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Sonntag, 16. Dezember 2018

Kapitel 19 - Herzenskälte


Ich hatte gute Lust gehabt, mich einfach aus dem Staub zu machen, und ich wünschte mir im Nachhinein manchmal, ich hätte es einfach getan. Stattdessen fand ich mich kurz darauf in Enlils Halle wieder. Sie lag beinahe ganz oben in der Zikkurat. Weiter oben gab es nur noch die Wohnung für ihren Stadtgott Enki. Sie glaubten wohl daran, dass er in seinen Bildnissen lebte oder sowas.
     Normalerweise hatte in den oberen Stockwerken niemand Zutritt außer Enlil als der Vertreter ihres Gottes, ein paar seiner engsten Berater, Diener, Wachen und der Oberpriesterin, die ich nur ein paar wenige Male zu Gesicht bekommen hatte. Utu kam auch ab und an her, aber er war ja auch Enlils bevorzugter Schreiber und ein hervorragender Stratege, wie ich gehört hatte.    
     Die Halle, die Enlil bewohnte, war geräumig, und obwohl sie sparsam eingerichtet war, war alles, was ich sah, reich verziert und prächtig. An den Wänden waren tatsächlich kostbare Holzverkleidungen zu sehen. Die Decke war beinahe so hoch, dass ich sie kaum über mir ausmachen konnte. Sie wurde von wuchtigen Statuen getragen, die ich schon von den unteren Stockwerken kannte. Doch es waren nicht ihre Götter mit den langen Bärten, dem Gefieder auf dem Rücken und den herrschaftlichen Gewändern und Gesichtern, die sie zeigten, sondern Stiere und nackte Frauen. Ich zählte sechs Stück davon, die mich auf meinem Weg in die Halle hinein mit ihren riesigen Augen zu verfolgen schienen. Vor allen Dingen das Schattenspiel der zahlreichen Feuerschalen, die zwischen ihnen brannten, ließen sie beinahe so lebendig wirken, dass es mir Angst machte.
     Am Ende der Halle sah ich einen riesigen, goldenen Sitz, den die Ansässigen ehrfurchtsvoll Enlils Thron nannten. In die Armlehnen und die Seiten waren zahlreiche Szenen von irgendwelchen glorreichen Schlachten eingearbeitet, soweit ich das in dem Zwielicht, das hier herrschte, sehen konnte. Es war beeindruckend. Enlil selber, wie immer in seine Rüstung gehüllt, saß linkerhand auf einem goldenen Bett. Eine schöne Dienerin mit einem aufwändig geschmückten Kopfschmuck kniete vor ihm und hatte ihm gerade einen goldenen Kelch gereicht, den er nun zu seinen Lippen führte und genüsslich trank. Als er mich bemerkte, machte er eine fortscheuchende Handbewegung, woraufhin die Frau sich hastig entfernte.
     Einen Moment dachte ich schon, er würde mich auffordern, mich neben ihn zu setzen, aber dann erhob er sich doch und ließ sich hoheitlich auf seinem Thron nieder. Da er erhöht saß, musste ich nach oben schauen, obwohl ich nicht daran dachte, wie seine anderen Diener und Leute vor ihm zu knien. Das hatte ich nie getan. Aber ich war ja auch keiner seiner Leute, die ihm Treue geschworen hatten, sondern ein Söldner, den er angeheuert hatte. Wir Söldner waren zwar nur ein kleinerer Teil seiner Streitkräfte gewesen, aber alle wussten, dass wir den Ausschlag zwischen Sieg und Niederlage ausgemacht hatten.
     „Du hast mich rufen lassen?“, begann ich ohne Begrüßung. Am liebsten hätte ich ihm sofort ins Gesicht gesagt, dass er mir einfach meine Bezahlung geben und mich ansonsten in Ruhe lassen sollte. Aber mir lag zu viel an meinem Kopf, also blieb ich ruhig.
     „Da ist ja unser großer Held!“ Er breitete die Arme aus und tatsächlich war da ein herzliches Lächeln auf seinem Gesicht zu sehen, das beinahe noch unheimlicher war, als seine Wut. Es wirkte so deplatziert bei ihm. „Du hast Goldzahn getötet, wie ich gehört habe.“
     Er lehnte sich vor, als würde er meiner Erzählung von diesem glorreichen Moment lauschen wollen. Doch dann fuhr er stattdessen selber fort: „Er war ein formidabler Krieger. Allein für ihn habe ich so viele Leute angeheuert, wie ich bekommen konnte. Ich hätte aber nicht gedacht, dass irgendeiner von euch ihn würde fällen können. Sein Tod kam“, er überlegte, „unerwartet.“ Er lehnte sich wieder zurück. „Ich hatte gehofft, dass ich es sein würde, der ihn besiegt, aber ich will ja nicht undankbar erscheinen.“
     Dann ließ er sich einen Moment Zeit, bevor er herrisch mit der Hand wedelte. Beinahe augenblicklich sprang ein weiterer Diener in einem einfachen, ärmlichen Gewand an seiner Seite und überreichte ihm einen prall gefüllten Lederbeutel, der diesmal sogar seine große Hand ausfüllte. Doch anstatt ihn mir zu überreichen, platzierte er ihn auf seine Armlehne.
     „Ich habe mir die Freiheit erlaubt, deinen Lohn für deinen Dienst zu verdoppeln.“
     Dann endlich warf er den Beutel vor meine Füße. Ich bückte mich und riskierte einen Blick. Im Inneren schimmerte es nicht nur silbern, sondern sogar golden! Da waren tatsächlich kleine Goldklumpen drin! Das war mehr wert, als alles, was ich jemals besessen hatte. Ich riss mich jedoch zusammen und sah davon ab, mit offenem Mund zu starren. Stattdessen neigte ich den Kopf und sagte: „Ich danke dir für deine Großzügigkeit. Dann werde ich mich jetzt verabschieden.“
     Ich wusste, dass ich nicht weit kommen würde, aber einen Versuch war es wert. Denn natürlich hielt Enlil mich sofort zurück, indem er anbot: „Du könntest noch mehr davon haben. Mehr, als dass du dir je vorstellen könntest.“ Als ich zurücksah, hatte er die Hände ausgebreitet. „Du könntest ein eigenes Quartier in unserer Kaserne haben. Oder ein Haus in der Stadt, falls du das wünscht. Oder“, er schnippte mit den Fingern und die Dienerin kam mit demütig gesenktem Haupt an seine Seite, „ein paar persönliche Diener, wenn du möchtest. Dank unseres kleinen Feldzuges haben wir gerade ein paar übrig.“
     Er hatte das Gesicht der Frau zwischen zwei Finger genommen und auch wenn man ihr ansah, dass sie sich vor ihm ekelte, ertrug sie es tapfer. Er drückte seine breiten Finger in ihre zierliche Wange, dann stieß er ihren Kopf zur Seite.
     „Ich kann fähige Männer wie dich immer gut gebrauchen. Und falls du dich als vertrauenswürdig erweist, wirst du es hier weit bringen. Wie es der Zufall so will, ist in der letzten Schlacht erst meine rechte Hand und mein Stellvertreter gefallen.“
     Ich wollte ihm natürlich sagen, dass er sich sein Angebot sonst wohin stecken konnte – wenn auch auf nettere Art und Weise, damit ich meinen Kopf behalten würde – als ich in seinen kalten Augen plötzlich sah, dass ich gar keine andere Wahl hatte, als anzunehmen. Als ich das bedrohliche Funkeln in ihnen sah, war mir klar, dass er mich aus dem Weg räumen würde, wenn ich ablehnte. Jetzt sofort auf der Stelle oder später, wenn es niemand mitbekam. Enlil war kein Mann, dessen Angebot man einfach ausschlug, das hatte ich doch immer gewusst.
     „Also was sagst du?“
     Mir wurde eiskalt und ich musste alles aufbieten, um ihm meine Angst nicht zu zeigen. Oder davonzulaufen. Weit wäre ich ja sowieso nicht gekommen. Da waren überall Wachen in den Schatten.
     Ich schluckte unmerklich, dann neigte ich erneut den Kopf. „Ich würde mich geehrt fühlen.“ Und bei nächster Gelegenheit wäre ich auf und davon, darauf konnte er wetten.
     Doch Enlil, der nichts von meinen Gedanken wusste, lächelte nur zufrieden. Er hatte bekommen, was er wollte. Er war nichts anderes gewohnt.

Meine Möglichkeit zur Flucht bot sich leider nicht, als ich kurze Zeit später, wieder voll gerüstet, unterwegs zur Eisenstadt war. Es war ein ganzer Zug an Kriegern, beinahe zwanzig, die gerade durch das Schwemmland gingen, und Enlil führte uns zu allem Überfluss auch noch an. Er wollte die Erzgrube inspizieren und schauen, wie der Wiederaufbau der niedergebrannten Häuser voranging. Da ich an seiner Seite ging, konnte ich schlecht abhauen, ohne dass er es bemerkte. Er saß auf einem herrlich stattlichen Pferd, das ich gerade sehnsüchtig betrachtete. Wenn ich so eines gehabt hätte, wäre das mit der Flucht schon wieder etwas anderes gewesen.
      „Wenn du dir erst einmal mein Vertrauen verdient hast, wirst du auch so eines bekommen“, versicherte Enlil, als er meinen Blick bemerkte.
     Vertrauen verdienen hieß für Enlil, dass ich erstmal eine Weile unter ihm dienen und die Drecksarbeit verrichten durfte, bevor ich anfangen durfte, seine persönliche Drecksarbeit zu verrichten. Sein letzter Stellvertreter war nicht wirklich auf dem Schlachtfeld aktiv gewesen, wie ich gehört hatte, aber ich wusste, dass er mich unbedingt wegen meiner Fähigkeiten als Kämpfer wollte. Deswegen konnte ich vielleicht darauf hoffen, dass ich irgendwann tatsächlich den Befehl über irgendwen bekommen und dann wenigstens andere die Drecksarbeit für mich verrichten lassen konnte. Nicht, dass ich gedachte, es so weit kommen zu lassen.
     Enlil klopfte dem Pferd den Hals und ich schwieg weiter vor mich hin. Meine ruhige, kühle Art hatte mich schon oft vor seinem Zorn bewahrt, aber ich hatte die Befürchtung, dass dies auch mit ein Grund war, warum er mich so unbedingt zu seinem Stellvertreter machen wollte. Er dachte wohl, ich sei so gnadenlos und furchtlos wie er, aber da schnitt er sich gewaltig. Ich zeigte nur niemandem, dass es anders war.
      Er begann einen Monolog über seine Einnahmen durch die Eisenstadt oder was-weiß-ich-was zu führen, dem ich nicht zuhörte, aber interessiert tat und ab und an nickte. Erst, als unser Ziel in Sichtweite kam, verstummte er endlich und ich hatte schon gute Hoffnungen, dass er vorreiten würde, aber den Gefallen tat er mir leider nicht.
     Wir kamen bald schon übers Schlachtfeld, das inzwischen zwar größtenteils geräumt war, aber ab und an konnte ich noch immer einen Toten rumliegen sehen. Der einstmals saftig grüne Boden war aufgewühlt und zu einer braunen, schlammigen Ebene verkommen. Ich tat mir den Gefallen, nicht allzu genau hinzusehen. Der süßliche Gestank des Todes war schon schlimm genug auszuhalten. Ich hatte jedenfalls alle Mühe, mein Essen drin zu behalten. 
     Als wir durch das verkohlte Stadttor ritten, mischte sich der Geruch von Verbranntem und Dung darunter, sodass mir erst recht schlecht wurde. Flehentlich richtete ich einen Blick zum Himmel, der inzwischen bleigrau war, und hoffte, dass es bald regnen würde, damit der Gestank fortgewaschen wurde.
     Enlil ließ uns in der Stadtmitte anhalten. Die meisten der Häuser hier hatten strohgedeckte Dächer und geflochtene Wände, wie ich es schon auf Ragnas Hof gesehen hatte, nur die wenigsten sahen so aus wie die Häuser in Eridu. Ein großer Teil der Rundhäuser war angekohlt, und von ein paar anderen waren nur noch schwarze Überreste da. Der große Platz, um den sich die Häuser drängten, hatte einen Brunnen in der Mitte. Nach den Löscharbeiten war der Boden vor allen um ihn herum schlammig. Die elend aussehenden Gestalten, die ich hier und da erblickte, waren es ebenfalls. Sie sahen müde, schmutzig und krank aus. Nur die wenigen Krieger, die sich als Aufpasser unter sie gemischt hatten, sahen halbwegs sauber aus.
     „Ihr werdet die Wachen hier ablösen und auf die Gefangenen aufpassen“, befahl Enlil, als wir Halt gemacht hatten. „Wenn sie ihre Arbeit nicht richtig verrichten oder zu fliehen versuchen, bestraft sie. Statuiert Exempel, wenn es sein muss, aber übertreibt es nicht. Für jeden Gefangenen, der flieht, wird einer von euch geradestehen müssen.“ Hieß, er würde sie umbringen, wenn ihnen einer entwischte. „In einer Woche werdet ihr von der nächsten Schicht abgelöst.“
     Dann nickte er seiner Leibwache zu, die aus fünf vollgerüsteten Männern bestand, die allesamt zu Pferde waren, und sie preschten mit donnerndem Hufschlag Richtung Erzgrube davon. Sobald Enlil mit seiner Inspektion fertig und zurück in Eridu war und es Nacht wurde, würde ich einen Fluchtversuch unternehmen, nahm ich mir vor.

Ich hatte gar nicht erst vor, mir das Elend und das Leid der Leute vor Ort anzutun und Mitleid mit ihnen zu entwickeln. Also zog ich mich sofort zurück und blieb für mich, während die Anderen aus meinem Zug ausschwärmten. Enlil kam einige Zeit später schon zurück und zog mit seinen Leibwachen und der alten Wachschicht ab. Natürlich musste er noch bei mir vorbeischauen und mir das Kommando über diesem armseligen Haufen übertragen, aber dann war er endlich fort.
     Ich wartete aber trotzdem noch das Abendessen ab. Danach würde die Wache am Tor wechseln und ich konnte mich aus dem Staub machen. Im Nachhinein war das aber keine so gute Idee, wie ich feststellen musste.
     Ich hatte schon mitbekommen, dass Enlils Leute nicht gerade zimperlich mit den Gefangenen umgingen, aber als sich einer der bedauernswerten Leute hier schützend vor seine Schwester oder Frau oder was-auch-immer stellte, wusste ich, dass das Ärger geben würde. Gerade, als ich mich mit meiner armseligen Ration an einem behaglichen Feuer niedergelassen hatte, das die innerliche Kälte ob diesen schrecklichen Ortes aber nur unzureichend verjagen konnte, gingen sie zu fünft auf ihn los. Ich hatte nicht vor, unnötig auf mich aufmerksam zu machen, indem ich eingriff, wo ich doch bald von hier abhauen wollte. Deswegen tat ich blind. Solange sie sich nicht an dem Mädchen vergriffen oder versuchten, den Mann umzubringen, ging mich das nichts an.
     Leif, der auch mitgekommen war, sah das blöderweise aber anders. Als er Wind davon bekam, war er sofort lauthals schreiend zur Stelle und löste die Fünf von dem schon arg geschundenen Mann. Er stellte sich schützend vor ihn, aber seine Kumpane waren scheinbar nicht einer Meinung mit ihm. Jetzt fingen sie an, ihn zu schubsen und ich dachte nur: ‚Muss das jetzt echt noch sein?‘ Vor allen Dingen, als Leifs Blick dann ausgerechnet auch noch zu mir ging und ich nicht schnell genug war, um wegzusehen. So ein Mist!
     Trotzdem blieb ich sitzen, während sich die Situation immer weiter zuspitzte und schließlich Leif es war, der Prügel kassierte. Nicht, dass ich Mitleid mit ihm hatte. Ich hatte ihm leidlich das Schwimmen beigebracht und damit waren wir quitt. 
     Wie ich es mir gedacht hatte, ließen sie auch endlich von ihm ab und er konnte entkommen. Wenn Enlil rausfand, dass sich seine Leute untereinander prügelten, würde er nicht so erfreut sein, also war er ganz glimpflich davongekommen. Bei mir sah das jedoch anders aus. Schon war er bei mir und forderte: „Willst du nicht was dagegen machen? Du bist doch bestimmt für diesen Sauhaufen hier verantwortlich, wo du doch jetzt Enlils Stellvertreter bist.“
      „Ich bin nicht sein Stellvertreter.“ Dass ich nichtsdestotrotz die Verantwortung hier trug, verschwieg ich aber lieber.
     „Und? Willst du trotzdem nichts machen?“ Er wies hinter sich, wo sie wieder begonnen hatten, auf den Gefangenen einzuschlagen.
     „Wieso sollte ich?“
     Er klickte missbilligend mit der Zunge. „Weil‘s falsch ist. So sollte man mit niemandem umgehen. Auch mit Gefangenen nicht. Komm schon, die haben so eine Angst vor dir, dass du da nur rübergehen musst, damit die aufhören.“
      Ich wollte ihm sagen, dass er sich verziehen soll, aber da hörte ich schließlich den spitzen Schrei der Frau und verstummte. Ich seufzte genervt, erhob mich und ging nun doch rüber, bevor die da noch auf dumme Gedanken kamen. Ich hatte ja schon befürchtet, dass es so kommen würde.
     Tatsächlich ließen sie augenblicklich von der Frau ab, als sie mich bemerkten. Vier von ihnen waren auch klug genug, sich sofort zu verkrümeln, als ich ihnen einen kalten Blick zukommen ließ. Nur der Fünfte nicht. Er war einer der Söldner, die Enlil verehrten und die in seine Dienste getreten waren. Er war sicherlich schon herumgekommen und hatte einiges erlebt, deshalb hatte er auch keine Angst vor mir. Wahrscheinlich war er selber ganz scharf auf den Posten, den Enlil mir angeboten hatte.
     „Was willst du denn?“, fragte er höhnisch.
     „Ihr wisst doch, was Enlil über die Gefangenen gesagt hat“, erinnerte ich.
     Der Blödmann grinste aber nur, bevor er seine Freunde zurückpfiff, die zögerlich stehen blieben. „Kommt Jungs, lasst uns dem mal eine Lektion erteilen!“
     „Spinnst du?“, fiel ihm einer seiner Freunde in den Rücken. „Das ist der, der Goldzahn getötet hat!“
     „Na und? Goldzahn war einer, aber wir sind viel mehr, als er.“
     Man merkte, dass er nicht von hier kam. Wahrscheinlich hatte er davor noch nie was von Goldzahn gehört. Seine Kumpane aber schon, weshalb sie kniffen.
     „Na gut! Dann mach ich’s halt allein, ihr Pfeifen!“
     Er hob die Fäuste und ich war versucht, ihn einfach zu überrumpeln, bevor er das überhaupt tun konnte. Aber das hätte ihn nichts darüber gelehrt, dass man sich lieber nicht mit mir anlegen sollte. Also ließ ich ihn Aufstellung beziehen und tat es ihm dann gleich. Da keiner von uns Ärger mit Enlil wollte, ließen wir die Waffen, wo sie waren.
      Wir umrundeten uns einmal, dann ging er auf mich los. Ich erkannte schnell, dass er zwar stark, aber viel träger war, als ich. Stärke war nicht alles, das hatte ich früh lernen müssen. Ich hatte immer gedacht, dass es Stärke war, auf die es ankam, aber Schnelligkeit und Wissen waren viel wertvoller. Und ich kannte einige Tricks und Kniffe, um gerne mal als unberechenbar von meinen Gegnern angesehen zu werden. Das war es, was mich eigentlich gefährlich machte.
     Also ließ ich ihn zuschlagen, wich unbeeindruckt mit einem Schritt zur Seite aus und als er an mir vorbeigestolpert war, hatte ich ihn. Ich langte nach seiner Schulter und mit einem geübten Griff hatte ich das Gelenk ausgekugelt. Es tat ihm wahrscheinlich wahnsinnig weh, so, wie er jetzt schrie, aber es war ungefährlich.
     Er kam wieder zum Stehen und besah seinen nutzlosen Arm so angstvoll wie ein kleines Kind. „Du hast mir den Arm gebrochen!“, jammerte er.
     Das hatte ich nicht, aber sollte er es ruhig glauben. Es würde ihn demütiger machen und wenn er in einer Woche dann heulend zu einem der Priester rennen würde, würden die das schon wieder hinkriegen.
      „Und wenn du dich nochmal mit mir anlegst, reiße ich ihn dir ab!“, drohte ich.
      Der Kerl sah tatsächlich aus, als würde er bald zu heulen anfangen, also sah er zu, dass er wegkam, bevor er sich noch gänzlich blamierte. Auch die Anderen suchten lieber das Weite, bevor ich mir ihre Gesichter merken konnte. Ich hatte es mal wieder geschafft. Indem ich ein Exempel statuiert hatte, hatten alle noch ein bisschen mehr Angst und Respekt vor mir. So hatte ich das auch immer bei den Trainingseinheiten gehalten. Keiner hatte sich da mehr mit mir angelegt, nachdem ich bewiesen hatte, dass ich selbst den Stärksten unter ihnen mit einem gezielten Schlag gegen die Schläfe ausknocken konnte.
     Bevor ich jedoch wegkam, war Leif blöderweise zur Stelle und hatte sich des aus Nase und Mund blutenden Mannes am Boden angenommen. Die Frau, die an seiner Seite gewesen war, sah ihn misstrauisch an, ließ ihn aber machen. Sie waren beide so schmutzig, dass ich nicht mal sagen konnte, welche Farbe ihr Haar hatte, aber die Augen der Frau waren so anklagend und stechend, wie ein Messer.
     „Du hast dich ganz schön verändert seit damals“, bemerkte Leif, während er das geschwollene Gesicht des Mannes mit einem leidig sauberen Tuch vom Blut befreite. „Wenn man bedenkt, dass du damals wie ein weinerliches Mädchen warst, erkennt man dich heute kaum wieder, wenn man nicht weiß, wer du bist.“ Er sah mich direkt an. „Damals gefielst du mir jedenfalls besser.“
     Ich wollte es eigentlich ignorieren und weggehen, aber ich ließ mich dazu hinreißen, zu sagen: „Warum? Weil du mich damals noch verprügeln konntest?“ Ich konnte nicht verhindern, dass ich ein bisschen bitter dabei klang. Leif war damals beinahe der schlimmste Schläger im Dorf gewesen und ich hatte ziemlich unter ihm zu leiden gehabt.
     „Nein, weil du damals noch ein Herz hattest.“
     Er drehte sich wieder zu dem Verletzten und ich hatte alle Mühe, nicht nach außen zu zeigen, dass mich seine Worte nicht so kalt ließen, wie ich das gerne gehabt hätte. Also ließ ich ihn mit den beiden Gefangenen allein zurück und ging zu meinem Platz am Feuer zurück, das die Kälte in mir noch weniger als davor zu vertreiben schien.

Ich lag im Schnee und ein lichtloses Feuer brannte vor mir. Obwohl es eine Weile her war, dass ich hier war, erkannte ich es sofort. Es war das Feuer, das Lu in den Schnee gemalt hatte. Als ich mich jetzt aufrichtete, war er jedoch nirgends zu sehen und eine ungeheure Panik stieg in mir auf, dass ich nun vollends allein hier war.
     „Lu? Bist du da?“, fragte ich in die Schatten jenseits des Feuers hinein.
     Ich wusste, dass sie alle dort waren, aber ich wagte es nicht, aufzustehen und hinzugehen. Nachzusehen, wo er war. Wo Greta war. Ich wollte so gerne mit ihr reden. Sie fragen, warum sie mich nicht mehr sehen wollte.
     „Ich bin nie woanders gewesen“, ertönte plötzlich eine Stimme neben mir.
     Ich dachte, mich zu Tode zu erschrecken, als ich Lu plötzlich neben mir im Schnee sitzen sah, aber das tat ich nicht. Eine innere Ruhe hatte von mir Besitz ergriffen, als hätte ich schon immer gewusst, dass er da war.
     „Wo sollte ich auch anders sein?“, sagte er jetzt.
     Ich wollte ihn etwas fragen, es war etwas dringendes, aber ich konnte mich beim besten Willen nicht daran erinnern. Also zuckte ich nur mit den Schultern. Da sah er in das Feuer vor uns, das keine Flammen hatte, und ich tat es ihm gleich. Einen Moment überlegte ich, mich nach der Ziege umzusehen und ihr mein Essen wieder abzuringen, aber dann dachte ich, dass ich wahrscheinlich nur wieder den Wolf antreffen würde. Also ließ ich es bleiben.
     „Sag mal, habe ich kein Herz?“, fragte ich ihn schließlich.
     Er sah mich an, aber da war keine Regung in seinem bartlosen Gesicht zu sehen. Er erinnerte mich so an mich früher. „Wenn du kein Herz hättest, dann wärst du tot, du Blödmann!“, entgegnete er.
     „Das meine ich nicht. Ich meine“, ich suchte nach den richtigen Worten, „bin ich kalt?“
     Ich erwartete wieder keine richtige Antwort, aber da sagte er: „Das bist du.“ Und ich erschrak bis ins Mark hinein.
     Da fiel mir wieder ein, was ich ihn fragen wollte. „Kommt Greta deswegen nicht mehr her?“ Er nickte, sah ins Feuer. „Und du? Willst du auch nicht mehr herkommen?“
     „Vielleicht. Wenn du so weitermachst.“ Das Feuer spiegelte sich in seinen Augen. Er sah mich nicht mehr an. Mir war so kalt.
     Mit einem Sprung war ich bei ihm und hatte ihn an den Armen gepackt. „Was soll ich machen, Lu? Ich weiß es nicht!“
     Seine Augen trafen mich. Diese Augen. So gnadenlos, wie sie mich schon einmal angesehen hatten. Damals, mitten im Dschungel. Als ich voller Blut gewesen war.
     „Wieder du selber werden“, sagte er nur.
     Ich wollte ihn fragen, wie ich das machen sollte, aber da war er plötzlich wieder weg, und ich war allein mit mir und der Dunkelheit.

Als ich mich dazu zwang, wach zu werden, konnte ich bereits vereinzelte Sterne zwischen den Wolken hervorlugen sehen. Ich fluchte, dass ich eingeschlafen war und sah dann zu, dass ich in die Senkrechte kam. Die Tage im Tempel hatten mich faul werden lassen, dass ich mich nicht bis zum Schichtwechsel der Wache am Tor hatte wach halten können.
     Ich wollte trotzdem nachsehen gehen, ob ich vielleicht nach draußen schlüpfen konnte – es war schließlich ziemlich hart, als Wache nicht einzuschlafen, während alle anderen selig im Traumland weilen durften. Doch da bemerkte ich, was es war, das mich scheinbar geweckt hatte. Da war ein Reiter, der mitten auf dem Dorfplatz Halt gemacht hatte, und er war nicht allein. Mindestens vier weitere folgten ihm mit lautem Hufgeklapper, was auch die anderen Leute jetzt aus dem Schlaf riss.  
     Bevor ich in Deckung springen konnte, hatte mich einer der Reiter erspäht und war zu mir rübergekommen. Ich unterdrückte einen weiteren Fluch und sah ihm stattdessen ausdruckslos entgegen.
     „Bist du Wulfgar?“
     Ich wollte nein sagen, aber ich nickte. Der Mann war einer von Enlils besten Soldaten. Enkidu hieß er, glaube ich. Er gab einem der anderen Reiter ein Zeichen, der daraufhin an seine Seite ritt, die Zügel übergab und vom Rücken des Pferdes sprang. Die Zügel gerieten nun an mich, was mir überhaupt nicht gefiel.
     „Enlil will, dass du zurückkommst. Du und die anderen erfahrenen Krieger.“
     „Was ist passiert?“
     „Ein paar der Gefangenen meinten, einen kleinen Aufstand anzuzetteln. Enlil hat ihnen gezeigt, dass das keine so gute Idee war, aber er will trotzdem jeden erfahrenen Kämpfer jetzt in der Stadt haben.“
     ‚Und natürlich auch mich, wo ich mich ja so sehr hervorgetan hatte‘, kam es mir ungefragt, und ich musste mich sehr zusammenreißen, ihm nicht meinen Unwillen zu zeigen, als ich die Zügel ergriff und umständlich auf den Rücken des Pferdes stieg. Es brauchte mich einige Anläufe und schließlich die Hilfe eines der abgestiegenen Reiter, bis ich endlich auf der safranfarbenen Decke saß, die den Rücken des Tieres bedeckte.
     Die Reiter, die mit Enkidu gekommen waren, waren allesamt Söldner, wie ich sah. Sie tauschten nach und nach die Plätze mit Enlils treuen Kriegern, die eigentlich eine Woche hier hätten Wachdienst schieben sollen. Scheinbar befürchtete Enlil einen heimtückischen Anschlag oder dergleichen, dass er alle seine loyalen Leute zurückpfiff. Was für ein Glück für mich, dass ich wohl dazugehörte.
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Anmerkung: Enkidu ist ein Held aus dem Gilgamesch-Epos.

Hier weiterlesen -> Kapitel 20 

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