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Mittwoch, 28. November 2018

Kapitel 14 - Zerbrochen


WARNUNG: Ab jetzt werden die Kapitel ernster und auch brutaler werden!

Ich schnitt mir in den Zeigefinger und fluchte zischend. Der Finger landete prompt im Mund, aber das konnte trotzdem nicht verhindern, dass das Tuch in meinen Händen einen blutroten Fleck abbekam. Ich starrte einen Moment gedankenverloren darauf, bevor ich überlegte, wie ich das da wieder rausbekam. Die noch junge Sonne funkelte golden durch das sandfarbene Tuch und ließ den Fleck noch dunkler, noch auffälliger wirken.
     Es sollte ein Geschenk werden. Ein Wickeltuch für Kanes erstes Kind, das nicht mehr lange auf sich warten lassen würde. Es war Ayras Idee gewesen, aber vielleicht hätte ich doch lieber bei meiner ersten Idee bleiben und dem kleinen ein Boot bauen sollen. Oder ein kleines Tierchen schnitzen. Ich war nur leider nicht so gut wie Lau darin. Meine Schnitzarbeiten sahen alle gleich aus. Grobe, unförmige Klumpen. Wulf hatte voller Inbrunst an ihnen genagt, als er gezahnt hatte, aber inzwischen benutzte er sie auch nur noch als Wurfgeschosse, was Shana nicht so gerne sah.
     Frustriert ließ ich das Tuch in meinen Schoß zurücksinken. Das war es, was aus mir geworden war. Ich kümmerte mich, wann immer möglich, um die Kinder des Dorfes, nicht mehr nur um Wulf, und ich hatte nicht umsonst schon den Beinamen „Mama-Wulfgar“ erhalten. Wenn ich nur auch so gut in Handarbeiten gewesen wäre, wie eine Mutter.  
     Ich musste den Drang unterdrücken, alarmiert aufzuspringen, als es hinter mir im Gebüsch raschelte. Es war eine alte Angewohnheit, die ich einfach nicht ablegen konnte, obwohl ich wusste, dass ich hier absolut sicher war. Auf der Insel waren nur die Menschen aus dem Dorf, die ich kannte und die mir (eigentlich) nichts Böses wollten, und im Wald lebten auch keine größeren Tiere. Höchstens Affen, die mal eine Kokosnuss nach einem warfen. Und Spinnen und anderes giftiges Kleingetier natürlich.
     Trotzdem war ich nicht gerade erfreut, als ich sah, wer da ausgerechnet mein Versteck an der Klippe gefunden hatte. Es war Yunn, der Kerl, der noch immer andauernd wie eine Fliege um Mari schwirrte. Dank ihm hatte Mari sich inzwischen einige Feinde unter den jüngeren Frauen gemacht, da er noch immer der heißbegehrteste Fang im Dorf war, nachdem ihr neuer Häuptling schon vergeben war. Kane war früher ja nicht so beliebt bei den Frauen gewesen, aber selbst Lorna riss sich inzwischen um ihn, seitdem er Häuptling geworden war.
     Auch um diesen Yunn stritten sie sich. Ich konnte das ja auch verstehen. Er war zwar ein bisschen kurzgeraten, aber überaus gutaussehend. Er hatte so volles, langes schwarzes Haar, dass ich ein bisschen neidisch war, da ich befürchtete, bald die Geheimratsecken meines Vaters zu bekommen. Eine gerade, kräftige Nase, volle Lippen und haselnussbraune Augen, die einen so umwerfen konnten, wie sein kräftiger Körper.
     Ich konnte ihn trotzdem nicht leiden. Und dabei muss ich ja zugeben, dass er eigentlich gut zu Mari war. Er vergötterte sie, das sah selbst ich, und obwohl sie ihn nach wie vor auf Distanz hielt (was mich wunderte), war er immer anständig und treu geblieben. Ich hatte ihn noch nie mit einer anderen Frau gesehen.  
     Als er mich sah, bekam ich wie üblich die großen, erschrockenen Augen ab, aber er machte keine Anstalten, zu fliehen wie sonst. Da wusste ich, dass er echt zu mir wollte. Was hatte den Todesmutigen denn dazu geritten? Ich setzte jedenfalls meinen finstersten Blick auf und blieb stur sitzen.
     „Ähm…“, begann er nervös. „Ich habe dich gesucht.“
     „Das sehe ich!“, blaffte ich. „Was willst du?“
     Er zögerte. „Ich muss mit dir sprechen. Es geht um Mari.“
     Ich konnte nicht anders. Ich sprang auf die Beine und im nächsten Moment hätte ich ihn am Kragen gehabt, wenn er nur etwas angehabt hätte. Aber er war ja leider nackt, also blieb ich stattdessen dicht vor ihm stehen und funkelte ihn bedrohlich an. „Was ist mit ihr?“, zischte ich.
     Er hatte sich versteift, aber er war nicht auf Abstand gegangen. Das musste man ihm lassen. Doch als ich bemerkte, wie er nervöse Blicke in den Dschungel schickte, wusste ich, dass er einfach nur abgelenkt war. Da war etwas anderes, das ihm mehr Angst machte, als ich. Da wurde mir kalt. Ich machte einen Schritt zurück, damit er das nicht sehen konnte.
     „Ich hab’s ihr eigentlich versprochen, es für mich zu behalten, aber…“ Dann brach es plötzlich aus ihm heraus: „Sie trifft sich mit einem der Menschenfresser!“
     „Was?“, hörte ich mich sagen, konnte es aber nicht so ganz verstehen.
     „Menschenfresser“, wiederholte er besorgt. „Sie ist die letzte Zeit immer wieder rüber ans Festland gefahren, aber sie hat mir nie gesagt, was sie da drüben macht. Also bin ich ihr gefolgt. Heimlich. Da hab ich sie gesehen. Wie sie sich mit einem Menschenfresser traf und mit ihm gesprochen hat. Ich wollte sie da wegholen, aber sie wollte nicht.“
     Ich starrte ihn noch immer ungläubig an, unfähig einzusehen, was er sagte. Mari hatte immer Angst vor den Menschenfressern gehabt. Warum, bei allen Göttern, sollte sie also plötzlich mit ihnen zu tun haben wollen?
     Plötzlich stand der Junge vor mir und hatte seine Hände in meinen Überwurf gekrallt. Da, wo meine Brust war, in der mein Herz gerade zu einem Eisklotz aus Angst gefroren war. „Bitte, Wulfgar! Sie hört nicht auf mich! Vielleicht hört sie ja auf dich!“, drang er auf mich ein und ich sah nur die Angst in seinen Augen. Er log nicht. Es war ernst. „Rette sie!“
     Das musste er mir nicht zweimal sagen. Ich riss mich los und rannte wie gestochen durch den Wald zurück. Ein paarmal versuchte das Gestrüpp, mich zurückzuhalten, ich stieß mir böse einen großen Zeh an einer Wurzel, aber ich ignorierte das alles und preschte vorwärts. Ich hatte nur noch den Strand vor Augen. Das Boot. Das Segelboot. Ich musste da rüber zum Festland, um Mari zu retten. Der Wald hörte bald schon auf, aber ich hielt nicht an. Ich ließ das Dorf hinter mir und ich sah nicht einmal die Augen, die mich anstarrten. Ich achtete nicht auf sie. Der Strand kam als nächstes. Dann das Boot. Aber da hatte mich plötzlich jemand am Arm. Beinahe verhedderte ich mich in meinen eigenen Füßen, aber ich schaffte es, mein Gleichgewicht zu halten. Nicht aber, zu verstehen. Als ich zurücksah, erkannte ich nicht einmal das Gesicht desjenigen, der mich da am Arm festhielt.
     „Was ist los?“, hörte ich jemanden fragen.
     „Mari! Sie ist bei den Menschenfressern!“, erklärte ich hastig. Er sollte mich loslassen. Also riss ich mich los und setzte meinen Weg fort. Ins Boot hinein. Ich setzte die Segel und dann fuhr ich im Eiltempo um die Insel herum.

Es kam mir wie eine Ewigkeit vor, bis überhaupt die Küste in Sicht kam, obwohl die Fahrt zum Festland mit dem neuen Boot einem Katzensprung glich. Ich legte eilig an und dachte nicht einmal daran, mein Gefährt festzumachen. Unbeholfen stolperte ich über den schneeweiß scheinenden Strand, dessen Sand in der Sonne brannte und der schmerzhaft heiß an meinen Füßen gewesen wäre, wenn ich nicht noch meine Dschungellatschen getragen hätte.
     Ich drang in den Dschungel ein, der mir so dunkel vorkam, wie noch nie zuvor. Überall war das Schreien der Insekten und Affen zu hören. Ihr Lied war mir heute wie ein boshaftes, unheilvolles Lachen. Ich verlor meinen linken Schuh an eine Wurzel, aber ich ging vorwärts. Brach immer weiter durch den Wald. Direkt auf die Siedlung der Menschenfresser zu. Ich hatte nicht vergessen, wo sie sich befand; das würde ich niemals.
     Stimmen ließen mich plötzlich innehalten. Ich überschlug mich beinahe, als ich das hörte, und schürfte mir die Hände an irgendetwas Hartem auf, als ich zu Boden ging. Das Menschenfresserdorf war noch immer ein gutes Stück entfernt, aber ich kroch trotzdem auf die Stimmen zu. Immer im Schutz des dichten Buschwerks, obwohl am Boden bestimmt unzählige giftige Insekten und Spinnen lauerten. Ich hatte keine Zeit, mir den Luxus zu erlauben, darauf zu achten. Meine Hände brannten fürchterlich, aber ich kroch vorwärts. Und dann erreichte ich sie.
     Die Stimmen waren aufgeregt. Redeten hektisch aufeinander ein. Ich erkannte mindestens zwei. Alles Männer. Die Angst fraß mich beinahe auf, aber ich war trotzdem unendlich langsam, als ich das Blatt zur Seite schob, das mir noch die Sicht auf sie versperrte. Aber ich wünschte im nächsten Moment schon, ich hätte es einfach gelassen.
      Sie starrten mich an. Die braunen Augen, die ich erstmals gesehen hatte, als ich noch in eisiger Kälte gestanden hatte. Ihre Mutter hatte dieselben, war alles, was ich denken konnte. Meine Finger waren zittrig, als ich sie ausstreckte. Ihre Wange. Ich wollte sie berühren. Ich wollte, dass sie blinzelte. Dass sie lächelte und mir sagte, dass alles in Ordnung sei. Doch das tat sie nicht. Und alles, was ich tun konnte, war, auf dem Bauch zu liegen und die Hände nach ihr auszustrecken, die sie nicht erreichen konnten.
     Dann schließlich verstand ich. Mit einem Schrei des Entsetzens war ich auf den Beinen und war nach vorn gesprungen. Zu meiner Kleinen. Zu Mari, die da am Boden lag. Mit Augen, aus denen alles Leben gewichen war. Ein winziges Rinnsal an Blut, das aus ihrem leicht geöffneten Mund lief. Ich schloss sie in meine Arme. Ihr warmer, leichter Körper, den ich schon so oft getragen hatte. Doch egal, wie sehr ich sie auch rütteln oder rufen mochte, sie würde sich nicht bewegen. Sie würde nie wieder blinzeln. Nie wieder atmen. Nie wieder lächeln. Sie war tot.
     Es war nur eine verschwommene Bewegung vor meinen Augen. Trotzdem griff ich instinktiv danach. Der brennende Schmerz in meiner Hand brachte mich in die Realität zurück, in der ich Mari hielt und einen Speer mit bloßer Hand abgefangen hatte. Er hatte meine Handfläche zerschnitten, aber ich achtete nicht darauf. Mein Blick galt nur den beiden Männern, die da über mir standen. Einer, der den Speer in der Hand hatte und der grimmig wirkte. Der Andere, der weiter hinten stand und der einen Ausdruck des Entsetzens im Gesicht trug. Er musste es gewesen sein. Der, mit dem Mari sich getroffen hatte.
     Bevor ich wusste, was ich tat, hatte ich Mari zu Boden gleiten lassen und war nach vorn gesprungen. Im nächsten Moment hatte ich den Kerl mit dem Speer unter mir begraben. Ich hatte keine Ahnung, wie mein Messer in meine Hand gefunden hatte – es war alles, was ich an Bewaffnung mit mir trug – aber die Klinge verschwand im nächsten Moment in meinem Gegner. Weit aufgerissene Augen starrten mich an, dann wurde ich heruntergerissen. Ich kam auf die Beine, aber da hatte der Andere schon wieder seinen Speer in der Hand. Mein Messer steckte noch immer in seiner Schulter.  
     Bevor auch er wieder auf die Beine kam, war ich herumgewirbelt, hatte Mari gepackt und war mit ihr auf und davon. Ich hatte keine Ahnung, ob sie uns folgten, aber den Rufen nach zu urteilen, versuchte es mindestens der, den ich verwundet hatte. Ich verlor meine zweite Sandale, aber ich lief trotzdem weiter. Meine Fußsohlen waren zerschunden, aber auch das ignorierte ich, wie ich den brennend heißen Sand ignorierte. Ich wuchtete Mari ins Boot und legte ab, bevor der Kerl mit dem Messer in der Schulter aus dem Wald brach und seinen Speer nach uns werfen konnte. Er versuchte es trotzdem, aber natürlich waren wir da längst außer Reichweite.

Die Überfahrt erlebte ich wie in einem Alptraum. Schlimmer noch als in dem Moment, als ich Mari leblos im Wald gefunden hatte. Alles, was ich noch wusste war, dass ich sie die ganze Zeit über an mich gedrückt hielt und heulte und schluchzte wie noch nie zuvor in meinem Leben.
     Irgendwann kam uns ein Boot von der Insel entgegen. Es konnte nicht lange gedauert haben, aber es kam mir trotzdem ewig vor. Ich erkannte nicht einmal die Gesichter derjenigen, die im anderen Boot saßen. Die mir Mari nehmen wollten. Ich schüttelte den Kopf und drückte sie an mich. Strich ihr über den Kopf, als würde sie das beruhigen, obwohl eigentlich ich es war, der beruhigt werden musste. Irgendwann legte jemand die Arme um mich, während ich hörte, dass jetzt jemand anderes am Schreien war. Jemand, der nicht ich war. Denn ich schrie inzwischen auch. Ich wollte am liebsten nie wieder damit aufhören.
     Ich hörte wieder auf, als meine Stimme erlosch. Ich hatte mich heiser geschrien und jetzt konnte ich nicht mehr schreien. Selbst die Tränen schienen mir ausgegangen zu sein, als ich wenig später vor irgendeinem Feuer hockte und sie versuchten, auf mich einzureden und mir Mari zu entwenden. Ich wollte sie aber nicht gehen lassen. Ich würde sie niemals mehr gehen lassen. Ich hatte doch geschworen, sie zu beschützen!
     Doch ich hatte versagt und jetzt war sie tot.

Das nächste, das ich wusste, war, wie ich erwachte und Eris mich flehentlich ansah. Sie saß neben mir und hatte meine Hände in ihren. Ihr Gesicht war viel zu nah.
     „Ein Kind“, sagte sie. „Lass uns ein Kind machen!“
     „Was?“, entwich es mir. Es war, als wäre ich nur ein fremder Zuschauer, gefangen in einem Körper, der nicht mir gehörte. Alles fühle sich so irreal an.
     „Ein Kind!“, wiederholte sie.
     Plötzlich war da Wut in mir. Ich stieß ihre Hände weg und als ich aufsprang, stieß ich mir beinahe den Kopf an der niedrigen Decke. Wir waren in der Hütte, die ich meistens allein bewohnte. Sie war winzig und hatte gerade einmal Platz für eine Schlafecke, aber es genügte. Solange Mari und ich hier reingepasst hatten, war alles gut gewesen.
     Mari! Die Erinnerung an sie versetzte mir einen bösen Stich. Sie hatten sie mir letztendlich doch weggenommen. „Glaubst du etwa, dass irgendein Kind Mari ersetzen könnte?“, ging ich Eris wütend an.
    Ihr ganzes Gesicht wirkte geschwollen. Ihre rote Nase und ihre roten Augen verrieten mir, dass auch sie die letzte Zeit viel geweint hatte.
     „Du verstehst nicht“, sagte sie, als würde ich nicht verstehen. „Dort, wo ich herkomme, glauben wir daran, dass der Geist eines Getöteten solange an diese Welt gefesselt ist, bis er gerufen wird und in einem neuen Körper wiedergeboren werden kann.“
      Sie griff nach dem Saum meines Überwurfes. Irgendetwas, an dem sie sich festhalten konnte. „Wenn wir Mari rufen, mit unserem Herzen wir beide, kann ihr Geist in unserem Kind wiedergeboren werden. Sie kann zu uns zurückkehren, Wulfgar!“
     Ich schüttelte entsetzt den Kopf, aber ihr Blick durchbohrte mich beinahe. Sie zog mich nach unten und zwang mich, mich wieder neben sich zu setzen. Bevor ich mich versah, hatte sie die Arme um mich gelegt, und dann sah ich nur noch ihre Augen, die voller Hoffnung schimmerten.
     „Du willst doch auch, dass Mari zu uns zurückkommt, oder?“
     Das wollte ich. Aber alles, was ich tun konnte, war zu nicken. Wenig später saß sie auf mir und ich war froh, dass ich noch immer halb im Delirium war.

Ayras Schrei weckte uns am nächsten Morgen und so kam es, dass bald schon das ganze Dorf wusste, was ich getan hatte. Ich hatte nicht einmal mehr die Kraft, mich zu fragen, warum sie überhaupt hier war.

„Wen interessiert es schon, was er mit Eris getan hat? Mari ist tot, gottverdammt nochmal!“ Es war einer dieser seltenen Momente, in denen Isaac fluchte.
     „Er hat sich an der Unantastbaren vergriffen!“, fiel Lao-Pao ihm aufgebracht ins Wort. „Einem göttlichen Wesen!“
    „Du hast doch selber Kinder! Wie würdest du dich denn fühlen, wenn du sie verlieren würdest?“ Isaac wandte sich hilfesuchend an seinen Bruder. „Kane! Du wirst ihn doch jetzt nicht wegen sowas verbannen. Es gibt gerade wirklich Wichtigeres!“
     Ich saß am Feuer, ganz allein, als wäre ich ein Ausgestoßener, was ich wahrscheinlich auch bald sein würde, und mir war noch immer kalt. Auch die heiße Mittagssonne konnte das nicht ändern. Seit Maris Tod wollte die Kälte in mir einfach nicht verschwinden. Es fühlte sich an, als ob ich einen Stein in meiner Brust hätte, der Eis durch meinen Körper pumpte, anstatt warmes Blut. Eris saß auf der genau anderen Seite des Feuers, die Hände im Schoß gefaltet, starrte sie bedächtig in die Flammen. Die restlichen Dorfbewohner bildeten eine Mauer um sie.  
     Plötzlich erschien Isaac an meiner Seite, aber ich ignorierte ihn. „Vergiss nicht, dass er auch dich gerettet hat!“
     Träge hob ich den Kopf und sah Kane ins steinerne Gesicht. Es war so ernst, wie ich es noch nie zuvor bei ihm gesehen hatte. Und er sah mich an. Dann schließlich drehte er den Kopf zu Eris. „Was hast du dazu zu sagen, Unantastbare?“
     Sie nannten sie niemals so. Wäre ich dazu in der Lage gewesen, hätte ich darüber gelacht, wie lächerlich grotesk diese Situation gerade war. Aber ich konnte nicht lachen. Wahrscheinlich würde ich nie wieder lachen können.
     „Ich werde Mari neues Leben schenken“, war alles, was Eris von sich gab. Liebevoll legte sie die Hände auf den Bauch, und da wurde mir schlecht.
      Ich erhob mich und ging davon, achtete nicht auf den Protest der Anderen. Als ich spürte, wie der Sand unter meinen Füßen feiner wurde, hielt ich wieder an und ließ mich auf alle Viere fallen. Maris leblose Augen kamen mir wieder in den Sinn. Das Blut, das ich vergossen hatte. Das Gefühl der Klinge, die in menschliches Fleisch versank. Eris, die auf mir sitzt. Die Übelkeit schüttelte mich heftig durch und eine widerlich saure Brühe kam mir in den Mund. Ich spuckte sie aus, hustete und würgte, bis ich glaubte, ersticken zu müssen. Ich wünschte, ich wäre es einfach. Erstickt. Einfach so. Vielleicht wäre ich dann wieder mit Mari vereint gewesen. Doch ich erstickte leider nicht. Ich beruhigte mich wieder und während ich auf die Pfütze meines eigenen Erbrochenen starrte, fragte ich mich nur: ‚Was habe ich getan?‘

Ich erfuhr nicht, ob sie mich zum Ausgestoßenen machten oder nicht. Es interessierte mich auch nicht. Die nächste Zeit war ich erneut im Delirium. Ich nahm die anderen Leute um mich herum überhaupt nicht wahr und geisterte wie ein Schlafwandler durch die Tage. Die einzige Person, die ich noch sah, war Eris. Nicht meine arme, tote Mari, keinen der Anderen. Nur Eris und das Leben, das vielleicht in ihr heranwuchs.
    Seitdem Mari mit mir gekommen war, hatte ich immer ein Kind haben wollen, aber jetzt war mir nur noch wichtig, dass Mari zu mir zurückkam. Ich wusste nicht, ob ich an das glauben sollte, was Eris mir über die Wiedergeburt erzählt hatte, aber ich wollte daran glauben. Es war alles, was mir noch geblieben war.
     Und als sie zu mir kam und mir erzählte, dass sie geblutet hatte, zerbrach ich.

„Willst du es machen?“
     Isaac trat an mich heran und hielt mir Pfeil und Bogen hin. Ohne zu nicken nahm ich ihm die Waffe ab, legte den Pfeil in die Sehne und zündete ihn dann an der Feuerschale an, die sie zum Strand gebracht hatten. Die Flamme zitterte im Wind und ich brauchte drei Anläufe, bis die mit Gras umwickelte Spitze brannte. Dann stellte ich mich direkt an die nasse Linie, die das Meer in den Sand gezeichnet hatte. Unwillkürlich musste ich daran denken, wie Mari einst hiergestanden und wie sie gefragt hatte: „Warum töten Menschen andere?“
      Vor kurzem noch hätte mich die Erinnerung daran zerrissen, aber jetzt nicht mehr. Jetzt fühlte ich mich nur noch leer. Eine unheimliche Ruhe hatte von mir Besitz ergriffen und ich war dankbar dafür.
     Ich richtete den Pfeil auf den wolkenverhangenen Himmel, der überall dunkelgraue Flecken hatte. Es war ein windiger Tag, aber meine Hand war ruhig, mein Geist fokussiert und konzentriert. Als ich losließ, flog der Pfeil in einem hohen Bogen davon und fand sein Ziel zielsicher in dem kleinen Boot, das dort einsam vor uns auf dem Meer trieb.
     Einen Moment noch sah ich dabei zu, wie Maris Körper in Flammen aufging, dann wandte ich mich ab. Ich hatte mich schon vor einer ganzen Weile von ihr verabschiedet. Jetzt war es an der Zeit, den nächsten Schritt zu tun. Vorwärts zu schreiten. Zielstrebig ging ich auf die Boote zu, die noch am Strand waren. Meinen Speer hatte ich bereits vor der Zeremonie dort bereitgelegt.
      Plötzlich stand mir Isaac im Weg. „Wo willst du hin?“, fragte er.
      Ich antwortete ihm nicht, sondern starrte ihn nur böse an, damit er mir aus dem Weg ging. Da mutmaßte er: „Du willst zum Festland, oder?“
      Unsanft schob ich ihn zur Seite und setzte meinen Weg fort. Aber Isaac gab nicht so einfach auf. Er hielt mich am Arm zurück. „Glaubst du, das wird Mari zurückholen? Dass sie das wollen würde?“
      Ich blieb stehen, drehte mich zu ihm und schlug ihm ins Gesicht. Eisig starrte ich ihn an, aber der Schreck verschwand schnell wieder aus seinem Gesicht, wenn auch nicht die blutige Nase, die ich ihm verpasst hatte. Grimmig hielt er meinem Blick stand. „Mari würde weinen, wenn sie dich so sehen würde. Das bist gar nicht mehr du, Wulfgar!“
     „Ach ja?“, fand ich meine Stimme wieder. „Woher willst du denn wissen, wer ich bin? Du kennst mich gar nicht!“ Ich kannte mich selber nicht mehr.
      „Du bist mein bester Freund. Du bist Maris Vater. Ein mutiger Kerl mit einem guten Herz. Mach das nicht kaputt. Mari würde das nicht wollen.“
      Ich trat an ihn heran und verfluchte sie dafür, dass sie hier keine Kleidung trugen, weil ich ihn sonst am Kragen gepackt hätte. Stattdessen begnügte ich mich damit, ihn kalt anzusehen. „Du hast ja keine Ahnung! Verlier du erstmal ein Kind und dann reden wir weiter!“
       Ich wollte ihn stehen lassen, aber da kam Kane hinzu. Und nicht nur er. Ao, Lau und alle anderen Männer des Dorfes, die kämpfen konnten, waren auch dabei. Sogar Yunn. Sie hatten Speere in den Händen und sie wirkten alle entschlossen.
     „Wenn du Maris Tod rächen willst, wirst du Hilfe brauchen“, erklärte Kane.
     Ich nickte ihm dankbar zu und dann gingen wir, um die Boote zu bemannen. Als wir ablegten, sah ich Isaac noch immer an der Stelle stehen, wo ich ihn zurückgelassen hatte. Shana erschien gerade an seiner Seite und sie hatte Wulf bei sich.
     ‚Ich hoffe für dich, dass du mich in diesem Punkt nie verstehen wirst‘, dachte ich bitter, bevor ich den Blick von ihnen abwandte.  

„Wir hätten das schon viel früher erledigen sollen“, hörte ich einen der Männer sagen, als wir an der Küste anlegten.
      „Als sie Isaac geholt haben, hätte Schluss sein müssen“, pflichtete ihm ein zweiter bei.
      Aber ein dritter gab zu bedenken: „Für dich ist das einfach, aber ich habe da noch immer Verwandte. Viele der Älteren haben das. Vergiss das nicht.“
      Als ich mich umsah, bemerkte ich einige betroffene Blicke. Die meisten aber mieden vor allen Dingen meinen Blick. Nur Kane nicht. Er sah mir offen in die Augen. So, wie er es immer getan hatte. „Wir waren einmal Teil der Menschenfresser“, erklärte er mir, während er sein Boot in den Sand zog. „Unsere Eltern waren es noch.“
     Ich wandte mich von ihm ab. Ich wollte das nicht hören. „Lass uns zusehen, dass wir das hinter uns bringen“, sagte ich zu ihm.
     „Bist du sicher, dass du das willst?“
     Ich blieb nicht einmal stehen. „Todsicher.“
     Also gab Kane das Zeichen, auszuschwärmen.

Ich erinnere mich noch daran, wie ich damals bei Eren gezögert hatte. Die Angst in seinen Augen und das Messer in meiner Hand. Ich hatte einfach nicht den Mut gehabt, ihn zu töten. Ob ich es jetzt tun konnte? Ich konnte es nicht sagen. Alles, was ich wusste, war, dass ich Rache wollte. Dass ich ihn tot sehen wollte, den, wegen dem Mari hierhergekommen war.
      Wir umstellten das Dorf weiträumig. Die meisten der Männer trugen neben ihren Speeren noch Bögen, die sie die letzten paar Tage angefertigt hatten, wie ich erfuhr. Da das Dorf der Menschenfresser in einer abschüssigen Senke lag, das nur einen richtigen Zugang hatte, würden wir aus dem Schutz des Dschungels heraus auf sie schießen. Kane hatte derweil mit mir und ein paar seiner besten Männer Stellung bei dem einzigen Weg bezogen, der aus dem Dorf führte. Sicher, es war möglich, dass sie auch über die Seiten entkommen konnten, dafür war es dort nicht steil genug, aber wenn sie mit mehreren Leuten angreifen wollten, mussten sie den Weg nehmen, an dem wir standen.
     Wir überraschten sie vollkommen. Es war bereits Abend gewesen, als wir gelandet waren, und als wir angriffen, war es so dunkel geworden, dass ich selbst die Männer um mich herum nur schwerlich ausmachen konnte. Ich hatte auch einen Bogen bekommen und ich zögerte nicht, ihn zu benutzen. Ich weiß nicht, ob ich irgendjemanden traf, aber ich musste feststellen, dass es sehr viel einfach war, zu schießen, wenn man seinem Opfer dabei nicht in die Augen sehen musste.
      Kane hatte verboten, Brandpfeile zu benutzen. Es würden sicherlich einige Frauen und Kinder dem Angriff zum Opfer fallen, aber er wollte sie so gut wie möglich verschonen. Sogar den Überraschungsangriff hatte er zunächst abgelehnt, doch er hatte einlenken müssen, als ihm klar geworden war, dass wir in der Unterzahl waren. Da unten im Dorf waren mindestens doppelt so viele Menschen, wie wir hatten.
      Es dauerte aber nicht lange, bis man sich im Dorf vom ersten Schrecken des nächtlichen Angriffs erholte und sich sammelte. Sie schickten die Bestie, von der ich inzwischen wusste, dass es ein Tiger war, seitlich in den Dschungel hinauf, wo die Pfeile herkamen, und ich konnte es sogar noch bis hierher schreien hören. Einige gräuliche Männer mit Beilen, Speeren und Äxten bewaffnet versuchten jetzt auch einen Ausfall in unsere Richtung, während ihre eigenen Bogen- und Blasrohrschützen ihnen Deckung gaben.
      Da schwenkte Kane die Fackel, die er bislang im Schatten verborgen hatte und unsere Leute zogen sich zusammen, kesselten die angreifenden Feinde ein. Scheinbar hatten sie den Tiger erledigt, denn ein weiterer, gezielter Pfeilregen schickte viele der Angreifer zu Boden. Doch es kamen trotzdem genug durch, dass es zu einem ersten Handgemenge kommen konnte.
      Bevor ich nun mit mir klären konnte, ob ich bereit dazu war, zu töten, wurde mir die Entscheidung abgenommen. Ein riesiger Kerl mit einem Beil kam brüllend auf mich zu. Ich streckte ihm meinen Speer entgegen, als er zu nahe kam, aber Kane kam mir glücklicherweise zu Hilfe und streckte ihn von hinten mit einem gezielten Hieb nieder. In seiner Hand ein Beil, das er wohl seinem letzten Gegner abgenommen hatte.
      Eine widerliche Mischung aus Angst und Wut war das Erste, das ich seit Tagen spürte, als ein zweiter Kerl sich mir zuwandte. Der hatte jetzt selber einen Speer, was es etwas schwieriger für mich machen würde. Während neben mir jemand mit einem sicherlich vergifteten Pfeil im Hals zu Boden ging, machte ich einen Schritt zur Seite, um dem ersten Stich meines Gegners auszuweichen. Seitdem ich auf Lao-Pao angekommen war, hatte ich einiges von Kane gelernt, was den Kampf anging. Er hatte nie in einer Schlacht gekämpft, aber allein ihm jetzt zuzuschauen zeigte mir erneut, dass er dafür geboren war. Er pflügte durch seine Gegner mit der Gewalt eines Sturms und bewegte sich mit der Schnelligkeit und Wendigkeit einer Raubkatze.
      Ich war leider nicht einmal ein starker Wind und erst recht keine Katze, weshalb mein wahrscheinlich kampferfahrener Gegner einen Stich in meine rechte Seite landen konnte. Es streifte mich mehr, als dass es traf, aber es brannte trotzdem höllisch. Ich hatte aber keine Zeit, mich darum zu kümmern. Ich konnte nicht jetzt schon sterben, wenn ich doch noch Mari rächen wollte. Also tat ich etwas Unkonventionelles. Ich wusste, dass sie das hier nicht machten, weil die Bäume zu krumm waren und zu dicht standen und es kaum freie Flächen gab. Also stellte ich mich etwas schräg, breiter, so, wie ich es oft bei Jin gesehen hatte und dann warf ich den Speer mit voller Kraft nach vorn. Er traf meinen Gegner unvorbereitet in den Bauch. Seine Augen wurden groß, während er erstarrte und an sich herunterschaute. Es würde wahrscheinlich noch eine Weile dauern, bis er sein Leben ausgehaucht hatte, aber er war momentan zu sehr mit seinem Schrecken beschäftigt. Als ich sah, dass einer der Anderen ihm den Rest geben wollte, wandte ich mich ab und ging davon. Ich hatte nicht die Zeit, mich ewig mit ihm zu befassen.

Danach geriet ich nur noch vereinzelt in Kämpfe. Da ich jetzt unbewaffnet war, blieb mir erst nichts anderes übrig, als auszuweichen. Und wie sich herausstellte, war ich gar nicht so schlecht darin. All die Jahre, die ich immer nur hatte einstecken müssen, zahlten sich jetzt aus. Meinen nächsten Angreifer streckte glücklicherweise auch jemand anderes meiner Leute nieder. Als er fiel, nahm ich mir sein Beil und ging weiter.
      Ich schaffte es mit nur ein paar Streiftreffern an Schultern und Arm ins Dorf vorzudringen, wo unsere Bogenschützen inzwischen aufgeräumt hatten. Die mit den Blasrohren und Bögen lagen längst im Dreck, hier und da hatte sich aber, wie befürchtet, auch eine Frau oder ein Kind unter die Toten gemischt. Aber ich beachtete sie nicht. Ich stürmte vorwärts, während hinter mir nur noch vereinzelte Kämpfe stattfanden. Immer auf der Suche nach dem einen Gesicht, das ich bislang vergeblich gesucht hatte. Das entsetzte Gesicht, das sich in mein Gedächtnis gebrannt hatte. Er musste sich irgendwo im Dorf verstecken.  
      Haus um Haus durchkämmte ich. Selbst dort, wo sie mich und Isaac vor Jahren eingesperrt hatten, suchte ich, aber auch dort war niemand. Während ich mich fragte, wie viele Menschen über die Jahre hier wohl getötet und gegessen worden waren, stolperte ich aus einem der letzten Häuser, und da sah ich ihn plötzlich. Er hockte da unter einem Busch mit riesigen Blättern, die ihn beinahe gänzlich verdeckten. Doch ich hatte sie gesehen, seine Augen, weit aufgerissen vor Schreck. Als sich unsere Blicke trafen, hielt ihn nichts mehr. Er schlüpfte aus seinem Versteck und versuchte, abzuhauen. Ich setzte ihm unverzüglich nach, aber er kam sowieso nicht weit. Wir hatten ganz offensichtlich gewonnen und jetzt kreisten sie ihn ein. Einige hatten auf ihn angelegt, aber ich gab ihnen ein Zeichen, dass sie nicht schießen sollten. Sie taten es nicht, aber im nächsten Moment ging er trotzdem zu Boden, als ich ihn umrundete und mich dann auf ihn setzte. Ich wollte ihm in die Augen sehen, wenn ich Mari rächte.
      Da war es wieder. Die Angst in seinen Augen. Er zitterte und heulte. Er war noch so jung, kaum älter, als Mari. Immer wieder versuchte er, erstickte Worte zu formen, aber da schlug ich ihm auf die Brust, dass ihm die Luft wegblieb. Ich hatte das Beil weggeworfen und jetzt hatte ich mein neues Messer in der Hand, das erneut zitterte. Eine Weile starrten wir uns nur an, er voller Angst und ich voller Wut, während ich versuchte, den Mut zu finden, zuzustechen.
      Kane erschien an meiner Seite, aber ich schüttelte ihn ab. „Lass mich! Ich will das machen!“
      „Er hat gesagt…“, setzte Kane an, aber ich unterbrach ihn barsch.
      „Ich will es nicht hören! Seine Gründe interessieren mich nicht! Er hat Mari getötet und dafür wird er sterben!“ Ich konnte nicht verhindern, dass mir die Tränen ungehemmt übers Gesicht liefen. „Er hat Mari getötet! Du hast mir Mari genommen, du Bastard!“
      Er reagierte nicht. Da war nur die Angst in seinen Augen. Und ich zitterte. Zitterte so erbärmlich. Doch ich sah ihm in die Augen, solange, bis das Leben aus ihnen gewichen war, nachdem ich zugestochen hatte.

Ich saß eine ganze Weile nur da und heulte. Ich weiß nicht, wie lange das so ging, bis sich schließlich einer traute, sich mir zu nähern. Da waren plötzlich zwei Beine vor mir.
     „Fühlst du dich jetzt besser?“, hörte ich jemanden verächtlich sagen.
      Ich wollte ihn ignorieren, aber da wurde ich an der Schulter nach hinten gestoßen. Doch ich fing mich und kämpfte mich auf meine Beine, die ziemlich wackelig waren, wie ich jetzt feststellen konnte.
     „Ich habe dich etwas gefragt!“
     Ich sah Isaac ins Gesicht. Seine Nase war voller Abscheu gekräuselt und kleine Wutfalten hatten sich auf seiner Stirn gebildet. Doch ich nahm mir erst die Zeit, auf die blutgetränkte Klinge meines Messers zu sehen, in der ich mich beinahe spiegelte. Was hätte ich da wohl gesehen? Ein Monster vielleicht? Mein Magen rumorte, ich fühlte mich krank, schweißgebadet und zittrig. Nein, ich fühlte mich wirklich kein bisschen besser.
      Trotzdem sah ich ihm trotzig ins Gesicht und antwortete: „Ja.“ Dann steckte ich mein Messer ein, so wie es war, und ließ ihn stehen.
     „Wie viele davon hast du getötet, Wulfgar? Wie viele Männer? Wie viele Frauen? Und wie viele Kinder, hm?“, verfolgte mich Isaacs Stimme noch ein Stück weit.
      ‚Jetzt bereust du bestimmt, deinen ersten Sohn nach mir benannt zu haben, nicht wahr?‘, dachte ich, aber ich sagte es nicht. Ich brachte es nicht fertig, jetzt an den kleinen Wulf zu denken. An all die Kinder. Ich würde ihnen nie wieder in die Augen sehen können. Also ging ich davon, ließ die verbliebenen Leute, die Krieger und Frauen und Kinder, die überlebt hatten und die ihre Toten betrauerten, zurück, ebenso wie meine eigenen Leute und das Dorf. Erst am Strand blieb ich einen Moment lang stehen und erlaubte mir, ein letztes Mal zu fühlen. Trauer, Wut, Angst und Schuld. Dann vergrub ich das alles in mir, bis da nichts mehr in mir war, außer Leere, und ging zu einem der Boote rüber, die im Sand warteten.
      Als ich es ins Wasser schob, hörte ich jemanden rufen und kurz darauf tauchte Kane aus dem Dschungel auf. Er war voller Blut, stellte ich befremdet fest. „Wo willst du hin?“, fragte er.
      „Weg“, antwortete ich nur.
      „Du willst uns verlassen?“, fragte er und in seiner Stimme lag überhaupt keine Wertung. Ich konnte nicht sagen, ob er es sich wünschte oder nicht.
      Als ich nickte, deutete er auf das Segelboot. „Nimm es! Es soll unser letztes Geschenk an dich sein.“
     „Ich will es nicht.“
     „Isaac will, dass du es nimmst.“
     Ich nickte wortlos. Er wollte, dass ich verschwand; ich hatte schon verstanden. Also ging ich zum Segelboot hinüber. Ich schob es ins Wasser und als ich drinnen war, drehte ich mich noch einmal zu Kane um. „Danke, Kane! Für alles.“
      Kane winkte ab. „Wenn hier jemand sich bedanken muss, dann wir. Du warst eine große Bereicherung für unser Dorf und ich wünschte, du würdest bleiben. Aber ich verstehe, warum du es nicht tust.“
     Ich nickte erneut, dann wünschte ich ihm und Ani alles Gute und setzte die Segel. Als ich aufs offene Meer zuhielt, war der Mond groß und rund an einem sternenklaren Nachthimmel aufgegangen. Sein fahles Licht spiegelte sich im pechschwarzen Meer und als ich einen Blick riskierte, schaute mir aus dem Wasser tatsächlich ein Monster entgegen. Bedeckt mit Blut und einer Schuld, die man niemals mehr würde tilgen können. 

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