Ich hatte mit Ura abgesprochen, bis zum nächsten Morgen
bleiben zu können, bevor ich wieder abreisen würde. Die Nacht verbrachte ich
aber trotzdem lieber unter freiem Himmel. Mari war die ganze Zeit über bei mir,
und auch jetzt war sie es. Das Boot, das ich den Winter über gebaut hatte,
wartete hinter mir im Fluss, alles war gepackt und bereit zum Abfahren, aber
Mari hing an mir und wollte mich überhaupt nicht gehen lassen. Ich konnte es
ihr nicht verdenken; ich hatte nach gestern auch tierische Angst um sie.
Ich warf ihrer
Mutter, die demonstrativ weit abseits stand, einen vorwurfsvollen Blick zu, den
sie kalt erwiderte. Wir hatten den gestrigen Tag nach meiner Rückkehr beinahe
nur damit zugebracht, uns Vorwürfe an den Kopf zu schmeißen. Am lustigsten
hatte ich den Part gefunden, an dem sie angefangen hatte, Eren in Schutz zu
nehmen.
In Bärenwald war ich jetzt ein
Ausgestoßener. Dan hatte da natürlich auch nichts gegen machen können, und
ich nahm ihm das auch nicht übel. Da es mir auch nicht so zusagte, mit einer
Bekloppten unter einem Dach zu leben, hatte ich deshalb beschlossen, die
nächste Gelegenheit beim Schopf zu packen und von hier zu verschwinden.
Wenn da nur nicht Mari gewesen wäre. Ich
strich dem schluchzenden Mädchen beruhigend über den Kopf, aber es wollte sich überhaupt
nicht mehr beruhigen, was ich auch nur zu gut verstehen konnte. Sie hatte
mitbekommen, was passiert war und jetzt würde sie gezwungen sein, bald mit dem
Mann unter einem Dach zu leben, der ihren Vater getötet hatte. Und der ganz
nebenbei auch noch ihr Leben bedrohte.
Ja, ganz
richtig, neben der Tatsache, dass Ura Eren in Schutz genommen hatte, hatte sie
sich obendrein auch noch dazu entschlossen, ihn als neuen Mann zu nehmen,
nachdem ich jetzt wieder weggehen würde. Dan hatte mir noch erzählt, dass die
beiden wohl schon die ganze Zeit immer mal wieder was miteinander hatten, aber
verstehen konnte ich es trotzdem nicht. Immerhin verstand ich jetzt aber, warum
Ura nicht sehr lange um Erin getrauert hatte.
Ich wünschte
nur, ich hätte es geschafft, Eren das Messer in den Hals zu rammen, als ich die
Chance dazu hatte. Aber ich hatte gezögert. Ich hatte nicht töten können, weil
ich zu schwach dazu gewesen war und jetzt würde dieses kleine Mädchen
vielleicht dafür bezahlen. Ich konnte gar nicht sagen, wie sehr ich mich dafür
verabscheute.
Mari suchte
sich ausgerechnet diesen Moment aus, um mich anzusehen und ihre tränennassen
Augen gaben mir den Rest. Scham, Wut, Angst, das alles brannte in mir hoch und
ließ die blauen Flecken schmerzen, die Eren mir zugefügt hatte.
„Bitte nimm
mit, Wulf-Papa!“, sagte sie wieder.
Es war nicht
das erste Mal, dass sie mich das fragte, aber es war das erste Mal, dass ich
ernsthaft darüber nachdachte. Ich sah in ihre Augen und ich wusste, dass sie
bald leblos sein würden, wenn ich einfach gehen würde und als ich Ura ansah,
erkannte ich, dass auch sie es wusste. In ihren Augen war nichts als Angst zu
sehen.
Es war ein guter Tag gewesen, um aufzubrechen. Nachdem es
die letzten paar Tage ununterbrochen geregnet hatte, schien die Sonne endlich
wieder an einem beinahe wolkenlosen Himmel. Trotzdem war ich froh, dass wir sie
unter den dicken, dichten Blättern des Waldes kaum mal zu Gesicht bekamen. Es
war auch ohne sie schon heiß genug hier. Nach dem Regen war es auch noch so
feucht, dass ich hätte schwören können, dass ich mit meinem Becher Wasser aus
der Luft hätte schöpfen können. Stattdessen schien die Feuchtigkeit sich als
Schweiß dauerhaft auf meiner Haut festgesetzt zu haben.
Deswegen tat
ich den ganzen Tag eigentlich fast nichts, als in meinem Boot zu liegen, mich
von der Strömung treiben zu lassen und den merkwürdigen Geräuschen des Urwaldes
zu lauschen. Gerade hatte sich ein Affe dazu entschieden, ein schrilles Lied
anzustimmen. Ich weiß noch, wie ich das erste Mal so ein Tier gesehen hatte. Ich
hatte gerade ein Nickerchen gehalten und als ich von einem Geräusch geweckt
worden war, hatte ich gedacht, dass da ein kleiner, haariger Kerl mir gerade
mein Essen vor der Nase klauen würde. Als es dann aber mit Leichtigkeit vor
meinen Angriffen auf einen nahegelegenen Baum gesprungen war, war ich beinahe
ins Wasser gefallen. Mari hatte sich nicht mehr eingekriegt vor Lachen.
Auch jetzt lag
ich schläfrig in meinem Boot, aber da drang mir plötzlich ein merkwürdiger
Geruch in die Nase. Es roch wie das trübe Wasser des Flusses, in dem wir
schipperten, aber sehr viel intensiver. Als ich die Augen aufschlug und
nachsah, starrte ich einem Fisch direkt in die Glubschaugen und ich erschrak
beinahe zu Tode. Es versteht sich aber, dass ich das natürlich nicht nach außen
hin zeigte.
„Vorsicht! Ein
Fischmonster greift dich an!“, hörte ich Mari rufen, während sie das Ganze mit
äußerst authentischen Brülllauten untermalte.
Als der
angreifende Fisch zum Rückzug gezwungen wurde, sah ich ihr ins grinsende
Gesicht. Seitdem ich sie vor zwei Jahren mitgenommen hatte, hatte sie ihre
Pausbacken verloren und sie war ganz schön in die Höhe geschossen. Sie hatte
sich äußerlich ziemlich verändert, war gleichzeitig jedoch ironischerweise
kindischer geworden. Aber naja, immerhin war sie ja auch noch ein Kind. Es war
einfach so, dass sie davor viel zu ernst gewesen war.
Sie trug einen
ärmellosen Überwurf aus Hanf, ganz ähnlich dem, den ich auch trug. Ich hatte beide
bei der letzten Siedlung, die wir passiert hatten, gegen unsere viel zu dicken
Sachen eingetauscht. Das war vor einigen Tagen gewesen, noch bevor wir diese
bullenheiße Region erreicht hatten. Ihre Haare schnitt Mari inzwischen in
regelmäßigen Abständen. Momentan fielen sie ihr bis auf die Schultern und wenn
man sie fragte, gehörten sie mal wieder geschnitten, genauso, wie meine. Aber
obwohl ich schwitzte wie sonst was, hatte ich ihr verboten, sich an meinen
Haaren zu vergreifen. Ich hatte sie einst lang getragen und es immer bereut, sie
wegen Wulfric und Samuel abgeschnitten zu haben.
Dass ich Mari
mitgenommen hatte, hatte ich derweil nicht einmal bereut. Ura hatte ihre
Tochter nur schweren Herzens gehen lassen, aber irgendwie hatte ich mich des
Eindrucks auch nicht erwehren können, dass sie schon ein bisschen froh gewesen
war, dass ich sie mitgenommen hatte. Vielleicht redete ich mir das auch nur ein und
es war wirklich nur, weil sie selber Angst gehabt hatte, dass Eren ihrer
Tochter etwas hätte antun können.
Als Mari jetzt
einen zweiten Angriff startete, schnappte ich sie mir. „Dann wird es wohl Zeit,
dass wir das Mari-Fischmonster zurück ins Wasser schmeißen!“, sagte ich und tat
dann so, als würde ich sie tatsächlich über Bord werfen. Mari stieß einen
spitzen Schrei aus, ging dann aber zu grölendem Lachen über.
„Das machst
du ja eh nicht!“, feixte sie.
Ich zog sie
ins Boot zurück und dann saß sie auf meiner Brust. „Du hast ja recht. Was wäre
ich nur ohne dich? Dann könnte ich ja mal in Ruhe schlafen.“ Ich lachte
spielerisch. „Das wäre ja langweilig.“
„Nicht wahr?“
Ich konnte
mir jedenfalls nicht mehr vorstellen, ohne das kleine Mädchen zu sein. Es war
das erste Mal, dass ich wirklich verstehen konnte, warum Leute sich dazu
entschlossen, Kinder in die Welt zu setzen.
Mari rollte
sich schließlich von mir runter und fing ihren Fisch wieder ein. Er würde
wahrscheinlich unser Mittagessen werden. Das kleine Mädchen hatte eine
ziemliche Leidenschaft fürs Angeln entwickelt. Ich fragte mich oft, wie sie es
überhaupt schaffte, lange genug stillzusitzen, damit was anbiss. Sie war so
voller Energie, dass ich mir manchmal alt dagegen vorkam.
Ich wollte es mir gerade wieder gemütlich machen, als das
Boot plötzlich bedenklich zu schwanken begann. Normalerweise hätte ich dem
nicht so viel Beachtung geschenkt, aber ich hatte inzwischen genug Erfahrung,
um genau zu wissen, wie ich mich in einem Boot bewegen musste und auch, was
gewisse Bewegungen des Bootes bedeuten. Sofort fuhr ich wieder in die Höhe und
tatsächlich hörte ich da schon das Klatschen von Rudern auf Wasser, bevor ich das
fremde Boot dazu überhaupt sehen konnte. Vor uns machte der Fluss eine Biegung.
Das dichte Gestrüpp, das tief überm Wasser hing, raubte mir aber leider die
Sicht auf denjenigen, der da näher kam.
Natürlich war
ich etwas beunruhigt. Ich wusste nicht, wer sich da näherte und ob er uns
freundlich oder feindlich gesinnt war. Die letzten beiden Jahre hatten mir
jedenfalls genug beigebracht, um mich vorsichtig werden zu lassen. Ich gab Mari
ein Zeichen mit der Hand, woraufhin die sofort in ihrem Tanz erstarrte und sich
flach ins Boot legte. Angestrengt starrte ich in das Dickicht vor uns, aus dem
sich langsam etwas herauszuschälen begann. Ich war nun selber in Deckung
gegangen und hatte meinen Speer bereit. Ich war noch immer miserabel mit dem
Bogen, aber mit dem Speer inzwischen ganz passabel.
Bevor ich
jedoch auch nur dazu kommen konnte, ihn zu benutzen, sah ich plötzlich, wie
sich etwas von der Seite näherte. Da kam etwas auf uns zugeflogen, das im
nächsten Moment in die Seite unseres Bootes krachte. Es waren merkwürdige
Speere mit Haken, an die man Seile befestigt hatte. Das war alles, was ich erkannte,
bevor ich einen Stich im Nacken spürte und dann vornüber kippte. Ich landete
hart im Boot, aber bevor mir schwarz vor Augen wurde, sah ich noch, wie Mari über
Bord ging.
Ich schreckte aus einem fürchterlichen Alptraum, in dem
Mari mir ertrunken war, nur, um mich in Dunkelheit wiederzufinden. Für einen
Moment glaubte ich, noch zu schlafen, dann aber wurde mir klar, dass ich meine
Augen offen hatte. Die hatten sich auch gerade genug an die Dunkelheit gewöhnt,
damit ich erste, vage Umrisse erkennen konnte. Doch was ich sah, sagte mir
überhaupt nichts. Dunkelheit und Schatten.
Ich stolperte
vorwärts und knallte hart gegen etwas Unsichtbares. Ich fühlte mich fürchterlich
schwach auf den Beinen, sodass ich mich wieder setzen musste. Nur langsam
klärte sich mein Kopf soweit, dass ich klar denken konnte. Mit Schrecken
erinnerte ich mich da an meinen Traum und sofort war ich wieder auf den Beinen.
„Mari!“, rief ich sie.
Aber mein Ruf
blieb unbeantwortet. Stattdessen war da plötzlich eine Bewegung neben mir, die
mich alarmiert herumwirbeln ließ. Ich wollte mein Messer ziehen, aber da fiel
mir auf, dass es nicht da war, wo es sein sollte. Es war gar nirgends. Es war
weg! Plötzlich hörte ich eine Stimme, die ganz eindeutig nicht Mari gehörte. Dafür
war sie zu tief. Ich verstand nicht, was da gesagt wurde und ich wusste auch
nicht, ob ich überhaupt antworten sollte. Ich hatte jedenfalls keine Lust
darauf, gleich wieder hinterrücks schlafen gelegt zu werden.
Bevor ich
etwas tun konnte, erschien schließlich jemand vor mir, der aus der Dunkelheit gekommen
war. Als er nahe genug vor mir stand, konnte ich auch endlich sein Gesicht sehen,
und als ich sah, wer da vor mir stand, musste ich mich doch wieder setzen. Da
stand doch tatsächlich Lu vor mir! Oder zumindest ein ziemlich dunkler Lu. Wie
Rahn. Nur ohne Bart und mit glattem Haar. Er hatte dasselbe, runde Gesicht, die
filigranen Gesichtszüge und die komischen Hamsterbacken, die auch Lu hatte.
„Okay, ich glaube, jetzt werde ich langsam
bescheuert“, sagte ich langsam zu mir. „Vielleicht schlafe ich ja auch noch.
Ja, das wird es sein.“
Der dunkle
Lu sagte wieder etwas, das ich nicht verstand und als ich nicht reagierte,
erschien er plötzlich in meinem Sichtfeld. Da war ich wieder auf den Beinen und
ging auf Abstand.
„Geh weg und
hör auf, mich zu verfolgen! Ich hab die letzten Jahre nicht an dich gedacht und
jetzt werde ich bestimmt nicht damit anfangen!“ Das war gelogen, aber das
musste er ja nicht wissen. „Sag mir lieber, wo Mari ist!“
Der dunkle Lu
sah mich verständnislos an, dann zeigte er auf sich. „Isaac“, sagte er langsam,
als wäre ich schwer von Begriff. Vielleicht war ich das ja gerade auch. Er
musste es jedenfalls nochmal wiederholen, bevor ich verstand.
„Isaac? Ist
das dein Name?“
Er nickte
unsicher und langsam sah ich auch, dass es nicht Lu war, den ich vor mir hatte.
Er sah ihm zwar verdammt ähnlich, aber er war es nicht. Also träumte ich nicht.
Ich war wach und ich war… ja, wo war ich eigentlich? Und wo war Mari? Angst
durchflutete mich, als ich an das letzte Mal dachte, als ich sie gesehen hatte.
Ich hatte gedacht, dass es nur ein böser Traum gewesen war, dass sie über Bord
gegangen war. Aber was war, wenn es kein Traum gewesen war?
Ich wandte
mich hastig an Isaac. „Wulfgar“, tat ich es ihm gleich, indem ich ihm meinen
Namen nannte. „Hast du ein kleines Mädchen gesehen?“
Ich streckte
die Hand flach vor meiner Brust aus, um ihm zu zeigen, wie groß sie war.
„Mari. Ein
kleines Mädchen. Hast du sie gesehen?“
Doch Isaac sah
mich nur hilflos an und schüttelte den Kopf. Da war der Schrecken wieder da. Wo
nur war Mari? Es war mir egal, was mit mir geschah, aber wenn Mari was passiert
wäre, würde ich mir das nie verzeihen.
Meine
Gedanken wurden unterbrochen, als die Dunkelheit im nächsten Moment durch ein
grelles Licht geflutet wurde. Ich versuchte, etwas zu erkennen, aber es war mir
unmöglich. Ganz automatisch kniff ich die Augen zusammen und ich war schon ganz
froh, als es endlich wieder dunkel war.
Als ich einen
Blick wagte, tanzten einen Moment lang leuchtende Punkte vor meinen Augen, dann
aber erkannte ich endlich wieder was. Da war noch immer ein bisschen Licht, das
von irgendwoher reinkam. Es erleuchtete die Person, die nun vor uns im Dunkeln
hockte, aber nur unzureichend. Ich konnte nicht mal sagen, ob es ein Mann oder
eine Frau war. Dafür sah ich jetzt aber, dass da Gitterstäbe zwischen uns und
dem Neuankömmling waren.
Isaac war im
nächsten Moment neben mir und begann, in seiner unverständlichen Sprache auf
den Anderen einzureden. Er klang tatsächlich wütend, sodass er mir nun doch
wieder wie Lu vorkam. Doch er wurde ignoriert, als wäre er gar nicht da. Eine
Schale wurde ins Innere unseres Käfigs geschoben, dann eine zweite, bevor unser
Besucher ging und uns wieder allein mit der Dunkelheit ließ.
Während Isaac
sich schwer neben mich fallen ließ, untersuchte ich, was auch immer uns
gebracht wurde. Dem Geruch nach zu urteilen war es Essen und das erinnerte mich
sofort daran, dass ich vorher um mein Mittagessen betrogen worden war. Ich war
versucht, es zu probieren, immerhin musste ich bei Kräften bleiben, aber da
hatte Isaac mein Handgelenk gepackt. Als ich ihn ansah, sah er mich so
eindringlich an, dass ich schauderte. Er schüttelte den Kopf und ich wünschte
nur, dass ich ihn verdammt nochmal verstehen würde.
Er zog sich
zurück und dann begann er wieder, zu gestikulieren. Er deutete auf das Essen,
tat so, als würde ihm die Kehle durchgeschnitten, wieder das Essen und dann
fing er an, Luft zu verspeisen. Ich war mir nicht sicher, ob ich ihn richtig
verstand, aber wenn ich mich nicht irrte, war ich mir auch nicht sicher, ob ich
es überhaupt verstehen wollte. Als Isaac der Schale einen verstörten Blick
zuwarf und sie angewidert von sich schob, wurde mir jedenfalls ganz flau im
Magen. Menschenfresser! Ausgerechnet!
Ich bemerkte,
dass Isaac sich verstohlen umsah, bevor er sich erhob und mir bedeutete, ihm zu
folgen. Wir gingen in eine Ecke unseres Käfigs, wo er nach oben deutete.
Undeutlich erkannte ich weitere Holzstäbe über unseren Köpfen. Außerhalb
unserer Reichweite. Erneut gab es eine Runde Gestikulieren, in der er so tat,
als würde er etwas schultern. Da oben war wahrscheinlich ein Ausgang, nahm ich
mal an. Ich musterte Isaac einen Moment. Ich war scheinbar der Kräftigere von
uns beiden. Also ließ ich ihn auf meine Schultern steigen.
Eigentlich
hatte ich im Moment ja andere Probleme, aber ich konnte dennoch nicht
verhindern, dass es mir ein bisschen unangenehm war, denn Isaac war vollkommen
nackt. Ich versuchte, das zu ignorieren und konzentrierte mich stattdessen voll
darauf, meine Balance zu halten. Isaac war zwar ein Fliegengewicht, wie ich es
mir gedacht hatte, aber er hatte damit begonnen, mit Kraft an etwas zu reißen
und ich musste mich ganz schön anstrengen, um nicht umzufallen.
Plötzlich
hörte ich etwas, oder besser gesagt jemanden rufen. Schritte, dann plötzlich
stach es mir so heftig in der Seite, dass ich taumelte. Isaac schaffte es
gerade noch so, von mir zu springen, bevor ich einknickte. Als ich nachsah, was
mich da gestochen hatte, war ich Aug in Aug mit einer Speerspitze, die jemand
außerhalb des Käfigs in der Hand hielt. Isaac und unser mutmaßlicher Wächter
tauschten ein paar böse Worte (nahm ich mal an), dann wurde der Speer
weggenommen und ich kam endlich dazu, nachzusehen, wie tief meine Wunde war.
Nicht sehr tief, wie sich herausstellte, aber tief genug, dass ich es lieber kein
zweites Mal darauf ankommen lassen wollte, unseren Wächter zu ärgern.
Inzwischen hatte sich unser Wächter eine Fackel bringen
lassen. Das erhellte unsere Ecke, in der wir gefangen waren, zwar überhaupt
nicht, aber immerhin konnten wir jetzt sehen, dass unser Wächter gerade ein
Nickerchen hielt. Er war ein merkwürdiger, gräulicher Kerl, aber immerhin hatte
er sich einen Lendenschurz leisten können.
Isaac hatte
trotzdem keinen zweiten Fluchtversuch unternommen. Stattdessen war er dazu
übergegangen, angestrengt nachzudenken. Zumindest sah er so aus. Ab und an warf
er mir einen Blick zu, als würde er mir etwas sagen wollen, aber dann ließ er
es doch sein. Meine Gedanken hingegen waren die ganze Zeit über bei Mari und
meiner Angst, dass sie tatsächlich untergegangen sein könnte. Das war zwar
immer noch besser, als von diesen Verrückten gefressen zu werden, aber ich
hoffte trotzdem, dass sie es irgendwie geschafft hatte, zu überleben und wegzukommen.
Solange sie überlebte, war alles andere egal.
Ich weiß
nicht, wie lange wir da saßen, bis erneut eine Flutwelle Licht uns versuchte,
blind zu machen. Ich hörte noch, bevor ich es sah, dass sie sich Isaac geholt
haben mussten. Er war wütend am Schimpfen, aber das half ihm leider auch nicht.
Sie kamen über eine Leiter in unseren Käfig, während draußen zwei mit
merkwürdigen Röhren vorm Mund auf uns angelegt hatten. Hätte ich es nicht schon
woanders mal gesehen, hätte mich das ja nicht so beeindruckt. Aber ich wusste,
dass sie damit ihre Pfeile verschossen, die mich letztens wahrscheinlich ins
Reich der Träume gesandt hatten.
Isaac hatte
keine Chance, dass sie ihn mit sich nahmen. Alles, was er tun konnte, war mir
einen Blick zuzuwerfen, der so voller Angst war, dass mir selber das Herz
stehenblieb. Ich wusste, dass sie ihn holten, um ihn zu fressen und dass ich
der Nächste sein würde. Und ich konnte nichts dagegen machen.
Es war kaum wieder dunkel und ich hatte nicht mal Zeit,
mir meiner Ohnmacht bewusst zu werden, als es im hinteren Bereich des Raumes
ein dumpfes Geräusch gab, als wäre gerade ein Sack umgefallen. Als ich aufsah,
bemerkte ich, dass da tatsächlich was umgefallen war, auch wenn es nur mein
Wächter war. Der Schreck, dass sie Isaac geholt hatten, saß mir noch immer so
tief, dass ich das alles wie durch einen Nebel hindurch wahrnahm. Auch, als
plötzlich ein bekanntes Gesicht an meinen Gitterstäben erschien, brauchte ich
einen Moment, um das zu realisieren. Aber als ich es erkannte, war ich sofort
auf den Beinen.
„Mari!“
Ich schob
meine Arme durch die Holzstäbe und drückte das Mädchen erleichtert an mich. Sie
sah zwar genauso grau aus, wie mein Wächter, und sie hatte sich ihren Überwurf
um die Hüften geschlungen, aber es war ganz eindeutig Mari.
„Was machst
du hier?“
„Dich retten;
doofe Frage!“, erklärte sie, während sie sich umsah, wie sie mich eigentlich
befreien konnte.
Ich deutete
auf die Leiter, die noch immer an meinem Käfig lehnte und Mari verstand. Flink
wie ein Affe erklomm sie sie und als sie oben war, zog sie ihr Messer und
schnitt das Seil entzwei, das den Einstieg zum Käfig verschlossen hielt. Die
Luke ging auf, nur, dass ich immer noch zu klein war, um sie zu erreichen. Die
Holzstäbe sahen mir auch nicht so aus, als ob ich sie erklimmen könnte. Nicht,
dass ich es nicht auf einen Versuch ankommen lassen würde.
„Warte! Ich
schieb die Leiter zu dir“, hörte ich Mari von oben rufen.
Natürlich ging
es auch so. Sie stieg die Leiter also wieder hinab und kurz darauf hatte ich
sie drinnen. Ich kann nicht sagen, wie froh ich war, als ich endlich wieder
draußen war und vor meinem kleinen Mädchen stand.
„Wie bist du
hierhergekommen?“, wollte ich wissen. „Ich hab gesehen, wie du in den Fluss
gefallen bist.“
„Bin ich auch.
Aber da war es zum Glück nicht tief. Ich hab mich geduckt und bin unterm Wasser
geblieben. Da waren ja so große Blätter am Ufer. Da bin ich hin und hab mich
versteckt“, erklärte sie stolz. „Ich hab ewig gebraucht, um dich zu finden. Dann
hab ich mich mit Schlamm beschmiert und hab mich untergemischt und ein paar
ihrer komischen Pfeile geklaut. Ich hab gesehen, wie sie dich damit
abgeschossen haben. Hat auch gut bei dem da drüben funktioniert. Die haben mich
nicht mal bemerkt, als ich vorhin mit denen reingekommen bin.“
Ich nickte. Ich hatte noch einiges zu
sagen, aber das musste warten. „Dann sollten wir besser zusehen, dass wir hier
rauskommen.“
Mari erwiderte
mein Nicken und obwohl ich das nicht wollte, huschte sie an mir vorbei und sah
nach, ob die Luft rein war. Als sie mir zuwinkte, ging ich zu ihr und schlüpfte
mit ihr zusammen raus ins Freie. Es war verdammt grell, sodass Mari mich zuerst
führen musste und ich ziemlich Sorge hatte, dass sie uns entdecken könnten. Als
es dann wieder ging, konnte ich auch erstmals sehen, wo wir uns eigentlich
befanden.
Da waren mehrere
runde Hütten, die scheinbar aus riesigen Blättern bestanden. Vielleicht waren
sie auch genauso gewachsen, mitten zwischen die Bäume im Dschungel, zwischen
denen sie standen. Es gab ein Feuer in der Mitte, dem einzigen Platz, an dem
der Dschungel nichts ins Dorf vorgedrungen zu sein schien. Es war ein enges,
gedrungenes Dorf und die Menschen mussten sich wie Ameisen an den wenigen
freien Stellen zusammendrängen, die es gab. Aber das wirklich beeindruckende
war das riesige Monstrum, das sich gerade am Feuer ausstreckte. Es sah aus, wie
ein Panther, war aber noch viel größer, als einer. Sein Fell war so grell
orange, wie ich es kaum je gesehen hatte, mit schwarzen Streifen, die den
ganzen Körper bedeckten. Als es gähnte, entblößte es ein paar echt große Zähne.
Und alles, was ich mich fragen konnte, war: Wie zum Kuckuck zähmte man so etwas
nur?
Ich war so
fasziniert davon, dass Mari mich erst am Arm ziehen musste, damit ich
weiterging. Wie es schien, waren die Dorfbewohner gerade glücklicherweise damit
beschäftigt, sich bei der riesigen Katze in der Dorfmitte einzufinden. Und
bevor ich mich abwenden konnte, sah ich auch, warum. Da kam nämlich gerade
Isaac aus einer der Hütten raus. Er trug einen merkwürdigen Kopfschmuck mit
grellen roten und blauen Farben, aber genau konnte ich es auch nicht erkennen.
Er sah zumindest ziemlich festlich aus. Zuerst dachte ich schon, dass er doch
zu denen da unten gehörte, dann aber sah ich, dass seine Hände gefesselt waren.
Sie führten
ihn zur Schlachtbank, erkannte ich mit Schrecken. Dennoch war sein Blick
erhoben; erhaben blickte er in die umliegenden Gesichter. Bis er schließlich an
mir hängen blieb. Die Zuschauer, die sich um Isaac versammelt hatten, standen
zum Glück mit dem Rücken zu uns, aber dennoch hatte ich Sorge, dass sie
bemerken würden, wie er mich anstarrte. Dann jedoch wandte er seinen Blick hastig
wieder ab und so schlecht ich mich auch dabei fühlte, ich war ihm dankbar
dafür. Er wusste, dass sie ihn töten würden, da kam sogar schon einer mit einer
riesigen Klinge in der Hand, aber dennoch würde er uns nicht verraten.
Hier weiterlesen -> Kapitel 6
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