Ich war nie wirklich gut im Umgang mit Frauen. Sie waren
für mich so ein Mysterium, dass ich mich oft fragte, ob sie sich überhaupt
selbst verstanden. Es muss nicht erwähnt werden, dass ich auch nicht wirklich
gut bei ihnen ankam. Ich glaube viele schätzten es, dass ich keine blöden
Kommentare abzog, wenn sie in der Nähe waren, und sie auch sonst nicht mit
Blicken auszog, wie andere Kerle, aber da hörte es auch schon auf.
Früher, als
ich noch mein kindliches „Mädchengesicht“ gehabt hatte, wie Wulfric immer
hämisch gesagt hatte, war das anders gewesen. Da waren alle Frauen ganz
entzückt von mir gewesen und ich werde nie Wulfrics blödes Gesicht vergessen,
als Samuels Schwester, auf die er ganz scharf gewesen war, nicht die Augen von
mir abwenden hatte können und von ihm nichts hatte wissen wollen – wie üblich.
Wulfric hatte
es ganz vortrefflich verstanden, Frauen abzuschrecken. Nachdem ich erkannt
hatte, dass ich lieber kein Frauenheld sein wollte, hatte ich ihn mir zum
Vorbild gemacht. Ich hatte mein Bestes getan, um möglichst räudig und
abgerissen auszusehen, obwohl ich sonst immer für meine Reinlichkeit bekannt
gewesen war. Ich hatte angefangen laut zu rülpsen, zu furzen und unflätige
Sprüche zu klopfen – kurzum: Ich hatte alles
getan, um möglichst abschreckend auf Frauen zu wirken und ich kann heute stolz
von mir behaupten, dass ich das gut hinbekommen habe. Ich hatte noch immer
diese Wirkung auf sie (leider aber auch auf Männer, wie es schien).
Deswegen war
ich ein bisschen irritiert, dass ich Eris seit einer Weile immer wieder dabei
ertappte, wie sie mich ansah. Die Götter mochten wissen, was in ihrem Kopf
vorging, ich hatte jedenfalls keine Ahnung. Ich konnte ihre Blicke einfach
nicht deuten. Alles, was ich wusste, war, dass es mir jedes Mal eiskalt den
Rücken runterlief, wenn ich sie beim Starren erwischte. Ich fühlte mich ein
bisschen so wie damals, als Ura mich nackt überfallen hatte.
Auch jetzt
starrte sie mich an, als ich am Feuer zwischen ihr und Isaac saß. Ayra saß
neben ihrem Bruder und nahm gerade die Kokosnuss entgegen, die Isaac für sie
geöffnet hatte. Die beiden Geschwister waren mit ihren ganz eigenen Dialog
beschäftigt, von dem ich nichts verstand, während ich von Eris in Grund und
Boden gestarrt wurde.
„Von was
sprecht ihr?“, fragte ich Isaac schließlich, als ich es nicht mehr aushielt.
„Das… ähm…
Dach hat ein Loch. Ich will es gleich ganz machen.“
Sofort war ich
auf den Beinen. „Oh, ich liebe Dachreparaturen!“, schwindelte ich. „Lass mich
das machen!“
Ayra sah mich
zweifelnd an und das tat sie auch noch, als Isaac ihr gesagt hatte, was ich
vorhatte. Trotzdem nickte sie.
„Sie hat
Blätter hinter dem Haus“, wies Isaac mich an.
Ich durfte
also eine Kletterpartie auf das windschiefe Häuschen wagen und ich war froh,
dass es mich überhaupt aushielt. Es hatte jedenfalls nicht so ausgesehen. Die
kaputte Stelle war schnell gefunden und das Palmenblatt im Handumdrehen
ausgetauscht. Was mich ganz froh machte, da ich nicht allzu gut mit Höhen war.
Als ich dann aber wieder nach unten kam,
hatte sich meine Freude in dem Moment aus dem Staub gemacht, in dem ich sah,
dass Eris allein am Feuer saß. Ich zögerte und überlegte echt kurz, ob ich mich
nicht einfach in den Wald verdrücken sollte. Giftige Insekten schienen mir
gerade jedenfalls eine bessere Gesellschaft zu sein, als sie.
Ich ging
trotzdem zu ihr und ließ mich ihr gegenüber am Feuer nieder. „Wo sind Isaac und
Ayra?“
„Er hilft ihr
drinnen mit was.“ Auch wenn sie nicht sagte, mit was. Stattdessen begann sie
wieder, mich mit ihrem unheimlichen Blick zu traktieren.
„Sag mal,
warum starrst du mich die letzte Zeit immer so an?“, hielt ich es schließlich
nicht mehr aus.
Ich glaube,
sie sah ertappt aus, aber das hinderte sie trotzdem nicht daran, mich wieder
anzustarren, dass mir angst und bange wurde. „Planst du, wieder von hier
fortzugehen?“, fragte sie plötzlich.
„Schon.“
Eiskalter
Blick von ihr. „Wann?“
„Ich weiß
noch nicht. Aber bald, denke ich.“
Sie wandte
sich ab und ich hatte immer noch keine Ahnung, was mit ihr los war. Es gefiel
mir jedenfalls nicht, in welche Richtung das ging.
„Hast du schon
mal daran gedacht, einfach hierzubleiben?“
„Nein“,
erwiderte ich entschlossen.
„Warum nicht?
Ich weiß, dass sie normalerweise keine Außenseiter in ihren Stamm aufnehmen,
aber ich bin mir sicher, dass sie bei dir eine Ausnahme machen. Du hast Isaac
das Leben gerettet. Du könntest einfach ihre Prüfung ablegen und ein Teil des
Stammes werden. Dann würdest du bestimmt auch eine Frau finden und könntest
dich hier niederlassen.“
„Ich will mich aber nicht niederlassen!“,
antwortete ich gereizt.
„Warum nicht?“
„Warum muss
ich mich vor dir erklären, warum ich das nicht will?“, gab ich jetzt lauter
zurück. „Ich will es einfach nicht!
Und das geht dich nichts an!“
Eris sah einen
Moment lang wirklich erschrocken aus, weshalb es mir plötzlich leid tat, dass
ich laut geworden war. Es war nur so, dass ich schon viel zu oft diese Unterhaltung
hatte führen müssen. Ich war es einfach leid, das zu tun.
„Und hast du
schon mal an Mari gedacht?“, rückte sie endlich mit dem wahren Grund raus.
„Dass du sie dauernd in Gefahr bringst?“
Sie traf mich
damit völlig unvermittelt. Natürlich hatte ich schon an Mari gedacht. Ich
dachte andauernd an sie. Und ich hatte mir geschworen, sie nicht mehr in Gefahr
zu bringen, das hatte ich auch nicht vergessen. Nur wusste ich leider überhaupt
nicht, wie das funktionieren sollte. Eine Reise war gefährlich, das wusste ich.
Das mussten mir die Leute nicht immer wieder sagen, egal, wo ich auch hinging,
dass sie das nicht verstehen konnten, dass ich Mari durch die Welt zog.
Eris seufzte,
als ich nichts mehr dazu sagte. „Siehst du, Mari fühlt sich wohl hier. Sie will
hierbleiben.“ Es war für mich wie ein Stich mitten ins Herz, das zu hören. Aber
es war nichts, was ich nicht auch schon bemerkt hatte. „Aber sie will nicht
ohne dich hierbleiben. Ich weiß ja, wie viel du ihr bedeutest. Ich rechne dir
auch immer noch hoch an, dass du sie vor Eren gerettet hast. Aber sie ist mir
auch wichtig.“
Erneut
herrschte einen Moment lang Stille, sodass nur das knackende Knistern des
Feuers zwischen uns zu hören war. Doch obwohl ich genau davorsaß, war mir kalt
geworden.
„Weißt du,
weil sie mich hier als Stück vom Mond verehren, bin ich für sie unantastbar“,
fuhr Eris mit einem bitteren Gesicht fort. „Das bedeutet, dass niemand mich
anfassen darf. Und das bedeutet auch, dass ich niemals ein eigenes Kind haben
werde. Niemals eine eigene Familie.“
„Lassen sie
dich etwa nicht mehr gehen?“, fragte ich erschrocken, auch wenn ich es mir
nicht vorstellen konnte. Es passte einfach nicht zu den Leuten hier.
Eris
schüttelte auch den Kopf und ihre hellen Haare flogen dabei wie Lichtstrahlen
um sie herum. „Nein, natürlich nicht! Sie würden niemals ein Kind ihres
Schöpfers gegen dessen Willen festhalten. Es ist nur“, plötzlich legte sich ein
gequältes Lächeln auf ihre Lippen, „dass ich nicht mehr weggehen will. Diese
Leute hier sind meine Familie geworden. Mehr noch, als es meine eigene jemals
gewesen war. Ich liebe sie und ich liebe es hier, aber es bedeutet auch, dass
ich kinderlos bleiben werde.“
Ich schwieg betroffen und auch Eris hing
einen Moment lang ihren eigenen Gedanken nach, bevor sie ernst fortfuhr: „Nicht
nur deswegen bin ich froh, dass du Mari hergebracht hast. Sie ist mir sehr ans
Herz gewachsen.“
Das war mir
auch schon aufgefallen. Mari und Eris waren von Anfang an ein Herz und eine
Seele gewesen. Manchmal kam ich auch nicht umhin, zu denken, dass Eris wirklich
Maris Mutter war. Sie war jedenfalls herzlicher zu ihr, als Ura es jemals
gewesen war, und ich sah, dass Mari sie auch liebte.
„Ich kann
Mari aber nicht einfach hierlassen“, antwortete ich nach langer Überlegung.
„Ich habe sie einmal versucht, zurückzulassen, und ich habe ihr sehr wehgetan
damit. Ich werde das nicht nochmal machen.“
„Dann bleib
doch einfach hier!“, meinte Eris plötzlich inbrünstig.
„Ich… kann
nicht!“
„Warum nicht?“
„Das verstehst
du nicht!“
„Dann erkläre
es mir doch!“
„Ich…“, verstand es selber nicht.
Wir starrten
uns an, während eine Windböe mir die Haare ins Gesicht schlug und die von Eris
gegen die Hauswand wehte. Als die ersten Regentropfen niedergingen, erhob ich
mich schließlich.
„Das ist meine
Sache!“, wiederholte ich.
„Denkst du
auch mal an Mari? Dass du sie in Gefahr bringst?“
„Ich denke
immer zuerst an Mari! Und ich werde sie nicht mehr in Gefahr bringen.“ Nur
hatte ich noch keine Ahnung, wie ich das anstellen sollte. Trotzdem behauptete
ich: „Ich werde sie beschützen.“
Ich wandte
mich ab und ging aufs Haus zu. „Wir sollten reingehen. Es fängt an, zu regnen.“
Als ich sie
passierte, griff Eris nach meinem Arm. Ihre Augen waren so flehentlich auf mich
gerichtet, dass sich ein Knoten in meinem Magen bildete. „Nimm mir Mari nicht
weg!“, sagte sie nur, aber ich konnte ihr nicht mehr antworten.
Ich wollte nie, dass dieser Teil von mir mein Leben
derart bestimmen würde. Aber das hatte es letztendlich getan, egal, was ich
auch versucht hatte. Es war der Grund gewesen, warum ich von Zuhause
weggegangen war, warum ich nirgends hatte bleiben können, und warum es mich
auch jetzt wieder von hier fortzog. Mal ganz davon abgesehen, dass ich mich
hier einfach nicht heimisch fühlte.
Heimat war für
mich immer der Ort gewesen, an dem meine Familie gewesen war. Meine Eltern und
Geschwister. Man mag es vielleicht nicht glauben, aber ich habe immer sehr an
meiner Familie gehangen. Seitdem ich weiß, dass ein Teil von mir anders ist, als
bei ihnen, habe ich mich zwar ein wenig von ihnen entfremdet, aber ich habe sie
immer geliebt. Und deswegen hatte ich sie auch nicht verlassen wollen.
Trotzdem war
ich gegangen. Und warum? Weil ich mein Leben wieder von diesem kleinen Teil von
mir hatte bestimmen lassen. Weil ich so eine verdammte Angst davor hatte, mich
ihnen zu offenbaren. Ich wünschte wirklich, es hätte keinen Grund dafür
gegeben, aber so war es leider nicht.
Als ich das
erste Mal gesehen habe, wie zwei Männer beieinander waren, war ich noch ein
Kind. Ich weiß noch, wie meine Eltern mich angesehen hatten, als ich ihnen
davon erzählt hatte. Als hätte ich ihnen gerade gesagt, ich hätte jemanden
umarmt, der ansteckende Pusteln im Gesicht gehabt hatte. Meine Mutter hatte
aufgebracht gesagt, dass ich vergessen sollte, was ich gesehen habe und bloß
nie wieder davon reden solle. Mein Vater hatte gar nichts dazu gesagt, aber das
hatte er auch gar nicht gebraucht. Ich hatte gewusst, dass er genauso dachte.
Ich hatte die Abscheu in seinem Gesicht gesehen. Und ich werde nie vergessen,
was er mit Guthar gemacht hat, nachdem er die Hündinnen nicht hatte decken
wollen und lieber zu den Rüden gegangen war. Ich habe diesen Hund geliebt und
ich werde ihnen nie verzeihen, dass sie ihn getötet haben. Damit er „die
anderen Rüden nicht ansteckte“, hatten sie gesagt.
Deswegen habe
ich niemals daran gedacht, mich ihnen zu offenbaren. Als ich begriff, dass ich
nicht war, wie alle anderen, war das wie ein Schlag für mich gewesen. Ja, es hatte
Zeiten gegeben, in denen ich gehofft hatte, dass ich mich nur irren würde. Dass
ich einfach noch nicht das richtige Mädchen getroffen hätte und sich alles
schon ändern würde, wenn ich sie nur traf. Aber es hatte sich natürlich nicht
geändert.
Also war mir
gar nichts anderes übrig geblieben, als es zu akzeptieren und mich zu
verstecken. Mich und alle anderen anzulügen. Ich habe mich verändert, koste es,
was es wolle, bis ich mich selber kaum wiedererkannt habe. Und ich wäre
zufrieden damit gewesen, einfach den Hof mit Greta zusammen zu übernehmen. Auf
sie und ihre Familie aufzupassen. Auch wenn das bedeutete, dass ich allein
bleiben würde.
Ich war bereit
dazu gewesen, aber ich wusste, dass meine Eltern das nicht akzeptiert hätten. Mein
Vater hatte sich in den Kopf gesetzt, dass sein ältester Sohn den Hof
übernehmen sollte und nach Wulfrics Tod bin ich das gewesen. Schon bevor die
Flut meinen älteren Bruder geholt hatte, hat mein Vater mir immer gesagt, ich
solle mich endlich wie ein richtiger Mann benehmen, sonst würde ich nie eine
Frau finden. Das hat mir tief drinnen wahnsinnig wehgetan, weil ich wusste,
dass er mich ablehnte. Aber ich wusste auch, dass er es nicht besser wusste. Er hatte keine Ahnung, wie ich wirklich
war.
Solange wir
unterwegs gewesen waren, war ich nicht in die Verlegenheit gekommen, mir eine Frau
zu suchen und den Hof übernehmen zu müssen. Und es gab wirklich Zeiten, in
denen ich mit dem Gedanken gespielt habe, das einfach zu tun. Wenn ich schon
alle anlog, warum dann nicht gleich richtig? Aber die Aussicht, nicht nur mich,
sondern auch eine arme Frau anzulügen, war mir immer zuwider gewesen.
Deswegen war
ich zum Uruk-Stamm gegangen, als wir uns wieder niedergelassen hatten. Ich
hatte gewusst, dass es nicht mehr lange gedauert hätte, bis meine Eltern wieder
damit angekommen wären, dass ich endlich eine Familie gründen sollte. Und
diesmal war keine Flut da gewesen, um mich zu retten. Also war ich gegangen,
und ich glaube, dass meine Eltern ganz glücklich damit gewesen waren, weil sie
gedacht hatten, dass ich mir beim Uruk-Stamm eine Frau suchen wollte. Natürlich
hatte ich das nie vorgehabt. Ich hatte damals schon den Entschluss gefasst, zu
gehen.
Und ich habe
es getan. Auch wenn ich dafür meine Eltern hatte vor den Kopf stoßen müssen,
etwas, das ich niemals hatte tun wollen. Das weinende Gesicht meiner Mutter,
als ich es ihnen gesagt habe, verfolgt mich bis heute. Die Enttäuschung meines
Vaters. Er hatte nicht einmal mehr mit mir gesprochen. So wie bei Dana damals,
als sie einfach gegangen war. Da hatte ich ja schon ein schlechtes Gewissen
gehabt, dass ich so getan hatte, als wäre ich sauer auf sie gewesen. Obwohl ich
das natürlich nicht gewesen war. Im Gegenteil. Ich hatte ja gewusst, dass sie
meine Frau werden sollte und ich war dankbar gewesen, dass sie den Mut besessen
hatte, zu gehen.
Ich habe lange
gebraucht, um diesen Mut zu finden, und seitdem war ich auf der Flucht. Vor
einem kleinen Teil von mir, von dem ich mir geschworen hatte, dass er mein
Leben niemals bestimmen sollte und der es trotzdem getan hatte. Auch jetzt
noch. Obwohl da inzwischen wieder jemand war, für den es sich lohnte, zu
bleiben. Bislang war das nicht so gewesen, bislang hatte auch Mari nirgends
bleiben wollen, aber jetzt war das anders. Und ich liebte das Mädchen wie meine
eigene Familie. Nein, sie war inzwischen
meine Familie geworden. Wie konnte ich ihr also ausschlagen, an einem Ort zu
bleiben, der für sie Zuhause war? Wie konnte ich sie dazu zwingen, mit mir zu
kommen und sie in Gefahr bringen?
Als mir das
bewusst wurde, versteifte ich mich. Ich konnte nicht gehen. Ich würde nicht mehr von hier fortgehen,
weil Mari es nicht wollte. Sie wollte bleiben und sie wollte, dass ich blieb. Also würde ich das tun,
obwohl ich das nicht wollte. Weil Mari meine Familie und damit mein Zuhause geworden
war.
Der Schrecken
über diese Erkenntnis saß tief und deswegen dauerte es etwas, bis mir bewusst
wurde, dass sich jemand neben mich gesetzt hatte. Meine Augen glitten leer über
das, was da neben mir in den Dreck gemalt wurde und der einzige Gedanke, den
ich mir erlaubte, war: ‚So sieht doch
kein Boot aus!‘
Also sagte
ich das und zeigte, wie es richtig ging. Isaac beugte sich daraufhin nach vorn,
um mein Werk zu begutachten, und als er mich ansah und mit seinen Augen
fesselte, erstarrte ich.
Plötzlich war ich in der Vergangenheit. Lu, der neben mir
im Schnee saß und arrogant behauptet hatte, dass er besser Boote malen konnte,
als ich. Was auch stimmte, wie ich wenig später hatte herausfinden dürfen.
Dann wechselte
die Landschaft. Wir standen am Strand, Lu hatte eine Angel in der Hand, ich
versuchte gerade, ihn dazu zu bekommen, dass er sich mit mir prügeln würde. Ich
prügelte mich mit allen Kerlen, denen ich begegnete, weil ich nicht wollte, dass
sie dachten, ich sei schwach. „Nicht Manns genug“, wie mein Vater immer gesagt
hatte. Ich wollte nicht, dass jemand erfuhr, dass ich anders war. Doch es wäre
gelogen, wenn ich behauptet hätte, dass das der Grund war, warum ich mich so
unbedingt mit Lu hatte prügeln wollen. Ich hatte ihm nahe sein wollen, weil er
so war, wie ich, wie ich wusste.
Greta hatte
mir davon erzählt. Sie war ganz aufgeregt vom Uruk-Stamm zurückgekommen,
damals, als sie das erste Mal hingegangen war, um Enn zu heilen, und sie hatte
mir mit leuchten Augen davon erzählt, dass sie jemanden gefunden hatte, der so
war, wie ich. Mir war natürlich klar gewesen, dass sie sich erhofft hatte, dass
ich und Lu uns mögen würden und dass er ein Grund für mich werden würde, zu
bleiben. Das hatte natürlich nicht geklappt. Ich hatte es schon von Anfang an
bei ihm versaut. Hatte ihn geschlagen, weil ich dachte, dass er der Kerl war,
der meine Schwester an der Nase herumgeführt hatte. Auch wenn das nur ein Vorwand
gewesen war, um zum Stamm zu kommen. Weg von Zuhause. Hin, um Lu zu sehen.
Ich war
neugierig auf ihn gewesen. Aber ich hatte ihn zur Begrüßung eine verpasst und
obwohl ich nur noch den Drang gehabt hatte, mich zu entschuldigen, hatte ich es
nicht gemacht. Weil Jin aufgetaucht war. Ein typischer Stammesmann, vor dem ich
meine starke Fassade hatte wahren müssen. Ganz automatisch hatte ich das
gemacht. Und dann – vielleicht deshalb – hatte ich es nicht mehr geschafft, zu
Lu vorzudringen. Wie auch? Ich war dämlich, ich hatte nicht den blassesten
Schimmer gehabt, wie ich jemandem zu verstehen geben sollte, dass ich Interesse
an ihm hatte. Ich hatte mich so lange für jemand anderen ausgegeben, dass ich
inzwischen nicht mehr anders gekonnt hatte, als dieser jemand zu sein.
Großspurig, grob, unsensibel und vollkommen unzulänglich.
Deswegen kann
ich ihm letztendlich nicht verübeln, dass er mich so abgelehnt hat. Ich hätte
es wahrscheinlich nicht anders gemacht an seiner Stelle. Er hat sich oft mit
mir gestritten, weil ich ihn nicht in Ruhe gelassen habe, aber obwohl er mir seine
hässliche Seite gezeigt hatte, hatte er sich mir ins Gedächtnis gebrannt.
Einmal, als wir zusammen am Strand standen und er versucht hatte, zu
argumentieren. Für ihn war es wahrscheinlich keine große Sache gewesen, aber
ich habe diesen Moment nie vergessen.
„Warum ist
dir das so wichtig, dass ich mich mit dir prügel?“, hatte er gesagt, nachdem er
seine Angel in den weichen Sand gerammt hatte. Er hatte seine Wut kaum
unterdrücken können.
„Na, ich muss
doch wissen, wie stark zu bist“, hatte ich geantwortet.
„Und warum
das?“
„Weil ich
wissen will, mit wem ich es zu tun hab, deshalb.“
Da hatte es verschränkte
Arme gegeben. „Wie wäre es dann, wenn du einfach mal mit mir – ich weiß auch nicht
– redest? Dann weißt du auch, mit wem
du es zu tun hast.“
„Bin ich denn
eine Frau, oder was? Nee! Ich lass lieber meine Fäuste für mich sprechen.“
Er hatte
missbilligend die Lippen geschürzt und mich mit schmalen Augen zu durchlöchern versucht.
„Ich hatte eigentlich gedacht, dass du nicht so ein Höhlenmensch bist, wie Jin,
wo du und deine Familie doch so viel fortschrittlicher sind, als wir.“
„Ich bin kein
Höhlenmensch!“ ‚Auch wenn ich mein Bestes
tue, um mich wie einer aufzuführen‘, hatte ich gedacht. „Ich bin halt ein
Mann!“
„Also bedeutet
das, dass alle Männer dumm und stark sind, ja?“
„Stark sollten sie sein, ja“, hatte ich
verunsichert geantwortet. Nicht, dass ich es mir hätte anmerken lassen.
Lu hatte mich
darauf angesehen, als wäre ich völlig bekloppt. Wahrscheinlich hat er auch
genau das gedacht. „Und was macht das dann aus mir? Ich bin nämlich nicht
stark, musst du wissen. Wahrscheinlich würdest selbst du mich verprügeln können.“
Da hatte ich
auch nichts mehr antworten können und Lu hatte das als Anlass genommen, seine
Angel wieder aufzuheben. „Da wir ja jetzt geklärt haben, dass ich anscheinend
kein Mann bin, musst du dich nicht mehr mit mir prügeln und kannst mich endlich
in Ruhe lassen.“
„He! So
einfach kannst du dich da aber nicht rauswieseln! Ich weiß ja nicht mal, ob du
nicht einfach flunkerst, indem du sagst, du wärst schwach.“
„Ich bin
schwach, das kannst du mir ruhig glauben.“
„Dann solltest
du lieber etwas daran ändern, da du ja ein Mann bist.“
Da hatte er
mich wieder angesehen und etwas gesagt, dass ich nie vergessen würde: „Warum
sollte ich das tun? Ich bin ich und ich werde mich nicht für andere verbiegen,
nur, weil die nicht verstehen, dass ich nicht so bin, wie sie das gerne wollen.“
Es waren die
Worte, auf die ich so lange gewartet hatte, sie zu hören. Und in dem Moment,
als Lu sie sagte, wurde er für mich zum stärksten Mann der Welt, egal, ob er in
einem Faustkampf gegen mich eine Chance gehabt hätte oder nicht. Das spielte
keine Rolle. Denn er hatte den Mut gefunden etwas zu sagen, das ich nie hatte
sagen können. Den Mut, zu sein, wer er war und nichts auf die Meinung anderer
zu geben.
Ich war damals
kurz davor gewesen, mich Lu zu offenbaren. Ihm zu zeigen, wie es wirklich in
mir aussah und wer ich war. Ich wünschte noch heute, ich hätte es getan. Aber
dann war der Moment verstrichen, Lu hatte sich abgewandt und mich hatte der Mut
verlassen. Ich war wieder in meine Rolle verfallen und hatte weiterhin mich und
alle anderen belogen. Nur Lus Worte hatte ich nie vergessen. Ich hatte sie tief
in mir vergraben. Eines Tages würde ich so sein, wie er, das hatte ich mir
geschworen. Aber bislang hatte ich den Mut dazu nicht gefunden.
„Warum bist du traurig?“, drang Isaacs Stimme zu mir vor
und schreckte mich aus meiner Erinnerung.
Ich starrte
ihn eine Weile verständnislos an. Da zeigte er auf seine Augen und als ich
gedankenverloren die Finger zu meinen hob, spürte ich, dass sie nass wurden. Da
waren Tränen. Ich hatte nicht mehr geheult, seitdem ich damals beschlossen
hatte, mich zu verändern. Nicht einmal, als Wulfric, Gritta und Gabi gestorben
waren hatte ich eine Träne vergossen.
Ich drehte
mich weg und wischte mir hastig mit dem Arm über die Augen. „Ich hab nur an wen
gedacht, den ich verloren habe.“
Isaac sagte
nichts dazu. Wahrscheinlich guckte er betroffen, weil er dachte, dass ich über
jemanden sprach, der gestorben war, aber das sollte er ruhig denken.
„Oh!“, machte
er plötzlich aufgeregt und da konnte ich nicht verhindern, dass ich ihn wieder
ansah. Sein Blick war nach unten gerichtet, dorthin, wo ich mein Boot in den
sandfarbenen, feinen Dreck gemalt hatte. Ich war ob meiner Erinnerung
abgekommen und hatte unabsichtlich einen langen Strich gemalt, der aussah, als
würde er mein Boot von oben durchbohren. Isaac schien aber irgendwas darin zu
sehen. Er hatte jedenfalls diesen Blick drauf, den er immer hatte, wenn er
gerade einen Geistesblitz hatte.
Tatsächlich
fügte er meinem Werk einen weiteren, kleinen Strich hinzu, der meinen am oberen
Rand quer kreuzte. Dann brachte er an das merkwürdige Konstrukt, von dem nur er
wusste, was es war, einen Halbkreis an.
„Was soll das
sein?“, fragte ich ihn.
„Das… das…“ Er
begann aufgeregt zu gestikulieren und zeigte dabei auf die Wäscheleine, an der
die Tücher im Wind flatterten, die sie bei der letzten Geburt benutzt hatten.
Der Wind war so stark, dass selbst die armdicken Pfeiler, an denen die Leine
hing, kräftig zu kämpfen hatten. „Wir machen ein… ähm… Wie sagt man… ein Seh-gell, heißt es bei uns.“
„Ein Segel?
Was ist das?“
Isaac
überlegte. „Ich glaube, es heißt in deiner Sprache: vom Wind getragen.“
Ich verstand
immer noch nicht, aber Isaac machte sich auch nicht die Mühe, es mir noch
weiter zu erklären. Er sprang auf die Beine, winkte mir, zu folgen und ging
dann zur Wäscheleine rüber. Mit meiner Hilfe zog er die Pfeiler aus dem Boden
und wir nahmen sie samt Leine und Wäsche mit, was uns ein paar ärgerliche
Blicke der Frauen einbrachte, die sie gerade erst gewaschen hatten.
Es ging zum Strand hinunter. Da es immer noch danach
aussah, als würde jeden Moment der Himmel über uns zusammenbrechen, lagen die
Fischerboote umgedreht am Strand und keine Menschenseele außer uns war zu
sehen. Isaac ging zu einem kleinen Einbaum rüber, der gerade für eine Person
Platz bot und bedeutete mir, die Pfeiler in den Sand zu legen. Eine Weile stand
er nachdenklich vor dem Boot, und ich ließ ihn in Ruhe, weil ich wusste, dass
es besser war, ihn nicht beim Denken zu stören.
Dann nahm er
die Säge, die er mitgenommen hatte, und teilte einen der Pfeiler in der Mitte.
Während er den kleineren Teil mit der Leine über Kreuz am anderen Pfeiler
befestigte, fragte ich schließlich nochmal nach: „Was soll das werden?“
Isaac
unterbrach seine Arbeit daraufhin und kam zu mir rüber. Ich hatte mich auf die
Tücher gesetzt, damit sie nicht weggeweht wurden und ich freute mich jetzt schon,
den Frauen zu erklären, warum sie die nochmal waschen durften. Isaac zog an
einem der Tücher, weshalb ich aufstand, dann gab er mir zwei Ecken davon und
nahm die anderen beiden selber in die Hand. Er bugsierte uns so, dass sich der
Wind in dem Tuch fing, das zwischen uns gespannt war, und da verstand ich auch
endlich, was er vorhatte. Als der Wind nämlich auf das Tuch traf, das wir
hielten, wurde ich beinahe nach vorn von den Füßen gerissen und Issac musste
sogar einige Schritte tun und es dann loslassen, um nicht umzufallen. Das Tuch
kam daraufhin frei und flatterte wieder im Wind. Ein Regenschauer aus Sand
machte sich los, aber ich hielt das Tuch fest.
„So machen wir das Boot schneller. Wir
machen das Tuch ans Boot fest“, erklärte Isaac mit glänzenden Augen. „Es wird vom Wind getragen!“
„Ein Segel“,
wiederholte ich und nickte anerkennend. Es war ein gutes Wort dafür und es war
eine grandiose Idee. Ich hoffte nur, dass es auch klappen würde. Ich war
jedenfalls dankbar über jede Ablenkung, die mir gerade geboten wurde, also
machte ich mich noch eifriger daran, unser Segelboot
zu bauen.
Hier weiterlesen -> Kapitel 10
Hier weiterlesen -> Kapitel 10
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