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Mittwoch, 31. Oktober 2018

Kapitel 9 - Von Bootsbildern und Segeln


Ich war nie wirklich gut im Umgang mit Frauen. Sie waren für mich so ein Mysterium, dass ich mich oft fragte, ob sie sich überhaupt selbst verstanden. Es muss nicht erwähnt werden, dass ich auch nicht wirklich gut bei ihnen ankam. Ich glaube viele schätzten es, dass ich keine blöden Kommentare abzog, wenn sie in der Nähe waren, und sie auch sonst nicht mit Blicken auszog, wie andere Kerle, aber da hörte es auch schon auf.
     Früher, als ich noch mein kindliches „Mädchengesicht“ gehabt hatte, wie Wulfric immer hämisch gesagt hatte, war das anders gewesen. Da waren alle Frauen ganz entzückt von mir gewesen und ich werde nie Wulfrics blödes Gesicht vergessen, als Samuels Schwester, auf die er ganz scharf gewesen war, nicht die Augen von mir abwenden hatte können und von ihm nichts hatte wissen wollen – wie üblich.
     Wulfric hatte es ganz vortrefflich verstanden, Frauen abzuschrecken. Nachdem ich erkannt hatte, dass ich lieber kein Frauenheld sein wollte, hatte ich ihn mir zum Vorbild gemacht. Ich hatte mein Bestes getan, um möglichst räudig und abgerissen auszusehen, obwohl ich sonst immer für meine Reinlichkeit bekannt gewesen war. Ich hatte angefangen laut zu rülpsen, zu furzen und unflätige Sprüche zu klopfen –  kurzum: Ich hatte alles getan, um möglichst abschreckend auf Frauen zu wirken und ich kann heute stolz von mir behaupten, dass ich das gut hinbekommen habe. Ich hatte noch immer diese Wirkung auf sie (leider aber auch auf Männer, wie es schien).
     Deswegen war ich ein bisschen irritiert, dass ich Eris seit einer Weile immer wieder dabei ertappte, wie sie mich ansah. Die Götter mochten wissen, was in ihrem Kopf vorging, ich hatte jedenfalls keine Ahnung. Ich konnte ihre Blicke einfach nicht deuten. Alles, was ich wusste, war, dass es mir jedes Mal eiskalt den Rücken runterlief, wenn ich sie beim Starren erwischte. Ich fühlte mich ein bisschen so wie damals, als Ura mich nackt überfallen hatte.
     Auch jetzt starrte sie mich an, als ich am Feuer zwischen ihr und Isaac saß. Ayra saß neben ihrem Bruder und nahm gerade die Kokosnuss entgegen, die Isaac für sie geöffnet hatte. Die beiden Geschwister waren mit ihren ganz eigenen Dialog beschäftigt, von dem ich nichts verstand, während ich von Eris in Grund und Boden gestarrt wurde.
     „Von was sprecht ihr?“, fragte ich Isaac schließlich, als ich es nicht mehr aushielt.
     „Das… ähm… Dach hat ein Loch. Ich will es gleich ganz machen.“
     Sofort war ich auf den Beinen. „Oh, ich liebe Dachreparaturen!“, schwindelte ich. „Lass mich das machen!“
     Ayra sah mich zweifelnd an und das tat sie auch noch, als Isaac ihr gesagt hatte, was ich vorhatte. Trotzdem nickte sie.
     „Sie hat Blätter hinter dem Haus“, wies Isaac mich an.
     Ich durfte also eine Kletterpartie auf das windschiefe Häuschen wagen und ich war froh, dass es mich überhaupt aushielt. Es hatte jedenfalls nicht so ausgesehen. Die kaputte Stelle war schnell gefunden und das Palmenblatt im Handumdrehen ausgetauscht. Was mich ganz froh machte, da ich nicht allzu gut mit Höhen war.
      Als ich dann aber wieder nach unten kam, hatte sich meine Freude in dem Moment aus dem Staub gemacht, in dem ich sah, dass Eris allein am Feuer saß. Ich zögerte und überlegte echt kurz, ob ich mich nicht einfach in den Wald verdrücken sollte. Giftige Insekten schienen mir gerade jedenfalls eine bessere Gesellschaft zu sein, als sie.
      Ich ging trotzdem zu ihr und ließ mich ihr gegenüber am Feuer nieder. „Wo sind Isaac und Ayra?“
      „Er hilft ihr drinnen mit was.“ Auch wenn sie nicht sagte, mit was. Stattdessen begann sie wieder, mich mit ihrem unheimlichen Blick zu traktieren.
      „Sag mal, warum starrst du mich die letzte Zeit immer so an?“, hielt ich es schließlich nicht mehr aus.
      Ich glaube, sie sah ertappt aus, aber das hinderte sie trotzdem nicht daran, mich wieder anzustarren, dass mir angst und bange wurde. „Planst du, wieder von hier fortzugehen?“, fragte sie plötzlich.
      „Schon.“
      Eiskalter Blick von ihr. „Wann?“
      „Ich weiß noch nicht. Aber bald, denke ich.“
      Sie wandte sich ab und ich hatte immer noch keine Ahnung, was mit ihr los war. Es gefiel mir jedenfalls nicht, in welche Richtung das ging.
     „Hast du schon mal daran gedacht, einfach hierzubleiben?“
     „Nein“, erwiderte ich entschlossen.
     „Warum nicht? Ich weiß, dass sie normalerweise keine Außenseiter in ihren Stamm aufnehmen, aber ich bin mir sicher, dass sie bei dir eine Ausnahme machen. Du hast Isaac das Leben gerettet. Du könntest einfach ihre Prüfung ablegen und ein Teil des Stammes werden. Dann würdest du bestimmt auch eine Frau finden und könntest dich hier niederlassen.“
     „Ich will mich aber nicht niederlassen!“, antwortete ich gereizt.
     „Warum nicht?“
     „Warum muss ich mich vor dir erklären, warum ich das nicht will?“, gab ich jetzt lauter zurück. „Ich will es einfach nicht! Und das geht dich nichts an!“
     Eris sah einen Moment lang wirklich erschrocken aus, weshalb es mir plötzlich leid tat, dass ich laut geworden war. Es war nur so, dass ich schon viel zu oft diese Unterhaltung hatte führen müssen. Ich war es einfach leid, das zu tun.
     „Und hast du schon mal an Mari gedacht?“, rückte sie endlich mit dem wahren Grund raus. „Dass du sie dauernd in Gefahr bringst?“
     Sie traf mich damit völlig unvermittelt. Natürlich hatte ich schon an Mari gedacht. Ich dachte andauernd an sie. Und ich hatte mir geschworen, sie nicht mehr in Gefahr zu bringen, das hatte ich auch nicht vergessen. Nur wusste ich leider überhaupt nicht, wie das funktionieren sollte. Eine Reise war gefährlich, das wusste ich. Das mussten mir die Leute nicht immer wieder sagen, egal, wo ich auch hinging, dass sie das nicht verstehen konnten, dass ich Mari durch die Welt zog.
      Eris seufzte, als ich nichts mehr dazu sagte. „Siehst du, Mari fühlt sich wohl hier. Sie will hierbleiben.“ Es war für mich wie ein Stich mitten ins Herz, das zu hören. Aber es war nichts, was ich nicht auch schon bemerkt hatte. „Aber sie will nicht ohne dich hierbleiben. Ich weiß ja, wie viel du ihr bedeutest. Ich rechne dir auch immer noch hoch an, dass du sie vor Eren gerettet hast. Aber sie ist mir auch wichtig.“
      Erneut herrschte einen Moment lang Stille, sodass nur das knackende Knistern des Feuers zwischen uns zu hören war. Doch obwohl ich genau davorsaß, war mir kalt geworden.
      „Weißt du, weil sie mich hier als Stück vom Mond verehren, bin ich für sie unantastbar“, fuhr Eris mit einem bitteren Gesicht fort. „Das bedeutet, dass niemand mich anfassen darf. Und das bedeutet auch, dass ich niemals ein eigenes Kind haben werde. Niemals eine eigene Familie.“
      „Lassen sie dich etwa nicht mehr gehen?“, fragte ich erschrocken, auch wenn ich es mir nicht vorstellen konnte. Es passte einfach nicht zu den Leuten hier.
     Eris schüttelte auch den Kopf und ihre hellen Haare flogen dabei wie Lichtstrahlen um sie herum. „Nein, natürlich nicht! Sie würden niemals ein Kind ihres Schöpfers gegen dessen Willen festhalten. Es ist nur“, plötzlich legte sich ein gequältes Lächeln auf ihre Lippen, „dass ich nicht mehr weggehen will. Diese Leute hier sind meine Familie geworden. Mehr noch, als es meine eigene jemals gewesen war. Ich liebe sie und ich liebe es hier, aber es bedeutet auch, dass ich kinderlos bleiben werde.“
      Ich schwieg betroffen und auch Eris hing einen Moment lang ihren eigenen Gedanken nach, bevor sie ernst fortfuhr: „Nicht nur deswegen bin ich froh, dass du Mari hergebracht hast. Sie ist mir sehr ans Herz gewachsen.“
      Das war mir auch schon aufgefallen. Mari und Eris waren von Anfang an ein Herz und eine Seele gewesen. Manchmal kam ich auch nicht umhin, zu denken, dass Eris wirklich Maris Mutter war. Sie war jedenfalls herzlicher zu ihr, als Ura es jemals gewesen war, und ich sah, dass Mari sie auch liebte.
      „Ich kann Mari aber nicht einfach hierlassen“, antwortete ich nach langer Überlegung. „Ich habe sie einmal versucht, zurückzulassen, und ich habe ihr sehr wehgetan damit. Ich werde das nicht nochmal machen.“
     „Dann bleib doch einfach hier!“, meinte Eris plötzlich inbrünstig.
     „Ich… kann nicht!“
     „Warum nicht?“
     „Das verstehst du nicht!“
     „Dann erkläre es mir doch!“
     „Ich…“, verstand es selber nicht.
     Wir starrten uns an, während eine Windböe mir die Haare ins Gesicht schlug und die von Eris gegen die Hauswand wehte. Als die ersten Regentropfen niedergingen, erhob ich mich schließlich.
     „Das ist meine Sache!“, wiederholte ich.
     „Denkst du auch mal an Mari? Dass du sie in Gefahr bringst?“
     „Ich denke immer zuerst an Mari! Und ich werde sie nicht mehr in Gefahr bringen.“ Nur hatte ich noch keine Ahnung, wie ich das anstellen sollte. Trotzdem behauptete ich: „Ich werde sie beschützen.“
     Ich wandte mich ab und ging aufs Haus zu. „Wir sollten reingehen. Es fängt an, zu regnen.“
     Als ich sie passierte, griff Eris nach meinem Arm. Ihre Augen waren so flehentlich auf mich gerichtet, dass sich ein Knoten in meinem Magen bildete. „Nimm mir Mari nicht weg!“, sagte sie nur, aber ich konnte ihr nicht mehr antworten.  

Ich wollte nie, dass dieser Teil von mir mein Leben derart bestimmen würde. Aber das hatte es letztendlich getan, egal, was ich auch versucht hatte. Es war der Grund gewesen, warum ich von Zuhause weggegangen war, warum ich nirgends hatte bleiben können, und warum es mich auch jetzt wieder von hier fortzog. Mal ganz davon abgesehen, dass ich mich hier einfach nicht heimisch fühlte.
     Heimat war für mich immer der Ort gewesen, an dem meine Familie gewesen war. Meine Eltern und Geschwister. Man mag es vielleicht nicht glauben, aber ich habe immer sehr an meiner Familie gehangen. Seitdem ich weiß, dass ein Teil von mir anders ist, als bei ihnen, habe ich mich zwar ein wenig von ihnen entfremdet, aber ich habe sie immer geliebt. Und deswegen hatte ich sie auch nicht verlassen wollen.
      Trotzdem war ich gegangen. Und warum? Weil ich mein Leben wieder von diesem kleinen Teil von mir hatte bestimmen lassen. Weil ich so eine verdammte Angst davor hatte, mich ihnen zu offenbaren. Ich wünschte wirklich, es hätte keinen Grund dafür gegeben, aber so war es leider nicht.
     Als ich das erste Mal gesehen habe, wie zwei Männer beieinander waren, war ich noch ein Kind. Ich weiß noch, wie meine Eltern mich angesehen hatten, als ich ihnen davon erzählt hatte. Als hätte ich ihnen gerade gesagt, ich hätte jemanden umarmt, der ansteckende Pusteln im Gesicht gehabt hatte. Meine Mutter hatte aufgebracht gesagt, dass ich vergessen sollte, was ich gesehen habe und bloß nie wieder davon reden solle. Mein Vater hatte gar nichts dazu gesagt, aber das hatte er auch gar nicht gebraucht. Ich hatte gewusst, dass er genauso dachte. Ich hatte die Abscheu in seinem Gesicht gesehen. Und ich werde nie vergessen, was er mit Guthar gemacht hat, nachdem er die Hündinnen nicht hatte decken wollen und lieber zu den Rüden gegangen war. Ich habe diesen Hund geliebt und ich werde ihnen nie verzeihen, dass sie ihn getötet haben. Damit er „die anderen Rüden nicht ansteckte“, hatten sie gesagt.
     Deswegen habe ich niemals daran gedacht, mich ihnen zu offenbaren. Als ich begriff, dass ich nicht war, wie alle anderen, war das wie ein Schlag für mich gewesen. Ja, es hatte Zeiten gegeben, in denen ich gehofft hatte, dass ich mich nur irren würde. Dass ich einfach noch nicht das richtige Mädchen getroffen hätte und sich alles schon ändern würde, wenn ich sie nur traf. Aber es hatte sich natürlich nicht geändert.
     Also war mir gar nichts anderes übrig geblieben, als es zu akzeptieren und mich zu verstecken. Mich und alle anderen anzulügen. Ich habe mich verändert, koste es, was es wolle, bis ich mich selber kaum wiedererkannt habe. Und ich wäre zufrieden damit gewesen, einfach den Hof mit Greta zusammen zu übernehmen. Auf sie und ihre Familie aufzupassen. Auch wenn das bedeutete, dass ich allein bleiben würde.
     Ich war bereit dazu gewesen, aber ich wusste, dass meine Eltern das nicht akzeptiert hätten. Mein Vater hatte sich in den Kopf gesetzt, dass sein ältester Sohn den Hof übernehmen sollte und nach Wulfrics Tod bin ich das gewesen. Schon bevor die Flut meinen älteren Bruder geholt hatte, hat mein Vater mir immer gesagt, ich solle mich endlich wie ein richtiger Mann benehmen, sonst würde ich nie eine Frau finden. Das hat mir tief drinnen wahnsinnig wehgetan, weil ich wusste, dass er mich ablehnte. Aber ich wusste auch, dass er es nicht besser wusste. Er hatte keine Ahnung, wie ich wirklich war.
     Solange wir unterwegs gewesen waren, war ich nicht in die Verlegenheit gekommen, mir eine Frau zu suchen und den Hof übernehmen zu müssen. Und es gab wirklich Zeiten, in denen ich mit dem Gedanken gespielt habe, das einfach zu tun. Wenn ich schon alle anlog, warum dann nicht gleich richtig? Aber die Aussicht, nicht nur mich, sondern auch eine arme Frau anzulügen, war mir immer zuwider gewesen.
     Deswegen war ich zum Uruk-Stamm gegangen, als wir uns wieder niedergelassen hatten. Ich hatte gewusst, dass es nicht mehr lange gedauert hätte, bis meine Eltern wieder damit angekommen wären, dass ich endlich eine Familie gründen sollte. Und diesmal war keine Flut da gewesen, um mich zu retten. Also war ich gegangen, und ich glaube, dass meine Eltern ganz glücklich damit gewesen waren, weil sie gedacht hatten, dass ich mir beim Uruk-Stamm eine Frau suchen wollte. Natürlich hatte ich das nie vorgehabt. Ich hatte damals schon den Entschluss gefasst, zu gehen.
     Und ich habe es getan. Auch wenn ich dafür meine Eltern hatte vor den Kopf stoßen müssen, etwas, das ich niemals hatte tun wollen. Das weinende Gesicht meiner Mutter, als ich es ihnen gesagt habe, verfolgt mich bis heute. Die Enttäuschung meines Vaters. Er hatte nicht einmal mehr mit mir gesprochen. So wie bei Dana damals, als sie einfach gegangen war. Da hatte ich ja schon ein schlechtes Gewissen gehabt, dass ich so getan hatte, als wäre ich sauer auf sie gewesen. Obwohl ich das natürlich nicht gewesen war. Im Gegenteil. Ich hatte ja gewusst, dass sie meine Frau werden sollte und ich war dankbar gewesen, dass sie den Mut besessen hatte, zu gehen.
     Ich habe lange gebraucht, um diesen Mut zu finden, und seitdem war ich auf der Flucht. Vor einem kleinen Teil von mir, von dem ich mir geschworen hatte, dass er mein Leben niemals bestimmen sollte und der es trotzdem getan hatte. Auch jetzt noch. Obwohl da inzwischen wieder jemand war, für den es sich lohnte, zu bleiben. Bislang war das nicht so gewesen, bislang hatte auch Mari nirgends bleiben wollen, aber jetzt war das anders. Und ich liebte das Mädchen wie meine eigene Familie. Nein, sie war inzwischen meine Familie geworden. Wie konnte ich ihr also ausschlagen, an einem Ort zu bleiben, der für sie Zuhause war? Wie konnte ich sie dazu zwingen, mit mir zu kommen und sie in Gefahr bringen?
     Als mir das bewusst wurde, versteifte ich mich. Ich konnte nicht gehen. Ich würde nicht mehr von hier fortgehen, weil Mari es nicht wollte. Sie wollte bleiben und sie wollte, dass ich blieb. Also würde ich das tun, obwohl ich das nicht wollte. Weil Mari meine Familie und damit mein Zuhause geworden war.
     Der Schrecken über diese Erkenntnis saß tief und deswegen dauerte es etwas, bis mir bewusst wurde, dass sich jemand neben mich gesetzt hatte. Meine Augen glitten leer über das, was da neben mir in den Dreck gemalt wurde und der einzige Gedanke, den ich mir erlaubte, war: ‚So sieht doch kein Boot aus!‘
      Also sagte ich das und zeigte, wie es richtig ging. Isaac beugte sich daraufhin nach vorn, um mein Werk zu begutachten, und als er mich ansah und mit seinen Augen fesselte, erstarrte ich.

Plötzlich war ich in der Vergangenheit. Lu, der neben mir im Schnee saß und arrogant behauptet hatte, dass er besser Boote malen konnte, als ich. Was auch stimmte, wie ich wenig später hatte herausfinden dürfen.
     Dann wechselte die Landschaft. Wir standen am Strand, Lu hatte eine Angel in der Hand, ich versuchte gerade, ihn dazu zu bekommen, dass er sich mit mir prügeln würde. Ich prügelte mich mit allen Kerlen, denen ich begegnete, weil ich nicht wollte, dass sie dachten, ich sei schwach. „Nicht Manns genug“, wie mein Vater immer gesagt hatte. Ich wollte nicht, dass jemand erfuhr, dass ich anders war. Doch es wäre gelogen, wenn ich behauptet hätte, dass das der Grund war, warum ich mich so unbedingt mit Lu hatte prügeln wollen. Ich hatte ihm nahe sein wollen, weil er so war, wie ich, wie ich wusste.
      Greta hatte mir davon erzählt. Sie war ganz aufgeregt vom Uruk-Stamm zurückgekommen, damals, als sie das erste Mal hingegangen war, um Enn zu heilen, und sie hatte mir mit leuchten Augen davon erzählt, dass sie jemanden gefunden hatte, der so war, wie ich. Mir war natürlich klar gewesen, dass sie sich erhofft hatte, dass ich und Lu uns mögen würden und dass er ein Grund für mich werden würde, zu bleiben. Das hatte natürlich nicht geklappt. Ich hatte es schon von Anfang an bei ihm versaut. Hatte ihn geschlagen, weil ich dachte, dass er der Kerl war, der meine Schwester an der Nase herumgeführt hatte. Auch wenn das nur ein Vorwand gewesen war, um zum Stamm zu kommen. Weg von Zuhause. Hin, um Lu zu sehen.  
     Ich war neugierig auf ihn gewesen. Aber ich hatte ihn zur Begrüßung eine verpasst und obwohl ich nur noch den Drang gehabt hatte, mich zu entschuldigen, hatte ich es nicht gemacht. Weil Jin aufgetaucht war. Ein typischer Stammesmann, vor dem ich meine starke Fassade hatte wahren müssen. Ganz automatisch hatte ich das gemacht. Und dann – vielleicht deshalb – hatte ich es nicht mehr geschafft, zu Lu vorzudringen. Wie auch? Ich war dämlich, ich hatte nicht den blassesten Schimmer gehabt, wie ich jemandem zu verstehen geben sollte, dass ich Interesse an ihm hatte. Ich hatte mich so lange für jemand anderen ausgegeben, dass ich inzwischen nicht mehr anders gekonnt hatte, als dieser jemand zu sein. Großspurig, grob, unsensibel und vollkommen unzulänglich.
      Deswegen kann ich ihm letztendlich nicht verübeln, dass er mich so abgelehnt hat. Ich hätte es wahrscheinlich nicht anders gemacht an seiner Stelle. Er hat sich oft mit mir gestritten, weil ich ihn nicht in Ruhe gelassen habe, aber obwohl er mir seine hässliche Seite gezeigt hatte, hatte er sich mir ins Gedächtnis gebrannt. Einmal, als wir zusammen am Strand standen und er versucht hatte, zu argumentieren. Für ihn war es wahrscheinlich keine große Sache gewesen, aber ich habe diesen Moment nie vergessen.
      „Warum ist dir das so wichtig, dass ich mich mit dir prügel?“, hatte er gesagt, nachdem er seine Angel in den weichen Sand gerammt hatte. Er hatte seine Wut kaum unterdrücken können.  
     „Na, ich muss doch wissen, wie stark zu bist“, hatte ich geantwortet.
     „Und warum das?“
     „Weil ich wissen will, mit wem ich es zu tun hab, deshalb.“
     Da hatte es verschränkte Arme gegeben. „Wie wäre es dann, wenn du einfach mal mit mir – ich weiß auch nicht – redest? Dann weißt du auch, mit wem du es zu tun hast.“
     „Bin ich denn eine Frau, oder was? Nee! Ich lass lieber meine Fäuste für mich sprechen.“
     Er hatte missbilligend die Lippen geschürzt und mich mit schmalen Augen zu durchlöchern versucht. „Ich hatte eigentlich gedacht, dass du nicht so ein Höhlenmensch bist, wie Jin, wo du und deine Familie doch so viel fortschrittlicher sind, als wir.“
     „Ich bin kein Höhlenmensch!“ ‚Auch wenn ich mein Bestes tue, um mich wie einer aufzuführen‘, hatte ich gedacht. „Ich bin halt ein Mann!“
     „Also bedeutet das, dass alle Männer dumm und stark sind, ja?“
     Stark sollten sie sein, ja“, hatte ich verunsichert geantwortet. Nicht, dass ich es mir hätte anmerken lassen.
      Lu hatte mich darauf angesehen, als wäre ich völlig bekloppt. Wahrscheinlich hat er auch genau das gedacht. „Und was macht das dann aus mir? Ich bin nämlich nicht stark, musst du wissen. Wahrscheinlich würdest selbst du mich verprügeln können.“
     Da hatte ich auch nichts mehr antworten können und Lu hatte das als Anlass genommen, seine Angel wieder aufzuheben. „Da wir ja jetzt geklärt haben, dass ich anscheinend kein Mann bin, musst du dich nicht mehr mit mir prügeln und kannst mich endlich in Ruhe lassen.“
     „He! So einfach kannst du dich da aber nicht rauswieseln! Ich weiß ja nicht mal, ob du nicht einfach flunkerst, indem du sagst, du wärst schwach.“
     „Ich bin schwach, das kannst du mir ruhig glauben.“
     „Dann solltest du lieber etwas daran ändern, da du ja ein Mann bist.“
     Da hatte er mich wieder angesehen und etwas gesagt, dass ich nie vergessen würde: „Warum sollte ich das tun? Ich bin ich und ich werde mich nicht für andere verbiegen, nur, weil die nicht verstehen, dass ich nicht so bin, wie sie das gerne wollen.“
     Es waren die Worte, auf die ich so lange gewartet hatte, sie zu hören. Und in dem Moment, als Lu sie sagte, wurde er für mich zum stärksten Mann der Welt, egal, ob er in einem Faustkampf gegen mich eine Chance gehabt hätte oder nicht. Das spielte keine Rolle. Denn er hatte den Mut gefunden etwas zu sagen, das ich nie hatte sagen können. Den Mut, zu sein, wer er war und nichts auf die Meinung anderer zu geben.
     Ich war damals kurz davor gewesen, mich Lu zu offenbaren. Ihm zu zeigen, wie es wirklich in mir aussah und wer ich war. Ich wünschte noch heute, ich hätte es getan. Aber dann war der Moment verstrichen, Lu hatte sich abgewandt und mich hatte der Mut verlassen. Ich war wieder in meine Rolle verfallen und hatte weiterhin mich und alle anderen belogen. Nur Lus Worte hatte ich nie vergessen. Ich hatte sie tief in mir vergraben. Eines Tages würde ich so sein, wie er, das hatte ich mir geschworen. Aber bislang hatte ich den Mut dazu nicht gefunden.

„Warum bist du traurig?“, drang Isaacs Stimme zu mir vor und schreckte mich aus meiner Erinnerung.
     Ich starrte ihn eine Weile verständnislos an. Da zeigte er auf seine Augen und als ich gedankenverloren die Finger zu meinen hob, spürte ich, dass sie nass wurden. Da waren Tränen. Ich hatte nicht mehr geheult, seitdem ich damals beschlossen hatte, mich zu verändern. Nicht einmal, als Wulfric, Gritta und Gabi gestorben waren hatte ich eine Träne vergossen.
     Ich drehte mich weg und wischte mir hastig mit dem Arm über die Augen. „Ich hab nur an wen gedacht, den ich verloren habe.“
     Isaac sagte nichts dazu. Wahrscheinlich guckte er betroffen, weil er dachte, dass ich über jemanden sprach, der gestorben war, aber das sollte er ruhig denken.
     „Oh!“, machte er plötzlich aufgeregt und da konnte ich nicht verhindern, dass ich ihn wieder ansah. Sein Blick war nach unten gerichtet, dorthin, wo ich mein Boot in den sandfarbenen, feinen Dreck gemalt hatte. Ich war ob meiner Erinnerung abgekommen und hatte unabsichtlich einen langen Strich gemalt, der aussah, als würde er mein Boot von oben durchbohren. Isaac schien aber irgendwas darin zu sehen. Er hatte jedenfalls diesen Blick drauf, den er immer hatte, wenn er gerade einen Geistesblitz hatte.
     Tatsächlich fügte er meinem Werk einen weiteren, kleinen Strich hinzu, der meinen am oberen Rand quer kreuzte. Dann brachte er an das merkwürdige Konstrukt, von dem nur er wusste, was es war, einen Halbkreis an.
     „Was soll das sein?“, fragte ich ihn.
     „Das… das…“ Er begann aufgeregt zu gestikulieren und zeigte dabei auf die Wäscheleine, an der die Tücher im Wind flatterten, die sie bei der letzten Geburt benutzt hatten. Der Wind war so stark, dass selbst die armdicken Pfeiler, an denen die Leine hing, kräftig zu kämpfen hatten. „Wir machen ein… ähm… Wie sagt man… ein Seh-gell, heißt es bei uns.“   
     „Ein Segel? Was ist das?“
     Isaac überlegte. „Ich glaube, es heißt in deiner Sprache: vom Wind getragen.
     Ich verstand immer noch nicht, aber Isaac machte sich auch nicht die Mühe, es mir noch weiter zu erklären. Er sprang auf die Beine, winkte mir, zu folgen und ging dann zur Wäscheleine rüber. Mit meiner Hilfe zog er die Pfeiler aus dem Boden und wir nahmen sie samt Leine und Wäsche mit, was uns ein paar ärgerliche Blicke der Frauen einbrachte, die sie gerade erst gewaschen hatten.

Es ging zum Strand hinunter. Da es immer noch danach aussah, als würde jeden Moment der Himmel über uns zusammenbrechen, lagen die Fischerboote umgedreht am Strand und keine Menschenseele außer uns war zu sehen. Isaac ging zu einem kleinen Einbaum rüber, der gerade für eine Person Platz bot und bedeutete mir, die Pfeiler in den Sand zu legen. Eine Weile stand er nachdenklich vor dem Boot, und ich ließ ihn in Ruhe, weil ich wusste, dass es besser war, ihn nicht beim Denken zu stören.
    Dann nahm er die Säge, die er mitgenommen hatte, und teilte einen der Pfeiler in der Mitte. Während er den kleineren Teil mit der Leine über Kreuz am anderen Pfeiler befestigte, fragte ich schließlich nochmal nach: „Was soll das werden?“
     Isaac unterbrach seine Arbeit daraufhin und kam zu mir rüber. Ich hatte mich auf die Tücher gesetzt, damit sie nicht weggeweht wurden und ich freute mich jetzt schon, den Frauen zu erklären, warum sie die nochmal waschen durften. Isaac zog an einem der Tücher, weshalb ich aufstand, dann gab er mir zwei Ecken davon und nahm die anderen beiden selber in die Hand. Er bugsierte uns so, dass sich der Wind in dem Tuch fing, das zwischen uns gespannt war, und da verstand ich auch endlich, was er vorhatte. Als der Wind nämlich auf das Tuch traf, das wir hielten, wurde ich beinahe nach vorn von den Füßen gerissen und Issac musste sogar einige Schritte tun und es dann loslassen, um nicht umzufallen. Das Tuch kam daraufhin frei und flatterte wieder im Wind. Ein Regenschauer aus Sand machte sich los, aber ich hielt das Tuch fest.
     So machen wir das Boot schneller. Wir machen das Tuch ans Boot fest“, erklärte Isaac mit glänzenden Augen. „Es wird vom Wind getragen!“
    „Ein Segel“, wiederholte ich und nickte anerkennend. Es war ein gutes Wort dafür und es war eine grandiose Idee. Ich hoffte nur, dass es auch klappen würde. Ich war jedenfalls dankbar über jede Ablenkung, die mir gerade geboten wurde, also machte ich mich noch eifriger daran, unser Segelboot zu bauen. 

Hier weiterlesen -> Kapitel 10 

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