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Dienstag, 6. November 2018

Kapitel 10 - Einsamkeit


Ich hatte irgendwann aufgehört, zu versuchen, die Sonne hinter den dichten Wolken zu erspähen, um zu erkennen, wie spät es eigentlich war. Der Bau des Segelbootes hielt mich auch ganz schön auf Trab, sodass ich die Zeit schnell vergaß. Trotz des Windes und der Wolken war ich bald schon ob der Anstrengungen nassgeschwitzt. Es gab einige Schwierigkeiten, aber letztendlich vollendeten wir unser Werk, noch bevor jemand kam, um uns zum Abendessen zu rufen.
    Isaac trat gerade von dem Boot zurück, das nun ein Kreuz an Pfeilern zierte, an das wir die zusammengenähten Tücher angebracht hatten. Ich war nur froh, dass meine Näharbeit scheinbar solide genug war, um gegen den Wind zu halten. Normalerweise hatte ich bei solchen Feinarbeiten zwei linke Hände, weshalb Isaac das immer übernommen hatte. Trotzdem machte ich mir ein bisschen Sorgen, wie der Wind an unserer armen Konstruktion riss.
     „Meinst du, es wird halten?“, ließ ich Isaac meine Zweifel wissen.
     „Im Wasser wird es besser“, entgegnete er und dann war er wieder zum Segelboot rübergegangen. „Komm! Lass es ausprobieren!“
    Ich dachte, er würde bloß spaßen, aber als er Anstalten machte, das Boot ins Wasser zu schieben, erkannte ich, dass er es ernst meinte. Sofort war ich bei ihm. „Was hast du vor? Das Meer ist viel zu unruhig für einen Testlauf“, warf ich ein.
    „Es gibt guten Wind. Das ist perfekt fürs Seh-gell.“
    „Das ist zu gefährlich!“, protestierte ich. „Es könnte jeden Moment anfangen, zu regnen und zu stürmen!“
     Isaac lächelte entwaffnend. „So sieht es den ganzen Tag aus. Hab Vertrauen! Ich weiß, was ich mache!“
    Ich hielt das Boot noch einen Augenblick länger fest, aber dann half ich ihm schließlich doch, unser Bauwerk ins Wasser zu schieben. Da es nur Platz für eine Person hatte, musste ich an Land bleiben. Isaac hatte es erdacht, also galt ihm die Ehre der ersten Fahrt. Und er musste sich ganz schön beeilen, ins Boot zu kommen, da es ihm beinahe davonfuhr. Ich war schon ziemlich erstaunt, wie schnell es war. Kein Ruderer könnte da mithalten. Nicht mal Kane.
    Fasziniert sah ich vom Strand aus zu, wie sich Isaac, fröhlich winkend und jubelnd, in unserem Segelboot immer weiter entfernte. Weiter und weiter. Wenn es so weiterging, würde er bald nur noch ein kleiner Punkt am Horizont sein. Es war wirklich beeindruckend, was Isaac da geschaffen hatte. Wenn ich so ein Boot haben würde, würde ich im Handumdrehen am Ende der Welt sein.
    Doch obwohl der Regensturm, den ich prophezeit hatte, ausblieb, war es trotzdem an der Zeit, dass Isaac langsam wieder umdrehte. Ich winkte ihm zu und er winkte zurück, um zu signalisieren, dass er verstanden hatte. Aber obwohl er die Ruder in die Hand nahm und ruderte wie verrückt, entfernte sich das Boot trotzdem weiter vom Strand. Es wurde zwar langsamer, aber es kam nicht zurück. Das erkannte jetzt auch Isaac, der die Ruder wieder zurücklegte und mir etwas zurief, das ich gegen den Wind keine Chance hatte, zu verstehen.
     Plötzlich baute sich hinter Isaac eine Welle auf, die sein Boot vollkommen unvorbereitet traf, als er gerade aufgestanden war, um das Tuch loszumachen. Es war nur ein kleines Fischerboot, mit dem sie ausschließlich bei gutem Wetter rausfuhren, um in der Lagune zu fischen. Aber für heftigeren Wellengang war es einfach nicht gemacht. Isaac hatte es wahrscheinlich auch nur ausgewählt, weil er kein größeres Boot hatte beschädigen wollen, falls etwas schief lief.
     Die Welle rollte einfach über das Boot hinweg und kippte es um, als wäre es eine Nussschale, und als es wieder zum Vorschein kam, war Isaac verschwunden. Mir blieb das Herz stehen, aber dann rief ich mir in Erinnerung, dass er ja schwimmen konnte. Also wartete ich gebannt darauf, dass er irgendwo wieder auftauchen würde. Aber die Momente verstrichen und Isaac blieb verschwunden.
     Panik ergriff mich, als mir der Gedanke kam, dass er nicht wieder auftauchen würde. Bevor ich wusste, was ich tat, hatte ich ein paar Schritte gemacht, aber sobald das Wasser meine Knie berührte, erstarrte ich wieder. Es war inzwischen besser geworden, meine Angst vorm Wasser, und ich konnte theoretisch schwimmen, aber ich hatte es trotzdem bislang nicht geschafft, das auch zu tun. Kane hatte mich immer in der Mitte festgehalten, während ich im Wasser die Bewegungen geübt hatte, um zu schwimmen. Er hatte sich köstlich über meine Feigheit amüsiert, aber schwimmen zu lernen war mir so wichtig gewesen, dass selbst das mir egal gewesen war. Trotzdem hatte ich es nie über mich gebracht, ohne Hilfe im Wasser zu sein.
     Jetzt jedoch war niemand da, um mir zu helfen. Und Isaac brauchte meine Hilfe! Ich konnte es mir nicht leisten, zu zögern oder Hilfe zu holen, wenn ihm die Zeit davonlief, aber ich hatte so eine verdammte Angst. Jedes Mal, wenn ich versuchte, einen weiteren Schritt zu machen, war es mir, als würden unsichtbare Hände mich festhalten. Mein Herz klopfte wie verrückt und trotz des kalten Wassers war so mir unerträglich heiß, dass ich kaum atmen konnte.
     „Komm schon! Komm schon! Ich schaffe das! Ich kann das!“, sagte ich mir, aber es half nichts.
     Ich sah das Boot noch immer mit der Unterseite nach oben im Meer treiben, aber von Isaac war nach wie vor nichts zu sehen. Er war irgendwo da draußen unter Wasser. Vielleicht hatte er sich den Kopf angeschlagen, vielleicht hatte er sich in irgendwelchen Wasserpflanzen verheddert oder den Fuß in den bunten Korallen eingeklemmt, die die Lagune bei klarem Wetter so herrlich bunt färbten. Die Vorstellung, wie er da unter Wasser war und um sein Leben kämpfte, wie er es nicht schaffte, nach oben zu kommen, während ihm die Luft ausging, ließ mir dann doch kalt werden. Ich war schon so oft untergegangen, dass ich genau wusste, wie er sich gerade fühlen musste. Und ich stand hier und kämpfte mit meiner dämlichen Angst, während er da draußen ertrank!
     Da schaltete mein Denken aus, und ich war erstmals froh darüber. Ich hechtete vorwärts, brach durch das immer höher steigende Wasser, und als es endlich tief genug war, sprang ich in die Fluten. Ich ging sofort unter, aber ich schob die Angst, die versuchte, nach mir zu greifen, beiseite und machte stur die Bewegungen, die sie mir in so vielen Stunden beigebracht hatten. Das Salzwasser brannte mir in den Augen, aber ich ignorierte das und versuchte, Isaac irgendwo in dem Dunkel, das mich umgab, ausfindig zu machen. Aber außer einigen Fischschwärmen, die wie kleine Schatten vor mir auseinanderschossen, fand ich nichts.
     Als mir die Luft knapp wurde, stieß ich mich vom Meeresboden ab nach oben. Ich brach durch die Oberfläche und schnappte erstickt nach Luft, dann ging ich wieder unter, um weiter zu suchen. Diesmal dauerte es noch kürzer, bis ich wieder hoch musste und obwohl ich langsam Erstickungserscheinungen hatte, zwang ich mich, einen kühlen Kopf zu bewahren. Ich legte mich flacher ins Wasser und dann schwamm ich endlich oben. Es war mehr ein Kampf ums nicht Untergehen, aber es ging gut genug, dass ich über Wasser blieb.
     Jetzt konnte ich auch endlich das Boot ausmachen, das noch immer von den Wellen hin- und hergeworfen wurde. Ich hielt darauf zu, schluckte unterwegs ein paar widerlich salzige Schlucke Meerwasser, und klammerte mich dann für einen Moment an das Boot, als ich es erreichte. Es war so glatt und glitschig, dass ich mich kaum daran festhalten konnte, aber es ging, um kurz zu Kräften zu kommen. Dann tauchte ich wieder unter.
     Isaac hatte Glück, dass die Wellen ihn nicht weit vom Boot entfernt hatten. Trotz des schwindenden Tageslichtes fand ich ihn schnell. Er trieb im Wasser und wie ich befürchtet hatte, regte er sich nicht. Also griff ich unter seine Achseln und zog ihn nach oben. Nur das Oben-bleiben war eine andere Sache. Die nächste Welle, die uns erfasste, entriss mir Isaac beinahe wieder. Ich wurde von seinem Gewicht nach unten gezogen und ich hatte alle Mühe, wieder nach oben zu kommen und Isaac dann auch über Wasser zu halten, damit er atmen konnte. Ich hatte keine Ahnung, ob er das überhaupt tat, aber ich hatte auch keine Zeit, um nachzusehen. Da kam schon die nächste Welle und es ging wieder runter.
     Ich weiß nicht, wie, aber irgendwie schaffte ich es, halb untergehend, halb schwimmend, Isaac und mich zum Boot zu bringen. Ich hatte keine Zeit gehabt, es umzudrehen – ich hatte verdammt nochmal auch nicht daran gedacht – weshalb ich nun wieder gezwungen war, hilflos Halt an dem glitschigen Holz zu suchen, während Isaac mich immer wieder runterzog. Meine Kleidung bestand nur aus einem leichten Überwurf, aber selbst das schien mir plötzlich tonnenschwer zu sein. Ich hätte sie ausziehen sollen, aber ich hatte nicht dran gedacht. Es war sinnlos. Ich war inzwischen so erschöpft und außer Atem, dass es mir immer schwerer fiel, uns über Wasser zu halten. Verzweifelt suchte ich den Strand nach irgendwelchen Leuten ab, aber da war immer noch niemand. Verdammt, ich hätte einfach Hilfe holen sollen!
     „Isaac!“, rief ich erstickt. „Komm schon, Mann! Wach auf! Ich könnte hier Hilfe gebrauchen!“
    Doch natürlich tat er mir nicht den Gefallen. Isaacs Augen blieben zu und ich konnte nichts tun, als erneut von der nächsten Welle unter Wasser gedrückt zu werden. Ich bekam uns wieder an die Oberfläche, aber ich wusste nicht, wie viel länger ich das noch aushalten würde.
     ‚Wenn es so weiter geht, muss ich Isaac zurücklassen‘, kam mir erstmals der Gedanke und ich verabscheute mich dafür. Ich schob ihn sofort zurück, als hätte ich nie daran gedacht und dann nahm ich nochmal alle Kraft zusammen, um uns Richtung Strand zu bringen. Wir gingen sofort wieder unter.

Schon so oft war es diese grimmige Entschlossenheit gewesen, die mich aus ausweglosen Situationen gerettet hatte. Wenn ich glaubte, keine Kraft mehr zu haben, hatte sie mir neue gegeben, wenn ich dachte, etwas nicht zu schaffen, hatte sie mich Höhenflüge machen lassen. Aber diesmal schien selbst meine Entschlossenheit machtlos zu sein gegen die Übermacht des Meeres. Es half wohl nichts, ich hatte immer so viel Glück gehabt, aber irgendwann verließ es wohl jeden einmal.
     Das dachte ich zumindest, als Isaacs Gewicht plötzlich von mir verschwand. Ich erschrak und dachte zuerst, dass er von den Wellen mitgerissen worden war. Panisch suchte ich das inzwischen pechschwarze Wasser ab, bis mir die Luft ausging und ich hektisch nach oben schwimmen musste. Nur kurz erlaube ich mir, einen Atemzug zu nehmen und ich wäre wahrscheinlich sofort wieder untergetaucht, wenn ich nicht plötzlich eine Bewegung aus den Augenwinkeln heraus wahrgenommen hätte. Als ich mich umdrehte, sah ich, dass es Ayra war, die Isaac nun in den Armen hatte und die mit einem verbissenen Gesichtsausdruck auf den Strand zuhielt.
     Im Gegensatz zu mir war sie scheinbar eine gute Schwimmerin, weshalb sie tatsächlich vorankamen. Ich musste zusehen, dass ich hinterherkam, aber ich war schon froh, dass ich nicht mehr andauernd unterging. Trotzdem schluckte ich noch eine ganze Menge Wasser, bevor ich endlich wieder festen Boden unter den Füßen hatte.  
     Ayra hockte da schon über Isaac gebeugt, der noch immer bewusstlos im Sand lag. Ich erlaubte mir kurz, zu verschnaufen und das Würgen zu unterdrücken, das das Meerwasser in meinem Bauch mir bereitete, dann stolperte ich zu ihnen. Ayra redete verzweifelt auf ihren Bruder ein, wusste aber sonst nicht, was sie tun sollte. Die resolute Frau so voller Angst zu sehen, jagte einen ungeheuren Schrecken durch mich. Da musste ich gar nicht erst in Isaacs inzwischen fahles Gesicht sehen. Eine große, hässliche Wunde klaffte an seiner Stirn. Und er atmete nicht.
     Bevor ich wusste, was ich tat, hatte ich Isaac an mich gedrückt und dann saß ich da, hielt ihn wie einen Säugling in den Armen und klopfte ihm hilflos auf den Rücken.
     „Isaac! Komm schon! Wach auf!“ Immer wieder rief ich seinen Namen, während die Angst mich fest im Griff hatte und nichts geschah. Ich wartete darauf, ihn atmen zu hören, aber alles, was ich hörte, war Ayras Schluchzen und Rufen. Schließlich besann sie sich und sprang auf die Beine, um lauthals schreiend Hilfe zu holen.  
     Ich beachtete sie nicht. Ich war so durchgefroren, dass meine Tränen beinahe heiß auf meinen Wangen brannten. Es war das erste Mal, seitdem ich hier war, dass mir kalt war und das nicht nur, weil ich gerade im eiskalten Meer gebadet hatte. Ich strich immer wieder über Isaacs Rücken, betete zu allen Göttern und konnte nicht verhindern, dass ich dabei heulte wie ein kleines Kind.
     Endlich spürte ich ein Zucken durch Isaacs Körper gehen. Er krampfte sich in meinen Armen zusammen, spuckte und hustete. Ich wagte aber nicht, ihn loszulassen, als würde das Meer ihn mir sonst wieder wegnehmen, also hielt ich ihn weiter, während er große Mengen Wasser auf mich und sich spuckte und sich dabei verzweifelt an mich klammerte. Sein Husten und Röcheln wollte gar nicht aufhören, wie es schien.
     „Beruhige dich!“, sagte ich sanft zu ihm. „Atme, Isaac! So, wie ich.“
     Ich machte es ihm vor. Nahm große, gleichmäßige Atemzüge, die auch mein Herz langsam wieder ruhiger schlagen ließen. Isaac brauchte noch etwas, doch dann entspannte auch er sich endlich wieder. Und während wir uns in den Armen hielten und ich alle Mühe hatte, meine Tränen zu zügeln, hörte ich, wie hinter uns Hilfe vom Dorf kam.

Isaac war der einzig richtige Freund, den ich hier hatte. Sicher, sie waren alle nett und gastfreundlich zu mir und Kane war auch in Ordnung, aber Isaac war der Einzige, der sich die Mühe gemacht hatte, meine Sprache zu lernen. Um mit mir zu reden. Mich zu verstehen. Mehr noch, als Eris. Ich hingegen hatte mir niemals die Mühe gemacht, die Leute hier zu verstehen. Weil ich nie vorgehabt hatte, zu bleiben. Deshalb war Isaac der einzige Freund, den ich in all der Zeit gewonnen hatte. Die Aussicht, ihn zu verlieren, hatte mir eine wahnsinnige Angst gemacht, und das nicht nur, weil ich beschlossen hatte, hierzubleiben.
     Ich nahm meinen Blick von Isaac, der gerade neben dem Feuer lag und schlief. Er würde es überleben, aber die Wunde an seinem Kopf war trotzdem schwer. Bis er wieder auf den Beinen war, würde es wahrscheinlich eine ganze Weile dauern. Wenn er jemals wieder so wurde, wie er vorher war.
     Ich wusste, dass er nur schlief, aber ihn so zu sehen, konnte ich gerade trotzdem nicht ertragen. Es erinnerte mich daran, dass ich ihn beinahe verloren hätte. Also erhob ich mich und verließ die kleine Hütte, in der er lebte. Die Frau, die ich manchmal bei ihm sah und die gerade neben ihm hockte, warf mir nur einen flüchtigen Blick zu, dann stand ich wieder im Freien, wo inzwischen ein sternenklarer Nachthimmel aufgezogen war.
     Das ganze Dorf saß um das große Feuer zusammen, das immerzu in ihrer Mitte brannte und das ihrem Schöpfer gewidmet war, wie Eris mir erzählt hatte. Als ich auf der Bildfläche erschien, verstummten die spärlichen Gespräche. Selbst Ayra, die Ausgestoßene, war da, wie ich sah. Sie hatte von ihrem Wohnort oben an den Klippen aus gesehen, wie Isaac mit seinem Boot hinausgefahren war und sie war ins Meer gesprungen, als sie gesehen hatte, dass ihr Bruder untergegangen und nicht wieder aufgetaucht war. Sie war mir gegenüber bislang reserviert und wahrscheinlich auch misstrauisch gewesen, aber als sie meiner jetzt ansichtig wurde, erhob sie sich und kam zu mir. Der Feuerschein spiegelte sich in ihren feuchten Augen, die mir verrieten, dass auch sie geweint hatte.
     Sie warf einen flüchtigen Blick über ihre Schulter zu Eris, die nickte, und sagte unsicher zu mir: „Danke!“ Dann trat sie nah an mich heran und legte ihre Stirn an meine, während sie die Segnung murmelte, die auch Isaac schon einmal für mich gesprochen hatte.
     Isaacs Mutter kam gleich danach, um das Gleiche zu tun. Es war immer noch ein bisschen merkwürdig, sie zu sehen, da sie aussah, wie Tara, aber ganz anders war. Ruhig und distanziert. Ayra hatte das von ihr, wie mir schien. Kane und Abe beließen es glücklicherweise bei einem anerkennenden Klopfer auf dem Rücken und einem kleinen Festmahl. Es gab die gelbe Frucht mit dem weichen, süßen Fleisch, die nur auf der Nachbarinsel wuchs und die eigentlich für ihre rituellen Zeremonien und besondere Anlässe vorbehalten war.
      Ich wollte eigentlich gerade lieber für mich sein, aber als ich in die versammelten Gesichter sah, erinnerte ich mich daran, dass ich hierbleiben würde. Also setzte ich mich zu ihnen. Wenn das mein Zuhause sein sollte, dann musste ich anfangen, es zu meiner Heimat zu machen. Und um das zu erreichen, musste ich anfangen, den Leuten hier eine Chance zu geben. Ich musste anfangen, sie zu verstehen.
     Und nicht nur das. Ich wollte endlich ehrlich sein. Zu ihnen und auch zu mir. Ich hatte keine Ahnung, ob ich es schaffen würde, allen gegenüber offen und ehrlich zu sein, und auch nicht, ob sie mich akzeptieren würden, aber ich würde es tun. Schritt für Schritt. Isaac war mein bester Freund hier und ich nahm mir vor, mit ihm anzufangen. Ich würde mich ihm offenbaren, sobald es ihm besser ging. Er war offenherziger als die Anderen, wie ich annahm, also hoffte ich, dass er es verstehen und mich annehmen würde. Vielleicht würde ich vor ihm endlich ein bisschen mehr ich selber sein können.
    ‚Und vielleicht wäre er mir ja auch nicht abgeneigt‘, konnte ich nicht verhindern, zu denken.
    Das war natürlich ziemlich unwahrscheinlich, aber ein bisschen hoffen konnte man ja.      
           
Ich war an diesem Tag so aufgeregt, wie lange nicht mehr. Isaac war heute das erste Mal aufgestanden und wie es schien, würde er wieder ganz der Alte werden. Er hatte abgelehnt, sich weiter auszuruhen und hatte stattdessen geholfen, Fischernetze auszubessern. Seine Mutter hatte ihm verboten, anstrengendere Dinge zu tun, also hatten wir beinahe den ganzen Tag beim Knüpfen von Netzen zusammen gesessen. Immer mal wieder war jemand vorbeigekommen, um nach Isaac zu sehen. Wie ich inzwischen zur Genüge hatte sehen dürfen, war Isaac überaus beliebt im Dorf. Die Frauen, die Kinder, die Alten, selbst die meisten der Männer schätzten ihn.
    Am Abend dann hatte ich gesehen, wie Isaac sich zum Strand davongemacht hatte. Wie ich annahm, wollte er nach seinem Boot sehen, das vor ein paar Tagen am Strand angespült worden war. Unsere Konstruktion war zwar in der Mitte zerbrochen und hatte größtenteils gefehlt, aber man konnte das Boot wieder hinkriegen.
     Als ich gesehen hatte, wie Isaac allein fortgegangen war, hatte sich mein Puls augenblicklich beschleunigt. Es war die Chance für mich, endlich mit ihm unter vier Augen zu reden. Ich hatte noch immer vor, meinen Entschluss, mich ihn zu offenbaren, durchzuziehen, aber als ich mich jetzt erhob, um ihm zu folgen, hatte ich schon ganz schön Muffensausen. Wenn Isaac mich ablehnen würde, würde mich das immerhin nicht nur schwer treffen, sondern vielleicht auch gefährden, dass ich mit – nein für Mari hierbleiben konnte. Ich glaubte nicht, dass er es rumerzählen würde, so schätzte ich ihn einfach nicht ein, aber es war alles möglich. Ich hatte immer noch keine Ahnung, wie sie auf Leute wie mich hier reagierten.
     Die letzten paar Tage, in denen Isaac mehr geschlafen, als wach gewesen war, hatte ich mir oft vorgestellt, wie es wohl wäre, wenn er mich auch mögen würde. Ich war darauf eingestellt gewesen, mein Leben allein zu verbringen, aber die Vorstellung, es vielleicht doch nicht tun zu müssen, war einfach zu verlockend. Plötzlich waren da so viele Momente, die mir aufgefallen waren. Wie er sich an mich geklammert hatte, nachdem ich ihn gerettet hatte. Dass er der einzige Mann war, der mich je gesegnet hatte, wobei man dem Anderen doch ziemlich nahe kommen musste. Sowieso schien er kein Problem damit zu haben, mir nahe zu sein. Er saß oft bei mir und wenn wir arbeiteten, berührten sich immer mal wieder unsere Schultern, Arme und Beine. Vielleicht tat er das ja auch mit Absicht. Und wenn er mich ansah, dann lächelte er immer.
     Und dann war da noch diese eine Sache gewesen, ein paar Tage, nachdem er von seinem beinahe komaartigen Schlaf aufgewacht war. Er hatte nach mir schicken lassen, um sich zu bedanken, aber auch, um mich zu bitten, eine Namensverbindung mit ihm einzugehen. Es war eine alte Tradition in Lao-Pao, in der zwei Menschen, die sich nahestanden, sozusagen eins wurden. Sie teilten von da an ihr Glück, aber auch all ihren Schmerz miteinander, so glaubten es die Leute hier zumindest. Um das zu symbolisieren, wurden die Namen miteinander getauscht. Ich wäre von da an also Isaac gewesen und er Wulfgar. Abe hatte das wohl auch einst mit seinem jüngeren Bruder gemacht. Stellte ich mir jedenfalls lustig vor, wenn ein Mann und eine Frau die Namen tauschten. Aber da ich kein Mitglied ihrer Gemeinschaft war, war uns das leider verboten worden, was Isaac überhaupt nicht gepasst hatte. 
     Diese ganze Sache mit der Namensverbindung war natürlich nichts, was irgendwelche romantischen Gefühle füreinander voraussetzte. Aber ich konnte nicht verhindern, dass ich es trotzdem einfach hoffte. Ich konnte mir jedenfalls gut vorstellen, Isaac an meiner Seite zu haben. Er hatte auch alles, was ich an einem Mann mochte. Mal ganz davon abgesehen, dass er wahnsinnig gut aussah, war er schlau und spitzfindig. Ich mochte es, dass er immer sagte, was er dachte und wie geschickt er mit seinen Händen arbeiten konnte.
     Als ich daran dachte, ihn wieder so nahe vor mir zu haben, wie damals, als er seine Stirn an meine gelegt hatte, sein Gesicht, das mein ganzes Sichtfeld ausgefüllt hatte, schoss mir das Blut in die Wangen und mir wurde heiß. Ich beschleunigte meinen Schritt unbewusst und vielleicht verirrte sich auch ein kleiner, vergnügter Hüpfer in meinen Gang, als ich die Dünen erreichte, die zum Strand runter führten. Doch da erstarrte ich plötzlich.
     Ein Geräusch, das ich schon beim Näherkommen bemerkt hatte, aber erst jetzt realisierte und erkannte. Es war ein Stöhnen, und obwohl ich es nicht genau wusste, war ich mir ziemlich sicher, dass es von Isaac kam. Ich dachte aber nicht einmal daran, dass er noch verletzt sein könnte, so klar und deutlich hörte ich, dass es nicht schmerzerfüllt war. Da erschrak ich bis ins Innerste. Ich brauchte gar nicht das leise, hohe Seufzen zu hören, das sich nun unter das Stöhnen mischte. Plötzlich fühlte ich mich so nackt, obwohl ich nicht wusste, warum. So ertappt. Ich wollte wegrennen, aber ich war an Ort und Stelle erstarrt.  
     Da stand ich nun, oben auf der Düne, nur die bräunlich-grünen Sträucher, die hier überall wuchsen und die sanft in der seichten Meeresbrise wogten. Ihr Rauschen war beinahe wie das des Meeres, aber ich hörte nur, was sich da unter mir abspielte und das ich nicht sehen konnte. Ich weiß nicht, wie lange ich da stand und mir das antat. Ich wollte es nicht sehen und ich wollte es nicht mehr hören, aber ich konnte mich einfach nicht dazu bringen, von hier fortzugehen.
      Irgendwann wurde es still und das war es eine ganze Weile, in der ich nichts anderes tat, als dazustehen und darauf zu warten, dass irgendetwas passierte. Dass mich eine Erkenntnis traf oder wenigstens ein Blitz. Dass ich endlich die Kontrolle über meinen Körper zurückerlangte. Aber das passierte nicht. Stattdessen kamen irgendwann zwei Schemen in meine Sichtweite. Sie schlenderten den Strand entlang, Arm in Arm, und ich konnte nicht einmal mehr hoffen, dass sie mich nicht entdecken mochten. Mein Kopf war wie leergefegt.
     „Wulf! Was machst du?“, hörte ich Isaac fragen. Ich konnte nicht antworten. Ich starrte nur vor mich hin. „Was ist los? Du siehst krank aus.“
     Sein Gesicht erschien vor mir und mein Blick schreckte hoch, streifte ihn und die Frau, die verunsichert hinter ihm stand. Sie hatte ein hoheitliches Gesicht mit ausgeprägten Wangenknochen, mandelförmigen Augen und schmalen Lippen unter einer flachen Nase. Sie war ein bisschen kleiner als Isaac, ich schätzte sie so groß wie Eris, nur, dass sie nicht so kräftig aussah, wie sie. Es war die, die manchmal bei ihm gewesen war. Nein – die oft bei ihm gewesen war. Immer, wenn ich hingesehen hatte, war sie da gewesen. Ich hatte sie nur nicht sehen wollen. Ich kannte nicht einmal ihren Namen.
     Plötzlich war es mir, als wären alle anderen Menschen so weit weg von mir. Als würde ich niemals zu ihnen gehören und es gäbe niemanden, der mich je verstehen würde. Ein Wolf unter Schafen. Warum nur war ich so anders, als alle anderen? Warum gab es niemanden, der mich verstand? Der so war, wie ich? Ich war es so leid, mich zu verstecken und vorzugeben, jemand zu sein, der ich nicht war.
     Mit einem Mal sah ich meinen Vater vor mir. „Benimm dich endlich wie ein Mann“, sagte er und verpasste mir eine dafür, dass ich auf der Versammlung geheult hatte. Mein Bruder Wulfric, der lachte: „Du bist wie ein Mädchen. Wahrscheinlich sollten du und Greta Zwillingsschwestern werden, aber dann ist was schiefgegangen.“ Samuel, der mich zu Boden stieß und mit dem Finger auf mich zeigte. All die anklagenden Blicke der Anderen. Jin, der vor mir stand. „Weißt du, ich hab nur einmal gesehen, wie der sich geprügelt hat, und das war mit mir. Und dabei…“ Die Abscheu in seinem Gesicht, dass ich ihm im Nachhinein am liebsten dahin getreten hätte, wo es wehtat. „Naja, es hat ihn wohl angemacht oder so…“
     Plötzlich war da eine Dunkelheit in mir, die mich zu verschlingen drohte.
     Doch dann war da Gretas zweifelndes Gesicht, als ich es ihr erzählt hatte. Sie hatte es nicht verstanden, aber sie hatte es immerhin akzeptiert. Sie hatte mich in den Arm genommen. Ihre Trauer, dass ich gehen wollte, ihr leuchtendes Gesicht, als sie mir erzählte, dass sie jemanden gefunden hatte „der so ist, wie du“. Lu, der aufgebracht vor mir stand. Schnee um uns herum. „Greift es dich etwa auch so sehr in deinem männlichen Ego an, dass ich anders bin?“
      Ich fühlte mich allein und verloren auf der Welt. Aber das war ich eigentlich nicht. Da war immer noch Lu, der so war, wie ich. Jemand, der mich verstand. Der wusste, wie es mir ging. Und Greta, meine Zwillingsschwester, die immer zu mir gehalten hatte.
      Ich sah Isaac in die Augen, die so waren, wie Lus, und da klärte sich mein Blick wieder. Das erste Mal, seitdem er aufgetaucht war, sah ich ihn wirklich an. Ich zwang mir ein Lächeln auf die Lippen. „Oh, entschuldige! Ich war in Gedanken“, log ich schnell. „Hast du was gesagt?“
     Ich bemerkte den Zweifel in seinen Augen. „Du siehst aus, als ob du krank bist.“
     „Ich hab an die Vergangenheit gedacht. Ein paar unschöne Sachen. Tut mir leid, wenn ich dich erschreckt hab.“ Ich wies auf seine Begleitung, die noch immer verunsichert wartete. „Ich geh dann lieber. Ich will nicht stören.“
     Also ging ich. Ich ließ die beiden stehen und ich sah auch nicht zurück. Keine Ahnung, ob Isaac mir glaubte oder nicht, aber es war auch nicht mehr wichtig. Ich hatte mit ihm abgeschlossen. Von heute an war er wieder nur noch mein Freund. Und als Freund sollte ich doch glücklich für ihn sein, wenn er es war, nicht wahr?

Es ging mir trotzdem dreckig, als ich wieder allein mit mir und meinen Gedanken war. Ich war ums Dorf herumgeschlichen und die nahegelegene Klippe raufgeklettert. Der Dschungel hatte seine Arme bis hierher ausgestreckt, aber sie hatten nicht bis an den Rand der Klippen gereicht. Ein verirrter Bananenbaum stand da, aber ansonsten gab es nur Sträucher und Büsche. Trotzdem war der Platz vom Wald eingekreist und das machte ihn so wunderbar abgelegen. Ich liebte es hier. Es erinnerte mich ein bisschen an Zuhause. An den Platz an den Klippen neben meinem Elternhaus.
     Auch dorthin war ich oft gegangen, wenn ich für mich hatte sein wollen. Ich wollte im Moment eigentlich nicht allein sein – ich fühlte mich momentan zu allein. Einsam. Ich war lange nicht mehr so einsam gewesen.
     Trotzdem konnte ich die Anwesenheit anderer Menschen gerade einfach nicht ertragen. Also war ich hier hochgekommen, hatte mich an den Rand gesetzt und die Beine baumeln lassen. Unter mir brandete das Meer pechschwarz gegen die Felsen. Links konnte ich den Lichtschein von Ayras Feuerstelle sehen. Wahrscheinlich war Eris wieder bei ihr. Das war sie oft. Und vor mir ein schier endloser Sternenhimmel unter dem sich der ebenso endlose Ozean erstreckte. Was mich wohl am Rand der Welt erwartete? Einen Moment lang war ich versucht, aufzustehen und nach vorn zu springen. So weit ich konnte, hinein in das glitzernde Nass unter mir, aber ich bezweifelte, dass ich es bis zum Horizont schaffte. Also ließ ich es bleiben, steckte den Kopf in den Nacken und genoss das Gefühl, als der Wind mir die Haare aus der Stirn blies.
     Einen Moment lang konnte ich das Denken noch abhalten, über mich hereinzubrechen und konnte den Frieden genießen, der mich gerade ergriffen hatte. Dann aber kehrte die Einsamkeit zu mir zurück und wrang mir mein Innerstes aus.     
     ‚Was soll ich nur machen?‘, dachte ich.
     Es war dumm gewesen, zu hoffen, dass Isaac mich mögen würde, aber ich würde trotzdem hierbleiben. Nur, sollte ich mich ihm immer noch offenbaren? Ich hatte irgendwie nicht mehr den Mut dazu. Ich hatte noch nie jemanden, an dem ich interessiert gewesen war, an eine Frau verloren. Das lag wahrscheinlich daran, dass ich mir nie erlaubt hatte, mir bei jemandem Hoffnungen zu machen, wenn ich nicht wusste, dass derjenige auch so war, wie ich. Um nicht enttäuscht zu werden. Weshalb es bislang eigentlich nur Lu gewesen war, dem ich mich versucht hatte, zu nähern.
     Während ich noch in Selbstmitleid versank, brach links von mir plötzlich Mari kichernd durch die Büsche. Ihr folgte ein Junge, den ich in letzter Zeit viel zu häufig bei ihr gesehen hatte. Dementsprechend erstarrten beide jetzt auch, als sie mich bemerkten. Und ich war sofort auf den Beinen.

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