Um was es hier geht, siehe hier.
Als das Meer mich verschlang, sah ich mein Leben vor meinen Augen vorbeiziehen. Von meiner ersten Erinnerung an, als ich voller Vorfreude das erste Mal Meerwasser kostete und schlecht überrascht davon war, dass es fürchterlich salzig schmeckte. Das lachende Gesicht meines großes Bruders Wulfric, zu dem ich immer aufgeschaut hatte, obwohl er mich immer damit aufgezogen hatte, dass ich wie ein Mädchen sei.
Als das Meer mich verschlang, sah ich mein Leben vor meinen Augen vorbeiziehen. Von meiner ersten Erinnerung an, als ich voller Vorfreude das erste Mal Meerwasser kostete und schlecht überrascht davon war, dass es fürchterlich salzig schmeckte. Das lachende Gesicht meines großes Bruders Wulfric, zu dem ich immer aufgeschaut hatte, obwohl er mich immer damit aufgezogen hatte, dass ich wie ein Mädchen sei.
Der Tag, an dem
das Wasser über die Landzunge getreten war, die das Meer von der Senke getrennt
hatte, in der unsere Siedlung einst lag. Der Tag, an dem ich beinahe ertrunken
wäre und an dem ich drei meiner Geschwister verlor. Die Angst, die mich seitdem
begleitet.
Samuels überraschtes Gesicht, als ich seine Nase
gebrochen hatte. Die Genugtuung über seinen Gesichtsausdruck hatte beinahe
schon die Enttäuschung und die bittere Erkenntnis wettgemacht, dass es besser
für mich war, zu verstecken, wer ich bin. Damals habe ich mir geschworen, mir
nichts mehr gefallen zu lassen.
All die Jahre
der Wanderschaft, die gefolgt waren. Dann waren wir schließlich sesshaft
geworden. Erneut. Ich hatte nicht damit gerechnet, dass wir wirklich bleiben
würden, aber wir waren geblieben und ich war überhaupt nicht damit
zurechtgekommen.
Meine Augen brannten, als ich einen Blick riskierte und sah,
dass das schwindende Tageslicht über mir sich immer mehr entfernte. Das war
also mein Leben gewesen. Ich sah noch immer Gretas weinendes Gesicht vor mir,
als sie mich verabschiedet hatte. Die einzige Person, der ich immer vertrauen
konnte. Sie hatte mich davor gewarnt, dass ich bei meiner Reise umkommen würde.
Wie sich herausstellte, hatte sie recht gehabt. Aber vielleicht war es ja auch
genau das gewesen, das ich gewollt hatte, als ich davongelaufen war.
Bevor ich es
verhindern konnte, kam mir ein weiteres Gesicht in den Sinn. Eines, das
Bedauern in mir auslöste, aber auch Trotz, den er selber so oft mir gegenüber
an den Tag gelegt hatte. Plötzlich war da wieder ein kleiner Funke in mir, der
aufflammte und sich dagegen wehrte, dass das wirklich mein Ende sein sollte.
Vielleicht hatte ich vergeblich nach Verständnis gesucht, wo ich nur auf
Ablehnung gestoßen war, aber das war noch lange kein Grund, jetzt zu sterben.
Ich wollte leben, und ich wollte es ihnen allen zeigen. Das war es schließlich
gewesen, was ich mir vorgenommen hatte.
Eine grimmige
Entschlossenheit übernahm das Ruder und trotzig trat und schlug ich um mich,
als würde ich irgendwo einen Halt im Wasser finden können. Ich mahnte mich zur
Ruhe, versuchte, mich an die Bewegungen zu erinnern, die unser Schamane gemacht
hatte, als ich ihn dabei beobachtet hatte, wie er im Wasser geschwommen war.
Die Luft wurde langsam aber sicher knapp und das Denken fiel mir immer
schwerer. Dennoch schaffte ich es, mich zu zwingen, meine Bewegungen zu
verlangsamen. Gleichmäßige, kräftige Züge mit meinen erlahmenden Gliedern zu
vollführen. Und tatsächlich näherte ich mich dem Licht über mir wieder.
Als ich durch
die Oberfläche brach, schnitt mir ein eisiger Wind ins Gesicht, der die nächste
Welle, die mich wieder unter Wasser drückte, beinahe warm erscheinen ließ.
Panik begann, sich meiner zu bemächtigen. Ich hatte nicht einmal Zeit gehabt,
Luft zu schnappen. Stattdessen hatte ich einen großen Schluck Wasser in den
Mund gespült bekommen, und jetzt wurden meine Bewegungen doch wieder hektisch
und unkoordiniert. Ich spürte etwas Hartes meine Finger streifen, aber ich
konnte es nicht zu fassen bekommen. Die Wellen schoben mich hin und her, und
ich war ihnen hilflos ausgeliefert. Der Druck in meiner Brust war inzwischen
unerträglich geworden und ich musste gegen einen überirdisch großen Drang
ankämpfen, zu husten.
Plötzlich
drehte sich meine Welt und dann hatte ich etwas Krümeliges im Mund. Ich
brauchte einen Moment, bis ich erkannte, dass es Sand war. Ich spuckte, rappelte
mich auf und erst dann konnte ich endlich einen tiefen Zug nehmen. Die Luft
schien mir noch nie so süß geschmeckt zu haben, wie an diesem Tag.
Eine Weile saß
ich nur da und atmete in tiefen, gleichmäßigen Zügen, bis mich ein kalter
Windstoß daran erinnerte, dass es immer noch Winter war und ich gerade ein Bad
im Meer genommen hatte. Ich kämpfte mich auf meine zitternden Beine, blies in
meine klammen Finger, und sah mich um. Ich war, zu meinem Glück, wohl an einem Strand angespült worden. Von meinem Boot war jedoch weit und breit
nichts mehr zu sehen. Es war untergegangen.
Wenn die Sicht besser gewesen wäre, hätte ich
am Horizont noch den Strand gesehen, an dem ich vor kurzem erst meine Reise
begonnen hatte. Ich war nur froh, dass es heute so bewölkt war. Nicht
auszudenken, wenn Greta gesehen hätte, dass ich beim Aufstehen eine Welle
unterschätzt hatte, und mein Boot umgekippt war. Sie wäre vor Sorge um mich
gleich selber losgefahren. In Ermangelung eines Bootes wäre sie mir
wahrscheinlich mit einem Baumstamm zu Hilfe geeilt und selber dabei
untergegangen.
Weit war ich
ja nicht gekommen. Ich gebe ja zu, dass es von Anfang an eine wahnwitzige Idee
gewesen war, mit einem solch kleinen Boot das Meer bezwingen zu wollen. Aber
wie ich inzwischen festgestellt hatte, hatte ich einfach nur verschwinden
wollen. Die Frage war nur – wo war ich und was sollte ich jetzt tun? Es war
immer noch tiefster Winter und wenn ich nicht bald zusah, dass ich irgendwo
meine nassen Kleider ablegen und mich aufwärmen konnte, würde es mein letzter
Winter gewesen sein.
Ich wandte
mich vom Meer ab. Hinter mir erstreckte sich in unmittelbarer Nähe ein Wald. Wie
skelettierte Finger ragten die größtenteils nackten Bäume gen Himmel. Aber ich
hatte keine andere Wahl. Ich brauchte dringend ein Feuer. Also schlüpfte ich
zwischen die weit auseinanderstehenden Baumstämme und ließ den Blick schweifen.
Überall lag Schnee, die feuchtigkeitsschwangere Meeresluft trug auch nicht
gerade dazu bei, meine Suche nach trockenem Holz einfacher zu gestalten. Ich
wusste natürlich, wie man ein Feuer machte, aber ohne Feuerstein und Zunder
hatte ich das lange nicht mehr gemacht. Blöd nur, dass die zusammen mit meinem
restlichen Gepäck im Meer untergegangen waren.
Mein Blick blieb
schließlich an einem kleinen Baum hängen, der früher einmal Nadeln getragen
hatte, nun aber kahl war. Er war ganz offensichtlich tot. Wenn ich Glück hatte,
wäre er innen noch trocken genug, um damit ein Feuer zu machen. Er war nicht
gerade dick – er war kaum so breit, wie mein Arm, aber dennoch hatte ich Mühe,
ihn zu fällen. Auch ihn zu bearbeiten, fiel mir immer schwerer. Meine Finger
waren steif und mir rutschte das Messer nicht nur einmal aus der Hand, als ich
den Stamm von Ästen und Zweigen befreite. Ich war nur froh, dass ich mein
Messer immer bei mir trug und ich es nicht bei meinem unfreiwilligen Bad im
Meer verloren hatte.
Während ich
die Rinde vom Baum entfernte, das Holz spaltete und kleine Späne abschnitt, die
mir als Zunder dienen sollten, ging mein Blick immer sorgenvoller zum Himmel. Wenn
ich hätte schätzen müssen, hätte ich geraten, dass es vielleicht gerade
Nachtmittag war. Die Sonne war schon weit nach Westen gewandert und es würde
wohl nicht mehr allzu lange dauern, bis sie untergehen würde. Nachts,
mutterseelenallein und ohne Feuer im Wald zu sein, würde mir nicht gut
bekommen. Auch ließ mich inzwischen jedes noch so kleine Geräusch
zusammenfahren. Ich konnte mir nicht leisten, leise zu arbeiten, und in der
Stille des Waldes schien der Lärm, den ich verursachte, mir viel lauter zu
sein, als er es wirklich war. Nicht auszudenken, was für hungrige Jäger ich
damit anlocken konnte.
Meine Hände
hatten inzwischen heftig zu zittern begonnen und es fiel mir immer schwerer,
mit ihnen zu arbeiten. Ich hatte mich dafür entschieden, einen Feuerbohrer zu
bauen, aber die feineren Arbeiten wollten mir einfach nicht mehr von der Hand
gehen. Als mir das Messer erneut von meinem Feuerbrett abrutschte und sich
stattdessen in meinen Finger bohrte, fluchte ich frustriert. Ich wusste nicht,
ob es die Angst oder die Kälte war, die mich zittern ließ – wahrscheinlich war
es beides – aber ich musste mich zusammenreißen.
Ich nahm einen
Moment lang Abstand, blies noch einmal in meine Hände, was kaum Besserung brachte,
und machte mich dann erneut ans Werk. Ich musste mich beeilen, aber es brachte
mir nichts, wenn ich vor lauter Hast überhaupt nichts zustande bekam.
Nach einer
gefühlten Ewigkeit war schließlich alles soweit fertig. Ich zog die Schnur aus
meinem inzwischen klammen Hemd, das mir widerlich am Leib klebte, befestigte es
an einem gebogenen Ast und pfriemelte dann das zugespitzte Stück Holz hinein,
das meine Spindel sein würde. Ich war inzwischen so kalt geworden, dass selbst mein
Atem keine kleinen, weißen Wolken mehr zu machen schien. Selbst die
schweißtreibende Arbeit erwärmte mich nicht mehr.
Es brauchte
mich noch eine viel zu lange Zeit, bis ich schließlich so weit war, loszulegen.
Aber selbst dann verließ mich die Kraft immer wieder. Von Glutbildung konnte
gar keine Rede sein.
„Einmal noch!“,
sagte ich mir. „Gib nur noch einmal alles!“
Ich betete
sogar innerlich zu den Göttern, auch wenn ich bezweifelte, dass sie mir helfen
würden. Ich schien noch nie sonderlich in ihrer Gunst gestanden zu haben.
Andernfalls wäre ich bestimmt nicht mitten im Winter hier gestrandet.
Ich atmete
einmal noch tief durch. Wenn ich es jetzt nicht schaffen würde, wäre ich
verloren. Ich war mir nicht einmal sicher, ob ich es überstehen würde, wenn das
Feuer erst einmal brannte. Aber es war der erste Schritt zum Überleben. Um
alles andere konnte ich mir später Gedanken machen.
Also legte ich meine allerletzten Reserven hinein und
tatsächlich spürte ich, wie sich kurz darauf Nässe auf meiner Stirn bildete,
die nicht vom Meer kam. Ich schwitzte. Und da kam auch der erste Rauch und als
ich ihn sah, hätte ich wirklich heulen können. Ich war noch nie so glücklich
darüber gewesen, Rauch zu sehen.
Ich drehte die
Spindel noch eine bisschen mehr – nur zur Sicherheit – bevor ich sie entfernte
und das dampfend schwarze Häufchen vorsichtig mit dem Messer aus der Vertiefung
hob, die ich ins Holz gebohrt hatte. Behutsam, als wäre es ein Säugling, legte
ich es in das vorher zurechtgelegte Nest aus Holzspänen, dann beugte ich mich
hinab und begann, in das kaum noch dampfende Gebilde zu pusten. Einen Moment
lang hatte ich schon die Befürchtung, dass der Funke wieder erloschen war, aber
dann rauchte es wieder stärker und kurz darauf waren die ersten, züngelnden
Flammen zu sehen. Da begann ich, schleunigst die kleinsten Holzstifte
aufzuschichten, die ich angefertigt hatte. Es hatte viel länger gedauert, als
ich gedacht hatte, aber endlich war es geschafft. Ich hatte ein Feuer gemacht.
Als das Feuer schließlich
sicher brannte, kam ich endlich dazu, mich zu wärmen. Während ich die
Holzscheite aufgeschichtet hatte, war mir das Feuer so brennend heiß
erschienen, dass ich manchmal befürchtet hatte, mir die Finger zu verbrennen,
aber jetzt konnte ich gar nicht nah genug heranrücken. Das Feuer war noch immer
zu heiß auf meiner Haut, aber die Wärme wollte mein Inneres gar nicht
erreichen. Ich wusste, woran das lag. Es wäre wesentlich klüger gewesen, die
feuchte Kleidung auszuziehen, aber ich konnte mich einfach nicht dazu
überwinden. Stattdessen kauerte ich mich enger zusammen, aber das brachte kaum
eine Besserung. Zu allem Überfluss hatte auch mein Magen begonnen, sich lautstark
bemerkbar zu machen.
Plötzlich
hörte ich das Brechen von Zweigen ganz in meiner Nähe. Die Sonne stand
inzwischen so tief, dass ich kaum über den Schein meiner Feuerstelle
hinaussehen konnte. Sofort war ich auf den Beinen und hatte mein Messer in der
Hand. Es würde mir gegen einen wilden Eber oder einen Wolf nur wenig nützen,
aber es war immer noch besser, als unbewaffnet zu sein.
Ich fixierte
die Dunkelheit jenseits des Feuers, aber es war mir unmöglich mehr auszumachen,
als undeutliche Schemen. Erneut hörte ich das Geräusch. Diesmal näher. Dann war
es wieder still. Ich ging näher ans Feuer heran, bückte mich und nahm mir einen
brennenden Holzscheit. Ich wollte nachsehen, was da in der Dunkelheit war, doch
ich zögerte. Vielleicht war es besser, wenn ich im Schutze des Feuers blieb.
Wenn dort draußen tatsächlich ein wildes Tier lauerte, würde es sich nicht in
die Nähe von Feuer wagen. Zumindest nicht, wenn es nicht vollkommen verzweifelt
war.
Angestrengt
lauschte ich in die Dunkelheit. Es blieb jedoch still. Nur hier und da hörte
man den Wind durch die karge Landschaft ziehen. Einmal glaubte ich, das dumpfe
Geräusch fallenden Schnees zu hören. Doch als ich schon gute Hoffnungen hatte,
dass sich Was-auch-immer-da-draußen-gelauert-hatte wieder aus dem Staub gemacht
hatte, hörte ich es wieder. Immer und immer wieder. Und bevor ich mich versah,
brach tatsächlich ein graues Ungetüm aus der Finsternis hervor.
Ich riss
erschrocken meine Arme nach oben, um mich vor einem Angriff zu verteidigen,
aber der blieb aus. Da wagte ich einen vorsichtigen Blick und erkannte, dass es
ein grauer Wolf war, der vor mir auf den Hinterpfoten saß und mich mit großen
Augen ansah. Er war etwas kleingeraten, aber ich schätzte trotzdem, dass er
ausgewachsen war. Ein schönes Tier, wenn man von der auffallend langen Schnauze
einmal absah. Und er war zahm, wie es schien. Dennoch ließ ich meine Abwehr
nicht fallen. Man konnte ja nie wissen.
„Du hast mich
vielleicht erschreckt. Wo kommst du denn her?“
Plötzlich war
ich aufgeregt. Wenn hier ein zahmer Wolf war, musste es auch irgendwo jemanden
geben, der ihn gezähmt hatte.
„Wo ist denn
dein Herrchen?“, fragte ich das Tier, das darauf nur den Kopf schieflegte. „Du
bist doch bestimmt nicht allein hier. Los, zeig mir, wo dein Herrchen ist!“
Unbeholfen
wies ich in die Dunkelheit und tatsächlich stellte der Wolf daraufhin die Ohren
auf, und er wirkte nun selber ganz aufgeregt. Er erhob sich, bellte einmal, als
wolle er mir sagen, dass ich ihm folgen solle, und dann war er wieder in die
Nacht hinein verschwunden. Es gefiel mir zwar nicht, mein Feuer allein
zurückzulassen und in die Kälte hinauszugehen, aber dennoch sah ich zu, dass
ich ihm lieber schnell folgte.
Der Wolf war
inzwischen nur noch ein dunkler Schatten und nur, weil die Landschaft um mich
herum vom Schnee weiß gefärbt war, konnte ich ihn überhaupt noch sehen. Meine
behelfsmäßige Fackel war schon lange erloschen. Er hatte ein ganz schönes Tempo
vorgelegt, sodass ich bald alle Mühe hatte, überhaupt noch zu folgen. Die
Strapazen des Tages, die Kälte und der Hunger zollten ihren Tribut, sodass ich
bald schon außer Puste war. Ich hatte Glück, dass der Wolf immer mal wieder innehielt,
aber es gefiel mir überhaupt nicht, wie weit er mich von meinem Feuer
wegführte. Ich hoffte nur, dass er mich wirklich zu irgendeiner Menschenseele bringen
würde. Am besten einer mit einem schönen Dach über dem Kopf und einer warmen Suppe
für mich.
Als der Wolf
dann endlich stehen blieb, saß er am oberen Ende eines ziemlich abschüssigen
Hügels. Na toll, jetzt auch noch Bergsteigen, dachte ich mir. Doch ich erklomm
den Hügel nichtsdestotrotz, und als ich schließlich neben dem Wolf stand, war
ich mir nicht mehr so sicher, ob ich es überhaupt noch lebend zu meinem Feuer
zurück schaffen würde, so fertig war ich. Und zu allem Überfluss war die
Landschaft vor mir so dunkel wie alles um mich herum. Nirgends war ein Zeichen
davon zu sehen, dass hier auch nur irgendjemand lebte.
„Wo hast du
mich nur hingebracht?“
Ich wollte
schon wieder zurückgehen, aber da zog der Wolf plötzlich an meinem Ärmel. Er
winselte ganz erbärmlich und dann war er die andere, noch steilere und noch
abschüssigere Seite des Hügels hinab gerannt. Es ging dort so tief runter, dass
ich ihn kaum noch sehen konnte. Dafür aber hörte ich ihn plötzlich laut jaulen.
Ich hatte
wirklich keine Lust, da runter zu steigen, aber da ich nun mal so weit gekommen
war, brachte ich es hinter mich. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass er mich
einfach so hierher geführt hatte. Wölfe waren eigentlich ziemlich schlaue
Tiere. Ich musste beim Abstieg aber vorsichtig sein. Es war steil und es lag
noch überall Schnee. Ich wollte gar nicht wissen, wie rutschig es da drunter
war. Wenn mich die Kälte nicht umbringen würde, würde es ein Sturz bestimmt
tun, fuhr es mir durch den Kopf. Oder wenigstens die Erkältung, die ich mir
bestimmt zuziehen würde, falls ich diese Nacht überlebte. Ich nahm mir einen
großen, festen Ast als Gehhilfe, aber dennoch musste ich mich an jedem Baum
festhalten, der meinen Weg kreuzte, und ich beendete meinen Abstieg ob meiner
steifen Glieder nicht nur einmal beinahe als Rutschpartie. Aber trotz aller
Widrigkeiten kam ich unversehrt unten an und da sah ich dann auch, warum mich
der Wolf hierher geführt hatte.
Da lag eine
halb unter Schnee begrabene Gestalt zu meinen Füßen. Ich brauchte mich gar
nicht bücken, um zu sehen, dass es ein Mensch war. Wirres, dunkles Haar ragte
unter einer dicken Pelzmütze hervor, die Arme und Beine waren seitlich vom
Körper ausgestreckt, und er lag insgesamt ziemlich verdreht. Obwohl ich es
nicht glaubte, ging ich trotzdem in die Knie und rüttelte vorsichtig an dem
Mann. Aber natürlich regte er sich nicht. Als ich einen Blick in sein Gesicht
werfen konnte, das das eines jungen Mannes war, sah ich, dass seine Augen
glasig waren. So viel also zu meiner Suppe. Ich fluchte innerlich, aber es war
nichts zu machen.
„Dein
Herrchen, was?“, sagte ich zu dem Wolf, der sich inzwischen neben dem Mann in
den Schnee gelegt hatte. Sein Blick war so traurig, dass es mir echt nahe ging.
Nichtsdestotrotz
musste ich das Beste aus der Situation machen. Lebend wäre er mir zwar lieber
gewesen, aber vielleicht hatte er wenigstens etwas Nützliches bei sich. Ich kam
mir natürlich etwas schuldig dabei vor, aber immerhin war ich noch am Leben und
er nicht. Seine Sachen würden mir also wesentlich besser von Nutzen sein, als
ihm. Als ich ihn auf den Rücken drehte, winselte der Wolf erneut und stupste den Toten mit seiner Schnauze an, als würde ihn das aufwecken.
„Es tut mir ja
leid, aber dein Herrchen ist tot, Kumpel.“ Ich strich ihm übers Fell, das wunderbar warm war. Sogar hinter seinen Ohren durfte ich ihn kraulen.
„Aber was hältst du davon, wenn ich mich von jetzt an um dich kümmere?
Zumindest so lange, bis du irgendwo ein neues Zuhause findest.“
Wie, als würde er mir zustimmen, schleckte er über meine Hand. Da ließ ich von ihm ab und fuhr fort, sein ehemaliges Herrchen um seine Sachen zu erleichtern. Ich fand ein
Messer, ein kleines Stück Schnur, sogar einen Bogen hatte er dabei. Gut
versteckt unter einer Lage Kleidung, fand ich dann schließlich einen kleinen Beutel. Ein
Blick hinein reichte, um mir zu zeigen, dass er Proviant bei sich hatte. Es war nicht viel, ein kleines Brot und ein großes Stück
Trockenfleisch, aber es würde das Loch in meinem Magen vorerst füllen.
Ich jubelte
innerlich, sandte meinen Dank zu den Göttern und schnitt dann ein Stück
Fleisch ab, um es dem Wolf zuzuwerfen. Der fing es noch im Flug auf und machte
sich gierig darüber her. Dann wandte ich mich wieder seinem toten Herrchen zu.
Es war mir schon aufgefallen, als ich ihn durchsucht hatte: Er war noch immer
warm. Er war zwar bereits kühler, als ich, aber dennoch konnte sein Tod nicht
allzu lang her sein.
Als ich ihn mir
genauer ansah, konnte ich aber keine Spuren von Blut sehen. Auch als ich ihn
seiner Kleidung entledigt hatte, um meine gegen sie zu tauschen, und er nackt
im Schnee lag, konnte ich nichts sehen, das auf einen Angriff hindeutete. Es
war anscheinend kein Tier gewesen, das für seinen Tod verantwortlich war. Aber
dann wäre er wahrscheinlich auch schon nichts weiter, als Knochen. Bei näherer
Betrachtung der Umgebung fand ich dann auch eine Spur im Schnee, die vom Hügel
hinab führte. Er schien wohl in seinen Tod gestürzt zu sein. Seine etwas
abenteuerlich abstehenden Gliedmaßen sprachen auch dafür.
Es war
merkwürdig, die noch immer lauwarme Kleidung eines Toten zu tragen, aber
immerhin war mir jetzt wesentlich wärmer. Die Schuhe konnte ich nicht gänzlich
ausfüllen, und auch die Pelzjacke, das Hemd und die Beinlinge, die beide aus
einem angenehm weichen Leder bestanden, waren mir noch ein wenig zu groß. Aber sie
waren trotzdem besser, als meine nassen Kleider. So unglücklich das auch für
den Toten war, bedeutete es für mich ein großes Glück, dass ich ihn hier
gefunden hatte. Ich deckte den Verunglückten noch mit meiner alten Kleidung zu,
schüttete Schnee auf ihn, bis er davon bedeckt war, und ließ ihn dann zurück.
„Ich würde ihn
wirklich gerne für dich begraben, dein Herrchen, aber dafür fehlt mir gerade
wirklich die Kraft“, sagte ich zu dem Wolf. „Es ist besser, wenn wir jetzt
zurückgehen. Bevor noch das Feuer ausgeht.“
Ich streckte
dem Wolf die Hand hin und er trottete an meine Seite. Er sah nicht gerad
glücklich aus, aber er kam. Zusammen erklommen wir den Hügel, den wir zuvor
erst hinab gekommen waren, und mit Blick auf den Toten war ich diesmal
besonders vorsichtig, wo ich hintrat. Als wir oben angekommen waren, warf ich
noch einen Blick zurück und murmelte ein „Danke“, bevor ich mich mit
meinem neuen Gefährten auf den Rückweg machte. Meine Chancen, zu überleben,
waren gerade ungemein gestiegen.
Hier weiterlesen -> Kapitel 2
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