Ura führte uns zielstrebig durch den dichten Wald. Ich
hatte es für besser befunden, Eren zwischen uns laufen zu lassen, obwohl der
immer wieder darauf bestanden hatte, die Nachhut zu bilden. Aber so ein kleiner
Unfall, bei dem man dann plötzlich ein Beil im Rücken hatte, war mir doch ein
bisschen zuwider.
Es dauerte
nicht lange, bis schließlich in der Ferne ein Gebilde auftauchte, das so klein
und vollbeladen mit Schnee war, das ich es erst beim zweiten Blick als
menschengemacht erkannte. Dennoch musste ich erst davorstehen, um auch zu
sehen, dass es sich dabei um ein Haus handelte. Auch wenn es das merkwürdigste
Haus war, das ich je gesehen hatte. Es war so niedrig, dass ich problemlos über
das spitze Dach hinweg schauen konnte. Ein enger Abstieg führte runter zum
Eingang und wäre der nicht gewesen, hätte ich wirklich Sorge gehabt, überhaupt
da reinzupassen. Wie es schien, hatte man den unteren Teil des Hauses
tatsächlich in die Erde gegraben. Sowas Verrücktes!
„Du gehst
jetzt besser nach Hause, Eren“, lenkte Uras Stimme mich schließlich von dem
eingesunkenen Haus ab. Sie klang ziemlich abweisend. Als ich nachsah, sah sie
auch genau so aus.
„Ich kann dich
doch mit dem da nicht allein lassen!“, protestierte er.
„Du bist lang
genug hier gewesen. Geh endlich nach Hause!“
Da herrschte
scheinbar dicke Luft zwischen den beiden. Ich nahm mir vor, bei Gelegenheit mal
nachzufragen, aber momentan wollte ich nur, dass die beiden endlich fertig
wurden und ich nach drinnen kam. In die Wärme. Zum Essen. In ein warmes
Schlaffell.
Eren
jedenfalls sah nun auch ein, dass es keinen Zweck hatte, zu diskutieren.
Stattdessen ließ er mir noch einen warnenden Blick und ein „Lass ja deine
Finger bei dir!“, da, was mir herzlich egal war, und dann war er verschwunden. Ich
nahm mir vor, ihn beim nächsten Mal zum Kampf zu fordern, aber momentan war ich
einfach zu kaputt dafür. Das wäre nicht sonderlich fair für mich.
Ura machte
sich nicht einmal die Mühe, Erens Gehen abzuwarten. Sie war schon hinter den Fellen
verschwunden, die den Eingang verhüllten und die Kälte vom Eindringen abhalten
sollten. Ich hoffte nur, dass sie das auch taten. Meine Hände waren inzwischen
wieder so kalt, dass ich mich fragte, ob ich sie überhaupt jemals wieder spüren
würde. Also folgte ich ihr schnell nach drinnen.
Es war ein kleines Haus und dementsprechend eng gepackt
war das Innere. Eine Feuerstelle brannte einladend in der Mitte, an der
hinteren Wand erkannte ich Schüsseln und Töpfe. Linkerhand war der Boden mit
Fellen ausgelegt, die mich momentan einladend begrüßten. Auf der rechten Seite
befanden sich Holz, Werkzeuge und Waffen. Es roch nach Rauch, Erde und Brot,
was mein Magen gleich einmal zum Knurren brachte.
Als ich
eingetreten war, schluckten die Felle vorm Eingang das spärliche Tageslicht,
das von draußen hereingekrochen war und es war wieder so düster und behaglich,
wie ich es auch von Zuhause kannte. Trotzdem brauchten meine Augen länger als
gewöhnlich, um sich an die Dunkelheit zu gewöhnen. Ich war viel zu lange
draußen in der grellen Schneelandschaft gewesen.
„Du bist
bestimmt hungrig. Ich habe noch ein bisschen Eintopf übrig. Setz dich solange.“
Ich tat, wie
mir geheißen und nahm an der Feuerstelle Platz. Mir war zwar noch immer schweinekalt,
aber dennoch legte ich Jacke und Handschuhe ab.
Ich hörte Ura
hinter mir mit Geschirr hantieren, während ich die Zeit nutzte, die Hände überm
Feuer auszustrecken, und dann hatte ich schließlich eine köstlich riechende
Schale Eintopf vor mir. Sie war zwar leider nicht mehr wirklich warm, aber das
interessierte mich momentan überhaupt nicht. Hastig schnappte ich mir die
Schüssel und verschlang meine erste ordentliche Mahlzeit seit Tagen, während
auch Greta/Pina endlich was zum Fressen bekam. Es schmeckte ganz köstlich.
„So, du bist
also mit dem Boot übers Meer gekommen. Was hat dich nur dazu gebracht, so etwas
im Winter zu machen?“, fragte Ura, als sie sich neben mir am Feuer niederließ.
Eine Hand ruhte auf Gretas/Pinas Kopf, die inzwischen selig an einem Knochen
nagte.
Ich zuckte mit
den Schultern. Ich war viel zu sehr mit Kauen beschäftigt.
„Hast du keine Familie mehr?“
„Doch“,
brachte ich zwischen zwei Bissen hervor. Bevor sie weiter nachfragen konnte, fragte
ich: „Was ist mit dir? Lebst du allein hier?“
„Nicht weit
von hier gibt es eine Siedlung. Eren kommt von da. Ich und Erin haben da auch
mal gelebt, bevor wir hierhergekommen sind.“
Dann schwieg
sie und ich konnte nicht sehen, was in ihr vorging, da ihr Gesicht im
Feuerschatten lag. Also sagte ich auch nichts mehr, sondern wandte mich wieder meinen
Eintopf zu. Als ich gerade überlegte, nach einem Nachschlag zu fragen, regte
sich plötzlich etwas im Hintergrund. Ich hörte ein leises Grummeln und als Ura
es hörte, war sie auf den Beinen. Sie ging zur Schlafecke rüber und kurz darauf
erschien ein zerzauster Kopf zwischen den Fellen. Es war ein Kind.
„Mama“,
nuschelte es schlaftrunken, und dann aufgeregt: „Hast du Papa gefunden?“
Ura antwortete
zuerst nicht, sondern strich dem Kind beruhigend über den Kopf, obwohl sie
selber viel aufgewühlter aussah. Das konnte selbst ich bei all der Dunkelheit
hier erkennen.
„Dein Papa
wird nicht zurückkommen. Er hatte einen Unfall.“
„Geht es ihm
gut?“, kam aufgeregt zurück. Offensichtlich verstand das Kind nicht.
„Nein. Er ist
tot.“
„Tot? So wie
Uri und Marik?“
„Ja… so, wie
Uri und Marik… Aber dafür ist ja Wulfgar jetzt da.“
Zwei weiße
Punkte erschienen in der Dunkelheit, als das Kind mich mit großen Augen
anstarrte, und sie trafen mich so unvorbereitet, wie Uras Worte. Einen Moment
lang war alles wie erstarrt und ich kam mir ein bisschen so vor, als hätte ich
was Falsches gemacht. Dann warf sich das Kind schließlich in die Felle und
begann lauthals zu weinen. Ura strich ihr über den Rücken, sagte aber nichts
mehr. Ihr Gesicht war so ausdruckslos, dass es mich ein bisschen erschreckte.
„Mo-moment
mal!“, fand ich da meine Stimme wieder. „Es tut mir ja leid, was euch passiert
ist, aber ich hab nicht vor, hierzubleiben. Ich hoffe, das weißt du.“
„Ach was!“,
tat Ura ab. „Du bist zwar vielleicht noch ein bisschen jung, aber ich bin mir
sicher, dass du einen guten Mann abgeben wirst. Und ich versichere dir, dass
ich eine gute Frau bin. Ich weiß alles, was eine Frau wissen muss.“
Warte, was?
„Das mag ja
sein, aber ich bin gerade unterwegs, um die Welt zu bereisen.“
„Welt
bereisen! Papperlapapp! Wieso solltest du so etwas denn tun? Ein Mann sollte
sich eine Frau suchen und eine Familie gründen. “
„Ich wusste
nicht, dass du meine Mama bist, dass du mir sagst, was ich machen soll. Das ist
ja wohl meine Entscheidung, was ich mache“, erwiderte ich etwas beleidigt. „Und
ich will die Welt sehen.“
Doch Ura
zuckte nur unbeeindruckt mit den Schultern. „Momentan reist du nirgends hin.
Dein Boot ist gesunken, nicht wahr? Also wirst du vorerst hierbleiben müssen.
Und da haben wir genug Zeit, uns aneinander zu gewöhnen, du und ich. Und bis
dahin kannst du mir auch beweisen, dass du überhaupt weißt, was ein Mann wissen
muss. Weil mithelfen musst du sowieso, wenn du mitessen willst, das ist ja
klar. Uns gehen langsam nämlich die Vorräte aus.“
Ich konnte
nicht fassen, wie selbstverständlich diese Frau annahm, dass ich bei ihr
bleiben würde. Leider hatte sie mit einem aber recht: Ich hatte momentan keine
andere Wahl, als hier zu bleiben. Obwohl sich alles in mir dagegen sträubte,
blieb ich also still. Sollte sie doch glauben, was sie wollte, ich würde ganz
sicher nicht hierbleiben. Wenn der Frühling kam, würde ich schneller von hier
weg sein, als sie würde gucken können.
Ich erhob
mich. „In Ordnung, ich werd mithelfen. Wo soll ich anfangen?“ Ich wollte gerade
nur noch raus hier. Weg von dieser Frau. Ihre Art hatte ein bisschen was von
meinem Vater und das konnte ich momentan überhaupt nicht ertragen.
„Ruh dich
heute noch aus, bis ich dir etwas Passendes genäht habe“, sagte sie, während
sie auf meine Kleidung wies. „Bis du da reingewachsen bist, solltest du etwas
haben, dass dir auch passt. Bis dahin kannst du draußen Feuerholz spalten. “
Ich korrigiere
mich; sie erinnerte mich doch mehr an meine Mutter. Diskussion zwecklos. Also
zog ich Jacke und Handschuhe wieder an und verließ den kleinen Raum fluchtartig. Plötzlich war ich doch ganz froh, wieder draußen in der Kälte zu sein.
Ich schlug das Beil mit voller Kraft in das Holz, das
sich sauber in der Mitte teilte. Neben mir stapelte sich bereits ein unordentlicher
Haufen an gespaltenen Holzscheiten, der locker ausreichen würde, um das Feuer
die nächsten zwei Tage am Leben zu erhalten. Aber dennoch legte ich ein
weiteres Holz auf und schlug erneut zu. Diesmal noch kräftiger. Ein weiteres.
Noch mehr Kraft.
Das ging eine
Weile lang gut, bis ich schließlich einen schlechten Winkel traf und mein Beil
am Holz abrutschte. Ich wurde beinahe von den Füßen gerissen, schaffte es aber,
mich rechtzeitig zu fangen. Erschöpft richtete ich mich wieder auf und strich
mir den Schweiß von der Stirn. Es hatte gut getan, sich durch die anstrengende
Arbeit auszulaugen. Die letzten beiden Tage war ich dank Kälte und Hunger so
entkräftet gewesen, dass ich mich kaum noch lebendig gefühlt hatte. Aber
seitdem mein Bauch endlich wieder mal voll war, war es, als wäre ich wieder ich
selbst.
Meine Kraft
war zu mir zurückgekehrt, aber damit auch die Wut. Ich warf das Beil in einem
hohen Bogen achtlos in den Schnee und wandte mich ab, um pinkeln zu gehen.
Greta, die beim Haus saß und mir bislang bei der Arbeit zugesehen hatte,
trottete daraufhin an meine Seite.
Ich schaffte
es gerade so, die Umrisse eines kleinen Bootes in den Schnee zu pinkeln, aber
das half mir auch nicht, meine Wut zu mindern. Als ich mich wieder anzog und
mein Werk betrachtete, musste ich nur wieder an Lu denken, wie er damals ein
Boot für mich in den Schnee gemalt hatte und da wurde meine Laune noch
schlechter. Mir fiel auf, dass ich in letzter Zeit ziemlich häufig an diesen
Blödmann gedacht hatte und das sogar mit Bedauern. Wie war ich nur darauf
gekommen? Ich musste wirklich halb tot gewesen sein die letzten beiden Tage
über.
Ich trat eine
Ladung Schnee über mein unvollendetes Werk, weil ich nicht mehr an Lu denken
wollte und ich nahm mir vor, dass dieser Blödmann es nicht wert war,
dass ich überhaupt noch an ihn dachte. Ich musste mich momentan schon mit
dieser komischen Ura rumschlagen, das reichte mir schon zur Genüge.
Ich wandte
mich genervt Greta zu, die mich noch immer ansah, und kraulte sie hinter den
Ohren. „Ich weiß schon, warum ich manchmal lieber allein bin. Dein Frauchen ist
echt anstrengend, weißt du. Das wird echt heiter, es mit ihr den ganzen Winter
über auszuhalten.“ Ich seufzte, drehte mich um und hob das Beil auf, um mit
dem Holzspalten fortzufahren. „Eigentlich wollte ich die Welt sehen, aber was mache
ich jetzt? Dasselbe, wie Zuhause.“
Es war beinahe
zum Lachen, aber was sollte ich machen? Momentan saß ich hier fest. Ich hatte
kein Boot und ich war ja schon froh, dass ich überhaupt irgendwo unterkommen
konnte.
Ich seufzte erneut
und wollte mit meiner Arbeit fortfahren, aber da fiel mir auf, dass das Kind
hinter mir am Hauseingang stand. Es warf mir einen erbarmungslosen Blick zu und
stapfte dann durch den Schnee, bis es dicht vor mir stand. Bei Tageslicht
betrachtet sah es nach einem Mädchen aus. Sie war vielleicht eine Handvoll
Finger alt, hatte ein schmutziges Gesicht und dieselben nussbraunen Haare und
Augen, wie ihr Vater.
„Ich mag dich
nicht“, verkündete sie trotzig. „Wegen dir ist Papa nicht hier. Und dabei will
ich, dass er hier ist, und du nicht.“
„Weißt du,
auch wenn ich nicht hier wäre, wäre dein Vater trotzdem nicht hier“
„Das lügst! Du
hast ihn bestimmt tot gemacht!“
„Na hör mal,
ich hab deinen Vater ganz sicher nicht getötet!“
„Warum hast du
dann seine Sachen an, hä? Du hast sie ihm geklaut!“
Ich konnte
noch nie gut mit kleinen Mädchen. Wenn es Probleme mit meinen Brüdern gegeben
hatte, haben wir das immer auf die gute alte Art gelöst: Mit einer ordentlichen
Rauferei. Aber mit den Mädchen konnte man in den meisten Fällen leider nicht
raufen. Meine Schwestern wussten auch, dass sie nur große Augen machen mussten,
damit ich tat, was auch immer sie wollten. Gegen Tränen war ich auch ziemlich
machtlos.
Ich hatte also
keine Ahnung, was ich mit diesem kleinen Mädchen hier machen sollte. Ich
öffnete meinen Mund, weil ich aber ja trotzdem was sagen musste, aber sie ließ
mich nicht zu Wort kommen. Sie verlor sich in ihrer Wut.
„Ich hasse
dich! Ich hasse dich! Ich hoffe, du wirst von einem Bären gefressen!“
Dann war sie
wieder nach drinnen verschwunden und obwohl ich Mitleid mit ihr hätte haben
sollen, konnte ich nicht anders, als ein bisschen wütend zu sein. Ura hatte auf
den Tod ihres Mannes so gut wie gar nicht reagiert – was ich schon merkwürdig
fand – aber immerhin war es nichts Ungewöhnliches, dass jemand starb. Ich
selber hatte schon so viele Leute sterben sehen, dass ich gar nicht genug Finger
hatte, um das zu zählen.
‚Trotzdem, sie ist noch ein Kind‘, rief
ich mir in Erinnerung. ‚Ich sollte ein
bisschen Nachsicht mit ihr haben. Ich bin schließlich der Ältere hier.‘
Ich seufzte
und dann wandte ich mich wieder dem Holzspalten zu. Hoffentlich würde dieser
Winter schnell vorbeigehen.
Den restlichen Tag verbrachte ich mit Holzhacken und
kleineren Arbeiten im Haus. Das Beil war etwas locker, der Speer musste
nachgeschliffen werden, solche Dinge eben. Zwischendurch kam Ura immer wieder
an, um zu gucken, ob mir passte, was sie nähte, aber sprechen tat sie dabei so
gut wie gar nicht. Ich versuchte ein paar Mal, was von ihr zu erfahren, aber
sie wiegelte mich immer wieder ab. Immerhin erfuhr ich, dass das kleine
Mädchen, das mich die ganze Zeit über wohl versuchte, mit ihren bösen Blicken zu
vertreiben, Mari hieß.
Eigentlich
erzählte ich ja gerne, aber Ura und Mari waren kein gutes Publikum. Die Mutter
war auch irgendwie merkwürdig schweigsam, und ich hatte das Gefühl, dass sie mir
was verheimlichen wollte. Also erzählte ich auch so gut wie nichts von mir.
Weshalb es den restlichen Tag ziemlich ruhig in der Hütte war. Ich war schon
froh, als es dann endlich Schlafenszeit war.
Ich fiel
schnell in einen tiefen Schlaf, aus dem ich dann plötzlich aufgeweckt wurde,
als mich etwas zu überfallen versuchte. Zuerst wollte ich mich wehren, aber als
ich dann merkte, dass es Ura war, die mich umklammert hielt, sah ich davon ab,
um mich zu schlagen. Trotzdem fand ich das nicht so toll. Ich dachte, sie würde
mich im Schlaf überfallen, und ich wollte sie schon wegstoßen, aber da hörte
ich schließlich, dass sie weinte. Also ließ ich sie in Ruhe, auch wenn mir das
alles andere, als gefiel und ich ewig brauchte, um wieder einzuschlafen. Der
Tod ihres Mannes hatte sie wohl doch mehr mitgenommen, als es den Anschein
gehabt hatte.
Am nächsten Morgen erwachte ich als Letzter und ich wurde
bereits vom Duft des Frühstückes empfangen. Es gab wieder einen Getreidebrei,
wenn diesmal auch mit getrockneten Früchten und Nüssen. Ura war tatsächlich
eine ausgezeichnete Köchin. Immerhin das tröstete mich ein bisschen über die
Aussicht hinweg, den Winter über hier eingesperrt zu sein.
Es war nicht
lange her, dass wir uns zum Essen gesetzt hatten, als plötzlich eine Gestalt am
Eingang erschien. Das grelle Licht von draußen blendete mich, sodass ich erst,
als Ura schon aufgestanden war, erkannte, dass es Eren war, der gerade
Anstalten machte, ins Haus zu kommen. Ura aber ließ ihn nicht. Sie schob ihn
unsanft wieder hinaus und beide wurden mit dem Licht zusammen von den Fellen
verschluckt. Mari ließ mir noch einen bösen Blick da, bevor sie ihnen folgte.
Ich war ja auch neugierig, was da vor sich
ging, aber ich aß dennoch erst auf, bevor ich ebenfalls nach draußen ging. Ura
und Mari standen mit dem Rücken zu mir, sodass ich nicht sehen konnte, was in
ihren Gesichtern vor sich ging. Erens Blick dafür traf mich sofort.
„Da bist du ja
endlich, Junge!“, rief er, als würde er sich echt freuen, mich zu sehen.
Gruselig. „Ich hoffe, du hast die Pfoten von meiner Ura gelassen.“
„Ich bin nicht deine Ura!“, kam von ihr protestierend.
Doch Eren
ignorierte sie und ich tat es auch. Ich ging zu ihm und stellte mich vor ihm
auf. Herausfordernd sah ich ihn an. „Gut, dass du hier bist. Ich hab wegen
gestern noch eine Rechnung mit dir offen. Ich hab nicht vergessen, was du mir
vorgeworfen hast.“ Ich hob die Fäuste. „Das müssen wir noch klären. Also komm
und stell dich mir!“
Eren sah mich
an, als hätte ich nicht mehr alle. Wahrscheinlich war es auch genau das, was er
dachte. Dann brach er in schallendes Gelächter aus. Ich hätte nicht gedacht,
dass er überhaupt dazu fähig war, zu lachen. „Ich prügel mich doch nicht mit
dir halber Portion! Du bist ja überhaupt kein Gegner für mich!“
„Dann beweis
es!“
Da schaute er,
als ob er wirklich drüber nachdachte. Aber nur kurz. Ein überlegenes Grinsen
stahl sich auf sein Gesicht und es kam mir so vor, als wäre er ein bisschen
schadenfreudig. „Wenn du dich mit mir messen willst, kannst du das gern bei
etwas Nützlichem tun.“ Er wandte sich ab und sagte: „Schnapp dir eine Waffe,
wir gehen jagen!“
Jagen!
Ausgerechnet! Ich hätte ja gerne vorgeschlagen, dass wir einen Fischwettbewerb
draus machten. Ob mit Reuse, Angel, Netz oder Speer – beim Fischen konnte mir
kaum jemand das Wasser reichen. Aber jagen…
Ich konnte
mir jedoch vor Eren und den Mädchen auch nicht die Blöße geben, zu zeigen, dass
ich vom Jagen weniger Ahnung hatte. Es war ja auch nicht so, dass ich noch nie
Jagen war. Mein Vater hätte mir dir Ohren langgezogen und Wulfric hätte mich
als Geist noch ausgelacht, dass ich so eine Memme bin, wenn ich mich geweigert
hätte, mitzugehen. Es war nur so, dass ich nie was erlegt hatte. Ich hatte unsere
Jagdausflüge halt lieber damit verbracht, meinen „unsinnigen Dingen“
nachzujagen, anstatt Wild.
Das konnte ja
heiter werden. Aber ich hatte wohl keine andere Wahl. Ich sollte wohl froh
sein, dass Eren mit mir jagen ging. Im Gegensatz zu mir verstand er
wahrscheinlich was davon. Also stählte ich meinen Blick, nickte und verschwand
dann nach drinnen, um mich zu bewaffnen. Das würde schon irgendwie schiefgehen.
Ich war froh, dass Ura eine schnelle Näherin war, sodass
ich heute wenigstens eine Hose hatte, die mir nicht dauernd in den Kniekehlen
hing. Meine Schuhe hatte ich notdürftig mit Heu ausgestopft, was mir zwar dauernd
in die Zehen stach, aber immerhin kam ich nun wesentlich besser vorwärts. Und
das musste ich auch, denn Eren nahm nicht wirklich Rücksicht auf mich. Für
seine breite Statur war er ganz schön schnell und wendig.
Er schien mich
durch den ganzen Wald zu schleifen, bis er endlich wieder anhielt. In der Ferne
war eine Felswand zu sehen, in der uns der Eingang einer Höhle dunkel angähnte.
Ich mutmaßte, dass er darauf zuhielt.
„Siehst du die
Höhle da vorne?“, bestätigte er meine Vermutung flüsternd. „Da drin schläft ein
Bär.“
Ich konnte
nicht verhindern, dass ich blass wurde. „Ein Bär?“, rief ich beinahe ein
bisschen zu laut. „Bist du bescheuert?“
„Mach dir
nicht in die Hose! Der schläft ja. Bären halten Winterschlaf, falls du das
nicht weißt.“ Er sah überlegen auf mich hinab. „So etwas solltest du eigentlich
wissen.“
Ich wusste
das, aber ich hatte noch immer zu sehr mit der Erkenntnis zu kämpfen, dass
dieser Kerl tatsächlich vorhatte, einen Bären zu erlegen. Selbst ich wusste,
dass man sich von Bären lieber fernhielt, wenn man nicht die entsprechende
Mannesstärke hatte. Und zwei Leute waren ganz sicher nicht die entsprechende
Mannesstärke! Wir hatten ja nicht einmal Greta mitgenommen!
„Traust du dich
etwa nicht?“, riss seine Stimme mich aus den Gedanken. „Wenn du Angst hast,
dann geh zurück, spiel mit Mari und überlass Ura einem echten Mann wie mir.“
Da lag der
Hase also begraben. So viel dazu, dass er ihr Vater sein könnte.
„Mach doch,
was du willst! Deine Ura interessiert mich überhaupt nicht“, stellte ich klar.
„Erzähl
nicht!“ Plötzlich stand er bedrohlich vor mir. „Du bist doch scharf auf meine
Ura! Aber bevor du sie kriegst, musst du erst mal beweisen, dass du auch für
sie sorgen kannst!“
Ich hatte überhaupt
keine Lust drauf, mein Leben zu riskieren, weil Eren mit mir um Ura buhlen
wollte. Doch der Holzkopf hörte mir ja nicht zu. Außerdem konnte ich nicht auf
mir sitzen lassen, dass er mich für einen Angsthasen hielt. Ich wusste
vielleicht nicht, was ich tat, aber ich würde bestimmt nicht kneifen.
„Denk doch,
was du willst!“, brachte ich das Thema zu einem Abschluss. „Lass uns lieber
zusehen, dass wir den Bären erlegen und nach Hause bringen. Die Mädchen
verlassen sich auf uns.“
Eren sah mich
darauf mit einem Blick an, den ich überhaupt nicht deuten konnte, dann nahm er
aber wortlos sein Beil und ging Richtung Höhle. Ich folgte ihm mit dem Bogen im
Anschlag. Ich hatte vielleicht keine Angst vor dem Bären, aber ich war nicht
blöd genug, um vorauszugehen. Ich hatte lieber einen Pfeil auf seinen Rücken angelegt.
Wir mussten ein kleines Stück weit in die Höhle
reingehen, bevor wir den Bären finden konnten. Es war ein riesiges Ungetüm, mit
struppigem, braunem Fell. Aber immerhin schlief es gerade friedlich. Leider
hatte er es sich hinter einer Biegung gemütlich gemacht. Er lag in einer
kleinen Kuhle, sodass ich selbst mit meinem Bogen so nah rangehen musste, um in
die Reichweite seiner Pranken zu kommen.
Ich schluckte
schwer, als mir das bewusst wurde, aber Eren schien überhaupt keine Angst zu
haben. Unbeirrt ging er voran, also nahm ich mich zusammen und folgte ihm. Wir
gingen so nah ran, wie wir mussten. Es war hier so dunkel, dass ich kaum etwas
erkennen konnte. Für einen Moment dachte ich schon, dass der Bär die Augen
aufhatte und uns anstarrte, aber dann sah ich, dass er immer noch schlief.
Dafür aber konnte ich plötzlich von Eren nichts mehr sehen.
Bevor ich
wusste, wie mir geschah, spürte ich einen Stoß an meinem Rücken und stolperte
vorwärts. Ich versuchte, mein Gleichgewicht wiederzuerlangen, aber es gelang
mir nicht. Hilflos fiel ich auf weichen Boden.
Und dann lag
ich da, mitten auf einem riesigen und gefährlichen Bären und wagte nicht, auch
nur zu atmen. Ich spürte die Wärme des Tieres unter mir, das gleichmäßige Auf
und Ab, als es atmete, und das Zusammenzucken, als ich auf es fiel.
Ich glaube,
ich habe noch nie so inbrünstig zu den Göttern gebetet wie in diesem Moment,
dass er doch bitte einfach weiterschlafen würde, aber ich wurde natürlich
enttäuscht. Im nächsten Augenblick rutschte ich von dem riesigen Ungetüm, das mich
nun mit gefährlich blitzenden Augen anstarrte. Ich hatte nicht einmal Zeit, zu
reagieren. Es zeigte seine spitzen Zähne, dann fuhr die Pranke auf mich hinab.
Ich hatte
schon mit mir abgeschlossen, aber ein brennender Schmerz an meinem linken Auge
sagte mir, dass ich noch am Leben sein musste. Als ich die Augen öffnete, sah
ich nur Dunkelheit. Es brannte wahnsinnig und ich bemerkte, dass mir etwas ins
Auge lief. Das, das der Bär wohl gerade getroffen hatte. Ich sah mich um, froh
darüber, überhaupt noch sehen zu können, und bemerkte gerade noch so, wie der
Bär einen zweiten Angriff startete. Ich musste seinem Ersten irgendwie
entkommen sein, also versuchte ich auch, diesem Hieb auszuweichen. Es gelang
mir diesmal besser, aber die Wand in meinem Rücken war dann doch ein bisschen
hinderlich.
Hektisch sah
ich mich nach einem Ausweg um. Ich entdeckte meinen Bogen hinter dem Bären, der
mir da wenig helfen würde. Von Eren fehlte natürlich immer noch jede Spur. Ich
fluchte. Was ich vorhatte, war vollkommen bescheuert, aber ich hatte keine
andere Wahl. Also hielt ich auf die Beine des Bären zu und schlüpfte hindurch,
als das Tier gerade wieder über mir ins Leere schlug. Er traf die Wand und eine
Ladung Steine ging krachend zu Boden, während ich in seiner Schlafkuhle in der
Falle saß.
Ich hatte
jetzt zwar meinen Bogen wieder, aber ich kam gerade mal dazu, einen Pfeil
danebenzuschießen, bevor der Bär sich mir wieder zugewandt hatte. Also ging ich
dazu über, Steine zu werfen, was wesentlich schneller ging und effektiver war. Ich
traf seine Nase, woraufhin der Bär getroffen zurückzuckte.
Doch er dachte
leider nicht daran, abzuhauen. Wütend stieß er ein heiseres Brüllen aus, bevor
er wieder in den Angriff überging. Zu allem Überfluss lief mir gerade wieder
Blut ins Auge, was es mir noch schwerer machte, zu sehen. Ich ließ mich
zurückfallen und entkam einem weiteren Angriff. Beinahe blind tastete ich über
den Boden, bis etwas Spitzes in meine Hand stach. Ich schloss die Finger darum
und hielt es dem Bären mit beiden Händen entgegen, als der dazu ansetzte, um
mich endgültig zu erledigen.
Der Stein
bohrte sich nicht nur schmerzhaft in die Pranke des Bären, die gedroht hatte,
mich zu zerquetschen. Diesmal schrie der Bär so laut, dass es mir in den Ohren
klingelte. Es ging mir durch Mark und Bein, aber dennoch zwang ich mich dazu,
erneut die Flucht nach vorn anzutreten. Ich kroch und sprang vorwärts, bis ich
endlich wieder auf die Beine kam und rannte, was das Zeug hielt. Als hätte ich
einen Bären im Rücken, dachte ich mit einem bitteren Lachen. Nur, dass es
diesmal genau so war.
Dennoch
verfolgte der Bär mich nicht. Ich entkam der Höhle unbehelligt und ich hielt
erst wieder an, als ich vor Uras im Boden versunkenen Haus stand. Mein Herz
schlug mir noch immer bis zum Hals und ich war völlig fertig.
„Wenn du
Angst hast, dann geh zurück, spiel mit Mari und überlass Ura einem echten Mann
wie mir“, hörte ich Erens Stimme in meinem Kopf.
Dieser
Mistkerl! Er hatte versucht, mich loszuwerden, um bei Ura freie Bahn zu haben.
Aber so einfach würde ich ihm das nicht machen. Trotzig wischte ich mir das
Blut aus den Augen und drehte wieder um. Doch da stand plötzlich Ura vor mir
und sie starrte mich verängstigt an.
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