Es war beinahe so dunkel, dass ich kaum noch sah, wo ich
hinging, als ich zur Feuerstelle zurückkehrte. Glücklicherweise brannten die
Flammen noch immer kräftig, aber ich legte dennoch lieber schnell ein paar
Hölzer nach. Und dann sah ich zu, dass ich ein paar Stunden Schlaf bekam. Nur,
dass sich das als schwieriger herausstellte, als gedacht.
Ich hatte zwar
meine nassen Kleider gegen Trockene ausgetauscht, aber es dauerte nicht lange,
bis ich trotzdem wieder anfing, zu frieren. Ich rutschte so nah ans Feuer, wie
es ging, aber es half nichts. Was hätte ich gerade nur für eine Decke gegeben?
Zudem musste
ich immer an den Toten denken, den ich vorher gefunden hatte. Ich hatte
natürlich schon die ein oder andere Leiche gesehen, aber dennoch war mir ein
bisschen mulmig zumute. Ich war mir zwar ziemlich sicher, dass er in seinen Tod
gestolpert war, aber was, wenn es doch ein wildes Tier gewesen war, das ihn
umgebracht hatte? Oder irgendeine andere Sache?
‚Ha! Was soll es denn schon gewesen sein?
Ein Geist?‘, dachte ich amüsiert.
Aber lachen
konnte ich trotzdem nicht drüber. Ich war eigentlich nicht abergläubisch, aber
dennoch musste ich plötzlich an die Geschichte denken, die ich damals den
Uruk-Leuten erzählt hatte, und da wurde mir ganz anders. Als ich mich
nun umsah, war es mir, als würde die Schwärze der Dunkelheit immer näher
kriechen. Mit einem Mal war ich mir sicher, dass irgendetwas da draußen war. Eine
Bewegung im Augenwinkel, die immer wieder weghuschen würde, wenn ich versuchte,
sie mit den Augen zu erfassen.
„Ganz ruhig!
Ganz ruhig! Das ist nur meine Fantasie. Ich bilde mir das nur ein“, redete ich
mir gut zu. Der Wolf, der bislang den Kopf in den Pfoten verborgen hatte,
antwortete darauf mit einem aufmerksamen Blick.
„Natürlich,
das bilde ich mir nur ein“, sagte ich zu ihm. „Sonst würdest du es
ja auch sehen. Du würdest bestimmt reagieren, nicht wahr?“
Ich streckte
meine Hand nach ihm aus und er tat mir den Gefallen, sich zu erheben und zu mir
zu trotten. Als er sich neben mir wieder einrollte, fühlte ich mich ein
bisschen besser, aber ich hatte dennoch das Gefühl, als würde mich jeden Moment
etwas von hinten packen und in die Dunkelheit hinaus ziehen. Ich schlief in
dieser Nacht deshalb so gut wie gar nicht.
Der Schnee knirschte bei jedem meiner Schritte und es
schien seit langer Zeit das einzige Geräusch zu sein, das ich hörte. Die Stille
um mich herum war beinahe so absolut, dass ich glaubte, schon seit einer
Ewigkeit durch diesen Wald zu marschieren, auch wenn ich ihn erst vorgestern
betreten hatte.
Gestern noch
war ich früh am Morgen erwacht, gerädert, todmüde und durchgefroren, aber ich
war dennoch gut vorangekommen. Vor allen Dingen, da ich dem Schrecken der
letzten Nacht so schnell wie möglich hatte entkommen wollen.
Ich war zunächst den
Spuren des Toten gefolgt, in der Hoffnung, bald auf seine Sippe oder Familie zu
stoßen. Da seine Kleidung bei näherer Betrachtung relativ dünn war – er also
nicht für einen längeren Marsch in der Kälte gerüstet gewesen war – und er auch
nur einen kleinen Beutel Proviant bei sich gehabt hatte, nahm ich an, dass er
ein Stammesmensch auf einem kurzen Jagdausflug gewesen war und dass sein Stamm
bestimmt nicht weit entfernt sein konnte. Die Kleidung war jedenfalls perfekt,
um sich darin zu bewegen. Ich selber musste andauernd in Bewegung bleiben,
damit ich warm blieb.
Doch je
weiter ich gegangen war, desto mehr hatte mich die Befürchtung beschlichen,
dass er doch nur ein einsamer Einsiedler gewesen war, der die Folgen eines
langen Marsches in der Kälte unterschätzt hatte.
Dann hatte es,
zu allem Überfluss, auch noch angefangen, heftig zu schneien und ich war
gezwungen gewesen, Schutz unter den Wurzeln eines umgestürzten Baumes zu
suchen. Ich war in den Genuss gekommen, eine Runde Feuer-bei-Sturm-machen zu
spielen, und ich war echt froh gewesen, dass der Fremde mir seinen Feuerstein
und seinen Zunder hinterlassen hatte.
Am nächsten Tag waren die Spuren,
denen ich gefolgt war, dann aber natürlich verschwunden gewesen. Seitdem war
ich eigentlich ohne einen wirklichen Plan unterwegs. Mein Proviant war inzwischen so
gut wie aufgebraucht und weit und breit war weder der Rauch eines Feuers, noch
sonst ein Zeichen von Leben zu sehen. Ich hatte ja nicht einmal eine Ahnung, ob
ich in die richtige Richtung ging oder ob es überhaupt eine richtige Richtung
gab.
Ich hielt
einen Moment an, wodurch auch das stetige Knirschen des Schnees verstummte und
ich allein mit der Stille war. Langsam aber sicher musste ich jedenfalls meinen
Proviant auffüllen. Wasser gab es in eisiger Form ja zum Glück in Hülle und
Fülle um mich herum, aber mit der Nahrung sah das ganz anders aus. Ich hatte
den Winter früher immer gemocht. Natürlich war es eine schwierige Jahreszeit,
in der man nie wusste, ob die Vorräte reichten, die Tiere nicht plötzlich an
einer Krankheit eingingen und man selber gleich dazu, aber es war auch die
einzige Zeit gewesen, in der man nicht andauernd auf dem Feld arbeiten und sich anderen
Dingen zuwenden konnte. Doch erstmals vermisste ich das aufblühende Leben des
Frühlings, die Wärme des Sommers, das Grün und das Vogelgezwitscher. Ich war es
so leid, immer nur triste Farben zu sehen und der verdammten Stille zu lauschen.
Und dann war
da natürlich noch die Sache, dass es ungemein schwieriger war, im Winter
Nahrung zu finden. Meine Eltern hatten auf die Stammesleute, die Wilden, wie
sie sie immer genannt hatten, immer herabgeschaut, aber natürlich hatten auch
sie alles gelernt, was ein Jäger und Sammler wissen musste. Auch uns, mir und
meinen Geschwistern, hatten sie das beigebracht. Wir waren ja eine ganze Weile
als Nomaden unterwegs gewesen und da war dieses Wissen unerlässlich gewesen. Ich
hatte nur immer geglaubt, dass es schon reichen würde, wenn meine Eltern und
meine Geschwister sich damit auskannten.
Ich wusste,
wie man ein Feld bestellte und wie man Vorräte lagerte, damit sie nicht faulten
oder von Ungeziefer gefressen worden, aber ich muss zugeben, dass ich vom
Überleben in freier Wildbahn weniger Ahnung hatte. Ich hatte mich dafür nie so
wirklich begeistern können, wie meine Geschwister und hatte mich lieber mit dem
Bootsbau beschäftigt und anderen „unsinnigen Dingen“, wie mein Vater es genannt
hat.
Es hatte mich
immer geärgert, wenn er das getan hatte. Vielleicht war das auch der Grund
gewesen, warum ich Lu so sehr darin bestärkt hatte, seinen Weg als Schamane zu
gehen. Es war etwas, das ich selber einfach zu gut verstehen konnte. Wenn man
nicht für das anerkannt wurde, was man gerne tat. Aber in diesem Moment fragte
ich mich erstmals, ob mein Vater nicht recht gehabt hatte. Was schließlich
nützte es mir jetzt, zu wissen, wie man ein Boot baute, wenn ich am verhungern
war? Was hatte ich mir nur dabei gedacht, so unvorbereitet loszugehen?
Meine Aufmerksamkeit wurde abgelenkt, als ich plötzlich
etwas hörte. Ich war einen Moment alarmiert, dann aber erkannte ich,
dass es nur das Geräusch von Pfoten war, die über den gefrorenen Waldboden trabten. Es war mein einziger Gefährte, der da auf mich zugerannt kam.
Nachdem wir
am gestrigen Tag während des Sturmes genug Zeit gehabt hatten, um uns
kennenzulernen, hatten wir uns darauf geeinigt, dass „Wolf“ mich zu sehr an
meinen Vater erinnerte, an den ich gerade nicht denken wollte, und deshalb
hatten wir uns für einen anderen Namen entschieden.
„Ich weiß ja
nicht mal, ob du ein Junge oder ein Mädchen bist“, hatte ich gesagt.
Also hatte
ich nachgesehen. Ein Mädchen ganz offensichtlich.
„Wie wäre es
dann mit“, ich hatte überlegt und hatte plötzlich grinsen müssen, „Greta, hm?“
Greta hatte
gebellt, aber wahrscheinlich nur, weil sie noch ein Stück Trockenfleisch gewollt
hatte. Ich aber hatte das trotzdem als Zustimmung genommen. Die Vorstellung,
einen Wolf nach meiner Schwester zu benennen, hatte ich jedenfalls urkomisch
befunden. Die menschliche Greta hätte das wahrscheinlich anders gesehen. Ich
konnte mir ihr säuerliches Gesicht jedenfalls gut vorstellen, wenn sie davon
erfahren würde. Sie fehlte mir echt. Wie waren ja immer unzertrennlich gewesen.
So sehr, dass Wulfric immer gesagt hatte, dass man uns mit Harz zusammengeklebt
hätte. Ich konnte damals gar nicht ohne sie sein, als wir Kinder waren. Ich
hätte nur nicht gedacht, dass sie mir immer noch so fehlen würde.
„Also Greta
dann“, hatte ich beschlossen. Und Greta hatte das mit einem weiteren Bellen
beantwortet.
Als die kaum
hinter der milchigen Wolkendecke erkennbare Sonne mir gesagt hatte, dass es
Mittag war, hatte ich Greta dann losgeschickt, um nach Nahrung zu suchen. Sie
war zwar kein großer Wolf, aber ich traute ihr trotzdem zu, dass sie es mit
einem Hasen aufnehmen konnte. Tatsächlich hatte sie auch Witterung aufgenommen,
und dann war sie losgeprescht und hatte mich alleingelassen. Das war vor einer
ganzen Weile gewesen. Ich wusste, dass sie mich nicht so einfach im Stich
lassen würde, aber ich war froh, als ich sie jetzt wieder sah und ich nicht
mehr allein mit den Bäumen und der Stille war. Und zu meiner hellen Freude
hatte sie sogar etwas im Maul.
„Was hast du
mir denn da gebracht?“, begrüßte ich sie, und es war seltsam, plötzlich wieder
meine eigene Stimme zu hören, nachdem ich seit gestern Abend nicht mehr geredet
hatte.
Als sie mich
erreicht hatte, ließ sie stolz ihre Beute vor meine Füße fallen, die ich als
arg zerrupften Vogel identifizierte. Ich brauchte gar nicht nachzusehen, um zu
erkennen, dass da schon ein anderer Jäger am Werke gewesen war. Der Vogel,
einst wohl eine stattliche Amsel, war nur noch an seinen Flügeln als solcher zu
erkennen. Der Brustkorb war zerfetzt, der Kopf fehlte gleich ganz.
Dennoch war
Greta scheinbar mächtig stolz auf ihre Beute. Sie sah mich so erwartungsvoll
an, dass ich mich dazu hinreißen ließ, den Vogel mit meinem Messer anzuheben.
Ich war nur froh, dass es so kalt war, sonst hätte der verwesende Gestank
meinem armen, leeren Magen bestimmt den Rest gegeben. Trotzdem biss ich die
Zähne zusammen und zwang mir ein Lächeln auf die Lippen.
„Danke,
Greta! Das hast du gut gemacht!“
Ich ließ den
Vogel in eine nahegelegene Kuhle verschwinden, während ich Greta ausgiebig
kraulte. Da ich sie belohnen musste, und mein Magen selber nach etwas Essen
verlangte, teilte ich das letzte bisschen Fleisch mit ihr.
„Ich frage
mich, ob es hier überhaupt noch irgendwas Lebendes gibt. Alles, was wir
finden, scheint tot zu sein.“ Ich seufzte schwer. „Wir hätten vielleicht lieber
am Meer bleiben sollen. Wenn ich etwas kann, dann ist es Fischen, musst du
wissen.“
Greta sah mich
aufmerksam an, als würde sie mich verstehen, und ich war nur froh, dass ich mir
nicht noch dümmer vorkommen musste, weil ich Selbstgespräche führte.
Ich erhob mich schließlich wieder und sah mich zum
ich-weiß-nicht-wie-vielten-Male um. Weit und breit war nur Wald zu sehen, als
würde er gar kein Ende mehr nehmen, und langsam war ich versucht, das zu
glauben. Vor uns schien der Wald sogar noch dichter zu werden. Die Bäume
standen so nah beisammen, dass ich kaum etwas durch sie hindurch sehen konnte.
Vielleicht
würde es da endlich mal ein Tier geben, das Greta und ich zur Strecke bringen
konnten. ‚Oder einen Räuber, der uns zur
Strecke bringt‘, dachte ich bitter.
„Was sollen
wir machen? Sollen wir vielleicht lieber zurückgehen?“
Kaum hatte
ich gesprochen, legte Greta plötzlich die Ohren an und begann, zu knurren. Die
letzten Tage hatten mich vorsichtig gemacht und sofort wirbelte ich in die
Richtung, in die mein treuer Begleiter blickte. Ich hatte ganz automatisch mein
Messer gezückt, überlegte nun jedoch, lieber den Bogen zu nehmen. Ich war nicht
wirklich gut im Bogenschießen, aber die Reichweite war unbestreitbar besser,
als die meines Messers.
Während ich
noch überlegte, hörte ich schließlich, was Greta wohl auch schon gehört hatte
und mich beunruhigte das überhaupt nicht. Im Gegenteil. Sofort ließ ich mein
Messer sinken und meinen Blick aufgeregt schweifen. Da war eine Stimme. Ganz
eindeutig rief da jemand im dichteren Teil des Waldes.
Menschen! Ich
war so froh, endlich wieder eine andere Stimme zu hören, dass ich gar nicht
daran dachte, dass sie mir böse gesinnt sein könnten. Ich wollte selber rufen und
auf mich aufmerksam machen, aber davon wurde ich abgehalten, denn im nächsten
Moment spuckte der dichte Wald vor mir einen Mann aus.
Pelzmütze und –jacke
ganz ähnlich denen, die ich auch trug. Als er mich bemerkte, erstarrte er auf
der Stelle. Er schien genauso überrascht, mich zu sehen, wie ich es war, ihn zu
sehen. Greta war weniger überrascht. Sie knurrte noch immer und es war mir, als
ob sie bei seinem Anblick noch lauter geworden war.
„Bei den
Göttern, bin ich froh, endlich eine Menschenseele zu sehen“, fand ich als
Erster meine Stimme wieder.
Der Mann
jedoch blieb stumm und begann stattdessen, mich abschätzig von oben bis unten
zu mustern. Ich musste kein Experte sein, um zu sehen, dass er mir gegenüber
misstrauisch war. Es war aber dennoch Greta, die scheinbar noch misstrauischer
war, denn sie ging nun dazu über, den Fremden anzubellen. Ich konnte gerade
noch so verhindern, dass sie auf ihn losging. Als ich aufsah, hatte der Fremde
verständlicherweise nun ein Beil in der Hand.
Ich wollte schlichten,
bevor das Ganze eskalieren konnte, aber da tauchte plötzlich eine weitere
Person aus dem Dickicht hinter dem Mann aus. Es war eine Frau. Doch außer ihrer
Pelzmütze, unter der rabenschwarzes Haar bis zu ihrer Taille fiel, schien sie
überhaupt nicht für einen Winterausflug gerüstet zu sein. Sie hatte lediglich
ein Tuch um den Körper geschlungen, das alles andere, als warm aussah.
Als Greta sie
erblickte, hielt sie jedenfalls nichts mehr. Ich konnte nicht verhindern, dass
sie mir entkam und ich befürchtete schon das Schlimmste. Aber statt auf die
Frau loszugehen, wurde Greta stattdessen freudig von ihr empfangen.
„Pina! Da
bist du ja!“, sprach sie mit einem merkwürdigen Akzent. Dann musste sie sich
erst ausgiebig das Gesicht abschlecken lassen, bevor sie weiterreden konnte. „Das
heißt ja, dass Erin…“
Ihr Blick ging
suchend an der Wölfin vorbei, bis er schließlich an mir hängenblieb. Und da
bröckelte ihre Freude plötzlich und ich verstand.
„Wo ist
Erin?“, fragte sie bangend. „Und wer bist du?“
„Mein Name
ist Wulfgar. Ich komme von“, ich zeigte vage in die Richtung, in der ich mein
Zuhause vermutete, „naja, da her. Mit einem Boot. Aber das ist untergegangen. Ich
hab auf dem Weg hierher niemanden getroffen, außer…“ Ich stockte, aber als sie
mich nur weiter bange ansah, fügte ich hinzu: „Ich fand einen Toten. Er schien
gestürzt zu sein.“
Mit einer
ungeahnten Schnelligkeit hatte sie die Distanz zwischen uns überbrückt, und dann
stand sie so plötzlich vor mir, dass ich erschrak. Sie war ein bisschen größer als
ich, wahrscheinlich auch älter, aber ich konnte auf die Entfernung sogar ihre
Augenfarbe erkennen. Sie waren braun. Auch ihre Haut hatte einen schönen,
bronzenen Schimmer, ihr Gesicht war sehr fein und rund. Eine kleine, gerade
Nase und schmale, rote Lippen. Ich roch sogar den rauchigen Geruch von Feuer,
den sie ausströmte. Ich wusste, dass sich Jin sofort an sie rangemacht hätte,
wenn er hier gewesen wäre.
„Wie sah er
aus?“, wollte sie wissen.
Ich brachte
einen kurzen Moment damit zu, unauffällig auf Abstand zu gehen und zu
überlegen, wie ich mich am besten verhalten sollte. Ich war normalerweise immer
darum bemüht, zuerst die Rangordnung zu klären, aber es schien nicht sehr gesund
für mich zu sein, mich mit irgendwem hier zu prügeln. Vor allen Dingen nicht,
wenn da einer mit einer Waffe in der Hand stand. Es war bei manchen Leuten ja
auch nicht gerne gesehen, wenn man ihre Toten um ihre Sachen erleichterte.
„Naja, er
trug diese Sachen“, entschied ich mich dann aber doch für die Wahrheit. „Ich
musste sie mir leider ausleihen, weil meine nass waren.“
„Wer geht
auch schon im Winter auf eine Bootsfahrt?“, mischte sich jetzt auch der Mann
ein.
Er hatte eine
angenehme, rauchige Stimme, aber da hörte es auch schon auf. Auch er hatte
dunkles Haar, wenn seines auch so braun war, wie seine Augen. Er war wesentlich
blasser, wenn man das unter all dem Ruß überhaupt sagen konnte, der ihn
bedeckte. Ich nahm an, dass er ihr Vater war, auch wenn sie sich überhaupt
nicht ähnlich sahen. Er war ein kräftiges Raubein mit einem kantigen Gesicht
und einer stattlichen Nase, sie war eine zierliche, anmutige Gestalt neben ihm.
Ich konnte
jedenfalls jetzt schon sagen, dass er mir überhaupt nicht gefiel. Vor allen
Dingen sein Auftreten war alles andere, als erfreulich.
Das sah wohl
auch Greta, beziehungsweise Pina so, die erneut anfing, ihn anzuknurren, als er
sich jetzt an der Frau vorbeischob und sich vor mir aufbaute. Natürlich war
auch er größer, als ich.
„Erin
aufgelauert und ihn ausgeraubt hast du! Wahrscheinlich hast du ihn auch noch
getötet!“
Die Frau, die
zuvor ihr Gesicht bestürzt in den Händen vergraben hatte, blickte nun wieder
auf und warf ihrem Begleiter einen scharfen Blick zu. Doch der ignorierte das
genauso, wie er das Knurren der Wölfin ignorierte.
Plötzlich
hatte der Mann sein Beil erhoben und hielt es mir unter die Nase. „Wir sollten
dich dafür töten! Hier und auf der Stelle, bevor du uns auch noch überfallen
kannst!“
Das ging mir
jetzt doch ein bisschen zu weit. Ich hatte ja noch immer mein eigenes Messer in
der Hand, aber ich ging trotzdem lieber noch ein paar Schritte zurück. Wenn ich
eines gelernt hatte, dann war es, dass ich in solchen Situationen nie Schwäche zeigen
durfte. Egal, wie sehr meine Knie auch gerade schlotterten. Der Stärkste
überlebte in der freien Wildbahn. Nur deshalb hatte ich mich auch mit (fast) allen
Stammesmitgliedern des Uruk-Stammes angelegt. Blöd nur, dass ich nicht gerade
zu den Stärksten zählte. Aber manchmal reichte es schon aus, so zu tun, als wäre man stark.
„Ich habe
nichts getan, aber wenn du dich mit mir anlegen willst, kannst du das gerne
haben! Ich habe keine Angst vor dir!“
Ich ging in
Abwehrstellung und der Mann tat dasselbe. Wir begannen, uns wie lauernde Tiere
zu umkreisen, während ich innerlich betete, dass das hier gut für mich ausgehen
würde. Ich konnte vielleicht wendiger und schneller sein, als er, aber der
Kraftvorteil lag ganz eindeutig bei ihm.
Aber zu meinem
Glück ging die Frau dazwischen. „Das reicht jetzt, Eren! Er hat gesagt, dass er
nichts getan hat.“
„Und das
glaubst du ihm so einfach, ja?“
Sie
ignorierte ihn und stellte sich stattdessen demonstrativ zwischen uns. Einen
Moment musterte sie mich, oder besser gesagt meine Kleidung, dann nickte sie.
„Es stimmt also. Erin ist tot.“ Sie nahm
sich die Zeit, einmal tief durchzuatmen und für einen Augenblick sah ich den
Schmerz in ihren Augen. Dann war er jedoch verschwunden und sie hatte sich
abgewandt. „Wenn du gestrandet bist, dann wirst du sicherlich eine Unterkunft
brauchen. Komm mit mir, ich werde dir Essen und ein Dach über dem Kopf geben.“
Doch ich
zögerte. Ich warf einen Blick zu dem Mann, der mich noch immer ansah, als würde
er mir am liebsten die Kehle durchschneiden. Wenigstens hatte er sein Beil
wieder sinken lassen. Ich traute ihm dennoch zu, dass er mich hinterrücks
abstechen würde.
Als die Frau
merkte, dass niemand ihr folgte, hielt sie inne, blickte zurück und sagte: „Oh
ja, ich bin übrigens Ura. Und dieser Mann da wohnt nicht bei mir.“
Dieser Mann
da, der wohl Eren hieß, machte ein überaus säuerliches Gesicht, aber er blieb
still. Ich konnte mir nur schwerlich verkneifen, zu lachen. Ich war gerade
einfach nur froh und erleichtert über die Aussicht, nicht noch eine Nacht in
diesem verfluchten Wald zu verbringen und elendig verhungern zu müssen. Also
folgte ich Ura schließlich, wenn auch mit einem Auge zurück auf ihren
mürrischen Begleiter.
Hier weiterlesen -> Kapitel 3
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