Ich hatte keine Ahnung, was ich eigentlich tun sollte. Es
war immer wieder überwältigend, was für Dinge Isaac ersann. Ich war, ehrlich
gesagt, ein bisschen überfordert, was ich zuerst tun sollte. Um Mast und Segel
nicht unnötig zu strapazieren, war das Segel natürlich eingeholt. Da ich nur ein Seil in meiner Reichweite fand, das da neu war, wickelte ich es von seiner
Halterung und sofort fiel das Segel nach unten. Ich machte das Seil wieder
fest, damit es mir nicht um die Ohren flog, und dann musste ich zusehen, dass
ich das Boot irgendwie unter Kontrolle bekam. Denn mit dem ersten Windstoß
hatte es kräftig Fahrt aufgenommen. Und da waren ja noch ein paar andere Kutter
auf dem Wasser, mit denen ich lieber nicht kollidieren wollte.
Als ich mich
umsah, bemerkte ich hinter mir eine Art Ruder, das Isaac durch ein Loch
gesteckt und mit einem weiteren Seil festgebunden hatte, und das gerade heftig
im Wellengang erzitterte. Ich griff danach und drehte es probeweise nach links
und mein Boot folgte tatsächlich. Zumindest so weit, bis ich mich gegen den Wind
gedreht hatte. Also musste ich mich mit Muskelkraft und klassischem Rudern
wieder in Windrichtung bringen. Das musste ich wirklich noch üben.
Und dann ging
es weiter. Ich konnte gar nicht sagen, wie erhebend es war, in Windeseile über
die Wellen zu gleiten. Der Wind beschleunigte das Boot so schnell, dass es mir
ein bisschen wie fliegen vorkam. Zumindest stellte ich mir das so vor. Ich
passierte einige Fischerboote, aus denen mich erstaunte Augenpaare anglotzten. Und
dann ließ ich die Lagune hinter mir. Der Wind fuhr mir kräftig übers Gesicht
und durch die Haare, rüttelte an meinen Kleidern, während kleine, salzige
Wassertropfen mir wie ein Sprühregen entgegenschlugen. Es war herrlich. Einen
Moment schloss ich die Augen und nahm das alles in mich auf. Dann stieß ich die
Faust in die Höhe und jubelte, so laut ich konnte. Ich war inzwischen so weit
draußen, dass es wahrscheinlich sowieso niemand hörte. Das war es, wie das
Leben sein sollte. Das war, was Glück für mich bedeutete. Ich hatte es so vermisst,
auf dem Wasser zu sein. Mich frei und lebendig zu fühlen.
Aber dann schlug
ich die Augen auf und sah die feinen Rauchschwaden, die über der Nachbarinsel
aufstiegen, vor mir, und der glückselige Moment war vorbei. Augenblicklich
wendete ich das Boot. Am Strand hatte sich inzwischen eine richtige
Zuschauermenge eingefunden, aber ich hatte es nur noch eilig, hier wegzukommen.
„Das ist eine Katastrophe!“ Abe unterbrach seinen
humpelnden Gang und endlich ließ er sich träge am Feuer nieder. Die Schatten,
die es auf sein Gesicht malte, ließen ihn noch älter aussehen. Und dabei hatte
ich gedacht, dass das nicht mehr möglich wäre.
„Es ist ein
Zeichen!“, verkündete Lao-Pao düster, der sich jetzt dafür erhob.
Doch er kam
nicht dazu, seine Weltuntergangrede (wie ich vermutete) anzufangen. Er wurde
barsch von Kane unterbrochen: „Was ist jetzt mit dem Rennen?“ Wie immer ließ er
jegliches Feingefühl vermissen.
„Es wird natürlich
vorerst nicht stattfinden“, erklärte Lao-Pao.
„Was? Aber du
hast gestern erst gesagt, dass unser Schöpfer seinen Segen dafür gegeben hat!“
Abe schüttelte
schwer den Kopf. „Der Vulkan wird ausbrechen, mein Junge. Das Rennen wird bald
unser geringstes Problem sein. Als der Vulkan vor vielen Jahren das letzte Mal
ausgebrochen ist, regnete es Asche und Stein auf unser Dorf. Die Erde bebte und
das Meer hätte uns beinahe hinweg gespült. Und selbst, als das überstanden war,
war der Himmel noch lange Zeit danach dunkel und es wurde so kalt, wie du es
noch nie zuvor erlebt hast. Viele starben an diesem Tag, und auch danach gab es
viel Leid und Tod.“
Während er
erzählt hatte, war es so ruhig geworden, dass die Geräusche des Urwaldes und
das Knistern des Feuers alles waren, was man hören konnte. Selbst die Kinder, die
sonst so gut wie nie still waren, hatten erschrocken den Atem angehalten.
Einige, die die Tragweite der Situation bereits verstanden, suchten nun
verängstigt Schutz bei ihren Eltern. Ich sah zu Isaac hinüber, der in einem Arm
Shana hatte und in dem Anderen seinen Sohn hielt. Er wirkte blass. Mari, die
neben mir saß, drückte meine Hand und sah mich hilflos an.
„Vielleicht
sollten wir weggehen, bevor er ausbricht“, schlug ich vor, als sich ein
bedrücktes Schweigen über die Dorfgemeinschaft legte. „Und wenn es vorbei ist,
kommen wir hierher zurück“
Abe sah mich
an, als hätte ich den Verstand verloren. Und nicht nur er. „Wo sollen wir
hingehen? Hier ist unser Zuhause. Wir können hier nicht weg.“
„Warum
nicht?“, mischte sich Isaac pragmatisch ein. „Wir könnten ans Festland gehen. Ein
Stück weit im Landesinneren dürften wir nichts von dem Vulkanausbruch
mitbekommen.“
„Wie stellst
du dir das vor? Für einen einzelnen mag es kein Problem sein, zu gehen, aber
wir sind viele. Wir haben nicht einmal genug Boote für alle.“
„Und da drüben
sind die Menschenfresser!“, warf jemand ein.
Da schlug die
Stimmung um. Wo man meinem Vorschlag zuvor nicht gänzlich abgeneigt gewesen
war, übernahm nun die Ablehnung das Ruder. Gespräche brachen los, hier und da
hörte man jemanden in Panik schreien. Abe musste erst Kane anstoßen, damit der
mit seiner lauten Stimme für Ruhe sorgte.
„Nein, wir
können nicht weg von hier“, beschloss Abe mit zunehmend brüchiger Stimme. „Wir
werden hierbleiben, warten, bis der Zorn des Vulkangeistes erloschen ist, und darauf hoffen, dass unser Schöpfer derweil behütend über uns
wachen wird. So, wie wir es auch beim letzten Mal getan haben.“
Das gefiel mir
überhaupt nicht.
„Du willst, dass wir von hier abhauen?“, fragte Mari
überrascht. Sie hatte die Hände in die Hüften gestemmt und funkelte mich nun
böse an. Die untergehende Sonne spiegelte sich in ihren vorwurfsvollen Augen.
„Das habe ich
nicht gesagt“, entgegnete ich. „Ich will bloß, dass du mit den Kindern in
Sicherheit bist. Du und ein paar andere, die mit dir gehen wollen.“
Sie wollte
protestieren, das sah ich, aber Isaac kam dazwischen. Er trat an seine Frau
heran und nahm ihre Hände in seine. „Shana, geh du auch mit, Liebes! Ich will,
dass jemand bei Wulf ist.“
„Und du? Du
willst doch nicht hierbleiben?“
„Ich muss. Ich
bin der Sohn vom Häuptling.“
Sie entzog
sich ihm aufgebracht. „Schwachsinn! Kane kann doch bleiben!“
Sie wies auf
seinen Bruder, der abseits stand und die Boote anzustarren schien. Seitdem ich
mit der schlimmen Botschaft zurückgekehrt war, dass der Vulkan ausbrechen
würde, war er merkwürdig abwesend.
„Kane wird
wahrscheinlich auch bleiben“,
erwiderte Isaac ruhig.
Was nun Ani,
die sich zwischen Kane und uns verirrt hatte, einen erschrockenen Laut
entlockte. Hastig schlug sie die Hand auf den Mund, aber der Schreck wollte
nicht aus ihrem Gesicht verschwinden. Ich konnte es ihr nicht verübeln. Sie und
Kane hatten erst vor kurzem verkündet, dass sie schwanger war. Deswegen würde
sie wahrscheinlich mit ans Festland gehen.
„Ich will aber
nicht Aufpasser spielen, während ihr hier in Lebensgefahr schwebt!“, beschwerte
sich Mari wieder. „Das ist doch dämlich! Wir sollten einfach alle gehen!“
Wie ich
vertrat sie den Standpunkt, dass Heimat nicht unbedingt ein Ort sein musste.
Auch für sie war Heimat dort, wo ihre Liebsten waren.
„Da magst du
recht haben“, warf Eris ein. „Für dich ist das auch einfach, die Zelte
abzubrechen und weiterzuziehen, aber diese Leute hier sehen das anders. Sie
leben schon ihr ganzes Leben lang hier. Für dich ist das hier nur ein Ort, an
dem es genug Nahrung und Wasser gibt, aber für sie ist es mehr als das. Es ist
ihre Heimat.“
„Geh bitte
mit, Mari!“ Das war Yunn. Es war das erste Mal, dass er sich zu Wort meldete.
Er schwirrte eigentlich immer um Mari herum (wofür ich ihn immer noch am
liebsten erwürgen würde), aber meistens hielt er den Mund, wenn ich da war. Ich
hatte ihn auch lange genug bedrohlich angestarrt, damit er nicht auf dumme
Gedanken kam. Und ich sah, dass er die Mari gegenüber hatte. Es wunderte mich
ja, ehrlich gesagt, dass er bislang anständig geblieben war.
Jetzt bekam er
jedenfalls einen vernichtenden Blick von Mari, der mich ganz stolz machte. Er
zog augenblicklich den Kopf ein und trat wieder in den Schatten zurück, aus dem
er gerade erst gekommen war. Das aufkommende Schweigen, das folgte, nutzte dann
Kane, um doch mal zu uns rüberzukommen.
„Wir sollten
zusehen, dass wir es anpacken, damit ihr rechtzeitig in Sicherheit kommt“, sagte er.
Kane hatte
noch nie etwas gegen den Willen seines Vaters getan, deshalb erstaunte es nicht
nur mich, dass er es jetzt doch tat.
Mari ging glücklicherweise mit den Kinder und einigen
anderen Frauen und Männern, die zu ihrem Schutz da waren, ans Festland. Obwohl
ich ebenfalls gerne mit ihnen gegangen wäre, war ich schweren Herzens im Dorf
geblieben. Kane, Isaac, der alte Abe, ihr Priester und ein Großteil der Männer
waren auch geblieben. Selbst Eris hatte nicht gehen wollen. Sie war eine der
wenigen Frauen, die noch da waren. Auch Ayra hatte sich natürlich nicht
vertreiben lassen, auch wenn sie noch immer in ihrer windschiefen Hütte im Wald
hockte. Eris hatte immer wieder besorgte Blicke zu dem kleinen Rauchfaden
geworfen, wo sich Ayras Hütte befand, und sie war irgendwann schließlich doch
hingegangen, als gerade niemand auf sie geachtet hatte.
An diesem
Abend war es merkwürdig leer und still im Dorf. Man merkte einfach, dass da
Menschen fehlten. Vor allen Dingen die Kinder. Ich ertappte mich nicht nur
einmal dabei, dass ich mich fragte, wie es wohl Mari und Klein-Wulfgar gerade
ging. Ich hatte den Kleinen ja ziemlich ins Herz geschlossen. Isaac ging es
wohl nicht anders. Er saß fast den ganzen Abend mit klammer Miene neben mir und
sprach so gut wie nicht. Auch ansonsten sah ich, dass kaum geredet wurde. Ab
und an hörte ich jemanden mal ein Liedchen summen und erinnerte mich daran,
dass sie bei Angst ja gerne sangen, aber ansonsten war es geradezu gespenstisch
still. Vielleicht lag es daran, dass das Grollen des Vulkans inzwischen so viel lauter zu
hören war, als noch am Tag.
Der Morgen des
Rennens brach an und ging, ohne, dass jemand in See stach. Wir waren die meiste
Zeit damit beschäftigt, die Boote und Häuser für Steinschläge und Flutwellen zu
wappnen, aber ich glaubte nicht daran, dass es wirklich etwas helfen würde, was
wir da machten. Außerdem machte ich mir ein bisschen mehr Sorgen darum, wo wir uns festmachen sollten, wenn
tatsächlich eine Flut kommen würde.
Es war gegen
Mittag, als Isaac zu mir kam. Ich sicherte gerade die Palmblätter an einer der
Hütten mit einem Seil, als er mich zu sich winkte. Also sprang ich runter und
ging zu ihm.
„Hast du Kane
gesehen? Vater sucht ihn“, fragte er.
Ich
schüttelte den Kopf und ließ dann den Blick schweifen. „Ich habe ihn heute noch
gar nicht gesehen, wenn ich so drüber nachdenke.“
Auch Isaac sah
sich jetzt um. Aber als sich unsere Blicke trafen, war es, als würde uns die
Erkenntnis einen Hammerschlag verpassen. Ohne, dass wir auch nur ein Wort
miteinander wechseln mussten, drehten wir um und rannten zum Strand hinab.
Isaac fluchte.
Es war das erste Mal, dass ich ihn fluchen hörte. „Da fehlt eines der Boote.“
Ich sah zur
Nachbarsinsel hinüber, die dank der immer dicker werden Rauchwolke des Vulkans
nun allzu deutlich am Horizont zu sehen war. Auch wenn ich beim besten Willen
kein Boot auf dem Meer ausmachen konnte, schwante mir böses.
Abe tauchte so
unvermittelt zwischen uns auf, dass ich zusammenzuckte. Er wirkte manchmal wie
ein wandelnder Baum, dass er nicht wirklich auffiel. Er brauchte gar nicht
nachzufragen, was los war.
„Deswegen war
er also so merkwürdig“, ging Isaac auf. „Ich hätte es wissen müssen! Dieser
sture Idiot!“
Sein Vater
schüttelte neben ihm schwer den Kopf. Es war etwas, das er ziemlich häufig tat,
fiel mir auf. „Es schmerzt mich, dass ausgerechnet Kane das erste Opfer des
Vulkans ist.“
„Naja, noch ist der Vulkan ja nicht
ausgebrochen“, merkte ich an.
Kopfschütteln
von Abe. „Wenn er dort draußen ist, dann ist er tot.“
Ich sah von
Abe zu Isaac und erschrak, dass auch er betroffen aussah. „Das könnt ihr doch
gar nicht wissen! Wir sollten ihn lieber suchen gehen, bevor es zu spät ist!“
Ich wollte zu
den Booten, aber da hatte Isaac mich am Arm gepackt. „Du verstehst nicht. Die
Rauchschwaden sind giftig. Du kannst da drinnen nicht lange atmen.“
„Du willst
deinen Bruder also im Stich lassen?“
Das traf, aber
Isaac blieb standhaft. „Ich lasse höchstens einen Toten im Stich.“
Ich sah ihn abwartend
an, hoffte, dass er seine Meinung ändern würde, aber das tat er nicht. Ich
hätte niemals gedacht, dass er jemanden im Stich lassen würde. Enttäuscht
schüttelte ich den Kopf, dann riss ich mich los.
Als Isaac sah,
wo ich hinging, startete er einen weiteren Versuch, mich aufzuhalten: „Du
kannst da nicht rausfahren! Du wirst sterben!“
„Ich hätte
schon so oft sterben können, aber ich lebe immer noch.“ Ich starrte ihn
gnadenlos an. „Wenn ich immer nur an meine eigene Sicherheit denken würde,
wärst du heute auch nicht mehr da.“
Isaac ließ
den Kopf hängen, aber er machte trotzdem keine Anstalten, mir helfen zu wollen.
Ich hatte auch nicht die Zeit dazu, auf ihn einzureden. Also sah ich zu, dass
ich mein Boot lieber schnell ins Wasser bekam, dann setzte ich die Segel und
flog erneut über die Wellen. Zu meinem Glück war der Wind heute günstig und
kräftig.
Natürlich war es nicht so, dass ich keine Angst um mein
Leben hatte. Die hatte ich. Sogar ganz schön tierisch. Ich dachte an Mari und
den kleinen Wulf und daran, dass ich sie nicht aufwachsen sehen würde. Dass ich
nicht sehen würde, wie Mari sich verliebte, wie sie Mutter wurde und als
Heilerin des Dorfes glücklich alt und grau wurde. Aber ich dachte auch an Kane
und daran, dass er sein Kind nicht kennenlernen würde und das gab mir neuen
Mut, auf die pechschwarzen Rauchschwaden vor mir zuzuhalten. Sie hüllten
inzwischen die gesamte Insel und einen ganz beachtlichen Teil des Meeres in
ihrem Umkreis ein. Es war angsteinflößend, wie sie sich riesig und unheilvoll
in den Himmel erhoben und es war mir, als wäre es eine einzige Säule aus solidem Stein,
die jeden Moment auf mich fallen würde. Ich fühlte mich in ihrem Angesicht
plötzlich fürchterlich klein.
Ich schluckte
und holte dann hastig das Segel ein, damit das Boot stehen blieb. Es stank
schon jetzt fürchterlich nach einer Mischung aus Verbranntem, Rauch und faulen
Eiern, was mir übel werden ließ. Ich hatte so etwas noch nie gerochen.
Eigentlich hatte ich ja nicht viel Hoffnung, aber ich sah mich trotzdem erst gründlich um, bevor ich da vielleicht vollkommen unnötig reinging. Doch natürlich war von Kane oder seinem Boot nichts zu sehen.
Eigentlich hatte ich ja nicht viel Hoffnung, aber ich sah mich trotzdem erst gründlich um, bevor ich da vielleicht vollkommen unnötig reinging. Doch natürlich war von Kane oder seinem Boot nichts zu sehen.
Ich fluchte
derb, dann sah ich dem riesigen Rauchberg vor mir erneut ins unheimliche
Gesicht. Die Angst hatte einen hässlichen Knoten in meinem Bauch geknüpft,
sodass ich mehr als nur einmal darüber nachdachte, vielleicht doch einfach
umzukehren. Ich war mir ziemlich sicher, dass man mich von Lao-Pao aus nicht
mehr sehen konnte, also könnte ich doch einfach erzählen, dass ich alles
abgesucht, aber nichts gefunden hätte. Sicherlich hatten Isaac und Abe, der
mehr Lebenserfahrung hatte, als ich, recht. Sicherlich war Kane bereits tot.
Was brachte es da, wenn ich auch noch starb?
Meine Hand
hatte sich schon aufs Ruder verirrt, als mir bewusst wurde, was ich eigentlich
gerade tat. Ich hatte Abe und Isaac als Feiglinge verurteilt, aber ich war gerade
im Begriff, genauso davonzulaufen und Kane im Stich zu lassen, wie sie es getan
hatten. Mein alter Freund, die grimmige Entschlossenheit, übernahm nun das
Ruder, scheuchte die Angst in eine dunkle Ecke, und ließ mich die Segel wieder
setzen und vorwärts fahren. Hinein in die dunklen, todbringenden Rauchschwaden.
Ich war ganz
gut im Luftanhalten, aber der Rauch stach mir so sehr in den Augen, dass ich
kaum etwas sehen konnte. Nicht, dass ich sonst etwas gesehen hätte. Überall um
mich herum war nur Rauch. Er hüllte mich und das Boot vollkommen ein und es war
mir beinahe, als wäre er ein lebendiges Wesen. Einen Moment lang war er fest
und greifbar und versuchte, mich in seiner Umklammerung zu zerquetschen, und im
nächsten Moment, wenn ich die Hand danach ausstreckte, wich er vor meiner
Berührung zurück und verflüchtigte sich. Es war alles so dunkel um mich herum wie
in finsterster Nacht. Ein bisschen so wie damals, als ich den Menschenfressern
in die Hände gefallen war, fiel mir beunruhigt auf.
Davon Kane zu
finden, konnte jedenfalls keine Rede sein, wenn ich nicht einmal sehen konnte.
Es war von Anfang an ein sinnloses Unterfangen gewesen, musste ich einsehen. Da
ging mir schließlich auch noch die Luft aus und als ich einen Atemzug
versuchte, war es, als würden sich meine Lungen nur mit kochend heißem Wasser füllen. Ich hustete
und spuckte, und ich schwöre, es war beinahe schlimmer als ertrinken. Hilflos
presste ich mir die Hände auf den Mund, um keinen weiteren Rauch einzuatmen,
obwohl meine Lungen immer noch nach Luft schrien, als ich plötzlich gegen etwas
prallte. Oder besser gesagt das Boot prallte gegen ein anderes, wie ich
verschwommen wahrnahm.
Ich hatte
nicht einmal Zeit, mich darüber zu freuen, wahrscheinlich Kane gefunden zu
haben. Hastig angelte ich nach dem Tau, mit dem ich das Segel setzen und bergen
konnte, und schlang es um den hakenförmigen Bug des anderen Bootes. Ich verband
alles mit einem festen Knoten, wobei ich die Hand vom Mund nehmen musste und
mir schwindelig wurde, und hoffte, dass es halten würde.
Auf dem
Rückweg zu meinem Platz schluckte ich noch einmal den Rauch und wurde davon
beinahe niedergeschlagen. Es linderte den Druck in meinen Lungen so gut wie gar
nicht, aber ich schaffte es trotzdem noch, mich zu setzen und mein Boot zu
wenden. Die Sicht verschwamm mir zusehends vor Augen und ich war plötzlich so
müde und schwer, dass ich dachte, jeden Moment vornüberzufallen. Der Schrecken,
dass ich keine Ahnung hatte, wo ich mich befand und wo es wieder in die frische
Luft hinausging, erreichte mich schon nur noch durch einen nebligen Schleier. Jeder
Atemzug war inzwischen wie ein Faustschlag auf meine Lungen. Der Schweiß stand
mir eiskalt auf der Stirn und dann war es schließlich vorbei. Ich konnte nicht
mehr, und das dunkle Wesen, das die ganze Zeit um mich herum gelauert hatte,
packte zu und stieß mich in die Dunkelheit.
Es regnete. Regentropfen auf meiner tauben Haut. Einer.
Dann noch einer. Kochend heiß und gleichzeitig eiskalt. Die Dunkelheit war
alles in meiner Welt geworden. Selbst wenn ich die Augen öffnen würde, wären
sie blind und nutzlos, da war ich mir sicher. Also ließ ich sie geschlossen. Ich
würde sie vermissen, die frische Luft in meinen Lungen. Den Wind in meinen
Haaren und das klebrig salzige Wasser an meiner Haut. All diese Dinge, die ich
nie wieder fühlen würde. Nur noch Taubheit. Und Dunkelheit.
Plötzlich war
da ein stechendes Gefühl, das langsam bohrend begann und intensiver wurde, bis
es ein ausgewachsener Schmerz war. Ein Stechen? Nein, es war ein Druck. Unzählig
viele, kleine Sandkörner an meinem Rücken. Mal da. Mal nicht. Immer und immer
wieder. Eine Stimme. Da rief jemand. Ich konnte nicht verstehen, was gerufen wurde,
aber bevor ich mich weiter damit befassen konnte, fiel ich in die Dunkelheit
zurück. Ich war so müde. Wollte nur noch schlafen. Eine Ewigkeit. Vielleicht
zwei.
Regentropfen.
Ein Schwall Wasser in mein Gesicht. Und plötzlich ein grelles Licht, das mich
in die Augen stach. Ich schoss in die Höhe und dann war ich endlich wieder da.
Ich kehrte in meinen Körper zurück, spürte die Schwere und den Sand an meiner
Haut.
Als die Sicht zu mir zurückkehrte, sah ich in bekannte Gesichter. Isaac war der Erste, der erschien. Plötzlich war er vor mir und hatte mich in die Arme geschlossen. Mein Kopf schwirrte mir noch immer so sehr, dass es ewig dauerte, bis ich das realisierte. Da hatte er sich schon wieder von mir gelöst und in seinen Augen glitzerten tatsächlich Tränen.
Als die Sicht zu mir zurückkehrte, sah ich in bekannte Gesichter. Isaac war der Erste, der erschien. Plötzlich war er vor mir und hatte mich in die Arme geschlossen. Mein Kopf schwirrte mir noch immer so sehr, dass es ewig dauerte, bis ich das realisierte. Da hatte er sich schon wieder von mir gelöst und in seinen Augen glitzerten tatsächlich Tränen.
„Du hast ihn
gerettet! Kane! Meinen Bruder!“ Schnelle Worte in seiner melodischen Sprache
folgten, für die ich gerade viel zu träge war, um sie zu verstehen.
Ich setzte
mich richtig auf, um zu sehen, worauf er zeigte. Ein Schwindel haute mich
beinahe wieder um, aber ich blieb stur. Als ich saß und sich der Wald an Beinen
um mich herum gelichtet hatte, erkannte ich Kane, der unweit neben mir im Sand
lag. Im Gegensatz zu mir hatte er die Augen aber geschlossen.
„Ist er tot?“,
schaffte ich, zu fragen. Ich hätte lieber fragen sollen, ob er lebte.
Doch Isaac schüttelte
den Kopf. „Er war vor dir wach und ist wieder eingeschlafen. Er wird leben“,
berichtete er.
„Und er wird
dieses Dorf von nun an anführen“, war plötzlich von Abe zu hören.
Ich sah mich
nach dem alten Mann um und fand ihn hinter mir. Sein knorriger Stab war auf
Kane gerichtet, als ich ihn begriffsstutzig ansah. Also tat ich einen zweiten
Blick und einen dritten, und dann fiel mir auch auf, was er meinte. Kane hielt
tatsächlich eine ihrer heiligen Früchte in den Händen. Sie hatten vor dem
geplanten Rennen alle aufgebraucht, weshalb sie von der Nachbarinsel kommen
musste. Dieser Wahnsinnige hatte es wirklich geschafft! Er war in diesem
schrecklichen Todesrauch hinübergefahren und hatte die Frucht geholt. Ich
konnte nicht anders, als ihn für diesen bescheuerten Wagemut zu bewundern.
Als ich Isaac
ansah, bemerkte ich, dass er das Gleiche dachte. In seinen Augen war keinerlei
Anzeichen von Bedauern oder Missgunst. Er hatte das Ergebnis anerkannt und er
würde nicht der neue Häuptling von Lao-Pao werden.
Nach dieser
Erkenntnis war es mir aber dann doch an der Zeit, es Kane gleichzutun und ein
zweites Nickerchen zu machen. Ich musste dringend den stinkenden Geruch
loswerden, der an mir klebte, dachte ich noch, bevor ich wieder einschlief.
Am Ende brach der Vulkan nicht aus. Es gab ein großes
Getöse, aber außer einer riesigen Rauchwolke spuckte der Vulkan nichts aus. Nachdem
er zwei Tage ruhig blieb, holten wir die Frauen und Kinder zurück ins Dorf, und
es wurde ein riesiges Fest veranstaltet. Um dem Schöpfer zu danken, den neuen
Häuptling zu feiern, aber auch, um mich zu ehren. Ich hatte inzwischen einen
ganz schönen Ruf im Dorf. Auch wenn sich die Leute nicht entscheiden konnten,
ob sie mich nun für einen Wahnsinnigen oder einen Helden halten sollten.
Jedenfalls
hatte ich ganz schön Glück gehabt, dass der Wind gedreht hatte und er mich und
Kane aus den Rauchschwaden gebracht hatte. Lao-Pao war überzeugt, dass ich den
Schutz ihres Schöpfers genoss und selbst ich konnte das nicht mal mehr
verneinen. So oft, wie ich mich schon in die Gefahr gestürzt hatte und gerade
so mit dem Leben davongekommen war, stand ich ja vielleicht doch mehr in der
Gunst der Götter, als ich gedacht hatte. Am Abend des Festes opferte ich
jedenfalls das erste Mal seit langem wieder dem Geist des Windes und dankte ihm
für unsere Rettung.
Kane, der nur
allein losgefahren war, weil er gesehen hatte, dass er gegen Isaacs Boot keine
Chance gehabt hätte, kam während des Festes auch zigmal zu mir, um mich aus
Dankbarkeit für seine Rettung so derb auf die Schulter zu hauen, dass ich
dreimal fast ins Feuer fiel. „Ich würde ja auch meinen Erstgeborenen nach dir
nennen, aber das würde ein bisschen für Verwirrung sorgen“, sagte er immer
wieder lachend.
Selbst Ani,
die sonst nie mit mir redete, konnte mit dem Danken gar nicht aufhören. Ich
hatte sie noch nie so aufgelöst gesehen. Isaac hingegen ergoss sich in
Entschuldigungen und auch wenn ich ihm immer wieder versicherte, dass er sich
keinen Kopf machen sollte, hatte seine Weigerung, seinem Bruder zu helfen, das
Bild, das ich mir von ihm gemacht hatte, ein bisschen zerstört. Vielleicht war
es doch ganz gut, dass er nicht der Häuptling geworden war, schloss ich am
Ende.
Ich wurde mit
allen Ehren überschüttet und zum Ehrenmitglied des Stammes ernannt (jetzt würde
mich auch endlich eine Frau nehmen, wie mir Ao gleich mal mitteilte. Juhu!). Zum
Höhepunkt des Festes bekam Kane dann einen prächtigen Federkopfschmuck
aufgesetzt und sein Vater überreichte ihm den alten, knorrigen Stab des
Häuptlings. Kane verzichtete auf eine große Antrittsrede und versprach nur,
sich um alle zu kümmern, bevor er einen so ohrenbetäubenden Jubel ausstieß,
dass es wahrscheinlich der Tiger der Menschenfresser noch hören konnte. Dann
gab es einen großen Tanz, an dem alle teilnahmen. Selbst Mari ließ sich das
erste Mal von Yunn dazu überreden, und ich ließ sie diesmal (wenn auch mit
einem tödlichen Blick auf den Jungen, ja die Finger bei sich zu behalten).
Und während
sich beinahe alle in Paaren auf der Tanzfläche drehten und ich einen Blick in
die Runde warf, wurde mir ein bisschen schwer ums Herz. Ich sah Isaac, der mit
Shana tanzte, die den kleinen, lachenden Wulf auf dem Arm hatte. Eine
glückliche Familie. Kane, der seine Ani gerade durch die Luft schwang. Auch er
würde bald ein Vater sein, und er war sogar ein Häuptling geworden. Mari, die
ein bisschen beschämt mit Yunn tanzte, der die Augen nicht von ihr lassen
konnte. Sie war erwachsen geworden und würde auch bald ihren eigenen Weg gehen.
Nein, sie ging ihn bereits, rief ich
mir in Erinnerung.
Ich musste
unwillkürlich seufzen, als ich all das sah. All die Veränderungen, die die Zeit
mit sich gebracht hatte und die sie noch mit sich bringen würde. Mein Blick
blieb an Eris hängen, die jenseits des Feuers saß und ebenfalls die tanzenden
Paare beobachtete. Speziell Mari und Yunn. Wahrscheinlich dachte sie dasselbe
wie ich (ohne den Part, in dem ich Yunn dafür in den Boden rammen wollte, dass
er seine Hände gerade auf Maris Hintern hatte!).
Für einen
Moment war ich versucht, einfach aufzustehen und zu meinem angestammten Platz
an der Klippe zu gehen. Dorthin, wohin ich immer ging, wenn ich allein sein
wollte. Wenn ich mich einsam fühlte. Aber ich konnte nicht ewig Trübsal blasen,
das wusste ich. Ich musste etwas machen, bevor es schlimmer wurde.
Also versuchte
ich etwa Neues und ging zu Eris hinüber. Ich ließ mich neben sie fallen, aber
sie bedachte mich nur mit einem flüchtigen Blick. Eine Weile blieb ich still,
dann sagte ich: „Es ist so viel passiert in letzter Zeit.“
Sie gab einen
zustimmenden Laut von sich, da fuhr ich fort: „Sie alle verändern sich so
schnell. Vor allen Dingen die Kleinen. Mari.“ Ich machte eine Pause. „Und ich
habe das Gefühl, dass ich der Einzige bin, bei dem sich nichts tut. Der
Einzige, der immer noch derselbe ist, der er war, als er vor Jahren hierherkam.“
Da schlug Eris
die Augen nieder und ich sah, dass sie genau wusste, wovon ich sprach. Also sah
ich sie direkt an und fragte: „Wie hältst du das aus?“
Sie lächelte
freudlos. „Ich weiß nicht.“ Dann sah sie wieder auf und als sie ihren Blick erneut
auf die Tanzpaare richtete, wurde ihr Lächeln echt. „Ich versuche, einfach am
Glück der Anderen teilzuhaben, glaube ich. Etwas anderes bleibt mir ja auch
nicht übrig.“
Ich
beobachtete sie einen Moment schweigend, bevor ich ihrem Blick folgte und sagte:
„Das ist… ganz schön schwer. Ich habe immer noch das Gefühl, von hier fortgehen
zu wollen. Mehr noch, als früher.“
„Du kannst
Mari aber nicht allein lassen.“
„Ich weiß.“
Ich nahm einen tiefen Atemzug. „Vielleicht sollte ich auch versuchen, am Glück
der Anderen teilzuhaben.“
„Tust du das
nicht schon?“ Ich sah sie fragend an. „Ich sehe dich jedenfalls oft mit dem
kleinen Wulf. Und du siehst nicht unglücklich aus.“
Da hatte sie
recht.
„Kane wird
auch bald Vater. Ich wette, sie haben am Ende einen ganzen Stall voll Kinder,
die beiden Brüder.“ Pause. Und dann: „Und warte nur, bis Mari erstmal Mutter
wird.“
Da
verschluckte ich mich an dem Schluck, den ich gerade genommen hatte. Zeit, dass
ich doch mal den Stimmungsvermieser spielen ging, bevor dieser Yunn noch auf
dumme Gedanken kam. Also erhob ich mich und ließ Eris sitzen. Ich fragte mich
nur, warum sie nicht vorgeschlagen hatte, dass ich mir eine Frau suchte und
selber eine Familie gründete. Alle anderen hatten es getan und ich hatte heute erst
dreimal Aos Angebot ausschlagen müssen, doch seine Schwester zu nehmen.
Kurz darauf
wurden Yunn und Mari dann wieder voneinander getrennt und das Fest konnte
weitergehen.
Hier weiterlesen -> Kapitel 14
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