingen, wie man sie allgemein gerne nannte, ging aber ob des langen Marsches und des Zusatzgewichtes ihrer Rüstung und Waffen schnell die Puste aus, auch wenn sich keiner traute, sich zu beschweren oder nach einer Pause zu fragen. Mich und die anderen älteren Krieger interessierte das bisschen Marschieren ja schon lange nicht mehr. Deswegen waren wir auch fit und kampfbereit, als wir unser Ziel endlich erreichten, während sich auf dem Gesicht des Schwert-Jungen schon Erschöpfung abzeichnete. Neben der Angst, die man auch bei vielen anderen sehen konnte. Aber auch ein unerwartet grimmiger Ausdruck hatte sich auf seine Züge verirrt. Statt aufzugeben, schien ihn der Vorfall von vorgestern trotzig gemacht zu haben. Ich konnte nur hoffen, dass er nicht mit dem Leben dafür bezahlte.
    Ich hatte schon ein schlechtes Gewissen ihm gegenüber. Etwas, das ich wirklich lange nicht mehr gehabt hatte. Er hatte seine Ration am Morgen nicht einmal angerührt, wie viele andere auch. Auch mir war nicht nach Essen zumute gewesen, aber ich hatte es trotzdem getan. Wie gesagt, mit leeren Magen kämpfte es sich schlecht. Ich nahm mir jedenfalls vor, während der Schlacht ein Auge auf den Jungen zu haben. So gut es eben in dem Getümmel ging.  
    Wir erreichten schließlich den Rand einer unerwartet grünen Kuppe, zu deren Füßen man schon die Häuser der Stadt sehen konnte, auf die Enlil es abgesehen hatte. Sie war wesentlich kleiner, als Eridu, hatte das Gebirge im Rücken, und zu meinem Erstaunen war sie tatsächlich von einem hölzernen Palisadenwall umgeben, den man mit Erde aufgeschüttet hatte.
     Enlil, der unsere Vorhut bildete, hielt seinen Streitwagen an und drehte sich zu den versammelten Kriegern um. Wir waren so viele, dass ich es unmöglich zählen konnte, obwohl Utu mir auch das beigebracht hatte. Zumindest bis einhundert konnte ich zählen. Überall standen Männer um mich herum und egal, wohin ich auch schaute, das Meer an Helmen schien kein Ende zu nehmen. Es war beeindruckend.
     Enlil begann nun, mit seiner donnernden Stimme eine Ansprache zu halten, die selbst die hintersten Krieger noch hören würden, war ich mir sicher. Doch ich hatte keine Ohren dafür. Ich kehrte in mich und versuchte, innere Ruhe zu erlangen. Es war nicht so, dass ich wirklich Angst davor hatte zu sterben. Es war eher so, dass ich meinen Lebensmut verloren hatte, seitdem sie gestorben war. 
     Ich schüttelte die trübsinnigen Gedanken augenblicklich ab und fokussierte mich aufs Diesseits, wo sie alle gerade zu einem ohrenbetäubenden Beifall angesetzt hatten. Waffen wurden auf Schilde geschlagen und die Luft war erfüllt von Rufen. Spätestens jetzt hatten uns auch die bedauernswerten Leute unten in der Stadt gehört.

Die Schlacht war das reinste Chaos. Ich wunderte mich überhaupt, dass sich Freund und Feind in dem Getümmel zu unterscheiden vermochten.
    Die Stadtbewohner hatten zunächst versucht, das Ganze auszustehen und die gelegentlichen Pfeilregenschauer mit eigenen Pfeilsalven zu beantworten. Aber ihre Bogenschützen waren in der Unterzahl und als die restlichen Streitkräfte schließlich auf die Stadt zuhielten, kamen sie doch noch raus. Vielleicht waren es auch die Palisaden, die Enlil mit Feuerpfeilen in Brand hatte stecken lassen, die sie überzeugten, dass es draußen bessere Überlebenschancen gab, als im Inneren des Feuerrings ihrer Palisaden.   
     Ich hatte schon einige Kämpfe gefochten und miterlebt, aber das hier übertraf sie alle bei weitem. Ich musste mich wirklich zusammenreißen, nicht so sehr auf die grausigen Bilder der Umgebung zu achten, sondern mich auf meine Gegner zu konzentrieren. Viele von ihnen, stellte ich ein bisschen bestürzt fest, schienen nicht einmal wirklich für den Kampf ausgebildet worden zu sein. Einige wenige, die ich kurz und schmerzlos niedermachte, waren sogar ungerüstet. Einfache Bauern und Grubenarbeiter wahrscheinlich.
     Doch ich hatte trotzdem keine Zeit, Mitleid mit ihnen zu haben. Ich stieg über die Körper der Gefällten und hielt auf die Mitte des Schlachtfeldes zu, immer auf der Suche nach dem Schwert-Jungen, den ich seit Beginn der Schlacht nirgends erspähen konnte, als ich plötzlich eine gewaltige Axt auf mich niedersausen sah. Geistesgegenwärtig schaffte ich es, mein kleinen Schild hochzureißen und die Klinge abzufangen, aber die Wucht des Schlages schien mir trotzdem durch alle Knochen zu fahren.
     Als ich zu meinem Angreifer schaute, sah ich einem Giganten von einem Mann ins grinsende, bärtige Gesicht. Seine Zähne waren so gelb wie Enlils Helm, und da wusste ich, wen ich da vor mir hatte: Goldzahn, den gegnerischen Kommandanten. Enlil hatte immer mit einer Mischung aus Respekt und tiefstem Hass von ihm gesprochen. Er war scheinbar ein gefürchteter und grandioser Kämpfer, dem nachgesagt wurde, dass er einmal eine ganze Schlacht mit den bloßen Händen gewonnen hatte. Das war wahrscheinlich Unsinn, aber wenn ich mir seine massiven Fäuste so ansah, war an der ganzen Sache vielleicht doch etwas Wahres dran.
     Er ließ seine Faust mit der Axt niederfahren und bevor ich es verhindern konnte, hatte er mir den Schild aus der Hand geschlagen. Da stand ich nun, vollkommen ungedeckt und überlegte angestrengt, wie ich da nur wieder rauskommen konnte. Mein Gegner war vergleichbar mit Enlil, das sah ich, und ich hütete mich eigentlich immer davor, mich mit so einem anzulegen. Aber da alle meine Kameraden mit ihrem ganz eigenen Überlebenskampf beschäftigt waren, blieb mir nichts anderes übrig, als allein zu kämpfen. 
     Ich fluchte, dass ich keinen Speer hatte, um ihn auf Abstand zu halten, aber wahrscheinlich hätte der den so einfach entzweigebrochen, wie damals der Tiger es mit den Speeren der Menschenfresser gemacht hatte.
     Als ich daran dachte, wich die Angst plötzlich einem alten Trotz, den ich lange nicht mehr gespürt hatte. Freund grimmige Entschlossenheit übernahm und ich traute mich wieder in den Kampf. Ich schlug zu. Schnell und mit aller Kraft, so, wie ich damals auch geschwommen war, um meinen Erinnerungen zu entkommen. Goldzahn war von meinem plötzlichen Sinneswandel zunächst überrascht, doch er war kein Mann, der lange brauchte, um sich wieder zu fangen. Ich landete einmal einen nutzlosen Streiftreffer an seiner Seite, dann schlug er mir mit einem Hieb seiner mächtigen Axt das Schwert aus der Hand. Es landete klirrend irgendwo hinter mir, aber ich hatte keine Zeit, darauf zu achten, wo genau es hinflog. Im nächsten Moment war ich vollauf damit beschäftigt, auszuweichen.
     Es lief auch alles so gut, wie es laufen konnte – immerhin war ich noch am Leben – als ich einen Ausfallschritt zur Seite machte und sich unvermittelt ein reißender Schmerz in meine Brust fraß. Ich war einen Moment zu verdattert, um das zu begreifen, da Goldzahn noch ein gutes Stück von mir entfernt war. Selbst als ich den gefiederter Schaft aus meiner linken Brustseite ragen sah, verstand ich immer noch nicht. Im nächsten Moment war der Schmerz jedoch weg, sodass ich wirklich glaubte, doch noch eine Chance zu haben.
     Plötzlich war es mir, als würde die Zeit für mich langsamer laufen. Ich sah den Speer eines Gefallenen neben meinem Fuß liegen. Ich sah Goldzahn, der auf mich zustürmte, um mir endgültig den Rest zu geben. Der Pfeil in meiner Brust. Ich sah all die Krieger, die um mich herum kämpften und starben und dachte nur: ‚Bei den Göttern! Was ist das nur für ein Wahnsinn! Warum nur lasst ihr zu, dass eure Kinder sich gegenseitig abschlachten? Und wofür das Ganze? Für eine Eisengrube. Damit wir daraus Waffen und Rüstungen machen und uns später weiter damit abschlachten können.‘ Einen Augenblick nahm ich mir sogar die Zeit, zum inzwischen beinahe schneeweißen Himmel hinaufzusehen, und ich erlaubte mir ein Gefühl von Freiheit und tiefer Ruhe. Der Kampfeslärm um mich herum erstarb und ich hörte nur noch meinen eigenen Herzschlag in den Ohren pochen.
     Dann aber verdrehte ich die Augen nach oben und fiel auf ein Knie, als würde ich ohnmächtig werden. Aber ich ließ Goldzahn dabei keine Sekunde aus den Augen. Ich fesselte ihn mit meinem Blick und sah, dass er dachte, ich hätte aufgegeben. Deshalb achtete er nicht weiter auf meine Finger, die sich nun langsam um den Speer am Boden schlossen. 
     Als er vor mir anhielt und die Axt hob, um mir den Kopf von den Schultern zu schlagen, stieß ich mich und den Speer nach oben und landete einen Volltreffer. Von weit unten bohrte sich die Spitze des Speeres in seinen Hals, der tief darin versank. Es stoppte Goldzahns Hieb zwar nicht, aber er ging glücklicherweise hinter meinem Rücken unbeholfen ins Leere.
     Ich musste direkt sein Hirn getroffen haben, da er beinahe augenblicklich auf mich fiel. Nur gerade so noch schaffte ich es, zur Seite zu springen, um nicht von dem massiven Toten begraben zu werden. Ich ging trotzdem zu Boden und auch wenn ich sofort wieder versuchte, aufzustehen, ging es plötzlich nicht mehr. Meine Beine wollten mir nicht gehorchen und brachen immer wieder ein. Ich fühlte mich mit einem Mal so müde und kraftlos. Mein Atem rasselte in meinem Hals und jeder Atemzug sandte heiße Schmerzwellen durch meine Brust.
     Als dann auch noch ein weiterer Körper auf mich fiel und unter sich begrub, gab ich es auf. Mir entglitt inzwischen jeglicher vernünftiger Gedanke und ich war gezwungen, dem weißen Wolkenteppich über mir beim Vorbeiziehen zuzusehen. Ab und an verirrte sich mal ein Arm in die Aussicht, mal eine Waffe oder eine ganze Rangelei, aber das war es auch schon. Ich hatte noch gehört, wie sie gerufen hatten, dass Goldzahn gefallen war, aber das Klirren der Waffen und das Schreien der Männer drangen trotzdem noch immer zu mir vor. Auch wenn ich all das nur noch dumpf wahrnahm. 
     Ich war froh, als ich all dem Wahnsinn endlich entglitt.
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Anmerkung: Eridu war eine der ersten großen Städte der Sumerer. Es wird vermutet, dass sie sogar die Erste war.

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