Sie sollte das nicht tun. Sie konnte das nicht tun. Es war verboten. Ungezogen.
Nein! Sie war es so leid! Sie wollte nicht mehr!
Also fasste sie das Messer in ihrer Hand fester, hob
es und versenkte die Klinge in einem lieblos geflochtenen Strang ihrer beiden
Zöpfe.
Ja, sie würde
es tun!
Als Lu an diesem Morgen mit Enn zusammen das Haus
verließ, strahlte ihnen eine herrlich warme Frühlingssonne entgegen, die sie
für einen Moment blendete, dann aber nur eine angenehme Wärme auf ihren
Gesichtern zurückließ. Es war ein
perfekter Frühlingstag. Die Götter hatten sich heute wahrhaftig selber
übertroffen. Ein schöner Tag für ihren kleinen Ausflug.
„Wo möchtest du heute hingehen?“, fragte er
den Älteren beiläufig. „Wir könnten auch mal einen Waldspaziergang machen.“
Enn strahlte
mit der Sonne um die Wette. „Oh, ich würde zur Abwechslung gerne einmal zum
Strand hinuntergehen.“ Das hatten sie gestern schon getan. Aber Lu merkte das
nicht an. „Ich mag das Meer sehr gern, musst du wissen.“
Auch das
wusste Lu schon.
Plötzlich blieb Enn stehen. „Wie freundlich, dass du mich
begleiten willst, junger Mann“, sagte er zu ihm wie zu einem Fremden.
Und dann verschwand er wieder von dieser Welt. Sein Blick kehrte sich nach innen und Lu wusste, dass er Enn von nun an nur noch schwerlich würde erreichen können. Auch das kannte er schon. Seitdem Luma tot war, begleitete Lu den Beinahe-Stammesältesten öfter bei seinen Spaziergängen zum Strand. Anfangs war sein eigener Vater Sen noch mitgekommen, aber irgendwann hatte ihm sein Knie das Laufen zu sehr erschwert, um den Hügel zum Strand nehmen zu können. Manches Mal begleitete auch Armin sie, aber diesmal waren sie allein.
Und dann verschwand er wieder von dieser Welt. Sein Blick kehrte sich nach innen und Lu wusste, dass er Enn von nun an nur noch schwerlich würde erreichen können. Auch das kannte er schon. Seitdem Luma tot war, begleitete Lu den Beinahe-Stammesältesten öfter bei seinen Spaziergängen zum Strand. Anfangs war sein eigener Vater Sen noch mitgekommen, aber irgendwann hatte ihm sein Knie das Laufen zu sehr erschwert, um den Hügel zum Strand nehmen zu können. Manches Mal begleitete auch Armin sie, aber diesmal waren sie allein.
Während Lu wartete, dass Enn zu ihm zurückkehrte, fiel
ihm Tann, der beim Brunnen stand, ins Auge und ihm kam eine Idee.
„Tann!“, rief
er ihn und der alte Stammesführer drehte den Kopf, um ihn über die Schulter
hinweg anzusehen. Aber erst, als der Schamane ihn zu sich winkte, kam er auch
an.
„Dein Vater wollte
gerade zum Strand runtergehen. Wie wäre es, wenn du ihn begleitest?“
Es war nicht
so, dass Lu Enn loswerden wollte. Seit einer Weile konnten sie Enn überhaupt
nirgends mehr allein hingehen lassen, ohne, dass sie befürchten mussten, dass er sich verirrte und
nicht mehr nach Hause kam. Und er war überaus anstrengend geworden, da er so oft vergaß, was man ihm keinen Moment zuvor noch gesagt hatte. Sogar die alltäglichen Dinge, wie das Anziehen, waren zu einer Geduldsprobe für sein Umfeld geworden.
Lu fragte sich, ob Enn irgendetwas getan haben könnte, dass die Götter ihn verflucht hatten, aber das konnte er sich einfach nicht vorstellen. Wahrscheinlich war es eher so, dass ein böser Geist Enn heimsuchte und ihm die Sinne vernebelte. Lu opferte deshalb regelmäßig den Göttern, dass sie Enn halfen, aber bislang waren seine Bitten nicht erhört worden.
Bis sie Enn helfen konnten, musste sich jedenfalls jemand um ihn kümmern. Und Lu kümmerte sich gerne um Enn. Er war immer ein guter und gerechter Mann gewesen und Lu war froh, ihm etwas zurückgeben zu können.
Lu fragte sich, ob Enn irgendetwas getan haben könnte, dass die Götter ihn verflucht hatten, aber das konnte er sich einfach nicht vorstellen. Wahrscheinlich war es eher so, dass ein böser Geist Enn heimsuchte und ihm die Sinne vernebelte. Lu opferte deshalb regelmäßig den Göttern, dass sie Enn halfen, aber bislang waren seine Bitten nicht erhört worden.
Bis sie Enn helfen konnten, musste sich jedenfalls jemand um ihn kümmern. Und Lu kümmerte sich gerne um Enn. Er war immer ein guter und gerechter Mann gewesen und Lu war froh, ihm etwas zurückgeben zu können.
Doch es war
nicht nur Enn, der ihm Sorgen bereitete. Tann ging es kaum besser als seinem
Vater. Vielleicht war er geistig noch klarer und wusste, was er tat, aber dennoch litt er genauso wie sein Vater es tat. Er
zeigte es nur niemandem. Seitdem er Lu nach Dianas Tod einmal seine Tränen gezeigt hatte, hatte
Tann jedenfalls nie wieder irgendjemandem offenbart, wie es in ihm aussah. Dazu
war er zu stolz und zu stur, wie Lu wusste.
Aber
vielleicht konnten Vater und Sohn ihren Schmerz ja teilen. Es würde ihnen
beiden bestimmt gut tun, mal wieder ein wenig Zeit miteinander zu verbringen.
Nur, dass Tann überhaupt nicht glücklich darüber aussah. Wie so vieles in
letzter Zeit, traute er es sich wahrscheinlich nicht zu, für Enn verantwortlich
zu sein, mutmaßte Lu.
Bevor er jedoch in die Verlegenheit kam, sich eine
Ausrede einfallen lassen zu müssen, kam Jana des Weges. Sie hatte letztens ihren
finalen Wachstumsschub getan (was sie gebührend begossen hatte) und war mit den
drei Männern jetzt auf Augenhöhe (endlich wieder, wie sie sagte).
Sie blieb Enn
gegenüber stehen und sagte: „Na, Enn, wollen wir gehen?“
Jana ging auch
öfter mit Enn auf seine Spaziergänge. Lu hatte nur nicht gewusst, dass sie das
heute geplant hatte.
Tann sah schon so aus, als würde er die Chance nutzen und
sich klammheimlich davonstehlen, aber Lu machte ihm einen Strich durch die
Rechnung.
„Tann wollte seinen Vater eigentlich schon begleiten“, merkte er an. „Lass sie doch zusammen gehen,
ja?“
„Ach, sie kann
ruhig mit ihm gehen“, wehrte Tann natürlich ab.
Jana nickte,
aber Lu war noch nicht fertig. So einfach würde Tann nicht davonkommen. „Warum
geht ihr denn nicht alle zusammen?“, schlug er vor.
Skepsis auf der einen Seite. Hilflosigkeit auf der
Anderen. Keiner schien sonderlich glücklich mit dem Vorschlag zu sein. Außer
Enn. Der hatte begonnen, die Wolken am Himmel zu beobachten.
„Ich glaube, dass
es jemanden auch sehr beruhigen würde, wenn du nicht allein gehst“, versuchte
Lu es anders und deutete dabei auf Aan, der inzwischen begonnen hatte, aus dem
Hintergrund zu ihnen rüber zu sehen.
„Ich brauch ganz
sicher keinen Aufpasser!“
Jana lief rot
an, auch wenn Lu wusste, dass das lediglich daran lag, dass sie versuchte, ihre
Wut zu zügeln. Sie war ihm gegenüber nie laut. Weil er der Schamane war und sie
ihn respektierte, wie sie sagte.
„Das weiß er
sicherlich selber. Aber kannst du es ihm wirklich verübeln, dass er sich Sorgen
um dich macht? Er liebt dich, und ist es nicht ein Zeichen deiner Liebe, ihm
keine Sorgen zu bereiten?“
Jana sah noch
einen Moment lang unzufrieden aus, dann jedoch schnaufte sie geschlagen. „Na
fein!“
Tann wurde
nicht gefragt, aber er sagte auch nichts mehr dazu. Also gingen sie alle drei
zusammen. Jana nahm Enn bei der Hand und führte ihn munter plaudernd, während
Tann sich beeilen musste, ihnen zu folgen. Und Lu war zufrieden.
Tann war es aber weniger. Als sie am Strand angekommen
waren und die anderen beiden vorm Meer Halt machten, genau dort, wo die Wellen
ihre Füße noch trocken ließen, blieb er in sicherem Abstand hinter ihnen
stehen. Normalerweise sprach er nicht sonderlich viel, wenn er mit seinem Vater
zu tun hatte. Der schwieg ja selber die meiste Zeit, und Tann wusste nicht, was
er sagen sollte. Auch zu Jana nicht.
Die jedoch
hatte anscheinend keine Probleme damit, zu reden. Sie sagte zwar kein Wort zu
ihm, aber sie hielt das Gespräch mit dem so oft abschweifenden Enn erstaunlich
gut in Gang.
„So, da sind
wir, Opa“, verkündete sie gerade, als sie anhielten.
Tann hatte
nicht gewusst, dass Jana Enn noch immer Opa nannte.
„Danke.“ Enn
lächelte warm. „Du bist ein liebes Mädchen. Weißt du, ich habe einen Jungen
in deinem Alter. Möchtest du ihn vielleicht mal kennenlernen?“
„Ich kenne
Tann, Enn. Er steht hinter dir“, merkte Jana an.
Da drehte Enn sich zu ihm und lächelte, als würde er ihn
gerade nach langer Zeit das erste Mal wiedersehen. „Oh, Tann, du bist ja auch
da.“ Plötzlich wirkte er irritiert. „Ja, sag mal, was ist denn mit deiner
Tracht passiert? Und deiner Farbe? Deine Mutter wird sich erschrecken, wenn sie
dich so sieht.“
Tann wusste
nicht, was er dazu sagen sollte. Er hatte Angst, seinem Vater zu sagen, dass
Luma nicht mehr lebte. Er hatte es einmal getan und sein Vater hatte ihm erst
nicht glauben wollen. Er war richtig aggressiv geworden und dann hatte er sogar
geweint. Das hatte Tann ziemlich mitgenommen. Wie er hatte feststellen müssen,
konnte er nicht gut mit alten Menschen, die nicht mehr ganz beisammen waren.
Eigentlich
konnte er inzwischen mit niemandem mehr gut. Er hatte in seinem Leben kaum
Zweifel an dem gehabt, was er getan und entschieden hatte, aber viele seiner
Entscheidungen hatten sich im Nachhinein als falsch herausgestellt. Er hatte so
viele Fehler gemacht. Und nicht wenige davon jagten ihn noch heute. Das war
nicht schlimm, wenn es nur ihn betraf, aber seitdem er die Familie seines
Sohnes zerstört hatte, seitdem er beinahe einen Krieg ausgelöst hatte, war er
nur noch am Zweifeln. Was, wenn er wieder etwas Falsches tat? Also hielt er
sich seitdem lieber zurück.
„Dein Enkel Elrik führt den Stamm an“, erklärte Jana.
Tann war ihr
dankbar, dass sie Lumas Tod nicht erwähnte. Er wollte seinen Vater nicht wieder
weinen sehen. Enn wandte sich ihr nun wieder zu und er war raus aus ihrem
Gespräch.
„Mein Enkel?
Aber Elrik ist doch noch so klein.“
„Elrik ist
älter als ich.“
„Du?“
„Ja, ich bin
es, Jana.“
„Jana?“ Die
Freude kehrte auf sein Gesicht zurück. „Du bist aber groß geworden! Isst du
noch immer so gerne Honigbrot?“
„Aber ja
doch!“
„Lass dich nur
nicht von Luma erwischen“, lachte Enn. Dann wurde er ungewohnt ernst. „Sie ist
immer so streng zu dir, aber du weißt doch, dass sie dich trotzdem lieb hat,
oder? Sie will nur, dass du ein guter Mensch wirst. Zu Jin war sie genauso, aber auch ihn hat sie sehr lieb. Ich habe dich ja auch lieb, meine
Kleine.“
„Ich weiß, Opa.
Ich hab dich auch lieb“, erwiderte Jana ehrlich gerührt.
Sie umarmten
sich herzlich, aber als sie sich wieder voneinander gelöst hatten, schweifte
Enns Blick ab. Erneut war er weit weg. Unerreichbar für sie.
Er drehte sich zum Meer, ließ sich in den Sand nieder,
der in der Sonne beinahe leuchtete, und richtete den Blick zum Himmel. Wenn er
das tat, war er kaum mehr ansprechbar. Er hatte Phasen, in denen er klarer im
Kopf war und dann gab es da Phasen, in denen er kaum etwas um sich herum
mitbekam. So wie jetzt. Da war es besser, ihn in Ruhe zu lassen. Jana kannte
das schon.
Also ging sie
zu Tann hinüber und stellte sich neben ihn. Doch sie tat ihm nicht den
Gefallen, zu reden. Sie so schweigsam zu sehen, war merkwürdig. Seine Beziehung
zu ihr war nie die Beste gewesen, das wusste er ja auch.
„Du kannst
ziemlich gut mit ihm umgehen“, rang er sich schließlich durch zu sagen. Er
konnte die Stille nicht mehr ertragen.
„Ich erzähle
ihm nur, was er vergessen hat. Manchmal versteht er’s. Manchmal nicht.“ Sie zuckte
mit den Schultern. „Das ist halt so.“
„Ich wusste
gar nicht, dass du überhaupt noch was mit ihm zu tun hast.“
„Er ist ja
mein Opa.“ Als Tann sie irritiert ansah, fügte sie hinzu: „Ich weiß, dass er
nicht mein richtiger Opa ist, aber das ist egal. Er ist trotzdem mein Opa. Sen
war’s und Enn auch.“
Dann schwieg sie einen Moment, in dem sie Enn
beobachtete, bevor sie zugab: „Er hat mich nie anders behandelt als seine
richtigen Enkel. Immer wenn ich was falsch gemacht hab, durfte ich kein Honigbrot
essen. Luma hat’s mir immer verboten. Ich dachte echt, dass sie nur Honigbrot gebacken
hat, um mich zu ärgern. Aber Enn ist dann immer zu mir gekommen und hat mir ein
Stück zugesteckt, wenn Luma nicht hingeguckt hat. Und dann sagte er mir, dass
er mich lieb hat und Luma mich auch lieb hat. So wie jetzt.“
Tann war
betroffen, als er das hörte. Er hatte nie gewusst, dass Enn all das für Jana
getan hatte, was er damals versäumt hatte, für sie zu tun. Damals, als er noch
gedacht hatte, ihr Vater zu sein.
„Jana, hör mal, wegen damals“, fing er zögerlich an. „Ich
war dir damals ein schrecklicher Vater und das tut mir wirklich leid.“
„He, schon gut!“,
tat sie ab, obwohl er sah, dass sie nicht damit gerechnet hatte. „Du warst halt
nicht mein echter Papa.“
„Trotzdem… Ich
hätte mehr für dich da sein sollen… Ich hätte dich beschützen sollen…Ich konnte dich nicht einmal beschützen, obwohl das meine Aufgabe
gewesen wäre.“
Sie verschränkte die Arme und es war ihm, als würde sie
damit eine Barriere vor sich aufbauen. „Du hast wenigstens versucht, den
Dreckskerl zu verjagen“, sagte sie nüchtern. „Nicht so wie die Anderen.
Ich wünscht nur, die hätten dich das machen lassen.“
Es war das
erste Mal, dass jemand seine Entscheidungen bezüglich Dia Hell guthieß und das
überraschte Tann so sehr, dass es ihm die Sprache verschlug.
Bevor einer der Beiden noch etwas sagen konnte, kam plötzlich eine
Fremde in bunt-gemusterter, exotischer Kleidung neben Jana zum Stehen. Ihr
graues Haar zeigte, dass sie schon einige Sommer erlebt hatte, aber dennoch war ihr
faltenzerfurchtes Gesicht noch immer hübsch und würdevoll, sodass sich Tann gut
vorstellen konnte, dass sie in ihrer Jugend sicherlich zahlreiche Verehrer gehabt hatte.
„Ach, Jana!“,
begrüßte sie Jana freundlich mit einer wohlklingenden Stimme. „Schön, dich mal
wieder zu sehen!“
„Hallo! Wie
geht’s dir?“
„Kann nicht klagen.“ Die silbergrauen Augen trafen Tann.
„Ich sehe, du bist heute in Begleitung.“
Er wurde
vorgestellt, und da trat die Fremde vor ihn und streckte ihm die Hand hin. Tann
ergriff die kleine, warme Hand und schüttelte sie kurz.
„Ich bin
Sharla. Es ist schön, dich mal kennenzulernen.
Enn erzählt oft von dir.“ Während sie es sagte, ging ihr Blick zu seinem Vater
und nicht nur Tann bemerkte das scheinbar.
„Ach, ich hab ja vergessen, dass ich noch was bei Alin wollte!“,
rief Jana jetzt ganz offensichtlich gestellt. Aber Tann verstand
glücklicherweise und ließ sich darauf ein. Jana sagte: „Wir lassen euch
mal kurz allein, ja?“
Tann nickte den beiden Älteren zum Abschied zu, was Enn nicht bemerkte, und folgte Jana dann hastig.
Tann nickte den beiden Älteren zum Abschied zu, was Enn nicht bemerkte, und folgte Jana dann hastig.
Sharla
beobachtete, wie die Beiden davongingen, bevor sie sich Enn
zuwandte. Als sie ihn zögerlich beim Namen rief, drehte er den Kopf und sah sie
mit leeren Augen an. Dann jedoch kehrte die Erinnerung zurück.
„Sharla.“ Er erhob sich. Erstaunlich leicht und flink.
So wie immer.
„Wie geht’s
dir?“, fragte sie ihn.
„Gut. Ich werde
bald schon Luma wiedersehen.“
Sie stieß ihn spielerisch wütend gegen die Schulter. „Fängt
man so etwa ein Gespräch an?“
„Entschuldige.
Ich bin nicht mehr die beste Gesellschaft, musst du wissen. Das hast du
bestimmt schon selber mitbekommen.“
„Ich bin immer
gern mit dir zusammen, das weißt du doch.“
Es stimmte.
Enn war ein lieber Kerl. Er erinnerte sie so sehr an ihren verstorbenen Mann.
Er war so unbeholfen gewesen, aber so wenig er ohne sie gekonnt hatte, so sehr
hatte auch sie ihn gebraucht. Seitdem er tot war, fühlte sie sich zerrissen.
Als würde ein Stück von ihr fehlen. Sie wusste, wie Enn sich fühlte. Es war
tröstlich, ihn um sich zu haben. Sen hatte das nie so sehr verstanden wie er.
„Was ist denn mit Armin? Ich dachte,
ihr würdet euch gut verstehen. Mit ihm kannst du auch viel besser reden als
mit mir. Ich vergesse immer nur alles.“
Manchmal war
ihm das bewusst und dann war es noch viel schwerer. Dann wollte er am liebsten
vor allen anderen davonlaufen. Um ihnen keine Last mehr zu sein. Er hasste es,
wenn er nicht wusste, was er tat.
„Armin weiß
immer alles besser“, entgegnete Sharla. „Wir können nicht anders, als uns zu streiten, wenn wir in
einem Raum sind. Ich sage, man müsse die Salbe aus diesen Kräutern machen, er
sagt, man müsse sie aus anderen Kräutern machen. Du weißt ja, wie das ist.
Viele Köche verderben einfach den Brei.“
„Er sagte,
dass du seinen Platz als Heiler im Stamm einnehmen wirst, wenn er nicht mehr
ist.“
Obwohl er ein sturer
Besserwisser war, hatte Armin sie tatsächlich einmal darum gebeten. Aber sie
wusste nicht, ob sie das tun würde. Sie überlegte schon eine ganze Weile, zum
Uruk-Stamm zu gehen. Sie hätte gerne mit Enn zusammengelebt, aber sie wusste
auch, wie schwierig es sein konnte, akzeptiert zu werden, wenn man neu war.
Wenn man es nicht mehr gewohnt war, mit anderen zusammenzuleben. Und wenn man
eigentlich die neue Frau an der Seite eines Witwers sein wollte.
„Wir werden sehen“, sagte sie also nur.
„Aber du
kommst zu meiner Beerdigung, nicht wahr?“
„Das schon
wieder!“
„Ich möchte,
dass du meinen Sohn Tann kennenlernst. Seine Frau hat ihn vor kurzem verlassen.
Ich bin mir sicher, ihr würdet euch gut verstehen.“
Enn wollte sie
gar nicht an seiner Seite sehen, das wusste sie. Er sprach schon seit sie sich
kannten nur noch davon, dass er bald sterben würde. Das regte sie auf.
„Ich bin viel
zu alt für deinen Sohn“, schlug sie ein bisschen beleidigt aus.
„Unsinn. Als
ich dich kennenlernte, war ich schon lange grau und dein Haar war noch so
schwarz wie meines zuletzt, als mein Enkel noch ein kleines Kind war. Und der
führt heute den Stamm an.“
Heute schien Enn einen sehr klaren Tag zu
haben. Dann stritt sie sich manchmal mit ihm, aber es war ihr lieber, als wenn
er wieder abwesend war.
„Ich habe gar
kein Interesse an einer neuen Liebe. Alles was ich suche, ist jemand, mit dem
zusammen ich meinen Lebensabend verbringen kann.“
Es stimmte. Und momentan war das Enn für sie, auch wenn
er das wahrscheinlich nicht so sah.
„Du kommst
aber trotzdem zu meiner Beerdigung, ja?“
Es hatte
keinen Sinn. Sie seufzte traurig und legte ihm eine Hand auf die Schulter. „Ja.
Und jetzt lass uns nicht mehr über den Tod sprechen, in Ordnung?“
Enn nickte
und dann sahen sie gemeinsam aufs Meer hinaus.
Als die Sonne sich aufmachte, im Meer zu versinken, kamen
Tann und Jana zu ihnen zurück. Sharla verabschiedete sich daraufhin und ging
ihres Weges, während die Uruk-Leute gemeinsam den Heimweg antraten.
Doch schon als sie den Hügel zum Hell-Haus erklommen, hörten sie laute Stimmen, die zu ihnen hinüber wehten.
Doch schon als sie den Hügel zum Hell-Haus erklommen, hörten sie laute Stimmen, die zu ihnen hinüber wehten.
Die Ursache des Lärms war Greta, wie sich herausstellte.
Eine überaus aufgebrachte Greta, die sich auf dem Uruk-Hof vor Lu aufgebaut
hatte und ihn gerade mit einem lauten Schwall an Forderungen bedachte. Aan
stand rechts neben ihm. Und zu guter Letzt kam ein kleiner jemand in Sicht, der
halb verborgen hinter dem Schamanen stand und dort wohl Schutz suchte und
den sie alle erst für Wotan hielten. Dann aber erkannten sie anhand von Gretas
Geschrei, dass es sich dabei doch tatsächlich um Giselinde handelte. Das
Mädchen hatte die Haare kurz und steckte in den Kleidern ihres Bruders. Was
wohl auch der Grund des ganzen Aufruhrs war.
Kaum, dass sie die Szene erreicht hatten und Greta auf
sie aufmerksam wurde, wirbelte sie zu Jana herum und ein nackter Finger landete
auf ihr. „Du! Das ist alles deine Schuld! Meine Giselinde hat sich die Haare
abgeschnitten, weil sie sich ein Vorbild an dir und deiner Tochter genommen
hat!“
„Na und? Sind
doch nur Haare“, erwiderte Jana unbeeindruckt.
„Es ist mir
egal, dass du dich extra hässlich machst, damit dich kein Mann mehr anfasst“,
schoss Greta aufgebracht zurück, „aber ich will nicht, dass meine Mädchen sich
das abschauen!“
Jana war der Mund aufgeklappt, bereit, sich auf den
Streit einzulassen, aber es war Aan, der jetzt einschritt und zu Greta sagte: „Jana ist nicht
hässlich. Sie ist wunderschön. Unterlass es gefälligst, meine Frau zu
beleidigen, nur, weil ihr Aussehen nicht in dein engstirniges Weltbild
hineinpasst!“
Greta sah aber
nicht so aus, als würde sie das einsehen. Und Jana, die zuerst gerührt
ausgesehen hatte, hatte sich nun wieder so weit eingekriegt, dass sie wütend
die Fäuste ballte. Das würde nicht gut für Greta ausgehen, erkannte Tann. Und
es war einer dieser wenigen Momente in letzter Zeit, in denen er handelte,
bevor er dachte.
„Es ist überhaupt
nicht wichtig, wie jemand aussiehst“, sagte er in die Stille hinein und dann
ging er zu Giselinde hinüber, die ihn mit großen, bangen Augen ansah. „Wichtig ist nur,
dass man ein gutes Herz hat. Und deswegen sollte man seine Eltern nicht in
Sorge versetzen, nicht wahr?“, ermahnte er Giselinde augenzwinkernd, um vor
allen Dingen den Vulkan namens Greta zum Abkühlen zu bringen.
„Oh, ist das dein Kind, Greta?“, mischte sich zu ihrer
aller Überraschung plötzlich Enn ein, als wüsste er genau, um was es ging. „Wie
wundervoll! Luma war immer so untröstlich, dass du und Jin keine Kinder
zusammen hatten. Sie hat von dir immer gesprochen, wie von einer Tochter, musst
du wissen. Sagte, dass du ein goldenes Herz hast. Das hast du ja auch. Du hast
mich damals gerettet. Ohne deine Hilfe wäre ich gestorben. Ich freue mich, dass
du jetzt gleich nebenan wohnst. Und Luma hätte sich auch gefreut.“
Er
verstummte, sein Blick so leer, dass sie schon dachten, dass er wieder fort
war. Dann aber kehrte er noch einmal zu ihnen zurück. „Du solltest das nächste
Mal vorbeikommen, wenn wir für sie opfern, Greta. Das würde mich freuen. Und
Luma auch.“
Dann sah er sich um und die Verwirrung kehrte auf sein
Gesicht zurück. „Hm? Was wollte ich gerade nochmal tun?“
Jana war
sofort an seiner Seite. „Willst du dich vielleicht ein bisschen hinlegen?“
„Oh, ja. Aber
vorher habe ich Hunger. Wann gibt es Essen?“
„Komm! Ich
mach dir etwas warm“, bot Jana an.
Sie nahm ihn
am Arm und ging mit ihm zusammen Richtung Haus. Die Wut, die vor einem
Augenblick noch dabei gewesen war, das Ruder zu übernehmen, war vollkommen von
ihr abgefallen. Und nicht nur ihr ging es so.
Einen Moment lang sagte niemand ein Wort, nachdem Enn und
Jana gegangen waren, bis Greta schließlich abdrehte. Ihr Gesicht eine ausdruckslos Maske.
„Wir gehen nach Hause“, erklärte sie kalt.
„Komm, Giselinde!“
Das Mädchen zögerte zuerst, folgte ihrer
Mutter aber dann. Schweigend gingen sie zum Nachbarhaus hinüber.
Greta würdigte ihre Tochter keines Blickes, bis sie vor der Haustür
plötzlich anhielt.
„Das nächste Mal
fragst du aber vorher, bevor du sowas machst“, sagte sie streng. „Deine Haare
sind ganz schief.“
„Ja, Mama.“
„Und wenn du
Hosen tragen willst, musst du lernen, sie selber zu nähen, verstanden?“
Giselinde war
zu überrascht, um gleich zu antworten. Dann fragte sie schüchtern: „Zeigst du
mir, wie das geht?“
„Ja. Und wenn
wir Zuhause sind, gibst du Wotan seine Sachen zurück. Ich bin es leid, dass er
nackt durch die Gegend läuft und sich darüber auch noch freut.“
Giselinde nickte und diesmal stahl sich sogar ein Lächeln
auf ihre Lippen. Es war das erste Mal, dass sie sich ihrer Mutter verbunden
fühlte. Dass sie fühlte, dass ihre Mutter sie liebte.
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Hätte man wohl nicht gedacht, dass Greta ihrer Tochter erlauben würde, in Hosen herumzulaufen und die Haare kurz zu haben. Aber Enn hat sie an ihr "gutes Herz" erinnert, das sie (seiner Meinung nach) hat, und eigentlich ist es ja auch so, dass sie ihren Kindern nur das Beste will. Sie ist zwar streng und allen anderen gegenüber ziemlich biestig, aber für ihre Kinder würde Greta alles tun.
Es hat mich unheimlich traurig gemacht, als ich die Szenen mit Enn geschrieben habe =(. Er ist immer so ein treuer und liebenswürdiger Kerl gewesen. Aber seitdem Luma nicht mehr ist, hat er sich aufgegeben, und seitdem geht es mit ihm immer mehr bergab. Es mag vielleicht lustig zu lesen sein, wie er immer alles vergisst, aber für die Betroffenen ist es das überhaupt nicht.
Für alle, die es vergessen haben übrigens: Jana wuchs ja in dem Glauben auf, dass Tann ihr Vater sei, und der glaubte es auch lange Zeit. Doch vor allen Dingen, seitdem er wusste, dass er es nicht ist, hat er versucht, Jana mit ihrem Vater zusammenzubringen. Ich merke da die eine Szene an, in der er Jana verboten hat, mit den anderen Kindern Waffentraining zu machen, weil sie ja angeblich zu wütend und kopflos dafür sei. Damals hat Jin, der auch dabei war, sich Jana dann ja angenommen, was Tann bezweckt hatte. Jana aber hat natürlich nur Abneigung von Tann mitbekommen. Sie hat sich ja nie so von Tann verstanden gefühlt, da sie doch ganz anders ist als er und sie mehr nach ihrem richtigen Vater kommt.
Deswegen ist die Beziehung zwischen beiden auch nach wie vor etwas unterkühlt und vor allen Dingen distanziert. Auch wenn Jana es Tann inzwischen ja nicht mehr übel nimmt und ich euch sagen kann, dass sie bei Alin noch heiter weitergeplaudert und sich vertragen haben.
Jana finde ich übrigens unglaublich süß (Jana: "Ich bin ganz sicher NICHT süß!"):
Aber sie ist beinahe ein identischer Klon ihrer Mutter. Nur die Augen hat sie vom Papa. Seht selbst:
Nur bei Diana war das noch schlimmer. Die ist wirklich eins zu eins ein Klon ihrer Mutter gewesen.
Nächstes Mal dann lernt Jade eine wichtige Lektion.
Bis dahin, danke fürs Vorbeischauen, und ich verabschiede mich.
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