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Dienstag, 2. Oktober 2018

Kapitel 5 - Mari


Ich hatte mit Ura abgesprochen, bis zum nächsten Morgen bleiben zu können, bevor ich wieder abreisen würde. Die Nacht verbrachte ich aber trotzdem lieber unter freiem Himmel. Mari war die ganze Zeit über bei mir, und auch jetzt war sie es. Das Boot, das ich den Winter über gebaut hatte, wartete hinter mir im Fluss, alles war gepackt und bereit zum Abfahren, aber Mari hing an mir und wollte mich überhaupt nicht gehen lassen. Ich konnte es ihr nicht verdenken; ich hatte nach gestern auch tierische Angst um sie.
     Ich warf ihrer Mutter, die demonstrativ weit abseits stand, einen vorwurfsvollen Blick zu, den sie kalt erwiderte. Wir hatten den gestrigen Tag nach meiner Rückkehr beinahe nur damit zugebracht, uns Vorwürfe an den Kopf zu schmeißen. Am lustigsten hatte ich den Part gefunden, an dem sie angefangen hatte, Eren in Schutz zu nehmen.
     In Bärenwald war ich jetzt ein Ausgestoßener. Dan hatte da natürlich auch nichts gegen machen können, und ich nahm ihm das auch nicht übel. Da es mir auch nicht so zusagte, mit einer Bekloppten unter einem Dach zu leben, hatte ich deshalb beschlossen, die nächste Gelegenheit beim Schopf zu packen und von hier zu verschwinden.
     Wenn da nur nicht Mari gewesen wäre. Ich strich dem schluchzenden Mädchen beruhigend über den Kopf, aber es wollte sich überhaupt nicht mehr beruhigen, was ich auch nur zu gut verstehen konnte. Sie hatte mitbekommen, was passiert war und jetzt würde sie gezwungen sein, bald mit dem Mann unter einem Dach zu leben, der ihren Vater getötet hatte. Und der ganz nebenbei auch noch ihr Leben bedrohte.
     Ja, ganz richtig, neben der Tatsache, dass Ura Eren in Schutz genommen hatte, hatte sie sich obendrein auch noch dazu entschlossen, ihn als neuen Mann zu nehmen, nachdem ich jetzt wieder weggehen würde. Dan hatte mir noch erzählt, dass die beiden wohl schon die ganze Zeit immer mal wieder was miteinander hatten, aber verstehen konnte ich es trotzdem nicht. Immerhin verstand ich jetzt aber, warum Ura nicht sehr lange um Erin getrauert hatte.
     Ich wünschte nur, ich hätte es geschafft, Eren das Messer in den Hals zu rammen, als ich die Chance dazu hatte. Aber ich hatte gezögert. Ich hatte nicht töten können, weil ich zu schwach dazu gewesen war und jetzt würde dieses kleine Mädchen vielleicht dafür bezahlen. Ich konnte gar nicht sagen, wie sehr ich mich dafür verabscheute.
     Mari suchte sich ausgerechnet diesen Moment aus, um mich anzusehen und ihre tränennassen Augen gaben mir den Rest. Scham, Wut, Angst, das alles brannte in mir hoch und ließ die blauen Flecken schmerzen, die Eren mir zugefügt hatte.
     „Bitte nimm mit, Wulf-Papa!“, sagte sie wieder.
     Es war nicht das erste Mal, dass sie mich das fragte, aber es war das erste Mal, dass ich ernsthaft darüber nachdachte. Ich sah in ihre Augen und ich wusste, dass sie bald leblos sein würden, wenn ich einfach gehen würde und als ich Ura ansah, erkannte ich, dass auch sie es wusste. In ihren Augen war nichts als Angst zu sehen.

Es war ein guter Tag gewesen, um aufzubrechen. Nachdem es die letzten paar Tage ununterbrochen geregnet hatte, schien die Sonne endlich wieder an einem beinahe wolkenlosen Himmel. Trotzdem war ich froh, dass wir sie unter den dicken, dichten Blättern des Waldes kaum mal zu Gesicht bekamen. Es war auch ohne sie schon heiß genug hier. Nach dem Regen war es auch noch so feucht, dass ich hätte schwören können, dass ich mit meinem Becher Wasser aus der Luft hätte schöpfen können. Stattdessen schien die Feuchtigkeit sich als Schweiß dauerhaft auf meiner Haut festgesetzt zu haben.
     Deswegen tat ich den ganzen Tag eigentlich fast nichts, als in meinem Boot zu liegen, mich von der Strömung treiben zu lassen und den merkwürdigen Geräuschen des Urwaldes zu lauschen. Gerade hatte sich ein Affe dazu entschieden, ein schrilles Lied anzustimmen. Ich weiß noch, wie ich das erste Mal so ein Tier gesehen hatte. Ich hatte gerade ein Nickerchen gehalten und als ich von einem Geräusch geweckt worden war, hatte ich gedacht, dass da ein kleiner, haariger Kerl mir gerade mein Essen vor der Nase klauen würde. Als es dann aber mit Leichtigkeit vor meinen Angriffen auf einen nahegelegenen Baum gesprungen war, war ich beinahe ins Wasser gefallen. Mari hatte sich nicht mehr eingekriegt vor Lachen.
     Auch jetzt lag ich schläfrig in meinem Boot, aber da drang mir plötzlich ein merkwürdiger Geruch in die Nase. Es roch wie das trübe Wasser des Flusses, in dem wir schipperten, aber sehr viel intensiver. Als ich die Augen aufschlug und nachsah, starrte ich einem Fisch direkt in die Glubschaugen und ich erschrak beinahe zu Tode. Es versteht sich aber, dass ich das natürlich nicht nach außen hin zeigte.
     „Vorsicht! Ein Fischmonster greift dich an!“, hörte ich Mari rufen, während sie das Ganze mit äußerst authentischen Brülllauten untermalte.
     Als der angreifende Fisch zum Rückzug gezwungen wurde, sah ich ihr ins grinsende Gesicht. Seitdem ich sie vor zwei Jahren mitgenommen hatte, hatte sie ihre Pausbacken verloren und sie war ganz schön in die Höhe geschossen. Sie hatte sich äußerlich ziemlich verändert, war gleichzeitig jedoch ironischerweise kindischer geworden. Aber naja, immerhin war sie ja auch noch ein Kind. Es war einfach so, dass sie davor viel zu ernst gewesen war.
     Sie trug einen ärmellosen Überwurf aus Hanf, ganz ähnlich dem, den ich auch trug. Ich hatte beide bei der letzten Siedlung, die wir passiert hatten, gegen unsere viel zu dicken Sachen eingetauscht. Das war vor einigen Tagen gewesen, noch bevor wir diese bullenheiße Region erreicht hatten. Ihre Haare schnitt Mari inzwischen in regelmäßigen Abständen. Momentan fielen sie ihr bis auf die Schultern und wenn man sie fragte, gehörten sie mal wieder geschnitten, genauso, wie meine. Aber obwohl ich schwitzte wie sonst was, hatte ich ihr verboten, sich an meinen Haaren zu vergreifen. Ich hatte sie einst lang getragen und es immer bereut, sie wegen Wulfric und Samuel abgeschnitten zu haben.      
     Dass ich Mari mitgenommen hatte, hatte ich derweil nicht einmal bereut. Ura hatte ihre Tochter nur schweren Herzens gehen lassen, aber irgendwie hatte ich mich des Eindrucks auch nicht erwehren können, dass sie schon ein bisschen froh gewesen war, dass ich sie mitgenommen hatte. Vielleicht redete ich mir das auch nur ein und es war wirklich nur, weil sie selber Angst gehabt hatte, dass Eren ihrer Tochter etwas hätte antun können.
     Als Mari jetzt einen zweiten Angriff startete, schnappte ich sie mir. „Dann wird es wohl Zeit, dass wir das Mari-Fischmonster zurück ins Wasser schmeißen!“, sagte ich und tat dann so, als würde ich sie tatsächlich über Bord werfen. Mari stieß einen spitzen Schrei aus, ging dann aber zu grölendem Lachen über.
      „Das machst du ja eh nicht!“, feixte sie.
      Ich zog sie ins Boot zurück und dann saß sie auf meiner Brust. „Du hast ja recht. Was wäre ich nur ohne dich? Dann könnte ich ja mal in Ruhe schlafen.“ Ich lachte spielerisch. „Das wäre ja langweilig.“
     „Nicht wahr?“
      Ich konnte mir jedenfalls nicht mehr vorstellen, ohne das kleine Mädchen zu sein. Es war das erste Mal, dass ich wirklich verstehen konnte, warum Leute sich dazu entschlossen, Kinder in die Welt zu setzen.
      Mari rollte sich schließlich von mir runter und fing ihren Fisch wieder ein. Er würde wahrscheinlich unser Mittagessen werden. Das kleine Mädchen hatte eine ziemliche Leidenschaft fürs Angeln entwickelt. Ich fragte mich oft, wie sie es überhaupt schaffte, lange genug stillzusitzen, damit was anbiss. Sie war so voller Energie, dass ich mir manchmal alt dagegen vorkam.

Ich wollte es mir gerade wieder gemütlich machen, als das Boot plötzlich bedenklich zu schwanken begann. Normalerweise hätte ich dem nicht so viel Beachtung geschenkt, aber ich hatte inzwischen genug Erfahrung, um genau zu wissen, wie ich mich in einem Boot bewegen musste und auch, was gewisse Bewegungen des Bootes bedeuten. Sofort fuhr ich wieder in die Höhe und tatsächlich hörte ich da schon das Klatschen von Rudern auf Wasser, bevor ich das fremde Boot dazu überhaupt sehen konnte. Vor uns machte der Fluss eine Biegung. Das dichte Gestrüpp, das tief überm Wasser hing, raubte mir aber leider die Sicht auf denjenigen, der da näher kam.
     Natürlich war ich etwas beunruhigt. Ich wusste nicht, wer sich da näherte und ob er uns freundlich oder feindlich gesinnt war. Die letzten beiden Jahre hatten mir jedenfalls genug beigebracht, um mich vorsichtig werden zu lassen. Ich gab Mari ein Zeichen mit der Hand, woraufhin die sofort in ihrem Tanz erstarrte und sich flach ins Boot legte. Angestrengt starrte ich in das Dickicht vor uns, aus dem sich langsam etwas herauszuschälen begann. Ich war nun selber in Deckung gegangen und hatte meinen Speer bereit. Ich war noch immer miserabel mit dem Bogen, aber mit dem Speer inzwischen ganz passabel.
     Bevor ich jedoch auch nur dazu kommen konnte, ihn zu benutzen, sah ich plötzlich, wie sich etwas von der Seite näherte. Da kam etwas auf uns zugeflogen, das im nächsten Moment in die Seite unseres Bootes krachte. Es waren merkwürdige Speere mit Haken, an die man Seile befestigt hatte. Das war alles, was ich erkannte, bevor ich einen Stich im Nacken spürte und dann vornüber kippte. Ich landete hart im Boot, aber bevor mir schwarz vor Augen wurde, sah ich noch, wie Mari über Bord ging.   

Ich schreckte aus einem fürchterlichen Alptraum, in dem Mari mir ertrunken war, nur, um mich in Dunkelheit wiederzufinden. Für einen Moment glaubte ich, noch zu schlafen, dann aber wurde mir klar, dass ich meine Augen offen hatte. Die hatten sich auch gerade genug an die Dunkelheit gewöhnt, damit ich erste, vage Umrisse erkennen konnte. Doch was ich sah, sagte mir überhaupt nichts. Dunkelheit und Schatten.
     Ich stolperte vorwärts und knallte hart gegen etwas Unsichtbares. Ich fühlte mich fürchterlich schwach auf den Beinen, sodass ich mich wieder setzen musste. Nur langsam klärte sich mein Kopf soweit, dass ich klar denken konnte. Mit Schrecken erinnerte ich mich da an meinen Traum und sofort war ich wieder auf den Beinen. „Mari!“, rief ich sie.
      Aber mein Ruf blieb unbeantwortet. Stattdessen war da plötzlich eine Bewegung neben mir, die mich alarmiert herumwirbeln ließ. Ich wollte mein Messer ziehen, aber da fiel mir auf, dass es nicht da war, wo es sein sollte. Es war gar nirgends. Es war weg! Plötzlich hörte ich eine Stimme, die ganz eindeutig nicht Mari gehörte. Dafür war sie zu tief. Ich verstand nicht, was da gesagt wurde und ich wusste auch nicht, ob ich überhaupt antworten sollte. Ich hatte jedenfalls keine Lust darauf, gleich wieder hinterrücks schlafen gelegt zu werden.
      Bevor ich etwas tun konnte, erschien schließlich jemand vor mir, der aus der Dunkelheit gekommen war. Als er nahe genug vor mir stand, konnte ich auch endlich sein Gesicht sehen, und als ich sah, wer da vor mir stand, musste ich mich doch wieder setzen. Da stand doch tatsächlich Lu vor mir! Oder zumindest ein ziemlich dunkler Lu. Wie Rahn. Nur ohne Bart und mit glattem Haar. Er hatte dasselbe, runde Gesicht, die filigranen Gesichtszüge und die komischen Hamsterbacken, die auch Lu hatte.
      „Okay, ich glaube, jetzt werde ich langsam bescheuert“, sagte ich langsam zu mir. „Vielleicht schlafe ich ja auch noch. Ja, das wird es sein.“
       Der dunkle Lu sagte wieder etwas, das ich nicht verstand und als ich nicht reagierte, erschien er plötzlich in meinem Sichtfeld. Da war ich wieder auf den Beinen und ging auf Abstand.
      „Geh weg und hör auf, mich zu verfolgen! Ich hab die letzten Jahre nicht an dich gedacht und jetzt werde ich bestimmt nicht damit anfangen!“ Das war gelogen, aber das musste er ja nicht wissen. „Sag mir lieber, wo Mari ist!“
      Der dunkle Lu sah mich verständnislos an, dann zeigte er auf sich. „Isaac“, sagte er langsam, als wäre ich schwer von Begriff. Vielleicht war ich das ja gerade auch. Er musste es jedenfalls nochmal wiederholen, bevor ich verstand.
      „Isaac? Ist das dein Name?“
      Er nickte unsicher und langsam sah ich auch, dass es nicht Lu war, den ich vor mir hatte. Er sah ihm zwar verdammt ähnlich, aber er war es nicht. Also träumte ich nicht. Ich war wach und ich war… ja, wo war ich eigentlich? Und wo war Mari? Angst durchflutete mich, als ich an das letzte Mal dachte, als ich sie gesehen hatte. Ich hatte gedacht, dass es nur ein böser Traum gewesen war, dass sie über Bord gegangen war. Aber was war, wenn es kein Traum gewesen war?
     Ich wandte mich hastig an Isaac. „Wulfgar“, tat ich es ihm gleich, indem ich ihm meinen Namen nannte. „Hast du ein kleines Mädchen gesehen?“
     Ich streckte die Hand flach vor meiner Brust aus, um ihm zu zeigen, wie groß sie war.
     „Mari. Ein kleines Mädchen. Hast du sie gesehen?“
     Doch Isaac sah mich nur hilflos an und schüttelte den Kopf. Da war der Schrecken wieder da. Wo nur war Mari? Es war mir egal, was mit mir geschah, aber wenn Mari was passiert wäre, würde ich mir das nie verzeihen.
      Meine Gedanken wurden unterbrochen, als die Dunkelheit im nächsten Moment durch ein grelles Licht geflutet wurde. Ich versuchte, etwas zu erkennen, aber es war mir unmöglich. Ganz automatisch kniff ich die Augen zusammen und ich war schon ganz froh, als es endlich wieder dunkel war.
     Als ich einen Blick wagte, tanzten einen Moment lang leuchtende Punkte vor meinen Augen, dann aber erkannte ich endlich wieder was. Da war noch immer ein bisschen Licht, das von irgendwoher reinkam. Es erleuchtete die Person, die nun vor uns im Dunkeln hockte, aber nur unzureichend. Ich konnte nicht mal sagen, ob es ein Mann oder eine Frau war. Dafür sah ich jetzt aber, dass da Gitterstäbe zwischen uns und dem Neuankömmling waren.
     Isaac war im nächsten Moment neben mir und begann, in seiner unverständlichen Sprache auf den Anderen einzureden. Er klang tatsächlich wütend, sodass er mir nun doch wieder wie Lu vorkam. Doch er wurde ignoriert, als wäre er gar nicht da. Eine Schale wurde ins Innere unseres Käfigs geschoben, dann eine zweite, bevor unser Besucher ging und uns wieder allein mit der Dunkelheit ließ.
     Während Isaac sich schwer neben mich fallen ließ, untersuchte ich, was auch immer uns gebracht wurde. Dem Geruch nach zu urteilen war es Essen und das erinnerte mich sofort daran, dass ich vorher um mein Mittagessen betrogen worden war. Ich war versucht, es zu probieren, immerhin musste ich bei Kräften bleiben, aber da hatte Isaac mein Handgelenk gepackt. Als ich ihn ansah, sah er mich so eindringlich an, dass ich schauderte. Er schüttelte den Kopf und ich wünschte nur, dass ich ihn verdammt nochmal verstehen würde.
     Er zog sich zurück und dann begann er wieder, zu gestikulieren. Er deutete auf das Essen, tat so, als würde ihm die Kehle durchgeschnitten, wieder das Essen und dann fing er an, Luft zu verspeisen. Ich war mir nicht sicher, ob ich ihn richtig verstand, aber wenn ich mich nicht irrte, war ich mir auch nicht sicher, ob ich es überhaupt verstehen wollte. Als Isaac der Schale einen verstörten Blick zuwarf und sie angewidert von sich schob, wurde mir jedenfalls ganz flau im Magen. Menschenfresser! Ausgerechnet!
     Ich bemerkte, dass Isaac sich verstohlen umsah, bevor er sich erhob und mir bedeutete, ihm zu folgen. Wir gingen in eine Ecke unseres Käfigs, wo er nach oben deutete. Undeutlich erkannte ich weitere Holzstäbe über unseren Köpfen. Außerhalb unserer Reichweite. Erneut gab es eine Runde Gestikulieren, in der er so tat, als würde er etwas schultern. Da oben war wahrscheinlich ein Ausgang, nahm ich mal an. Ich musterte Isaac einen Moment. Ich war scheinbar der Kräftigere von uns beiden. Also ließ ich ihn auf meine Schultern steigen.
     Eigentlich hatte ich im Moment ja andere Probleme, aber ich konnte dennoch nicht verhindern, dass es mir ein bisschen unangenehm war, denn Isaac war vollkommen nackt. Ich versuchte, das zu ignorieren und konzentrierte mich stattdessen voll darauf, meine Balance zu halten. Isaac war zwar ein Fliegengewicht, wie ich es mir gedacht hatte, aber er hatte damit begonnen, mit Kraft an etwas zu reißen und ich musste mich ganz schön anstrengen, um nicht umzufallen.
     Plötzlich hörte ich etwas, oder besser gesagt jemanden rufen. Schritte, dann plötzlich stach es mir so heftig in der Seite, dass ich taumelte. Isaac schaffte es gerade noch so, von mir zu springen, bevor ich einknickte. Als ich nachsah, was mich da gestochen hatte, war ich Aug in Aug mit einer Speerspitze, die jemand außerhalb des Käfigs in der Hand hielt. Isaac und unser mutmaßlicher Wächter tauschten ein paar böse Worte (nahm ich mal an), dann wurde der Speer weggenommen und ich kam endlich dazu, nachzusehen, wie tief meine Wunde war. Nicht sehr tief, wie sich herausstellte, aber tief genug, dass ich es lieber kein zweites Mal darauf ankommen lassen wollte, unseren Wächter zu ärgern. 

Inzwischen hatte sich unser Wächter eine Fackel bringen lassen. Das erhellte unsere Ecke, in der wir gefangen waren, zwar überhaupt nicht, aber immerhin konnten wir jetzt sehen, dass unser Wächter gerade ein Nickerchen hielt. Er war ein merkwürdiger, gräulicher Kerl, aber immerhin hatte er sich einen Lendenschurz leisten können.
     Isaac hatte trotzdem keinen zweiten Fluchtversuch unternommen. Stattdessen war er dazu übergegangen, angestrengt nachzudenken. Zumindest sah er so aus. Ab und an warf er mir einen Blick zu, als würde er mir etwas sagen wollen, aber dann ließ er es doch sein. Meine Gedanken hingegen waren die ganze Zeit über bei Mari und meiner Angst, dass sie tatsächlich untergegangen sein könnte. Das war zwar immer noch besser, als von diesen Verrückten gefressen zu werden, aber ich hoffte trotzdem, dass sie es irgendwie geschafft hatte, zu überleben und wegzukommen. Solange sie überlebte, war alles andere egal.
     Ich weiß nicht, wie lange wir da saßen, bis erneut eine Flutwelle Licht uns versuchte, blind zu machen. Ich hörte noch, bevor ich es sah, dass sie sich Isaac geholt haben mussten. Er war wütend am Schimpfen, aber das half ihm leider auch nicht. Sie kamen über eine Leiter in unseren Käfig, während draußen zwei mit merkwürdigen Röhren vorm Mund auf uns angelegt hatten. Hätte ich es nicht schon woanders mal gesehen, hätte mich das ja nicht so beeindruckt. Aber ich wusste, dass sie damit ihre Pfeile verschossen, die mich letztens wahrscheinlich ins Reich der Träume gesandt hatten.
     Isaac hatte keine Chance, dass sie ihn mit sich nahmen. Alles, was er tun konnte, war mir einen Blick zuzuwerfen, der so voller Angst war, dass mir selber das Herz stehenblieb. Ich wusste, dass sie ihn holten, um ihn zu fressen und dass ich der Nächste sein würde. Und ich konnte nichts dagegen machen.

Es war kaum wieder dunkel und ich hatte nicht mal Zeit, mir meiner Ohnmacht bewusst zu werden, als es im hinteren Bereich des Raumes ein dumpfes Geräusch gab, als wäre gerade ein Sack umgefallen. Als ich aufsah, bemerkte ich, dass da tatsächlich was umgefallen war, auch wenn es nur mein Wächter war. Der Schreck, dass sie Isaac geholt hatten, saß mir noch immer so tief, dass ich das alles wie durch einen Nebel hindurch wahrnahm. Auch, als plötzlich ein bekanntes Gesicht an meinen Gitterstäben erschien, brauchte ich einen Moment, um das zu realisieren. Aber als ich es erkannte, war ich sofort auf den Beinen.
      „Mari!“
     Ich schob meine Arme durch die Holzstäbe und drückte das Mädchen erleichtert an mich. Sie sah zwar genauso grau aus, wie mein Wächter, und sie hatte sich ihren Überwurf um die Hüften geschlungen, aber es war ganz eindeutig Mari.
      „Was machst du hier?“
     „Dich retten; doofe Frage!“, erklärte sie, während sie sich umsah, wie sie mich eigentlich befreien konnte.
     Ich deutete auf die Leiter, die noch immer an meinem Käfig lehnte und Mari verstand. Flink wie ein Affe erklomm sie sie und als sie oben war, zog sie ihr Messer und schnitt das Seil entzwei, das den Einstieg zum Käfig verschlossen hielt. Die Luke ging auf, nur, dass ich immer noch zu klein war, um sie zu erreichen. Die Holzstäbe sahen mir auch nicht so aus, als ob ich sie erklimmen könnte. Nicht, dass ich es nicht auf einen Versuch ankommen lassen würde.
     „Warte! Ich schieb die Leiter zu dir“, hörte ich Mari von oben rufen.
     Natürlich ging es auch so. Sie stieg die Leiter also wieder hinab und kurz darauf hatte ich sie drinnen. Ich kann nicht sagen, wie froh ich war, als ich endlich wieder draußen war und vor meinem kleinen Mädchen stand. 
     „Wie bist du hierhergekommen?“, wollte ich wissen. „Ich hab gesehen, wie du in den Fluss gefallen bist.“
     „Bin ich auch. Aber da war es zum Glück nicht tief. Ich hab mich geduckt und bin unterm Wasser geblieben. Da waren ja so große Blätter am Ufer. Da bin ich hin und hab mich versteckt“, erklärte sie stolz. „Ich hab ewig gebraucht, um dich zu finden. Dann hab ich mich mit Schlamm beschmiert und hab mich untergemischt und ein paar ihrer komischen Pfeile geklaut. Ich hab gesehen, wie sie dich damit abgeschossen haben. Hat auch gut bei dem da drüben funktioniert. Die haben mich nicht mal bemerkt, als ich vorhin mit denen reingekommen bin.“
      Ich nickte. Ich hatte noch einiges zu sagen, aber das musste warten. „Dann sollten wir besser zusehen, dass wir hier rauskommen.“
     Mari erwiderte mein Nicken und obwohl ich das nicht wollte, huschte sie an mir vorbei und sah nach, ob die Luft rein war. Als sie mir zuwinkte, ging ich zu ihr und schlüpfte mit ihr zusammen raus ins Freie. Es war verdammt grell, sodass Mari mich zuerst führen musste und ich ziemlich Sorge hatte, dass sie uns entdecken könnten. Als es dann wieder ging, konnte ich auch erstmals sehen, wo wir uns eigentlich befanden.
     Da waren mehrere runde Hütten, die scheinbar aus riesigen Blättern bestanden. Vielleicht waren sie auch genauso gewachsen, mitten zwischen die Bäume im Dschungel, zwischen denen sie standen. Es gab ein Feuer in der Mitte, dem einzigen Platz, an dem der Dschungel nichts ins Dorf vorgedrungen zu sein schien. Es war ein enges, gedrungenes Dorf und die Menschen mussten sich wie Ameisen an den wenigen freien Stellen zusammendrängen, die es gab. Aber das wirklich beeindruckende war das riesige Monstrum, das sich gerade am Feuer ausstreckte. Es sah aus, wie ein Panther, war aber noch viel größer, als einer. Sein Fell war so grell orange, wie ich es kaum je gesehen hatte, mit schwarzen Streifen, die den ganzen Körper bedeckten. Als es gähnte, entblößte es ein paar echt große Zähne. Und alles, was ich mich fragen konnte, war: Wie zum Kuckuck zähmte man so etwas nur?
     Ich war so fasziniert davon, dass Mari mich erst am Arm ziehen musste, damit ich weiterging. Wie es schien, waren die Dorfbewohner gerade glücklicherweise damit beschäftigt, sich bei der riesigen Katze in der Dorfmitte einzufinden. Und bevor ich mich abwenden konnte, sah ich auch, warum. Da kam nämlich gerade Isaac aus einer der Hütten raus. Er trug einen merkwürdigen Kopfschmuck mit grellen roten und blauen Farben, aber genau konnte ich es auch nicht erkennen. Er sah zumindest ziemlich festlich aus. Zuerst dachte ich schon, dass er doch zu denen da unten gehörte, dann aber sah ich, dass seine Hände gefesselt waren.
     Sie führten ihn zur Schlachtbank, erkannte ich mit Schrecken. Dennoch war sein Blick erhoben; erhaben blickte er in die umliegenden Gesichter. Bis er schließlich an mir hängen blieb. Die Zuschauer, die sich um Isaac versammelt hatten, standen zum Glück mit dem Rücken zu uns, aber dennoch hatte ich Sorge, dass sie bemerken würden, wie er mich anstarrte. Dann jedoch wandte er seinen Blick hastig wieder ab und so schlecht ich mich auch dabei fühlte, ich war ihm dankbar dafür. Er wusste, dass sie ihn töten würden, da kam sogar schon einer mit einer riesigen Klinge in der Hand, aber dennoch würde er uns nicht verraten. 

Hier weiterlesen -> Kapitel 6 

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