Sie würde trotzdem fliehen. Und ihre Chance kam, als Tuck mit den anderen Männern des
Stammes ging, um Holz für Tanns Grab zu fällen. Die Frauen waren ebenfalls
gegangen, um für die Grabbeigaben zu sammeln, und Tara war allein
zurückgeblieben, da ihre Schwangerschaft inzwischen weit vorangeschritten war
und ihr das Laufen über weite Strecken zu mühselig geworden war. Man hatte ihr
aufgetragen, den Toten zu waschen, aber stattdessen war sie abgehauen.
Der Winter
stand bereits vor der Tür und es wurde allerhöchste Zeit, dass sie wegkam. Sie
hatte mal von Tann gehört, dass es in der Gegend einen weiteren Stamm gab, den
Tucks Bruder Ur anführte. Die beiden Brüder waren wohl im Streit
auseinandergegangen, weshalb sie hoffte, dort Aufnahme zu finden.
Nur wusste sie leider nicht genau, wo sie lagerten. Tann
hatte erzählt, dass sie oft umherzogen, und von Enn hatte sie nur eine vage
Richtungsanweisung bekommen. Da sie auch nicht auf den Hauptwegen gehen konnte,
um den Rückkehrern des Zoth-Stammes nicht in die Arme zu laufen, musste sie
querfeldein gehen. Die Sonne sank derweil immer tiefer zum Weltenrand, während
es immer kälter wurde und sie ihr Ziel noch immer nicht erreicht hatte.
Sie fragte sich gerade, ob sie vielleicht schon an dem
Lager des Ahn-Stammes vorbeigelaufen war, als sie über einen Stein stolperte
und böse mit dem rechten Fuß aufkam. Ein heftiger Schmerz durchfuhr ihren
Knöchel, der sie augenblicklich in die Knie zwang. Sie fluchte laut, aber es
half alles nichts. Jedes Mal, wenn sie versuchte, aufzustehen und Halt auf
ihrem Fuß zu finden, knickte sie wieder ein.
Notgedrungen musste sie Halt machen. Der Abend war
inzwischen weit fortgeschritten. Es war so kalt, dass ihr Atem ihren Mund in
kleinen weißen Wolken verließ, als sie sich jetzt das kleine Stück Dörrfleisch
gönnte, dass sie mitgenommen hatte. Ihre Finger waren so klamm, dass sie
Probleme hatte, es überhaupt festzuhalten. Und dann, als sie dachte, es könnte
schlimmer nicht kommen, fielen plötzlich die ersten Schneeflocken vom Himmel.
Tara hätte
das ja schön gefunden, sie hatte den Schnee immer geliebt, aber er war weniger
schön, wenn man die Nacht darin verbringen musste. Also raffte sie sich auf und
versuchte es noch einmal, auf die Beine zu kommen. Es klappte nicht. Sie
fluchte eine Weile lautstark, dann fing sie schließlich an, um Hilfe zu rufen,
bis ihr der Hals kratzte. Vielleicht hatte sie Glück und die Zoth-Leute waren
noch irgendwo draußen. Dorthin zurückzugehen schien ihr jedenfalls besser, als
zu erfrieren.
Aber sie hatte Pech. Es hörte sie niemand. Sie zog die
Beine enger an den Körper, damit ihr Kleines nicht fror. Es war ihr egal, was
mit ihr passierte, aber sie durfte nicht zulassen, dass ihrem Kind etwas
zustieß. Die Angst, dass sie es verlieren könnte, trieb ihr die Tränen heiß in
die Augen und sie musste mehrmals schlucken, damit sie nicht überliefen.
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Sie war gerade dabei, den Kampf gegen ihre aufkommende
Müdigkeit zu verlieren, als sie glaubte, in der Nähe einen feinen Rauchfaden in
den Nachthimmel aufsteigen zu sehen. Sie war sich nicht sicher, ob sie sich das
nur einbildete, aber sie versuchte trotzdem, sich auf die Beine zu quälen, was
misslang. Ihre Beine waren inzwischen so kalt, dass sie den Schmerz in ihrem
Knöchel nicht mehr spürte. Aber auch sonst spürte sie dort nichts mehr.
Sie war gezwungen, auf allen Vieren zu kriechen. Immer
vorwärts, dem Rauch entgegen, der sich nun in einen warmen, hellen Feuerschein
verwandelte. Sie schwankte, es fiel ihr immer schwerer, bei Bewusstsein zu
bleiben, aber der Gedanke, ihr Kind zu retten, trieb sie vorwärts.
Es ging durch
Bäume hindurch, der Schnee brannte ihr inzwischen durch die Kleidung hindurch
auf der Haut. Und als sie die Quelle des Rauchfadens schließlich – endlich! –
erreicht hatte, blendete die Helle des Feuers sie beinahe. Sie brauchte einen
Moment, bevor sie überhaupt wieder sehen konnte. Verschwommen nahm sie da einen
Mann wahr, der am Feuer saß.
Mit letzter Kraft stieß sie ein „Hilfe“ aus, dass er sie
bemerkte. Dann fiel sie mit dem Gesicht voraus in den Schnee, der ihr in diesem
Moment so warm erschien wie eine Decke.
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Als sie erwachte, war sie tatsächlich in eine Decke
gehüllt – oder zumindest in ihr Schlaffell. Die bedrückende Düsternis einer
Höhle und das vertraute Knacken von Feuerholz begrüßte sie.
„… weit her
zu kommen“, hörte sie eine bekannte Stimme neben sich sagen. Es war Dala, die
neben Tuck am Feuer saß. „Vielleicht ist er ja sogar ein Feuerzähmer.“
„Feuerzähmer
sind Legenden“, erwiderte Tuck ihr unbeeindruckt.
„Dennoch
scheint dieser Sen recht fähig zu sein. Wir könnten jemanden wie ihn gut
gebrauchen.“
„Du hast doch
gehört, dass er nicht bleiben will. Aber ich werde trotzdem mal mit ihm
sprechen, wenn es dich glücklich macht.“
Tuck erhob
sich nun, um ein weiteres Scheit ins Feuer zu werfen. Die Flammen loderten auf,
als hätte man sie in ihrer Ruhe gestört, dann aber begannen sie, das makellose
Holz langsam schwarz zu färben. Als Tuck sich jetzt wieder setzen wollte,
bemerkte er, dass Tara wach war, und im nächsten Moment war er bei ihr, besorgt
wie eh und je.
„Du bist wach“, stellte er fest. „Wir haben schon
befürchtet, dass du nie wieder aufwachen würdest.“
Tara schälte sich umständlich aus ihrem
Schlaffell. „Was ist denn passiert?“
„Das würden
wir gerne von dir hören“, mischte sich Dalas vorwurfsvolle Stimme ein. „Was
hast du da draußen zu suchen gehabt?“
Tara fühlte
sich schlecht dabei, aber sie log trotzdem: „Ich wollte mir nur etwas die Beine
vertreten. Mein Rücken schmerzt doch immer so. Die Kälte tut mir gut und
da habe ich die Zeit vergessen. Und dann bin ich ausgerutscht und habe mir den
Fuß verletzt.“
„Glücklicherweise hat der Fremde dich gefunden und hergebracht“, sagte
Tuck erleichtert.
„Ich würde
mich gerne bei ihm bedanken“, lenkte Tara ab. „Wo ist er denn?“
Tara sollte erst viel später die Gelegenheit bekommen,
mit ihm zu reden. Während sie anfing, sich auch mit den anderen
Stammesmitgliedern gut zu verstehen, war der reservierte Gast, den sie eingeladen
hatten, über den Winter zu bleiben, mehr fort als anwesend.
Dala indessen ließ sie von dem Moment ihres Fluchtversuches
an keine Sekunde mehr aus den Augen, weshalb Tara keine Möglichkeit mehr
erhielt, wegzukommen.
Knapp zwei Monate später, als der Winter schon wieder am
Gehen war, entband sie ihren kleinen Sohn Rahn, der ihr Herz im Sturm erobert
hatte. Und sie war heilfroh, dass gerade keine andere Frau da war, die ihn
stillen konnte, und sie deshalb noch immer gebraucht wurde. Andernfalls, und da
war sie sich todsicher, hätte Dala schon längst einen Weg gefunden, sie
loszuwerden. Sie musste sich dringend etwas einfallen lassen, um mit Rahn zu
entkommen.
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Es war einige Monde nach ihrer Niederkunft, die Sonne schien
warm und kräftig wie an einem Frühlingstag, als Tuck gerade Besuch von einem
befreundeten Stammesoberhaupt hatte. Ein kräftiger Mann mit dunklem Haar und
langem Bart, dass Tara für einen Moment erschrocken geglaubt hatte, Minos vor
sich zu haben.
„Das ist eine
Schande, dass er gestorben ist.“ Der Mann, der sich als Aan vorgestellt hatte,
schüttelte den Kopf. „Aber ich werde es Luma überbringen. Sag, ihr habt nicht
zufällig noch andere Männer für meine Töchter?“
„Enn hat noch
keine Frau, aber ich würde ihn ungern ziehen lassen. Wir haben den letzten
Herbst ziemlich viele Leute verloren“, gab Tuck zu.
„Ich werde mit
Luma und Lulu sprechen. Vielleicht ist ja eine bereit, herzukommen.“
„Ihr seid auch
herzlich eingeladen, alle herzukommen“, bot Tuck an. „Ich habe gehört, du hast
erst letztens deine Frau verloren.“
„Ja, aber ich
habe eine neue“, erzählte Aan mit Fingerzeig auf die Frau, die mit ihm gekommen war und die gerade neben Dala am Feuer saß. Dann fuhr er zerknirscht fort: „Und du weißt
doch, dass ich das nicht machen kann. Ur ist schon sauer, dass ich nicht zu ihm
in den Stamm gekommen bin.“
„Schon gut,
ich weiß ja, dass ihr zwei immer ganz dicke wart.“
Tara, die bislang mit Rahn im Arm am Rande gestanden und
zugehört hatte, legte den Kleinen jetzt sachte in sein Bett und stahl sich davon. Dala war gerade mit besagter Frau ihres Gastes beschäftigt, also nutzte
sie die Chance, den Fremden namens Sen aufzusuchen, der sich zur Abwechslung
mal in ihre Gefilde verirrt hatte. Sie fand ihn draußen, wie er seinen neuen
Speer auf Wurftauglichkeit testete.
„Hey, du!“, begrüßte sie ihn und brachte ihn beim Werfen
ein bisschen aus dem Konzept. Der Speer flog ganz schön weit, aber er schien
nicht zufrieden, als er den Störenfried jetzt ansah. „Ich hab gehört, dass du bald
wieder von hier weggehen willst. Stimmt das?“
„Mag sein. Was
willst du?“, gab er monoton zurück. Er war nicht der gesprächigste Geselle,
wusste sie.
„Wenn du
weggehst, wäre es dann möglich, dass ich und mein Sohn dich begleiten? Nur ein
Stück weit“, fügte sie hastig hinzu. „Und so, dass“, flüsterte sie, „niemand es
mitbekommt.“
Er sah sie mit
zusammengekniffenen Augen misstrauisch an, bevor er sagte: „Ich reise nur
allein.“
Tara wollte etwas sagen, aber da ging Sen einfach weg,
und sie wurde plötzlich auf jemanden aufmerksam, der sich ihnen näherte. Ein
Mann von der Statur her, sein Haar so hell, dass man ihn schon von weitem sehen
konnte. Das Geschrei eines Säuglings begleitete ihn, aber Tara achtete nicht
darauf. Ihr Blut rann ihr in einem Moment kalt durch die Adern, im anderen
wiederum taute die Freude es wieder auf. Sie wusste nicht, ob sie wegrennen
oder zu ihm gehen sollte.
Schließlich
erreichte er sie, blieb vor ihr stehen, als er sie erkannte, und da war Sen
schon längst wieder in der Höhle verschwunden.
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