Sie trug einen riesigen Hut aus Blättern, der ihr Gesicht
gänzlich in Schatten hüllte. Der Rest von ihr war unter einem langen Gewand
verborgen, das beinahe weiß schimmerte, und das über und über mit detailverliebten
roten Stickereien verziert war. Ich hatte gedacht, dass der alte Mann der
Anführer hier war, aber nach ihrer prächtigen Aufmachung nach zu urteilen, war
doch wohl sie das.
Aber es waren
nicht ihre Kleider, die mich faszinierten, sondern ihr Gesicht, das unter ihrem
Hut hervorschaute. Sie war so hell wie Schnee. Und dabei meinte ich nicht nur
ihre Haut. Auch ihr langes Haar, sogar die Wimpern und Augenbrauen waren mehr
weiß, als blond. Selbst Dana hatte dunkleres Haar. Stechend blaue Augen sahen
mich an, die heller noch waren, als der sonnenstrahlende Himmel über uns.
Ich konnte
nicht anders, als sie mit offenem Mund anzustarren. Sie sah aus, als wäre ein
Stern vom Himmel gefallen, ich konnte es einfach nicht anders sagen.
Die Frau
neigte hoheitlich den Kopf zum Gruß, dann öffnete sie den Mund, um etwas zu
sagen, aber Mari war schneller. Sie sprang mir vom Arm, bevor ich es verhindern
konnte und dann hatte sie den Finger auf die Frau gerichtet. „Du siehst ja aus
wie Tante Eris!“
Die Frau
stockte, kniff die Augen zusammen und betrachtete Mari einen Moment lang
eingehend. „Mari?“, probierte sie schließlich zögerlich.
Aufregung auf
dem Gesicht des Mädchens. „Du bist ja wirklich Tante Eris!“
Also feierte
Mari Wiedersehen mit ihrer Tante Eris, indem sie sie ansprang und beide sich
herzlich umarmten. Das sandte eine Schockwelle durch die Anwesenden, aber glücklicherweise
entfernte sich Mari da auch schon wieder von ihrer Tante, weshalb ein
Eingreifen überflüssig wurde.
„Mari, was
machst du denn hier?“ Sie sah sich hoffnungsvoll um. „Sind deine Eltern auch
da?“
Mari schüttelte
den Kopf und sie hielt sich tapfer, als sie sagte: „Papa ist gestorben. Vor ein
paar Wintern oder so.“ Sie rümpfte die Nase. „Und Mama ist bei dem blöden Eren
geblieben.“
Eris sah
natürlich geschockt aus. Wenn ich sie mir so ansah, hatte sie tatsächlich was
von ihren beiden Brüdern, wie ich annahm. Sie hatten zumindest eine gewisse
Namensähnlichkeit, wie ich feststellen konnte. Glücklicherweise kam sie aber mehr
nach Erin, als nach Eren. Ich hatte bislang trotzdem noch nichts von ihr
gehört.
„Aber dafür
habe ich ja jetzt Wulf-Papa! Der hat mich vor dem blöden Eren gerettet!“
Da landete
Maris Finger auf mir und natürlich auch der Blick von Eris. Ich kam mir ein
bisschen so vor wie damals, als Ura einfach beschlossen hatte, dass ich bei ihr
bleiben sollte. Ich hatte aber gute Hoffnung, dass ich diesmal nicht Ersatzmann
spielen musste. Also hob ich meine Hand und winkte nur höflich lächelnd.
„Du meine
Güte! Was ist denn nur passiert, während ich weg war?“
„Ich erzähl’s
dir, wenn ich was gegessen hab“, meinte Mari jetzt und rieb sich dabei den
kleinen Bauch. „Ich hab seit ewig nix mehr gegessen! Ich verhungere!“
Da konnte ich
ihr nur zustimmen.
Kurz darauf saßen wir um ein lauschiges Feuer versammelt.
Man hatte Mari neu eingekleidet, weshalb sie jetzt einen waschechten
Lendenschurz trug, wie alle anderen Kinder hier auch, und ich hatte wenigstens
Zeit gehabt, meine arg gebeutelten Sachen zurechtzurücken.
Dann durften
wir endlich essen. Es gab Fisch und merkwürdige Sachen, die ich noch nie zuvor
gesehen hatte. Dazu eine komische Schale, die innendrin strahlend weiß war,
aber leer, und ansonsten war alles auf einem der riesigen Blätter angerichtet,
die es hier zuhauf an den Bäumen gab. Es war mir herzlich egal, wie es
schmeckte, ich verschlang meine Portion so schnell, dass ich dabei angestarrt
wurde, aber auch das war mir egal. Es schmeckte übrigens wunderbar.
Während Mari
gerade etwas probierte, das sie Saft nannten und darüber ganz aus dem Häuschen war,
gesellte sich Isaac zu mir. Ich konnte nicht verhindern, dass ich mich an
meinem Bissen verschluckte, als er das tat. Verdammt, er sah Lu noch immer viel
zu ähnlich und ich wünschte, er hätte sich was angezogen. Immerhin hatte er
Eris im Schlepptau. Also konzentrierte ich mich auf sie. Sie war es sowieso,
die alles für mich übersetzte, was Isaac sagte.
„Er will sich
bei dir bedanken, dass du ihn gerettet hast“, erklärte sie. „Er sagt, dass er
noch nie etwas so mutiges gesehen hat. Jeder in deiner Situation wäre
weggelaufen und hätte ihn im Stich gelassen, aber du hast das nicht gemacht.
Und dabei kanntet ihr euch gar nicht.“
„Oh, also… das
war selbstverständlich.“ Ich räusperte mich und streckte die Brust raus. Ja,
ich war schon ein bisschen stolz. „Ich konnte ja nicht zulassen, dass sie dich
essen.“
Eris
übersetzte und wartete, bis Isaac gesprochen hatte. Dann übersetzte sie mir:
„Er sagt, dass das zeigt, dass du das Herz eines Tigers hast.“
Ich hatte
keine Ahnung, was ein Tiger war, aber ich nahm mal an, dass das ein Kompliment
war. Also nickte ich. Ich musste wirklich aufhören, so blöd zu grinsen. Und das
tat ich auch, als Isaac sich mir im nächsten Moment näherte und seine Stirn auf
meine legte. Ich erstarrte und ich glaube, dass ich die ganze Zeit über zu
atmen aufhörte, während er was vor sich hin murmelte. Dann entfernte er sich
wieder und ich hatte alle Mühe, nicht rot zu werden. Vor allen Dingen, als er
mir dann auch noch versuchte, mit seinem wunderbaren Lächeln den Rest zu geben.
Ich verdrehte
meinen Finger unauffällig, sodass er wehtat und zwang mich, meinen Blick von
ihm abzuwenden. Ich war schon an vielen Orten gewesen und ja, es hatte Orte
gegeben, an denen es für die Menschen ganz normal und natürlich war, so zu
sein, wie ich. Aber dann hatte es auch die Anderen gegeben. Die, an denen man
verbannt wurde. An denen sie einen töteten dafür, dass man jemanden liebte, der
nicht in ihre Vorstellungen passte. Ich werde nie die Geisteraustreibung
vergessen, die ich gesehen hatte, als ich noch mit meinen Eltern unterwegs
gewesen war.
Deshalb war
ich lieber vorsichtig. Ich wusste nicht, wie die Leute hier auf Leute wie mich
reagierten und normalerweise war das ja auch nichts, was wichtig sein sollte.
Ich verweilte jedenfalls überall viel zu kurz, damit das wichtig werden konnte.
Diese
ernüchternden Gedanken brachten mich immerhin dazu, wieder abzukühlen, sodass
ich Isaacs Lächeln erwidern konnte. Glücklicherweise entschied er sich jetzt
auch dazu, aufzustehen und zu seinen Leuten rüberzugehen. Ich blieb mit Eris
allein zurück, wenn man mal von dem fahlen Beigeschmack absah, den Isaac bei
mir hinterlassen hatte.
„Er hat dich
gesegnet“, hörte ich sie erklären.
Als ich
bemerkte, dass sie mich musterte, zwang ich mich dazu, mich ihr zuzuwenden. „Ich
habe gesehen, dass du mit Mari gesprochen hast“, lenkte ich ab.
Trauer legte
sich in ihr Gesicht, als sie zu ihrer Nichte rüber sah, die inzwischen mit den
anderen Kindern des Dorfes versuchte, den Saftkrug zu erobern.
„Ja, und ich
wünschte, dass ich für sie dagewesen wäre.“ Sie sah mich an. „Ich muss mich
wirklich bei dir bedanken, dass du sie da rausgeholt hast. Ich weiß ja, dass
die ganze Sache mit Ura schwer für Eren gewesen war, aber dass er Erin wirklich
dafür umbringen würde…“ Sie brach ab und schüttelte den Kopf. „Ich kann gar
nicht glauben, dass er sogar Marin etwas antun wollte. Dass diese Schlampe Ura
ihn so weit gebracht hat!“
Ich konnte
ihre Wut nur zu gut verstehen. „Denkst du wirklich, dass Ura ihn dazu gebracht
hat?“
„Oh ja! Dieses
Miststück hat schon immer mit meinen beiden Brüdern gespielt. Hat ihnen beiden
schöne Augen gemacht und es genossen, wie sie ihr nachgelaufen sind. Dann hat
sie Erin genommen und hat nebenbei für Eren die Beine breit gemacht. Ich wette,
dass mindestens eines ihrer drei Kinder von Eren war.“
„Das würde ich
ihr glatt zutrauen“, meinte ich. „Aber sag mal, wenn du das wusstest, was
machst du dann hier? Wenn ich wüsste, dass jemand meine Geschwister
gegeneinander ausspielt, wäre ich bestimmt nicht weggegangen, sondern hätte
alles getan, um zu helfen.“
„Oh, das habe
ich ja auch gemacht. Ich habe mich mehr als nur einmal mit Ura angelegt und ich
habe mich deswegen immer wieder mit meinen Brüdern gestritten. So sehr, dass
sie irgendwann nicht mehr mit mir geredet haben.“ Sie seufzte. „Also bin ich
von da weggegangen, als Ura gerade ihr drittes Kind bekommen hatte. Ich hatte
da niemanden mehr und ich wollte mich woanders niederlassen. Mir jemanden
suchen und eine Familie gründen. Ich… hatte auch ein paar Probleme mit den
Leuten dort, wenn ich ehrlich bin.“
Plötzlich
musste sie lachen. „Das war das Einzige, das Ura und ich je gemein hatten. Ich
habe dann auch einen Ort gefunden, wo ich bleiben wollte. Gerade an der Grenze,
wo der Dschungel anfängt. Aber selbst dorthin sind die Menschenfresser
gekommen. Ich war keine drei Tage dort, bevor sie kamen und meine Leute haben
mich nur zu gerne an sie ausgeliefert. Sie haben wohl regelmäßige Opfergaben
mit ihnen vereinbart, damit sie sie ansonsten in Ruhe lassen, wie ich später
erfuhr. Und dort haben mich die Leute von hier dann gefunden und gerettet.
Seitdem lebe ich hier.“
„Und du führst
die Leute hier echt an?“
Sie lachte.
„Oh, nein! Abe ist unser Oberhaupt.“ Ihr Finger wanderte zu dem alten Mann, wie
gedacht. „Meine Aufmachung hat einen anderen Grund. Mir bekommt die Sonne nicht
so gut, musst du wissen. Und irgendwie glauben sie auch, dass ich ein Stück vom
Mond bin“, fügte sie ganz nebensächlich hinzu.
Als wäre es
ganz alltäglich, dass man mal eben so als übernatürliches Wesen verehrt wurde.
Ich wollte etwas Ironisches dazu erwidern, aber da kam Muskel-Rahn an. Isaacs
Bruder wahrscheinlich.
„Das ist Kane.
Er und Isaac sind Abes Söhne“, bestätigte Eris meine Vermutung.
Kane
jedenfalls sprach gerade mit einem selbstsicheren Grinsen im Gesicht zu mir und
ich brauchte gar keine Übersetzung, um zu wissen, was er von mir wollte. Er war
einer dieser typischen Stammesmänner. Kräftig, manchmal ein bisschen tumb, aber
vor allen Dingen besessen von ihrer Stärke, ihrem Ansehen und ihrem Ego. Solche
Kerle waren ja nicht so meins, aber immerhin wusste ich, wie ich mit ihnen
umgehen musste.
„Er will
sehen, was du draufhast“, übersetzte Eris gerade, und sie sah ein bisschen
missbilligend aus. „Ich glaube, er will seine Kräfte mit dir messen.“
Ich setzte
mein eigenes überhebliches Stammesmänner-Grinsen auf und erhob mich möglichst
kraftvoll. Ganz automatisch stand ich breiter als gewöhnlich. Ich trug diese
Maske schon so lange zur Schau, dass es mir ins Blut übergegangen war, sie
aufzusetzen, sobald so ein Kerl ankam. Manchmal fragte ich mich, ob ich
vielleicht inzwischen einfach wirklich auch so einer geworden war. Ich wusste
jedenfalls nicht, ob ich das wollte.
Wir gingen rüber zu einer ruhigeren Stelle und es dauerte
nicht lange, bis er mich fertig gemacht hatte. Ich war inzwischen um einiges
besser im Faustkampf, aber gegen Kane hatte ich trotzdem keine Chance, das war
mir schon klar gewesen. Doch der Ausgang war auch überhaupt nicht wichtig,
wichtig war nur, dass ich mich ihm gestellt hatte.
Kane hatte den
Kampf wirklich im Blut, wie ich kurz darauf feststellen konnte, als ich
vorschlug, doch einen stammesweiten Ringkampf draus zu machen. Ich war noch
immer ziemlich kaputt von meiner Flucht und meinem Beinahe-Untergehen, aber gerade
dadurch konnte ich mich vor allen anderen beweisen. Außerdem hatte ich es dann wenigstens
hinter mir. Ich schlug ganze vier Kerle, bevor der Fünfte mich zu Boden
schickte.
Von da an sah
ich von der Seite aus zu und darüber war ich auch ganz froh. Ich hatte keine
Lust, mich nochmal mit Kane kloppen zu müssen. Außerdem war es ja nicht so,
dass es mir nicht gefiel, was ich sah. Sie hatten eine paar richtige
Prachtexemplare hier. Gut, dass ich jahrelange Übung darin hatte, mich mit
anderen Kerlen zu prügeln. Da hatte es mir auch nichts ausgemacht, dass alle
meine Gegner nackt gewesen waren. Gegen Isaac hätte ich mich aber trotzdem
nicht getraut. Er hatte so eine Wirkung auf mich, wie sie zuvor nur Lu und
Samuel gehabt hatten. Da musste ich vorsichtig sein. Aber Isaac nahm an den
Ringkämpfen auch nicht teil. Er war mit irgendwelchen spirituellen Vorbereitungen
beschäftigt, wie Eris erzählte.
Kane gewann
den Ringkampf natürlich und danach durfte ich mir auch mal die Frauen des
Stammes angucken. Sie hatten mir und Mari zu Ehren ein Fest veranstaltet und
gerade tanzten sie mir irgendeinen rituellen Tanz vor. Ich musste an Jin und
Wulfric denken, die beide eine Heidefreude an dem gehabt hätten, was ich gerade
sah, weil natürlich auch die Frauen alle nackt waren, aber ich musste mich
schon zusammenreißen, zuzugucken, anstatt übers Essen herzufallen. Ich hatte so
einen Hunger.
Als sie fertig
waren, durfte ich endlich essen und dann kamen die Männer mit einem Tanz dran.
Isaac war diesmal auch mit dabei, sodass es wieder interessanter für mich wurde
und ich mir nicht verkneifen konnte, zu denken: ‚Ich wünschte, ich könnte auch mit ihm tanzen.‘
Blöderweise
hatte ich das in irgendeiner Form laut gesagt, weil sich jetzt Eris an mich
wandte. „Oh, du willst tanzen? Das können wir bestimmt hinkriegen.“
Bevor ich was sagen konnte, hatte sie
„Lao-Pao“ oder so gerufen und dann war ein älterer Mann zu uns rübergekommen.
Er hatte einen auffallenden Federkopfschmuck auf dem rasierten Kopf und
überfall schwarze Zeichnungen am Körper. Ich nahm mal an, dass er hier der
Geistliche war. Blöd für mich, dass sie ihren Tanz gerade beendet hatten, da
Isaac gleich auch noch mit ankam.
Eris und
Lao-Pao wechselten ein paar Worte, dann sagte sie zu mir: „Er würde sich
freuen, wenn du uns einen Tanz aus deiner Heimat zeigen würdest.“
Mist! Hätte
ich mal meine Klappe gehalten. Es reichte schon, dass ich mich damals vor den
Uruk-Leuten zum Deppen gemacht hatte. Wie kam ich da nur wieder raus?
„Das kann ich
nicht ohne die nötige Vorbereitung. Ich brauche ein paar Sachen dafür und mein
rituelles Gewand ist auch Zuhause. Ich würde meine Götter beleidigen, wenn ich
einfach so tanzen würde“, log ich schnell. Ich hoffte nur, dass die Götter mir
meine kleine Lüge verziehen.
Lao-Pao nickte
zum Glück verständnisvoll, nur Eris und Isaac guckten, als ob sie das echt
bedauerten. Aber plötzlich fing Letzterer an zu sprechen. In seinen Augen
glitzerte es.
„Er fragt, ob
du uns dann etwas von deinen Göttern erzählst.“
Ich furchte
die Stirn. „Echt?“ Normalerweise waren die Leute eher darum bemüht, mich von
ihren Göttern zu überzeugen, anstatt sich meine Göttergeschichten anzuhören. Die
meisten wollten gar nichts davon wissen, dass da draußen noch etwas anderes
existieren könnte, als das, was sie kannten und fürchteten/verehrten.
„Oh ja!“,
meinte Eris nun, als wäre das trotzdem selbstverständlich. „Du musst wissen,
dass sie hier glauben, dass alle anderen Götterwesen da draußen Kinder ihres
eigenen Schöpfers sind. Sie sind deshalb ganz begierig darauf, so viele Geschichten
über die Kinder ihres Schöpfers zu sammeln, wie nur irgend möglich.“
„Sie? Sag bloß, du glaubst nicht daran.“ ‚Wo
sie dich doch verehren.‘
Da hatte ich
anscheinend einen Volltreffer erzielt. „Oh, ach… du weißt doch! Ich bin mit
einem anderen Glauben aufgewachsen“, stotterte sie. „Wir verehren Bären… und
so…“
Also glaubte
sie überhaupt nicht an Götter. Ich wusste, dass es solche Leute gab, hatte aber
noch nie jemanden getroffen, der das zugegeben hatte. Auch auf das Thema Glaube
reagierten manche Leute ein bisschen empfindlich. So mit Speeren und Feuer. Ich
war mir auch nicht so sicher, ob es Götter gab, aber ich wollte lieber nicht
den Zorn von etwas auf mich ziehen, gegen das ich nicht ankam. Und gegen
übernatürliche Wesen, Speere und Feuer sah ich ziemlich alt aus.
„Also, was
sagst du?“, lenkte sie ab.
Ich tat ihr
den Gefallen und nickte. Lao-Pao wies mir dann gleich mal einen Platz vorm
Feuer zu und dann scharrten sich sogar alle anderen um mich. Ein großes
Publikum heute. Schade nur, dass es eigentlich Eris war, die für mich erzählen
würde.
„Am Anfang
war die Welt eine dunkle Höhle“, begann ich und untermalte es mit einer
ausladenden Bewegung zum dunklen Nachthimmel hinauf, der inzwischen voller
Sterne glitzerte. „Der Erdgeist hatte sie geschaffen, damit es einen Boden gab,
auf dem er und seine Geschwister schlafen konnten. Wind und Wasser waren immer
bei ihm, aber der Geist des Feuers zog es vor, oben auf der Höhle zu schlafen.
Eines Tages
wurde der Feuergeist aber wach. Er schlug die Augen auf und sah nach seinen
Geschwistern in der Höhle. Geblendet durch sein Licht wurden auch sie wach. Also
beschlossen sie, ein Spiel zu spielen. Und dann noch eines. Und noch eines.
Aber irgendwann wurde es ihnen langweilig in ihrer leeren Höhle und da machten
sie die Menschen und Tiere, indem jeder etwas von sich gab, und sie setzten sie
in die Welt, damit sie ihre Spielkameraden waren. Und die Menschen und Tiere
verehrten sie wie Götter.
Doch die
Menschen und Tiere waren bald schon erschöpft und schwitzten fürchterlich unter
dem Feuer, das ihnen Wärme und Licht spendete. Da die Tiere es nicht konnten,
sprachen die Menschen für sie alle und sie baten die Götter um Abkühlung.
Daraufhin entschied der Gott der Lüfte, aufzusteigen und ihnen kühle Winde zu
schicken.
Dann begannen
die Menschen und Tiere, durstig zu werden und sie baten um etwas, ihre Kehlen
zu befeuchten. Woraufhin der Wassergott ging, um Bäche, Flüsse und Seen aus der
Erde springen zu lassen.
Nachdem sie
ihren Durst gestillt hatten, wurden sie jedoch hungrig und der Hunger trieb die
Tiere und Menschen dazu, sich gegenseitig zu töten und zu essen. Die Götter
waren erschrocken über die Grausamkeit ihrer Kinder und sie wandten sich von
ihnen ab. Der Wassergott weinte salzige Tränen, die zum Meer wurden, der
Windgott brüllte vor Zorn und Wut, dass es donnerte und stürmte, und der
Feuergott brannte noch heftiger, sodass er sogar seine Geschwister zu verzehren
drohte. Daraufhin gingen die anderen drei Götter zu ihm, brachten ihn nach
draußen und hingen ihn an den Himmel, sodass er zur Sonne wurde.
Von all den
Göttern war es nur der Erdgott, der die Notwendigkeit sah, warum die Menschen
und Tiere töten mussten, um zu überleben. Also ließ er die Pflanzen in seinen
Händen sprießen und machte sie uns zum Geschenk, damit wir von ihren Früchten
zehren konnten, und das taten wir. Dennoch blieben die anderen Götter uns fern.
Am Ende des
Tages waren die Menschen und Tiere müde und sie baten den Feuergott, die Augen
zu schließen, damit auch sie endlich ausruhen konnten. Aber der Feuergott war
noch immer wütend und weigerte sich. Da ging der Erdgott zu seinem Bruder, dem
Windgott, und bat darum, den feurigen Bruder mit einer Felldecke zuzudecken.
Der Windgott weigerte sich zunächst auch, aber er war eitel und ließ sich von
der Huldigung und den Opferungen der Menschen überreden. Also ging er und
deckte den Feuergott zu. Doch die Flammen des Gottes waren so heiß, dass sie
immer größere Löcher in die Decke brannten, bis sie am Morgen gänzlich
verbrannt war und der Feuergott als Sonne wieder am Himmel stand. Deshalb muss
der Windgott seitdem jeden Abend gehen, um seinen Bruder für die Nacht
abzudecken.
So lebten wir
lange Zeit mit dem Erdgott allein in der Höhle, die die Welt war, bis wir
schließlich alt wurden und zu sterben drohten. Da sah der Erdgott, dass er bald
wieder allein sein würde und er gab einem jeden Menschen und einem jeden Tier
ein Stück von sich, damit auch sie Leben schenken konnten.“
Sofort, als ich geendet hatte und Eris noch
mit übersetzen beschäftigt war, fragte Mari todernst: „Und warum haben die da
drüben uns fressen wollen, wo dieser Erdgott ihnen doch Früchte dafür gegeben
hat?“
Ich sah in
ihrem Gesicht, dass sie das noch immer belastete. Am liebsten wäre ich zu ihr
gegangen, um mit ihr mal richtig darüber zu reden. Da würde ich wohl nicht drum
herum kommen. Aber da ich noch immer Publikum hatte, antwortete ich erst
einmal: „Weil wir zu viele wurden. Wir konnten zwar am Alter sterben, aber das
war trotzdem nicht genug. Also sandten die Götter, die uns verlassen hatten, die
Krankheit über uns. Und als das immer noch nicht reichte, war auch der Erdgott
gezwungen, Teile seiner Erde unfruchtbar und öd zu machen, damit der Hunger uns
wieder dazu trieb, uns gegenseitig zu essen.“
„Also wollen
deine Götter, dass wir uns essen?“, fragte sie entsetzt. „Wenn das so ist, sind
deine Götter echt blöd!“
„Sie wollen
nicht, dass wir unsere eigene Art essen, aber dass ein Wolf ein Schaf essen
soll zum Beispiel.“
„Und warum
haben die uns dann essen wollen?“
Ich hielt ihren
Blick stand, der nach einer Antwort bettelte, darum, zu verstehen, warum jemand
einen anderen tötete. Dann gab ich Eris ein Zeichen, die verstand und mich
ablöste, und nahm Mari mit mir. Wir gingen zum Strand hinunter, dem, der das
Dorf auf der anderen Seite der Insel einschloss und an dem wir nicht gestrandet
waren. Hier hatten sie auch ihre Fischerboote angebunden und es lagen Netze im
Sand. Obwohl das Dorf nicht weit entfernt war, war es hier so still, dass ich
beinahe den Sand unter unseren Füßen hören konnte. Wenn das Rauschen des Meeres
nicht gewesen wäre, zumindest.
Mari lief bis
ans Wasser, blieb aber kurz vor der nassen Linie im Sand stehen. Ich sah, wie
sie ihre Zehen in den Sand krallte. Ich stellte mich genau neben sie und meine
Füße wurden im Gegensatz zu ihren nass. Über unseren Köpfen war es so
pechschwarz, wie ich mich momentan fühlte.
„Warum töten
Menschen andere?“, fragte Mari wieder. „Warum haben die das gemacht? Da waren überall Früchte und Tiere in dem Wald um
sie rum. Die hätten sie doch essen können!“
„Ich weiß
nicht, warum manche Leute andere Menschen essen.“ ‚Und ich will es auch eigentlich nicht wissen.‘
„Was ich da gesehen hab…“ Sie sah mich an und
da war wieder dieser Horror in ihrem Gesicht. Da sie nur vom Mondlicht
beleuchtet wurde, wirkte sie fürchterlich fahl. „Das war schlimm!“
„Möchtest du
es mir erzählen?“
Doch sie schüttelte
nur den Kopf und wandte sich wieder dem Meer zu. Sie hielt sich selber fest,
klammerte sich an sich und ich fühlte mich so elend, dass ich ihr nicht helfen
konnte.
„Weißt du, ich
muss oft dran denken, wie Papa ausgesehen hat, als du ihn heimgebracht hast. Er
sah nur aus, als würde er schlafen. Aber das…“ Sie schüttelte den Kopf und
plötzlich lag ihr Blick auf mir. „Warum hat er das gemacht?“
Ich wusste,
dass sie von Eren sprach. Aber was sollte ich darauf antworten? War sie schon
bereit für die Antwort? „Weil er… deine Mutter für sich haben wollte“,
erwiderte ich schließlich.
„Ja, ich weiß
das! Aber Papa hatte sie nun mal! Ich krieg auch nicht alles, was ich will!“
Ich kniete
mich zu ihr runter, um ihr in die Augen sehen zu können. „Das stimmt, Mari, und
es ist wichtig, das man lernt, das zu akzeptieren. Eren hat das nicht getan und
hat stattdessen etwas Unverzeihliches getan. Das darfst du niemals tun, nur,
weil du nicht bekommst, was du willst, hörst du?“
„Ich will auch
gar niemanden totmachen!“, rief sie empört. „Ich will lieber, dass niemand
stirbt. Ich will helfen, dass niemand stirbt.“
Ich konnte mir
ein Schmunzeln trotz der ernsten Situation nicht verkneifen. Ich sah sie schon
als alte Kräuterfrau vor mir. „Das ist ein guter Vorsatz. Du wirst bestimmt
eine tolle Heilerin.“
Mari sah mich
mit großen Augen an, dann brach auch auf ihrem Gesicht die Freude aus.
Anscheinend war sie damit einverstanden.
Kurz darauf
fing Mari dann an, beim ortsansässigen Heiler in die Lehre zu gehen.
Anmerkung: Die
Götter-Geschichte, die Wulfgar erzählt, ist auch das, an was die Leute vom
Uruk-Stamm glauben.
Hier weiterlesen -> Kapitel 8
Hier weiterlesen -> Kapitel 8
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