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Mittwoch, 14. November 2018

Kapitel 11 - Erwachsene Kinder


Als ich Mari das erste Mal getroffen hatte, hatte ich angenommen, dass sie höchstens eine Handvoll Finger an Jahren zählte, aber mittlerweise hatte ich eingesehen, dass sie wesentlich älter hatte sein müssen. Inzwischen schätzte ich sie auf über zwei Handvoll Finger. Sie war groß und schlaksig und es würde nicht mehr lange dauern, bis sie zur Frau wurde. Und das machte mir, ehrlich gesagt, eine Heidenangst.
     Ich tat mein Bestes, den Jungen in Grund und Boden zu starren, und er war schlau genug, die erste Gelegenheit zu nutzen, um sich kleinlaut aus dem Staub zu machen. Mari sah so aus, als würde sie ihm am liebsten folgen, aber sie blieb.
      „Was habt ihr beide denn da allein gemacht, hm?“, forderte ich, zu wissen.
     „Och nichts!“ Sie zuckte unschuldig mit den Schultern. „Yunn wollte mir nur was zeigen.“
     ‚Ja, seinen besten Freund da unten‘, schoss es mir durch den Kopf.
     „Du sollst doch nicht allein in den Wald gehen, Mari! Vor allen Dingen mit keinem der Jungs, das weißt du doch!“, schimpfte ich sie.
      „Ach, was glaubst du denn, was passiert?“, tat sie unbeeindruckt ab. „Ich hab noch nicht mal geblutet! Die interessieren sich doch noch gar nicht für mich!“
     „Das geht schneller, als du glaubst, dass sie sich plötzlich für dich interessieren. Und das solltest du nicht auf die leichte Schulter nehmen! Auch wenn du meinst, diesen Yunn zu kennen, weißt du nicht, ob er nicht böse Absichten dir gegenüber hat.“
     Mari lachte nur. „Warum sollte er? Yunn ist bei den anderen Mädchen total beliebt. Auch bei den Älteren, die ihren Aufnahmeritus schon hinter sich haben.“ Und die damit völlig nackt rumliefen. „Bei mir hat er gar nix zu sehen. Wir sind einfach nur Freunde.“
     Sie hatte scheinbar keine Ahnung, wie sie auf andere wirkte. Mari war noch ein halbes Kind, aber ihr Körper begann bereits, sich zu verändern. Ich versuchte schon eine ganze Weile, sie dazu zu bekommen, sich was anzuziehen, aber sie weigerte sich. Sie wollte so sein, wie alle anderen hier. Aber ich sah, wie die Jungen sie ansahen und das gefiel mir überhaupt nicht. Mari war ein hübsches Mädchen, um das sich die Männer eines Tages noch prügeln würden, da war ich mir sicher.
     Ich wollte etwas sagen, aber sie war schneller zu fragen: „Was machst du eigentlich hier?“
     „Lenk nicht ab, Mari!“
     „Na schön! Ich verspreche, in Zukunft vorsichtiger zu sein, in Ordnung?“, sagte sie augenrollend.
     Natürlich war ich nicht zufrieden damit, doch Mari war schon wieder woanders. Sie trat an meine Seite und deutete aufgeregt zum Strand hinunter. „Schau mal da! Da sind Isaac und Shana!“
      ‚Shana heißt deine Auserwählte also.‘
     Widerstrebend lenkte ich meinen Blick nach rechts, wo ich tatsächlich gerade dabei zusehen konnte, wie Isaac mit seiner Liebsten Arm in Arm über den Strand schlenderte. Der Anblick jagte mir ein Messer durch den Bauch hindurch Richtung Herz.
     „Sind sie nicht süß zusammen? Die haben ja eeewig miteinander geliebäugelt. Jeder hat gesehen, dass sie sich mögen“, plauderte Mari munter drauflos. „Aber Isaac musste wohl erst fast sterben, damit sie sich endlich getraut haben, aufeinander zuzugehen.“
     ‚Ich wünschte nur, er hätte mir verdammt nochmal von ihr erzählt. So ganz nebenbei. Damit ich wenigstens weiß, dass ich mir keine sinnlosen Hoffnungen machen muss.‘
     Plötzlich erschien Mari in meinem Sichtfeld. Ihr Blick war so forschend, dass ich mich automatisch ertappt zurückzog. „Was ist los? Du siehst total traurig aus.“
     Da kam anscheinend irgendeine Form von Erkenntnis über sie. Sie schlug die Hände vor den Mund und die Augen wurden groß. „Sag bloß, dass du Shana mochtest?“, fragte sie aufgeregt.
     Sie war wirklich kein kleines Kind mehr, wenn sie anfing, solche Dinge zu merken und sich dafür zu interessieren. Sie hatte sich vorher nie für mein (nicht vorhandenes) Liebesleben interessiert.
     „Nein“, erwiderte ich bloß.
     Doch Mari blieb beharrlich. „Wer ist es dann?“, bohrte sie weiter. Ihre Augen glänzten voller Neugier. „Komm schon, erzähl doch mal! Gibt es jemanden, den du magst?“
     Ich wollte es wieder ablehnen, aber ich hielt inne. Mari war kein Kind mehr, das stimmte. Und sie war meine Familie. Ich wollte ehrlich sein, also warum nicht bei ihr anfangen? Ich hatte gerade einfach keine Kraft mehr dazu, meine Fassade aufrecht zu erhalten und ich wollte mich nur noch jemandem offenbaren.
      „In Ordnung, Mari, du bist alt genug und ich denke, dass es an der Zeit ist, dass ich dir mein Geheimnis verrate. Immerhin sind wir eine Familie“, erinnerte ich sie. Sie nickte eifrig und kam näher, um zu lauschen. „Ich bin nicht traurig, weil ich Shana wollte, sondern“, ich zögerte, „weil ich Isaac wollte.“
     Sie starrte mich an, als würde ich sie auf den Arm nehmen. Dann sah sie so aus, als würde sie überhaupt nichts mehr verstehen. „Aber… er ist doch ein Mann! Ich meine… ihr beide seid Männer!“
     Ich wollte ihr sagen, dass ich eben anders bin, aber erneut hielt ich inne. Warum sollte ich so etwas sagen? Also sagte ich ihr stattdessen: „Das ist doch nicht wichtig, solange man sich liebt.“
     „Ihr liebt euch?“, platzte es fassungslos aus ihr heraus. „Aber er hat doch Shana!“ Sie sog erschrocken die Luft ein. „Bist du deswegen traurig? Weil sie ihn dir weggenommen hat?“
     Ich schüttelte den Kopf. Ich konnte nicht einmal sagen, ob ich Isaac geliebt hatte – ich wollte es eigentlich auch gar nicht mehr wissen. Ich hatte nicht einmal eine Ahnung, ob ich jemals wirklich verliebt gewesen war. Wenn ich es jemals gewesen war, war es mir jedenfalls nicht bewusst.
      „Ich mochte ihn“, erklärte ich trotzdem, „aber er weiß nichts davon. Und du musst mir versprechen, es ihm auch nicht zu sagen. Niemandem, hörst du? Das muss unser Geheimnis bleiben!“
     „Warum?“
     „Manche Leute verstehen es nicht und du weißt doch, wie Menschen oft reagieren, wenn sie etwas nicht verstehen, nicht wahr?“ Auch sie hatte inzwischen genug gesehen, um zu wissen, wovon ich sprach. Also nickte sie betroffen. „Gut, ich möchte nämlich nicht riskieren, dass die Leute hier etwas gegen uns haben könnten, wo wir doch hierbleiben werden.“
      Ich schaffte es, mit dieser Ankündigung sofort jegliche Betroffenheit aus ihrem Gesicht zu wischen. Stattdessen kehrte die Aufregung zu ihr zurück. „Wirklich? Wir werden hierbleiben?“
      Ich nickte und da sprang Mari mir in die Arme. Sie bedachte mich mit einem Danke-Sturm, während ich einfach nur glücklich und zufrieden damit war, dass sie sich so sehr darüber freute.
      Nach einer Weile löste Mari sich aber wieder von mir und sagte: „Vielleicht findest du ja hier auch jemanden, den du magst. Vielleicht könntest du Tante Eris mögen. Ich weiß, sie ist nicht Isaac, aber sie ist echt nett.“
      Da wurde mir schlagartig klar, dass sie gar nicht richtig verstanden hatte, was ich ihr versucht hatte, zu erklären. Ein wehleidiges Lächeln verirrte sich auf mein Gesicht. „Ich freue mich, dass du deine Tante so magst, aber aus mir und ihr wird nichts werden. Das versichere ich dir.“ Ich strich ihr übers inzwischen wieder brustlange Haar, als sie mich traurig ansah. „Aber mach dir keine Gedanken um mich. Ich komme auch gut allein zurecht. Hauptsache, du bist da.“
     Ich hatte nur Angst davor, wenn sie mich eines Tages nicht mehr brauchen würde.

Ich beobachtete, wie Shana ihren dicken Bauch vor sich herschob und ich war ein bisschen neidisch darauf, dass Isaac bald Vater werden würde. Seitdem ich Mari hatte, konnte ich mir jedenfalls auch gut vorstellen, ein paar Kinder zu haben. So ein ganzes Dutzend ungefähr.
     „Na, willste auch welche?“
     Als ich mich zum Besitzer der Stimme umwandte, sah ich Ao ins grinsende Gesicht. Er hatte bei seiner letzten Prügelei einen seiner vorderen Schneidezähne eingebüßt, weshalb nun eine schwarze Lücke sein Grinsen zierte. Das machte sein ohnehin verlottertes, gedrungenes Aussehen noch grotesker.
     Ich überlegte. „Irgendwann.“
     Ich hatte noch immer Schwierigkeiten damit, mich richtig auszudrücken, aber immerhin verstand ich inzwischen, was die Leute um mich herum von sich gaben. Ao lachte und kippte sich einen weiteren Becher hinter die Binde. Ein bisschen weniger hätte ihm bestimmt ganz gut getan, aber ich hielt die Klappe. Ich nahm immer nur kleine Schlucke aus meinem eigenen Becher, damit es so aussah, als ob ich ebenfalls viel trank. Natürlich konnte ich auch ganz schön bechern, aber ich war lieber klar im Kopf. Ich und betrunken war nämlich keine so gute Kombination.
     „Dann solltest du den Ritus machen“, schlug Lau vor. „Ansonsten wirst du keine Frau finden.“ Er war ein sehniger Kerl, der selten sprach und ich musste zugeben, dass er mir ganz gut gefiel. Auch wenn er etwas gröber war als der Typ, den ich sonst bevorzugte. Er schnitzte so gut wie immer und auch jetzt hatte er gerade eine kleine Holzfigur in der Hand. Ein Delfin, den er für seine Tochter machte.
     Die anderen Männer in der Runde pflichteten ihm bei und jetzt war ich am Zug. Ich hatte eigentlich nicht vor, den Aufnahmeritus zu unterlaufen, aber wenn es nicht anders ging, würde ich auch das machen. Nur das nackt rumlaufen würde ich lassen. Ich war inzwischen so braun geworden, dass ich die Sonne gut vertrug, aber ich musste immer noch mehr aufpassen, als alle anderen hier.
     Ich setzte mich breiter hin und wischte mir den Schweiß unter den Achseln trocken, auch wenn ich danach nichts lieber wollte, als mir die Hände zu waschen. Ich würde mich nie an die Hitze hier gewöhnen. „Vielleicht“, sagte ich nur.
     Einer der Männer begann nun, von seinem Ritus zu erzählen und ich war ganz froh darüber, mich aus dem Gespräch wieder zurückziehen zu können. Ich hatte sonst eigentlich kein Problem damit, im Mittelpunkt zu stehen, aber da ich hier nun Zuhause war, war ich vorsichtiger geworden. Ich wollte Mari nicht blamieren, weil ich irgendeine Sitte missachtete oder sowas.
     Den Themenwechsel nutzte Kane, der rechts neben mir saß, um sich zu mir zu beugen. Ich sah schon in seinem Gesicht, dass er mir was zuflüstern würde, bevor er es tat: „Hey, Wulf, du weißt aber, dass du den Ritus nicht machen musst, ja? Du kannst trotzdem hierbleiben.“ Ich nickte ihm zu, dass er weitererzählen sollte. Da war noch mehr im Busch. „Und auch wenn die anderen Frauen dich nicht nehmen, kannst du“, er wurde noch leiser, „Ayra nehmen.“
      Seine Schwester also. Ich wusste, dass Kane nicht gerne über sie sprach, weil sie im Dorf verpönt war. Ich hatte immer noch keine Ahnung warum; es wurde totgeschwiegen, als hätte sie ihren Schöpfer persönlich beleidigt. Aber obwohl Kane nicht gerne über sie sprach, kümmerte er sich trotzdem um sie. Nur so, dass es niemand mitbekam. Ich hatte mich, ehrlich gesagt, auch schon gewundert, dass er bislang nicht mit ihr angekommen war.
      Nachdem ich beschlossen hatte, Isaac ein bisschen mehr Zeit mit seiner neuen Frau zu lassen, hatte ich viel Zeit mit Eris zugebracht, um die Sprache der Leute hier zu lernen. Da Eris aber eine miserable Lehrerin war und sie sowieso oft bei Ayra zu Gast war, hatte die übernommen, kaum, dass ich mich auch nur irgendwie mit ihr hatte verständigen können. Seitdem hatte ich auch viele Aufgaben für sie übernommen, die sonst Isaac für sie erledigt hatte. Ihr schiefes Haus vom andauernden Umfallen abhalten zum Beispiel.
     Ich und Ayra kamen jedenfalls gut miteinander aus. Sie war ein bisschen temperamentvoll, stur und eigen, aber sie hatte das Herz am rechten Fleck. Und wenn sie auftaute, konnte sie ganz schön derbe Witze reißen, die ich beschlossen hatte, gleich mal in mein eigenes Repertoire aufzunehmen.
     Da ich so oft mit Ayra zu tun hatte und man mir das als Außenseiter auch nicht übel nahm, konnte ich mir schon vorstellen, dass Kane sich da erhoffte, dass ich für seine Schwester sorgen würde. Aber bis auf die gelegentlichen Reparaturarbeiten an ihrem Haus, kam sie eigentlich ganz gut allein zurecht. Ich konnte mir jedenfalls nicht vorstellen, dass sie es mögen würde, jemanden an ihrer Seite zu haben. Dazu war sie zu unabhängig.
     Da jemand Kane in diesem Moment anstieß, kam ich glücklicherweise um eine Antwort herum. „He, Kane, da ist deine Zukünftige, Lorna!“, grölte Ao, sodass es auch ja alle hören konnten.
     Ich musste gar nicht nachsehen, wen sie meinten. Kane hatte sein Starker-Mann-Grinsen schon aufgesetzt und war zu besagter Lorna rüber geschlendert. Lorna war die schönste und begehrteste Frau im ganzen Dorf. Sie war so hochgewachsen, wie Ayra, und damit genauso groß, wie ich. Ein perfektes Gesicht, langes, schwarzes Haar und eine breite Hüfte, die Ihresgleichen suchte. Auch wenn ich mir ziemlich sicher war, dass es nicht das war, auf was die meisten Männer hier achteten.
     Ich hatte mir jedenfalls schon einiges anhören dürfen, dass ich nicht hinsah, wenn sie und ihre Brüste vorbeikamen. Aber da stand ich drüber. Egal, wie sehr ich auch versuchte, wie die Männer hier in der Runde zu sein, bei Frauen hörte es bei mir auf. Nicht nur, weil ich Angst hatte, dass sie mich in Grund und Boden starrten wie meine Mutter, wenn ich sie auch nur schief ansah. Deswegen galt ich unter meinen neuen Freunden auch ein bisschen als prüde, gelinde gesagt.
     Während Kane sich jedenfalls wieder einmal einen Korb von Lorna abholte, die ziemlich viel auf sich, aber nichts auf ihn hielt, stieß mich jemand anderes an. Ich zuckte zusammen, als ich bemerkte, dass es Isaac war.
      „Du bringst mich noch mal um, wenn du dich immer so an mich ranschleichst!“, ließ ich ihn wissen. Wir sprachen meistens in meiner Sprache, weil Isaac immer noch so begierig darauf war, sie zu lernen, obwohl er das längst nicht mehr nötig hatte. Manchmal war ich erstaunt, dass er Worte kannte, von denen ich noch nie was gehört hatte.
     „Du läufst ja auch dauernd vor mir weg, habe ich das Gefühl.“
     Er zuckte mit den Achseln und obwohl ich wusste, dass er sich nur einen Spaß mit mir erlaubte, hatte ich ein schlechtes Gewissen. Seitdem ich ihn mit Shana am Strand gehört hatte, ging ich ihm tatsächlich ein bisschen aus dem Weg. Ich arbeitete jedenfalls so gut wie gar nicht mehr mit ihm an seinen Erfindungen. Stattdessen hatte ich andere Aufgaben im Dorf übernommen. Die meisten hatten mit Booten, Fischen und Reparaturen zu tun. Dinge, die ich gut konnte eben. Ich hatte inzwischen auch angefangen, ein kleines Beet anzulegen, auf dem ich ausprobierte, was ich hier alles anbauen konnte. Die meisten Leute hielten nicht viel davon, Isaac aber leider schon. Glücklicherweise war Ayra aber trotzdem mein bester Ansprechpartner dafür gewesen, weil sie ja auch ein kleines Beet vor ihrem Haus hatte.
     Plötzlich hatte er sich zu mir gebeugt, was mir nicht so angenehm war. Doch als ich ihm in die ernsten Augen sah, wusste ich, dass es wichtig war. Er machte sich wegen irgendwas Sorgen. „Weißt du davon, dass Mari ihren Aufnahmeritus machen will?“
     „Ja, ich weiß davon“, brummte ich unwillig. Es war aber nicht so, dass ich es guthieß.
     „Sie planen, sie zum Festland zu schicken, Wulfgar.“
     Ich erstarrte. „Was?“
     Isaac deutete hinter mich und als ich über meine Schulter blickte, sah ich, wie Mari mit Eris und Lao-Pao zusammenstand. Das letzte Jahr über war Mari unverkennbar zur Frau geworden und es trennte sie und ihre Tante nicht mehr viel an Größe. Mit der verstand sie sich inzwischen so gut, dass ich manchmal das Gefühl hatte, ich sei abgeschrieben. Ayra, bei der ich mich darüber beklagt hatte, hatte mir zwar versichert, dass das normal sei, weil Mari jetzt viele Fragen hatte, die Eris ihr besser beantworten konnte, aber ich war trotzdem ein bisschen am Boden zerstört deswegen. Sie war jetzt so selten bei mir, ihre Freunde waren inzwischen wichtiger, und die Jungs natürlich, dass ich sie nicht auch noch mit Eris teilen wollte.
     Sofort war ich auf den Beinen. Das konnte doch nicht wahr sein! Ich stapfte zu den dreien rüber und bezog zwischen Mari und Eris Aufstellung. „Ich hab gehört, dass du für deinen Ritus ans Festland sollst. Das stimmt doch nicht, oder?“
     Ich brach wahrscheinlich zig Anstandsregeln damit, dass ich ihren Geistlichen unterbrach, aber das war mir gerade schnuppe. Wenn es um das Leben meines kleinen Mädchens ging, war mir alles recht.
     „Papa!“, protestierte Mari auch sogleich. „Nicht jetzt! Das können wir später besprechen!“
     „Nein, das besprechen wir jetzt!“ Ich wandte mich an Eris. „Stimmt das oder muss ich erst noch bei ihm da nachfragen?“ Ich war nur froh, dass Lao-Pao mich nicht verstand.
     „Ja, es stimmt“, gab Eris unbeeindruckt zurück.  
     „Ach, und das juckt dich so überhaupt nicht, ja?“
     Eris machte es mir nach und verschränkte die Arme. „Es ist ihre Entscheidung. Sie ist alt genug dafür.“
     „Alt genug? Sie könnte so alt sein, wie Abe, aber die würden sie da drüben trotzdem fressen!“, schnappte ich aufgebracht.
     Jetzt baute sich Mari vor mir auf. „Papa! Sie hat recht! Das ist meine Entscheidung!“
     Ich packte sie an den Schultern und sah ihr eindringlich ins Gesicht. „Mari, Liebes, hast du schon vergessen, was du da drüben gesehen hast?“
     Sie hatte es nicht vergessen, das sah ich in ihren Augen. Aber obwohl sie voller Angst waren, entwand sie sich meinem Griff. Erst jetzt sah ich, dass auch der Junge da war, mit dem sie immer rumrannte. Dieser Yunn, dem ich immer mal wieder den Hals dafür umdrehen wollte, wie der meine kleine Mari ansah. Er hatte den Ritus schon durchlaufen und er war inzwischen ein heißbegehrter Fang im Dorf. Ich konnte ihn schon allein deswegen nicht leiden, weil er sich unverkennbar an Mari ranmachen wollte. Ihr Blick huschte jetzt auch zu ihm, dann war die Angst aus ihren Augen verschwunden.
      „Ich werde das schon schaffen!“, erklärte sie fest. „Ich muss ja gar nicht zu den Menschenfressern. Ich soll nur etwas aus dem Wald dort holen.“
     „In dem die Menschenfresser leben.“
     „Der Wald ist groß. Sie werden mich gar nicht sehen.“
     „Nein, Mari!“, beharrte ich. „Das ist zu gefährlich!“
     „Hast du etwa gar kein Vertrauen in mich, dass ich es schaffe?“, versuchte sie, an mich zu appellieren. Aber es klappte nicht. Nicht bei dieser Sache. Nicht, wenn es um ihr Leben ging.
     „Das hat nichts damit zu tun! Ich will nicht, dass du da rüberfährst und dich in Gefahr begibst!“
     Jetzt machte auch sie dicht. „Ich werde es aber tun!“
     „Das wirst du nicht! Ich verbiete es!“
     Ich hatte ihr noch nie etwas verboten. Sie war immer vernünftig genug gewesen, um früher oder später auf meinen Rat und meine Bitten zu hören. Dass ich es jetzt tun musste, gefiel mir selber nicht, aber als ihr Vater hatte ich das Recht dazu.
     „Du kannst mir nichts verbieten!“ Und dann sagte sie etwas, das mich so tief traf, wie noch nie etwas in meinem Leben. „Du bist nämlich nicht mein Vater!
      Ich sah sie an, flehte darum, dass sie es zurücknehmen würde. Aber obwohl ich kurz Zweifel in ihren Augen flackern sah, blieb sie unnachgiebig. Und ich konnte nichts dagegen tun, dass sie ging. Und ich mich fühlte, als hätte man mir den Boden unter den Füßen weggerissen.

„Wenn man wütend ist, sagt man viele dumme Dinge, die man nicht so meint“, sagte Isaac gerade zum dritten Mal. Als müsste er sich selber davon überzeugen. Er hatte ein schlechtes Gewissen, dass er mich und Mari zum Streiten gebracht hatte, auch wenn das natürlich Unsinn war.
     Doch auch wenn ich wusste, dass er vermutlich recht hatte, wollte mein Herz nicht aufhören, zu bluten. Ich wollte gerade nichts sehnlicher, als mein kleines Mädchen, mit dem ich vor über anderthalb Jahren hierhergekommen war, in ein Boot zu setzen und mit ihr wieder von hier fortzufahren. Die Sonne schien so heiß, wie jeden Tag, der Himmel war strahlend blau und das Meer ruhig und wunderschön, aber ich war es nur noch leid, das zu sehen.
      Ich zerbrach die Schale, die ich gerade hatte weiterreichen wollen, vor Wut darüber, dass dieser Ort mir meine kleine Mari weggenommen hatte. Aber als ich das Blut sah, das über meine Finger lief und die Scherben in meiner Hand rot bemalte, beruhigte ich mich wieder. Nein, es war nicht dieser Ort, der mir Mari wegnahm, nicht die Leute, sondern die Zeit. Der Tag, vor dem ich mich so lange gefürchtet hatte, war gekommen. Ich wurde nicht mehr gebraucht.
      Als mir das bewusst wurde, war es nicht nur die Schale, die zerbrach, sondern auch ein Teil von mir. Isaac war sofort zur Stelle und nahm mir die kaputte Schale ab, aber ich ignorierte ihn.
     „Vielleicht sollte ich einfach gehen“, dachte ich und als ich es dachte, schien ich es auch zu sagen.
     Isaac machte jedenfalls große Augen. „Was redest du denn da? Du weißt doch, dass Mari dich liebt.“
     „Ich habe eher das Gefühl, dass ich sie störe“, meinte ich bitter.
     Da sprach Shana zu mir, die bislang am Feuer gesessen hatte, wo sie und Isaac mich gefunden hatten, nachdem Mari mir das Herz gebrochen hatte, und es war das erste Mal, dass sie mich überhaupt ansprach. Es wunderte mich, dass sie überhaupt mitbekommen hatte, über was Isaac und ich uns unterhalten hatten, da wir ja in meiner Sprache gesprochen hatten.
     „Mari ist deine Tochter, egal, ob du ihr leiblicher Vater bist oder nicht“, begann sie. „Sie denkt so und du tust das auch. Und das macht euch zu einer Familie. Auch wenn sie dich manchmal glauben lässt, dass du störst, heißt das nicht, dass du nicht mehr ihr Vater bist. Das wirst du immer sein. Sie wird nur erwachsen. Aber sie wird dich trotzdem immer lieben. Und wenn du jetzt gehen würdest, würdest du sie im Stich lassen. Dann bist du derjenige, der sie nicht liebt. Du solltest lieber lernen, zu akzeptieren, dass sie kein kleines Kind mehr ist und ihre eigenen Entscheidungen trifft. Auch wenn sie dabei vielleicht mal auf die Nase fällt. Sie wird wieder aufstehen. Und dann musst du da sein, um ihr aufzuhelfen.“
     Wie sie da saß, die Hand auf ihrem runden Bauch und sprach, war es kein Vorwurf, den ich in ihrer Stimme hörte. Es war mir, als würde sie aus jahrelanger Erfahrung sprechen, obwohl sie selber noch nicht einmal Mutter war. Dennoch schien sie mir in diesem Moment die weiseste Frau der Welt zu sein und ich konnte schon verstehen, warum Isaac sie sich genommen hatte.
     Plötzlich jedoch verzog sich ihr Gesicht vor Schmerzen. Isaac war sofort an ihrer Seite. „Ich glaube, es geht bald los“, verkündete sie.

Ich saß vor der Hütte, in der Shana schon seit Stunden immer wieder schrie und hing meinen ganz eigenen Gedanken nach. Der Regen, der inzwischen eingesetzt hatte, trommelte auf die riesigen Blätter der Urwaldbäume, aber ansonsten war es zwischen Shanas Schreien so still, wie schon lange nicht mehr. Selbst die Riesengrillen hatten zu schreien aufgehört. Da keinerlei Wind ging, sah es so aus, als würden lange Fäden vom Himmel fallen.
     Shanas Worte hatten mich zum Nachdenken gebracht. Ich hatte noch ein paarmal mit dem Gedanken gespielt, mir einfach ein Boot zu schnappen und abzuhauen, aber dann hatte ich erkannt, dass ich damit nur wieder weglaufen würde. Aber das konnte ich nicht mehr tun. Mari würde erwachsen werden und ich musste mich, verdammt nochmal, auch endlich so benehmen. Ich konnte nicht mehr davonlaufen wie ein kleines Kind, wenn mir etwas widerfuhr, was mir nicht passte. Also würde ich lernen müssen, Maris Entscheidungen zu akzeptieren. Wenn das nur mal nicht so verdammt schwer gewesen wäre. Und wenn diese Entscheidung nur nicht beinhaltet hätte, dass sie zu den Menschenfressern rüberfuhr!
     Ich fluchte und musste mich zusammenreißen, nicht wieder zu Mari zu gehen, um ihr zu verbieten, was ich ihr sowieso nicht verbieten konnte. Eigentlich sollte ich lieber gehen und mich bei ihr entschuldigen. Aber dazu konnte ich mich auch nicht bringen. Dass sie gesagt hatte, dass ich nicht ihr Vater sei, schmerzte noch immer zu sehr. Also stand ich nur weiter da, wurde nass und lauschte dem Lied der Regentropfen, das von Shanas Schreien begleitet wurde.

Es hatte aufgehört zu regnen und ich war zwischenzeitlich eingenickt, bis Isaac endlich wieder draußen erschien und mich aufgeregt ins Haus winkte. Als ich ins Innere schlüpfte, fand ich kaum einen Platz, an dem ich stehen konnte. Isaacs Mutter, die von Shana, und ich glaube eine Schwester von ihr waren auch noch da, und deshalb hatte ich alle Mühe, um überhaupt in die kleine Hütte zu passen.
     Ich hatte schon ein paar Geburten miterlebt, aber bis auf die letzte Geburt meiner Mutter, als sie Wolf und Gira geboren hatte, erinnerte mich an keine davon. Außer Wulfric hatte meine Mutter nur Zwillinge zur Welt gebracht. Ein kleines Wunder, hatte es unser Schamane genannt.
     Ein kleines Wunder war auch der kleine Knirps, den Shana da im Arm hatte und der gerade an Isaac überging, fand ich. Vor ein paar Stunden war er noch im Bauch seiner Mutter gewesen und jetzt tat er gerade lautstark seinen Unmut kund, dass man ihn raus in die Kälte gezerrt hatte. Ich konnte gar nicht glauben, dass wir alle mal so klein gewesen waren. Ich wurde ganz schwermütig, als ich mir Mari als Säugling vorstellte.
     Plötzlich stand Isaac mit dem Kleinen auf dem Arm vor mir und dann hatte ich ihn. Ich wusste gar nicht, wohin mit meinen Händen; ich hatte Angst, dass ich ihm wehtun könnte. Aber dann besann ich mich eines besseren. Ich hatte immerhin schon meine Geschwister gehalten, als die noch so klein gewesen waren.
     „Darf ich vorstellen: Wulfgar“, erklärte Isaac.
     Ich war zunächst verwirrt und dann ziemlich irritiert. „Du willst deinen ersten Sohn doch nicht etwa nach mir benennen?“
     Isaac tauschte einen liebevollen Blick mit Shana, die nickte. „Natürlich. Du hast mir zweimal das Leben gerettet. Ohne dich wäre ich heute nicht hier“, erklärte er. „Das ist das Mindeste, das ich da tun kann.“
     „Wenn das so ist, dann tust du mir echt leid, mein Kleiner“, sagte ich zu Klein-Wulfgar. „Ich wünschte für dich, meine Eltern hätten mir einen besseren Namen gegeben.“
     „Der Name ist wundervoll, mach dir keine Sorgen“, sagte Shana zu meinem Erstaunen, als Isaac ihr übersetzt hatte, über was ich mir Sorgen machte.
     „Ja, eines Tages werden sie Lieder über Wulfgar singen“, fügte Isaac hinzu. „Ist nur die Frage, über welchen Wulfgar sie das tun werden.“
     Er grinste ein bisschen überheblich, wie ich es von ihm überhaupt nicht kannte, und ich konnte nicht anders, als in sein darauffolgendes Lachen mit einzufallen, während mein kleiner Namensvetter sich noch immer lauthals darüber beschwerte, dass man ihm keine Aufmerksamkeit zollte.        

Als Mari ging, um ihren Ritus anzutreten, ließ ich sie schweren Herzens gehen. Aber ich war für sie da und ich sah, dass ich doch noch gebraucht wurde. Entgegen ihrer Worte hatte Mari Angst und ich war der Einzige, der es schaffte, sie zu beruhigen, bevor sie losfuhr. Wir vertrugen uns wieder und auch wenn ich sie nie wieder gehen lassen wollte, als wir uns umarmten, sah ich ihr mit einem mulmigen Gefühl im Bauch kurz darauf zu, wie sie in das Boot stieg und losfuhr.
      Die Zeit, in der sie weg war, verbrachte ich wie auf heißen Kohlen. Shana meinte, ich mache Klein-Wulfgar ganz verrückt, aber den Kleinen zu halten war das Einzige, das mich davon abhielt, Mari nachzufahren. Ich hatte so eine Angst um sie.
      Umso erleichterter war ich, als sie dann unversehrt endlich zu uns zurückkehrte. Yunn war darauf und daran, sie in den Arm zu nehmen, aber er hatte diesen Abend keine Chance gegen mich, und Mari ließ das zu. Einmal noch, bevor sie vielleicht zu groß wurde, um von ihrem Papa gehalten zu werden.
     Doch egal, wie erwachsen sie auch war, für mich würde Mari immer meine kleine Tochter bleiben.

Hier weiterlesen -> Kapitel 12 

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