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Mittwoch, 26. September 2018

Kapitel 4 - Bruderhass


„Weggelaufen?“ Ich packte Ura an den Schultern und brachte sie dazu, mich anzusehen. „Hast du gesehen, wohin?“
     Ura starrte mich verständnislos an, bevor sie in die Richtung zeigte, aus der sie gerade gekommen war. „Da hin. Ich bin ihr gefolgt, aber plötzlich war sie verschwunden. Ich habe sie überall gesucht, aber…“
     „Wir sollten Greta holen. Pina, meine ich“, fügte ich hinzu, als sie mich nur weiter mit großen Augen ansah.  
     Ura schien völlig durch den Wind zu sein. Sie allein gehen zu lassen schien mir keine so gute Idee zu sein, also teilten wir uns nicht auf, obwohl das bestimmt klüger gewesen wäre. Greta/Pina nahm aber glücklicherweise sofort eine Fährte auf und setzte sich an die Spitze. Ich sah mit zunehmender Sorge zum Himmel hinauf, während wir ihr folgten. Bis auf die Nadelbäume waren alle Bäume inzwischen kahl, sodass ich gut sehen konnte, dass es sich über unseren Köpfen begann, rosig zu färben. Es würde nicht mehr lange dauern, bis es dunkel war. Ich hätte mir eine Fackel mitnehmen sollen, aber ich hatte es in der Hektik vergessen. So ein Mist!
      Ura stolperte mindestens dreimal, weil sie so aufgelöst war, bis Greta/Pina dann endlich wieder anhielt und bellte. Da war es schon so düster geworden, dass ich etwas brauchte, bis ich überhaupt erkennen konnte, was die Wölfin gefunden hatte. Ein kleiner, dunkler Schatten saß über uns eingerollt auf einem der kahlen Bäume. Es war Mari, wie ich annahm. Als Ura sah, dass sie sich nicht bewegte, schnappte sie erschrocken nach Luft.
     „Mari?“, rief ich, als ihre Mutter nur weiter verängstigte Statue spielte.
     Die Angesprochene zuckte zusammen, schwieg aber. Ich musste sie noch einmal rufen, bevor sie antwortete: „Geh weg! Ich will nicht mit dir reden!“
      „Was machst du denn da oben?“
      Plötzlich entwirrte sich das zusammengerollte Bündel. Arme, Beine und ein Gesicht kamen zum Vorschein. „Ich suche meinen Papa!“, erklärte sie. „Du hast bestimmt gelogen! Er ist bestimmt da draußen und braucht Hilfe!“
      „Mari!“, mischte sich jetzt auch Ura ein. „Dein Vater ist tot! Bitte komm da runter! Das ist gefährlich!“
      Doch Mari schüttelte nur heftig den Kopf und als Ura erneut ansetzte, begann sie, wütend zu schreien. Greta/Pina legte erschrocken die Ohren an und auch ich hatte Sorge, dass sie damit was anlocken könnte, was wir lieber nicht hier haben wollten. Einen Bären oder so.
      Ich wischte mir übers linke Auge, obwohl es schon längst aufgehört hatte, zu bluten, und dann streifte ich meine Schuhe ab und begann, den Baum zu erklimmen. Als Mari merkte, was ich tat, hörte sie auf, zu schreien.
      „Geh weg!“, wiederholte sie. „Lass mich!“
     Ich bekam einen ihrer Schuhe ins Gesicht, aber ich kletterte trotzdem weiter. Erst auf dem Ast unter ihrem machte ich Halt.
     „Weißt du, wenn du hier rumschreist, wirst du nur irgendwelche gefährlichen Tiere anlocken“, sagte ich ihr.
     Mari starrte mich an, dann wirbelte ihr Kopf suchend in alle Richtungen, als wäre da tatsächlich irgendwo etwas.
     „Deswegen bist du hier hochgeklettert, was? Weil du Angst hattest.“
     Sie nickte eingeschüchtert und fragte dann kleinlaut: „Woher weißt du das?“
     Ich musste lachen. „Als ich so klein war, wie du, bin ich auch mal abgehauen. Ich wollte ganz allein im Wald leben, aber als es dunkel wurde, hab ich Angst bekommen und bin einen Baum hochgeklettert. Ich hab die ganze Nacht da gesessen, bevor meine Eltern mich gefunden haben. Willst du denn die Nacht hier oben verbringen?“
     Es schien so, als ob sie da das erste Mal über die Situation nachdachte, in der sie sich befand, und ich war mir ziemlich sicher, dass es auch so war. Dann schüttelte sie den Kopf.
     „Dann solltest du da runter kommen.“
     Sie zögerte. „Ich kann nicht. Mein Bein tut weh.“
     „Ich helf dir.“
      Doch da machte sie wieder dicht. Trotzig schüttelte sie den Kopf. „Nein! Du hast gesagt, dass Papa tot ist! Geh weg!“
     Meine Zehen wurden langsam kalt und ich wollte nur noch zurück ins Warme. Dass kleine Mädchen immer so kompliziert sein mussten.
     „Mari, Liebes! Ich bin auch traurig, dass dein Papa nicht mehr da ist“, versuchte Ura es erneut, mir zu Hilfe zu kommen. „Aber was glaubst du, würde er dazu sagen, wenn dir jetzt etwas passiert?“
     Darauf antwortete Mari jedoch überhaupt nicht. Stattdessen sah ich, dass stumme Tränen begannen, ihre Wangen hinab zu laufen.
     Ich überlegte. „Ich bring dir deinen Papa nach Hause, damit wir ihm ein ordentliches Grab machen können, was sagst du dazu?“, bot ich an.
     Da hatte ich ihre Aufmerksamkeit wieder. „Wirklich?“
     Die Tränen wollten zwar nicht versiegen, aber ihre Augen sahen mich so hoffnungsvoll an, dass ich gar nicht anders konnte, als es ihr zu versprechen. Sie zögerte noch einen Moment lang, dann ließ sie sich aber von mir nach unten helfen. Ich hatte ein bisschen Sorge, dass der Ast, auf dem ich stand, uns nicht aushalten würde, aber er tat es. Als wir wieder unten waren, bekam ich erneut eine Umarmung von Ura ab, als die Mari in die Arme schloss, die ich noch immer trug. Ich ließ das über mich ergehen und dann trugen wir abwechselnd das Mädchen, das inzwischen richtig zu weinen begonnen hatte, nach Hause.

Ich sah dabei zu, wie die trübe Pfütze, die ich verursacht hatte, vom Fluss davongetragen wurde. Es war noch immer schweinekalt, aber ich hatte trotzdem darauf bestanden, mein erstes Bad des Jahres zu nehmen. Seitdem ich mich erinnern konnte, war es eine Tradition von mir und meinen Brüdern, draußen zu baden sobald der Schnee geschmolzen war. Trotzdem entschloss ich mich, dass es vorerst genug war.
     Ich strich mir das Haar aus der Stirn, das mir inzwischen wieder in den Augen hing, watete an Land und schlüpfte in meine Kleider. Ich hasste das Gefühl, wie sie nach einem Bad an mir klebten. Als ich angezogen war, ging mein Blick ganz automatisch zu der Stelle, an der wir Erin begraben hatten. Genau zwischen Fluss und Haus, unter einem großen Baum, der im Frühling weiße Blüten bekam. 
     Auch jetzt gerade trug er sie. Auch überall sonst um mich herum war das Leben in den Wald zurückgekehrt. Es grünte und blühte, während Sonnenstrahlen durch die dichter werdenden Baumkronen brachen. Die ersten heimkehrenden Vögel sangen ihr Lied, und in der Luft lag der Duft des Frühlings. Nach meinem letzten, anstrengenden Winter war es das erste Mal, dass ich mich richtig belebt durch die Wiederkehr des Frühlings fühlte. Dass ich froh darüber war, dass er endlich wieder da war.
     Mari hockte, wie so oft, vor dem Grab ihres Vaters und sprach zu ihm. In der einen Hand hatte sie eine weiße Blüte, die vom Baum gefallen war, und in der Anderen ein Stück Brot, das sie ihrem Vater hatte mitbringen wollen, das aber trotzdem schon Bissspuren von ihr hatte. Ich wollte sie nicht stören, aber als ich mich in Bewegung setzte, bemerkte sie mich und sofort hellte sich ihr trauriges Gesicht auf.
     „Wulf-Papa!“, rief sie mich und mit drei großen Sprüngen war sie bei mir.
     Nachdem ich ihren Vater damals heimgebracht hatte, hatte sich Maris Einstellung mir gegenüber grundlegend verändert. Seitdem war sie hellauf von mir begeistert und vor kurzem hatte sie angefangen, mich Papa zu nennen. Ich wusste nicht, ob ich das mögen sollte.
     „Gehst du wieder rüber? Darf ich mitkommen?“, fragte sie aufgeregt.
     Mit „rüber“ meinte sie das Dorf, das sich ganz in der Nähe befand. Seitdem ich hier war, war ich schon ein paarmal dort gewesen und Mari hatte mich bislang immer begleitet.
    „Diesmal nicht, Mari. Ich hab was mit Dan zu besprechen.“
    Sie machte ein langes Gesicht. „Ich spiel derweil auch mit den anderen Kindern, versprochen!“
     Mari hielt nicht viel von anderen Kindern. Wenn man sie fragte, war sie schon längst erwachsen. Das lag wahrscheinlich daran, dass sie bislang mit ihren Eltern als einziges Kind allein im Wald gelebt hatte. Sie hatte zwar mal zwei Brüder gehabt, wie ich inzwischen erfahren hatte, aber die waren den vorletzten Winter krank geworden und gestorben.
     „Bitte! Bitte! Bitte!“, machte sie jetzt.
     Wie konnte ich da schon nein sagen? Also nickte ich geschlagen, Mari jubelte, und dann war sie auf und davon.
     „Aber nur, wenn deine Mutter einverstanden ist!“, rief ich ihr nach, auch wenn ich bezweifelte, dass sie mich noch hörte.
     Trotzdem schlug sie den Weg zum Haus ihrer Mutter ein, und ich folgte ihr. Da ich noch ein paar Sachen, die Ura hergestellt hatte, im Dorf tauschen sollte, musste ich ohnehin noch einmal bei meinem zeitweiligen Zuhause vorbeischauen.
     Ura war gerade dabei, sich um den kleinen Garten zu kümmern, der sich neben dem Haus befand und in dem sie das Meiste anbaute, das sie brauchten. Als sie mich näherkommen sah, erhob sie sich und kam mir entgegen. Es war immer noch merkwürdig, dass ich mit ihr inzwischen auf Augenhöhe war, da sie in mir noch immer das Gefühl erweckte, als sei sie meine Mutter.
      „Musst du wieder Zeug für dein Boot holen gehen?“, fragte sie etwas missbilligend.
      Natürlich hatte ich inzwischen wieder angefangen, mir ein Boot zu bauen, auch wenn Ura nicht wusste, wo genau es sich befand. Ich traute ihr zu, dass sie es sonst sabotieren würde.
      „Nur noch ein paar letzte Vorräte heute“, antwortete ich ihr, während ich eine Saatmulde korrigierte, die sie in die Erde gegraben hatte. Es machte mich wahnsinnig, wie unordentlich dieses Beet aussah. „Ich hoffe, sie haben das Seil fertig, von dem sie so geschwärmt haben.“
     Ura seufzte. „Ich wünschte wirklich, du würdest dir diesen Humbug aus dem Kopf schlagen und einfach hierbleiben“, meinte sie kopfschüttelnd.
     Ich schwieg dazu nur. Es gab nichts, was ich dazu nicht schon gesagt hätte. Es war ja auch nicht so, dass Ura unbedingt wollte, dass ich hier blieb. Sie wollte nur, dass irgendjemand hier blieb, damit sie nicht allein war. Ich wusste, dass sie nichts für mich übrig hatte, auch wenn sie ein paarmal zu viel versucht hatte, mich das glauben zu lassen. Ich weiß noch, wie sie mich einmal splitterfasernackt empfangen hatte. Danach hatte ich lieber allein im Freien geschlafen.
     Deswegen hatte ich ihr gegenüber kein so schlechtes Gewissen, wieder zu gehen. Bei Mari sah das aber ein bisschen anders aus. Während Ura mir gegenüber immer noch distanziert war, war das kleine Mädchen überaus anhänglich geworden. Sie mochte mich wirklich, und ich mochte sie. Mutter und Tochter waren sich sonst nie wirklich einig, aber darüber, dass ich bleiben sollte, hatten sie sich schnell verbündet.  
     Mari kam schließlich wieder nach draußen und ich nutzte die Chance, um zu ihr zu gehen und ihr das große Bündel abzunehmen, das sie trug. Mari hüpfte oben drauf, dann schwang ich mir beide über die Schulter und ließ Ura stehen, die mir noch immer kopfschüttelnd nachsah.

Das Dorf bestand aus drei länglichen Häusern, die sie auf einer gerodeten Stelle im Wald gebaut hatten. Neben einigen kleineren Gebäuden, die fürs Vieh, zur Lagerung und fürs Handwerk vorgesehen waren, gab es noch einen ganz beachtlichen, offenen Platz, an dem ein großes Feuer brannte und an dem sie ihren Ahnen und dem großen Bären opferten. Passend dazu trug das Dorf den Namen Bärenwald.
     Wie ich erfahren hatte, war besagter Bär, mit dem ich dank Eren aneinandergeraten war, ein uraltes Tier, das seit Ewigkeiten von den Dorfleuten hier verehrt wurde. Dan, der das Dorf anführte und auch als Geistlicher tätig war, hatte mir davon erzählt, als ich ihm von meinem Zusammentreffen mit dem Bär erzählt hatte. Er hatte die Sache, dass ich ihren heiligen Bären verletzt hatte, aber glücklicherweise für sich behalten. Dem Bären ging es auch gut. Ich hatte ihn erst letztens am Fluss fischen sehen und wir hatten uns dann beide entschieden, einander lieber aus dem Weg zu gehen.
     Gedankenverloren strich ich über die dreigliedrige Narbe, die über mein linkes Auge verlief und sofort brandete die Wut in mir hoch. Eren, dieser Mistkerl! Ich hatte ihn für seinen Verrat am liebsten einen Pfeil in den Rücken jagen wollen, aber ich hatte es nicht getan. Stattdessen hatte ich etwas gemacht, das ich bislang noch niemals getan hatte – ich war ihm aus dem Weg gegangen. Nicht etwa, weil ich Angst vor ihm hatte, aber ich hatte einen Verdacht und wenn der sich bewahrheitete, war mit Eren überhaupt nicht zu spaßen. Dann gehörte er nämlich zu der Sorte Mensch, vor dem man sich gleich doppelt in Acht nehmen musste.
      Mari begleitete mich noch bis zur Mitte des Dorfes. Die gewohnte Mischung aus Rauch und Viehmist schlug mir entgegen. Ich grüßte hier und dort einige bekannte Gesichter, aber Mari tat ihr bestes, jeden zu ignorieren, den wir trafen. Ich stieß sie schließlich an und bedeutete ihr, zu gehen. Da rümpfte sie die Nase und stob endlich davon.

Dan empfing mich wie üblich im größten Wohngebäude. Es sah im Inneren ein bisschen aus, wie das Uruk-Haus, nur geräumiger. Dan saß am Feuer, als ich eintrat. Er war ein kräftiger Kerl, kaum älter als ich, der mich vom Aussehen her an Jin erinnerte, aber von seiner Art eher wie Tann war. Dementsprechend gut kamen wir miteinander aus. Er war es auch gewesen, der mich letzten Winter persönlich begleitet hatte, um Erins Leichnam nach Hause zu holen. Die beiden waren wohl einst gute Freunde gewesen.
     „Wulf!“ Er klopfte mir freundschaftlich auf den Rücken. „Erst heute hat mir Mina erzählt, dass sie das Seil fertig geknüpft hat, das du wolltest.“
     Ich lächelte dankend, ließ mein Bündel zu Boden gleiten und nahm dann das Angebot an, mich neben ihm am Feuer niederzulassen. Dan musterte mich einen Moment lang, dann sagte er: „Du bist nicht nur zum Tauschen hier, oder? Du siehst sonst nämlich nicht so ernst aus.“
      Ich schüttelte den Kopf, aber schwieg. Verstohlen sah ich mich erst um. Es schien sonst niemand außer uns hier zu sein. Trotzdem beugte ich mich vor, als ich zu sprechen begann: „Ich wollte mit dir, ehrlich gesagt, über Eren reden. Ich mache mir seinetwegen Sorgen um Mari und Ura. Vor allen um Mari.“
      Als ich nun in Dans Augen sah, von denen ich nicht sagen konnte, ob sie nun grün oder blau waren, wurde mir klar, dass er wusste, wovon ich sprach. Dennoch fragte er: „Warum?“
      „Ich glaube, dass“, ich wurde noch ein bisschen leiser, „er seinen Bruder getötet hat.“
     Dan versuchte, abwehrend zu lächeln, aber es gelang ihm nicht. „Eren und Erin hatten ihre Zwistigkeiten wegen Ura, aber dass Eren seinem Bruder etwas antun würde, halte ich doch für etwas weit hergeholt.“
     „Du glaubst es doch auch, nicht wahr? Ich sehe es doch.“
    Dans falsches Lächeln erstarb. Er erhob sich und strich sich über den Nacken. „Was ich glaube, spielt keine Rolle, Wulfgar. Eren ist, im Gegensatz zu seinem Bruder, nicht von hier fortgegangen und er ist damit ein wichtiges und geschätztes Mitglied unseres Dorfes. Er hat nie jemandem Anlass dazu gegeben, zu glauben, dass er auch nur einer Fliege etwas zuleide tun könnte.“
     Jetzt war ich auch auf den Beinen. „Er hat mir aber etwas angetan!“, rief ich aufgebracht und deutete auf meine Narbe. „Und er hat auch seinen Bruder getötet, das weiß ich und das weißt du auch!“
     „Wulfgar, bitte! Ich kann deswegen nichts machen“, bat Dan gequält.
     „Also willst du ihn einfach ungeschoren davonkommen lassen?“
     „Wenn er Ura erst einmal hat, wird sich schon alles in Wohlgefallen auflösen.“
     „Und Erin? Er ist tot, Dan! Ich dachte, er wäre dein Freund gewesen!“
     „Das war er, aber jetzt ist er fort. Es würde ihn auch nicht wieder lebendig machen, wenn ich seinen Bruder verbanne oder gar töte. Außerdem ist es in unserem Dorf üblich, wenn Männer bis zum Tod um eine Frau kämpfen.“
     „Ja, der Kampf, der schon vor Jahren entschieden wurde und den Eren verloren hat!“
     Während Dan mich begleitet hatte, um Eren zu bergen, hatte er mir die Geschichte von Eren und Erin erzählt. Die beiden waren Brüder und während Erin, der Jüngere, gesund und kräftig gewesen war, war Eren, der Ältere, schon immer krank und schmächtig gewesen. Ura war ursprünglich eine Freundin von Eren gewesen, aber dann hatte Erin ein Auge auf sie geworfen und beide Brüder hatten um sie gekämpft. Wie zu erwarten, hatte Erin gewonnen und er war Ura, die nie wirklich in die Dorfgemeinschaft gepasst hatte, in den Wald gefolgt. 
     Doch Eren hatte das nie überwunden. Seitdem er gegen seinen Bruder verloren hatte, hatte er unermüdlich gegen seine Schwäche gekämpft und er hatte es tatsächlich geschafft, kräftig und gesund zu werden. Nur, dass Ura und Erin zu dieser Zeit schon drei Kinder miteinander gehabt hatten.  
     Dass Eren seinen Bruder zum Jagen begleitet hatte, an dem Tag, an dem ich ihn tot im Wald aufgefunden hatte, hatte ich erst sehr spät erfahren. Mari hatte es mir irgendwann mal ganz nebensächlich erzählt, da sie sich nichts dabei gedacht hatte, dass ihr Onkel ohne ihren Vater zurückgekehrt war.
     „Also willst du einfach gar nichts machen?“, warf ich Dan jetzt wütend entgegen.
     Meine Worte trafen schwer, das konnte ich sehen. „Ich würde Eren am liebsten den Hals umdrehen, für das, was er gemacht hat. Aber ich kann nicht. Ich kann nichts tun!“
     Er ließ den Kopf hängen und verstummte. Ich war hierhergekommen, um Dans Hilfe zu erbitten, aber ich hatte nicht daran gedacht, dass ihm die Hände gebunden sein könnten, weil er ja das Dorf anführen musste. Er konnte nicht einfach losgehen, um seinen toten Freund zu rächen, wenn der Mörder ein hochgeschätztes Mitglied der Gemeinschaft war.
     Ich dachte nur kurz nach, dann drehte ich mich um und ging. Dan brauchte einen Moment, bevor er aufholte und sich mir in den Weg stellte. „Was hast du vor?“, fragte er mich und in seinen Augen lag tatsächlich Sorge.
     „Wenn du dich nicht um ihn kümmerst, dann tu ich es! Pass du solange auf Mari auf!“
     Dann ließ ich Dan stehen und er machte keine weiteren Anstalten mehr, mir zu folgen.

Ich hatte, ehrlich gesagt, keine Ahnung, was ich machen sollte. Ich war zwar inzwischen genauso groß, wie Eren, aber es war nicht so, dass ich plötzlich genauso stark war, wie er. Den letzten Winter hatte ich damit zugebracht, alles über die Jagd, das Überleben in der Wildnis und den Kampf zu lernen, wann und von wem auch immer ich es gekonnt hatte. Aber obwohl ich dadurch auch ziemlich kräftig geworden war, war Eren einfach noch immer breiter und stärker, als ich.
     Ich hatte schon ein paarmal bei Ringkämpfen zugesehen, die sie hier ab und an veranstalteten, und natürlich hatte ich auch dran teilgenommen, aber Eren war immer ein Gegner gewesen, den ich gemieden hatte. Und er war auch immer ein gefürchteter Gegner für alle anderen gewesen, wie ich gesehen hatte. Er war stark, aber ich mutmaßte, dass er auch mit faulen Tricks nicht hinterm Zaun hielt.
     Doch ich wollte Eren bezahlen lassen. Ich wusste nicht, ob ich dazu bereit war, wirklich zu töten – ich hatte noch nie zuvor jemanden getötet – aber ich war bereit, ihm wehzutun. Auch wenn ich befürchtete, dass ich derjenige sein würde, dem man am Ende wehtun würde.
     Trotzdem musste ich etwas machen, also ging ich entschlossen zu Eren rüber. Ich hatte ihn schon vorher gesehen; er stand bei einem der Vorratshäuser und besserte ein Loch in der Wand aus. Als er mich bemerkte, warf er mir einen grimmigen Blick zu, unterbrach seine Arbeit jedoch nicht. Erst, als ich vor ihm stand, hielt er inne und er sah mich an, als ob er nicht damit gerechnet hätte, dass ich den Mut hätte, mich ihm noch einmal zu nähern.
      Ich fasste Erins Hemd, das ich inzwischen wieder trug, fester, und dann warf ich ihm so laut ich konnte entgegen: „Du hast Erin umgebracht und ich will, dass du dafür bezahlst!“
     Eren sah so aus, als hätte man ihm gesagt, dass Kühe fliegen könnten, dann gewann er jedoch die Fassung über sich zurück. „Hüte deine Zunge, Junge, oder ich werde sie dir abschneiden, wenn du noch einmal so etwas Ungeheuerliches sagst!“
     „Du hast mich gehört und du weißt, dass es stimmt. Also steh auch dafür gerade wie ein echter Mann!“
     Um uns herum hatte sich inzwischen eine ganz beachtliche Menschentraube eingefunden. Es waren bestimmt mehr Leute, als dass ich Finger und Zehen hatte. Wahrscheinlich war das ganze Dorf auf den Beinen, um zu gucken, was da vor sich ging. Hier und da sah ich Leute verhalten tuscheln. Auch Eren sah nun, dass er aus der Sache nicht so einfach rauskam. Genau das hatte ich beabsichtigt.
     Ich war mir zwar sicher mit dem, was ich tat, aber als mein Gegner nun zähnefletschend auf mich zukam, bekam ich es doch ein bisschen mit der Angst zu tun. Er holte aus und ich ging schon ganz automatisch in Deckung. Auch bei seinen nächsten Attacken war an Zurückschlagen gar nicht zu denken. Ich war vollauf beschäftigt, nicht von seinen riesigen Fäusten getroffen zu werden.
     Das ging eine Weile gut, aber schließlich sah ich, dass er seine Beine zu benutzen begann. Er trat eines meiner Beine weg, als ich nicht damit rechnete, aber anstatt zu fallen fand ich mich im nächsten Moment in seinem Schwitzkasten wieder. Und was für einer das war! Ich glaube, der Mann hatte noch nie was von Baden gehört!
     Ich bekam gerade noch so die Hände zwischen meinen Hals und Erens Arm. Aber dennoch blieb mir die Luft weg, als er zudrückte. Meine Welt verschwamm vor meinen Augen und einen Moment fragte ich mich, ob ich mich nicht doch hätte raushalten sollen. Dann jedoch überkam mich wieder diese grimmige Entschlossenheit, die mich damals auch schon vorm Absaufen gerettet hatte. Ich nahm einen meiner Arme runter, wodurch der Druck auf meinen Hals noch schlimmer wurde, und rammte Eren mit aller Kraft den Ellenbogen in den Bauch. Dem erstickten Laut nach zu urteilen, den er von sich gab, hatte er nicht damit gerechnet.
     Er ließ mich frei, aber ich drehte sofort um und schlug ihm die Faust ins Gesicht. Direkt aufs linke Auge. ‚Da hast du! Das ist für mein Auge gewesen!‘
     Er taumelte zurück, fing sich aber leider zu schnell wieder. Meinen nächsten Schlag fing er ab und dann hatte er meine Faust in seiner. Einen Moment lang starrten wir uns an, dann zog er mich nach vorn und ich sah seine andere Faust auf mich zukommen. Ich wurde an der Wange getroffen, schaffte es aber, ihn mit der flachen Hand am Kinn zu treffen. Ich verfehlte seinen Kehlkopf nur um wenige Zentimeter.
      Als Eren mich nun wieder fahren ließ, gingen wir auf Abstand zueinander. Nicht nur ihm war in diesem Moment klar geworden, dass nicht allein er töten konnte. Ich musste ihn aus dem Weg schaffen, da führte kein anderer Weg dran vorbei. Ich hatte es gesehen, wie er Mari angesehen hatte, aber ich hatte es nicht einsehen wollen. Ich wusste, dass er nicht vor dem kleinen Mädchen Halt machen würde. Wenn ich weg wäre, würde sie die Nächste sein, die er aus dem Weg schaffen würde. Er würde töten, immer und immer wieder, bis Ura ganz allein war und sie von sich aus zu ihm kommen würde.
     Ich sah ihn an. Er hatte eine abwehrende Haltung eingenommen und jetzt war ich es, der lauerte. Ich griff nach dem Messer an meiner Seite, aber mir war klar, dass er auch irgendwo eines hatte und dass er es früher oder später benutzen würde. 
     Als wir wieder aufeinander losgingen, war jeder meiner Sinne bis aufs Äußerste geschärft. Ich sah seine Schläge, aber ich schaffte es trotzdem nicht, allen zu entgehen. Er war noch schneller, als zuvor, und schlug noch härter zu. Er wollte mich aus dem Weg haben, bevor ich die Chance dazu erhielt, ihn aus dem Weg zu schaffen.
      Ich kassierte einige Schläge, aber letztendlich schaffte ich es, nah genug an ihn heranzukommen, um ihn mein Messer spüren zu lassen. Eren traf mich noch einmal an der Seite meines Kopfes, das mir schwindelig wurde, aber statt zu versuchen, auf den Beinen zu bleiben, ließ ich mich fallen, womit Eren nicht gerechnet hatte. Dann, als ich auf den Knien war, stieß ich mich wieder nach oben und warf mich mit meinem gesamten Gewicht gegen ihn. Er ging unter mir zu Boden, ich zog blitzschnell mein Messer und zielte auf seine Kehle.
     Plötzlich war da Angst in seinen Augen und als ich das sah, hielt ich inne. Mein Arm, der noch immer das Messer hielt, zitterte vor Anstrengung, und einen Moment lang fragte ich mich nur, was ich hier tat. Dann wurde mir bewusst, dass ich das nicht konnte. Ich konnte ihn nicht töten.
      Das sah wohl jetzt auch Eren, der mein Zögern sofort ausnutzte. Er rollte mich mühelos herum und dann war er es, der ein Messer in der Hand hatte. Die Sonne spiegelte sich schadenfroh in dem glattpolierten Stein der Klinge. In seinen Augen sah ich, dass er nicht zögern würde, mich zu töten.
     Dann plötzlich wurde es dunkel über ihm. Ein Schatten warf sich so unvermittelt auf Eren, dass er von mir fiel. Er kämpfte einen Moment lang damit, bis ich erkannte, dass es Mari war, die gerade lauthals schreiend ihre kleinen Fäuste auf Eren niederfahren ließ, ihn biss und kratzte. Eren brauchte keine Sekunde, sie zu bändigen und das Mädchen von sich werfen. Nachdem er sich wieder auf die Beine gekämpft hatte, sah es tatsächlich so aus, als würde er als nächstes auf sie losgehen. Aber da hatte ich mich längst wieder aufgerappelt und mich schützend vor sie gestellt.
     „Was soll der Aufruhr hier?“, kam jetzt auch Dan dazwischen. Ich wusste, dass er mich bislang hatte machen lassen, aber jetzt, da ein Kind in Gefahr geriet, war er gezwungen, einzugreifen.
     Dan verschaffte sich Platz und sah von mir zu Eren, als wüsste er nicht, was gerade passiert war. Einen Moment lang traute sich keiner, etwas zu sagen, dann aber trat eine ältere Frau mit einem runzeligen Gesicht, wie ich es selten gesehen hatte, an das Oberhaupt des Dorfes heran. „Der von außerhalb hat Eren angegriffen!“, sagte sie mit brüchiger Stimme.
     Sofort schlug die Stimmung um. Die Blicke, zuvor unsicher, richteten sich jetzt anklagend auf mich. Damit war mir klar, dass ich verloren hatte. 

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